Die Rote Kuh
... „
W
enn es dunkel wird auf der Erde, dann kriecht etwas aus ihrem lehmigen Boden hervor, ein dunkler Schatten. Dieser Schatten lebt von der Angst der Kinder. Er ist sehr gefährlich und kann sogar töten. Ich bin dafür da, bei den Kindern zu sein und sie zu beschützen. Wenn ich merke, dass er zu einem von ihnen unterwegs ist, dann hole ich das Kind aus seinem Bett und fliege mit ihm durch die Nacht hindurch. So hat der Schatten keine Macht mehr über sie.“ erklärte die rote Kuh dem kleinen Kometen.
„Du passt also auf die Menschenkinder auf? Hast du denn keine Angst vor dem Schatten?“
"Nicht mehr!“
„Du hattest also schon einmal Angst vor ihm?“ fragte der kleine Komet.
„Aber ja! Weisst du, ich war auch schon mal jemand anderes. Ich bin nicht als Rote Kuh geboren worden“ sagte die Kuh und fing an ihre Geschichte zu erzählen.
"Früher war ich eine ganz normale schwarz bunte Kuh und lebte bei einem Bauern in einem Stall. Ich teilte mir den Platz noch mit zwei anderen Kühen und einem Schwein. Im Sommer wurde ich tagsüber auf die Weide geführt und konnte den ganzen Tag lang frisches, grünes Gras kauen. Mein Leben war gemütlich, und ruhig, aber eben langweilig. Doch wir Kühe haben nichts dagegen, wenn das Leben so eintönig verläuft. Wir sind nicht dazu geboren worden grosse Abenteuer zu bestehen. Hauptsache es gibt jeden Tag etwas zu fressen und zu saufen. Jedoch ich hatte ich immer das Gefühl, dass das nicht alles gewesen sein konnte. Ich glaubte, dass es da noch etwas anderes in der Welt gab, etwas anderes als jeden Tag einfach nur so auf der Weide oder im Stall zu stehen.
Eines Nachts dann wurde ich wach. Normalerweise bin ich nie wach geworden, wenn ich mal schlief. Doch diesmal hörte ich etwas, was ich so noch nie vernommen hatte. Vielleicht habe ich es bis dahin aber auch einfach nie wahr genommen. Jedenfalls hörte ich einen schrecklichen angsterfüllten Schrei, der durch die Stille der einsamen Nacht drang. Von nun an hörte ich immer wieder einen solchen Schrei durch die Dunkelheit gellen. Und irgendwann fing ich an mich zu fragen, was das wohl sei. In einer schönen lauen Sommernacht beschloss ich dann einfach einmal nachzusehen, was denn dort draussen so vor sich ging. Ich bin aus meiner Box gezottelt und konnte die Stalltür einfach aufstossen. Warum auch sollte sie verschlossen sein? Wir Kühe gingen normaler Weise nicht des Nachts spazieren. Wozu auch? Ich bin dann einfach aus meinen Stall heraus gegangen und in Richtung des nahe gelegenen Dorfes gelaufen. Von dort, so hatte ich es in Erinnerung, kamen diese furchtbaren Schreie.
Verlassen lagen die Strassen des Dorfes da. Niemand schien sich hier noch aufzuhalten. Nur noch vereinzelt war ein brennendes Licht in den Fenstern zu sehen. Es war herrlich, denn so habe ich das Leben noch nie zuvor erlebt. Doch dann überkam mich eine merkwürdige Kälte, die meine Gedärme zu verknoten schien. Ich war wie gelähmt und konnte mich kaum rühren. Dann sah ich ihn. Ein unheimlicher Schatten huschte an mir vorbei und verschwand um eine Strassenecke. Er liess eine beklemmende Angst in mir zurück. Dann drang aus dieser Richtung ein markerschütternder Schrei, durch die Nacht. Dieser Schrei liess alles Blut aus meinen Adern entweichen, so grausam klang er. Er hörte sich aus der Nähe noch grausiger an als von meinem warmen sichereren Stall aus. Doch anscheinend schien niemand anderes ausser mir, diesen furchtbaren Schrei überhaupt wahrzunehmen. Langsam verschwand die lähmende Kälte wieder aus meinem Körper. Doch konnte ich mich nicht dazu durchringen, wieder in meinen schützenden Stall zurück zu kehren. Ich folgte der Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Die Angst war zwar noch nicht gänzlich aus meinen Gliedern verschwunden, doch irgendetwas zog mich magisch dahin.
Alles schien hier ruhig zu sein. Dann hörte ich etwas! Ein leises Schluchzen drang heimlich aus einem geöffneten Fenster. Das Fenster des Hauses lag im Erdgeschoss und ich versuchte Vorsichtig durch dieses hindurch zu spähen. Es war mit einem Vorhang verhängt, aber ich fand einen kleinen Spalt, der mir die Sicht in das Zimmer erlaubte. Ein kleines Mädchen lag zusammen gekauert unter seiner Bettdecke und nur ein blonder Haarbüschel schaute noch unter der Decke hervor. Sie zitterte heftig und konnte sich gar nicht wieder beruhigen. Die Furcht des Kindes drang bis zu mir durch. Ich verspürte das erste Mal in meinem Leben eine seltsame Traurigkeit in mir, es war Mitleid. Ich wollte ihr plötzlich so gerne helfen. Die nächsten Nächte machte ich mich deshalb wieder auf ins Dorf. Und tatsächlich, wieder wandelte dieser unheimliche Schatten durch die verlassenen Strassen und drang in die Häuser der schlafenden Kinder ein. Kurz darauf war dann dieser schreckliche gelle Schrei in die Nacht zu hören. Bevor er auftauchte, verspürte ich wieder diese furchtbare Angst in mir hochkriechen, die mich schier bewegungslos machte. Wie sehr mussten dann wohl die Kinder leiden, denen der Schatten direkt begegnete? Ich beschloss also, diesen Nachtschatten zu finden und ihn unschädlich zu machen. Wie, dass wusste ich nicht. Ich wollte nur das Leid der Kinder mildern.
In einer Nacht dann schaffte ich es endlich. Die Nacht war kühl, der Herbst brach bereits mit bitterer Kälte herein. Mein Atem trat in weissen Wolken aus meinen Nüstern heraus. Aber heute war die Angst nicht mehr ganz so schlimm wie sonst. Vielleicht hatte ich mich mittlerweile aber auch schon daran gewöhnt, denn diesmal sah ich den Schatten bereits, bevor er mich mit seiner ihn umgebenen Angst erreichen konnte. Ich nahm all meinen Mut zusammen und stellte mich dem Schatten in den Weg.
„Wer bist du?“ wollte ich wissen als ich ihn ansprach.
Ich zitterte schon vor blanker Furcht bevor sich dieser unheimliche Schatten überhaupt zu mir umgewandt hatte. Er verbreitete so eine furchtbare Angst. Als er sich verärgert über diese Störung endlich zu mir umgedrehte hatte, sah ich, dass er wirklich nur aus einem Schatten bestand noch nicht einmal die Augen waren zu erkennen. Ihn umwehte eine eisige Grausamkeit, die alles zu durchdringen schien. Die Angst breitete sich nun noch heftiger in mir aus, so dass sie kaum mehr zu ertragen war. Schwer konnte ich mein Entsetzen verbergen.
„Was willst du von mir?“ drang eine unheimlich krächzende Stimme in meine Gedanken.
Furcht kletterte durch meine Knochen, mehr als ich sie bisher jemals gespürt hatte. Selbst das Schlachtbeil des Metzgers hätte keine solche Angst in mich hinein pflanzen können. Sie kroch durch meinen Körper, bis in mein Herz hinein. Dennoch nahm ich meinen gesamten Mut zusammen.
„Ich wollte dir sagen, dass du hier verschwinden sollst. Lass die Kinder in Ruhe!“ hauchte ich ihm mühevoll entgegen, denn ich spürte, dass das Leben langsam aus meinen Körper entwich.
„Niemals, werde ich aufhören zu den Kindern zu gehen.“, tönte wieder diese Stimme in meinen Gedanken. „Ich lebe von ihrer Angst. Und du wirst mich nicht daran hindern sie mir zu nehmen. Erwachsene,“ hauchte er noch hinterher, die sterben immer wenn ich ihnen zu nahe komme, weil sie die Angst nicht mehr beherrschen können! Ich brauche die Menschen aber lebend, sonst kann ich mich nicht lange genug von ihnen ernähren. Mein Schrei holt alles aus ihnen heraus.“
„Lass sie in Ruhe!“ brachte ich noch mit aller letzter Kraft hervor.
Der Schatten schob sich auf mich zu und ich hörte diesen grässlichen Schrei. Dann merkte ich, dass sich meine Seele von meinen Körper löste. Ich schwebte über mich hinweg und konnte nur noch von hier zusehen, wie sich der Schatten weiter auf den Weg in das Zimmer eines Kindes machte. Eine Träne rann über meine Wange. Geister können normalerweise nicht weinen. Ich konnte jedoch immernoch die Angst fühlen, die dieses Kind ausstehen würde müssen. Dann entschwebte ich in den Himmel und begegnete dort einer wunderschönen Frau.
„Mutig warst du!“ sagte sie zu mir. „Schon lange habe ich dem Treiben des Schattens zusehen müssen und konnte ihn nicht aufhalten. Ich brauchte jemanden, der es wagt sich ihm in den Weg zu stellen und du warst so mutig. Es scheint dein Schicksal zu sein, der Hüter über die Angst der Kinder zu sein. Dich wird er niemals besiegen können. Ich möchte dich für deine Tat belohnen. Ich schenke dir deshalb ein neues Leben und du wirst ab jetzt unsterblich sein. Deine tapfere Seele wird die Kinder vor dem Angstschatten beschützen! Ich gebe dir Flügel, um mit ihnen der Angst zu entrinnen. Ich färbe dein Fell Rot, da Rot die Angst die der Schatten verbreitet durchbricht. Er wird denjenigen die du beschützt nichts mehr anhaben können!“
Damit hauchte die schöne Frau, die die Königin der Nacht war, mir lächelnd einen Kuss auf meine Nüstern. Mein Fell wurde Rot und mir wuchsen Flügel auf meinem Rücken. Nun kann ich den Schatten zwingen sie in Ruhe zu lassen. So bin ich die Rote Kuh geworden!“ ...
Texte: © Copyright Alle Rechte vorbehalten/ all rights reserved by
Tanja Lachenmann
Tag der Veröffentlichung: 25.07.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Schau in die Sterne
und fühl ihre Macht
bestimmen Dein Schicksal
mit all ihrer Kraft
leg Deine Sehnsucht
hinein in ihr Herz
wirst sehen die Hoffnung
vertreibt Dir den Schmerz