~Bills Sicht~
„Biiiiilllllll!“, kreischten die Mädchen am Rand, was mich innerlich mit den Augen rollen ließ. Nach außen gab ich mein Starlächeln, damit niemand bemerkte, wie sehr mich das alles hier doch nervte. Tom zwinkerte den Fotografen noch zu, dann verschwanden wir beide in dem Gebäude, wo wir nachher noch ein Fernsehinterview hatten.
„Hast du dein Lächeln heute im Bett liegen gelassen?“, fragte mich mein Bruder, als wir alleine auf dem Gang zu unserer Garderobe waren. „Hallo, ich rede mit dir.“ Tom legte den Kopf schief und musterte mich von oben bis unten. „Tom, mir geht’s nicht besonders, lass mich einfach was in Ruhe, ja? Ich hab keinen Bock, dich nachher anzuschreien“, erklärte ich ihm und hoffte sehr, dass er das akzeptierte. Und genau wie ich meinen Bruder kannte, schwieg er. Dankend für das kleine Bisschen Ruhe lächelte ich ihn matt an.
Das gesamte Interview über wäre ich dem Moderator am liebsten an die Kehle gesprungen. Diese unnötigen Fragen, weshalb wir umzogen und sonstiges. Gerade gut seinen ersten Job, sein erstes Interview mit richtigen Stars und dann einen auf dicke Hose machen. Ich war mehr als erleichtert als wir beide da wieder raus und auf dem Weg nachhause waren.
Nachhause… als ich die Türe aufschloss und unsere Hunde zwischen den ganzen Kartons angelaufen kamen, wurde ich wieder zurückgerissen.
Ab morgen war das nicht mehr unser zu Hause. Morgen würden wir eine kleine Villa in Los Angeles beziehen, neben reichen, eingebildeten Menschen wohnen, die selbst für ihre Tiere Angestellte hatten. Soweit würde es noch kommen. Ich kniete mich hin und streichelte unsere zwei Dackel und unseren Schäferhund.
Scotty, unseren Labrador, hatten wir wieder zu Mama und Gordon gebracht. Tom und ich waren der Meinung, dass sie die lange und anstrengende Reise nicht verkraften würde, immerhin war sie schon neun Jahre alt und nicht mehr so fit wie früher.
„Morgen…“ Ich stand auf und drehte mich zu Tom, der die Türe schloss und einen unserer Dackel auf den Arm nahm. „Morgen sitzen wir wahrscheinlich schon auf unserer Terrasse und lassen uns die Sonne auf den Bauch scheinen.“ „Willst du das denn?“ „Du etwa nicht?“ Er ließ ihn wieder runter und sah mich fragend an. „Tom, wir hatten uns doch gerade erst wirklich hier eingelebt und jetzt?“
„Du weißt, dass es das Beste im Moment ist. Das mit den Franzosen war noch harmlos, wer weiß, was noch alles kommt. Und Gustav und Georg sind doch vorerst auch weggezogen.“ Stumm nickte ich, denn ich wusste ja, dass wir mit David die richtige Entscheidung getroffen hatten. Dass wir uns vorerst „trennten“, jeder entspannte und dann, wir nach ein paar Monaten, wieder frisch und munter zusammenkamen und weiter an unserem neuen Album arbeiteten. „Ich geh nach oben“, meinte ich und schon war ins erste Stockwerk verschwunden.
In meinem Zimmer war nichts mehr. Lediglich mein Bett stand noch da und ein, zwei Kartons auch noch. Die musste ich dann morgen wohl selbst noch runterbringen. Aber nicht jetzt… jetzt wollte ich nur noch schlafen. Ich ließ mich auf meine Matratze fallen, starrte auf die hell gestrichene Wand. Ich wusste, wieso Tom so weit weg wollte. Wäre es nach mir gegangen, dann hätten wir uns eine gemütliche Wohnung in der Nähe von Mum und Gordon gesucht.
Aber er wollte mich ablenken, von ihr… die, die mir so unendlich wehgetan hatte, mich nur ausgenutzt hatte um endlich an ihre langersehnte Modellkarriere zu gelangen...
Ich hätte nie gedacht, dass ich einem Mädchen mal so lange hinterher trauern würde. Deshalb wollte er raus aus Deutschland, damit ich sie nicht mehr sehen musste. Jedenfalls für den Anfang. Plötzlich sprang etwas neben mich auf mein Bett, weshalb ich meine Aufmerksamkeit darauf richtete. Santos, unser Schäferhund legte den Kopf auf seine Pfoten und sah mich mit seinen braunen Kulleraugen an. Tom musste ihnen gleich noch das Beruhigungsmittel geben, sonst würde der Flug morgen für sie unerträglich werden.
„Na du.“ Ich legte meinen Arm um ihn und zog ihn ein Stück näher an mich. „Morgen ist es soweit. Morgen fliegen wir in unser neues Zuhause“, flüsterte ich und schloss die Augen. Und schon bald war ich weggedöst, bekam nur noch mit, wie Tom Santos rausholte und mich zudeckte. Dann schlief ich ein, das letzte Mal in unserem alten Zuhause…
~Indiras Sicht~
„Indira du wirst ihn heiraten!“, donnerte mein Vater, worauf er sauer mit seinem Zepter auf den Meeresboden aufschlug.
„Ich will aber nicht, Vater. Ich will nicht“, schluchzte ich und schwamm davon. Wieso musste mir mein Vater immer alles verbieten und vorschreiben? Ich war gerade erst einmal Zweiundfünfzig Jahre alt. ‚Erst'. Als Mensch wär ich 17-jähriges Mädchen.
Hier... hier bei uns Lebewesen... waren siebzehn Jahre schon erwachsen. Man musste mit siebzehn Jahren schon wissen, was man wollte. Und dies wusste ich. Ich wollte Spaß haben. Noch so viel von der Welt entdecken. Ich wollte noch so viel erforschen. Wie es wohl dort oben bei den Menschen war? Obwohl diese so scheußlich mit der Natur umgingen. Sie verschmutzten mit ihren riesigen Schiffen das Meer und die Seen. Die armen Lebewesen, die hier im Meeresozean lebten, starben durch dieses Öl, was in das Wasser floss. Wussten die Menschen denn nicht, was sie uns antaten? Mussten sie unsere Welt auch zerstören, so, wie sie es bei ihrer schon taten?.
Dennoch interessierte es mich blendend, wie es sein musste, auf Beinen zu stehen. Ein Mensch zu sein.
Ich war so in Gedanken, dass ich nicht einmal mehr mitbekam, wo lang ich geschwommen war. Ich hielt an.
Ich war so schnell geschwommen, dass um mich herum nichts weiter, als Wasserpflanzen, Wasserblumen oder vereinzelt Fische zu sehen waren. Der Meeresozean war wirklich eine Schönheit für sich. Es war bunt. Es war atemberaubend.
Verträumt pflügte ich eine lila Wasserblume, welche ich mir in mein langes, braunes Haar steckte und weiter schwamm. Ich machte ein paar Drehungen im Wasser und begann leise ein Lied zu summen. Vergaß somit meine Sorgen. Ich würde nicht heiraten. Ich wollte ihn nicht. Ob es bei den Menschen auch so war? Sich einfach zu verbünden, wenn man dabei keinerlei Gefühle füreinander hatte?
Ich wusste ohnehin ja schon, dass Menschen grausam waren und man sich vor ihnen in Acht nehmen sollte. Wenn sie, jemanden so etwas wie mich finden würden, würden sie mich gefangen nehmen. Doch erst einmal musste mich mal jemanden fangen und das würde nicht einmal in den nächsten zehn Jahren passieren.
Irgendwann war ich so weit geschwommen, dass der Ozean immer dunkler wurde. Ich bekam Angst. Wo war ich eigentlich?
Ich war nicht mehr in Velletopia. In meiner kleinen, bunten Welt. Hier... hier war es dunkel und... grausam.
„Woah“, quiekte ich auf, als ich einen starken Gegendruck spürte. Ich versuchte mich irgendwo fest zu halten. Griff nach einer Schlingpflanze, welche nicht genug Widerstand hatte und somit abriss, worauf mich die Strömung irgendwohin trug...
~Bills Sicht~
„Bill…? Hey, Brüderchen.“ Leicht rüttelte jemand an meiner Schulter, weshalb ich meine Augen öffnete. Tom grinste mich an und öffnete die Autotür. „Wir sind endlich da“, flötete er gut gelaunt und ließ Santos, Finn und Jack aus dem Kofferraum. Tom hatten die Beruhigungsmittel ebenfalls gut getan, genauso wie unseren drei Hunden. Die gesamte Zeit, die wir im Flugzeug gesessen hatten, hatte er geschlafen. Ich dagegen war immer noch nicht mit meinen Gedanken klar gekommen. Ich wusste noch immer nicht, ob ich mich freuen oder doch weinen sollte.
„Es sieht echt noch besser aus, als auf den Bildern“, Tom stemmte die Hände in die Hüfte und betrachtete unser neues Heim. Eine kleine Villa am Rande von Los Angeles, keine zehn Minuten zu Fuß vom Meer entfernt.
„Willkommen zu Hause, Bill“, grinste er zu mir rüber. Ich war noch immer nicht aus dem Wagen gestiegen, ließ lediglich die Beine raus baumeln. Ich wollte nicht…
„Komm, wir bringen unsere Sachen nach drinnen und dann geht’s ans Einräumen“, trällerte er weiter und lief zum Eingang, unsere drei Hunde hinterher. Na, die freuten sich aber auch gewaltig, dass sie jetzt hier waren. Ich meine, wieso sollten sie es nicht tun? Es war warm, die Sonne schien, sie hatten einen großen Garten, konnten ab jetzt am Meer spielen, warum sollten sie sich beschweren?
Ja, ihr Leben war einfach nur perfekt. Und meins? Es war ein einziges Scherbenmeer. Nur langsam rutschte ich vom Autositz und trat in die warme Sonne. Auch, wenn es ein schönes Haus war, auch, wenn wir hunderte Kilometer von Deutschland weg waren, glaubte Tom im Ernst, dass es mich ablenken würde?
Ich wollte ihn nicht verletzten, er hatte sich so viel Mühe gegeben und alles so schnell es ging in die Wege geleitet, obwohl er ganz tief in sich drin nie so weit von zu Hause wegwollte. Hinter der Villa hörte ich Santos, Finn und Jack bellen, weshalb ich am Eingang vorbeilief und dann im großen Garten stand. Tom lag auf dem Boden, hatte etwas in seiner Hand, woran Santos kräftig zog, jedoch darauf bedacht, ihm nicht wehzutun.
Die beiden Dackel liefen und sprangen bellend um sie herum. Ein kleines Lächeln huschte über meine Lippen, als ich Toms Lachen hörte. Es tat gut, dass wenigstens er glücklich war. Ohne von ihnen bemerkt zu werden, ging ich nach drinnen und stand im großen, offenen Wohnzimmer.
Der Boden war hier mit weißen Fliesen ausgelegt und Gott sei Dank passten unsere Möbel dazu, sonst hätte ich auch noch mit Tom eine komplett neue Einrichtung kaufen können. Die Klimaanlage machte sich auch schon bemerkbar, hier drinnen war es angenehmer, als draußen in der Hitze.
„Bill?“ Schnaufend kam Tom reingelaufen, lachte dabei noch ein wenig. Unsere Hunde folgten ihm. „Was mir noch fehlt, das ist ein Pool, aber den können wir ja bestimmt noch bauen lassen, oder?“ „Wir haben doch das Meer vor der Haustüre, was willst du eigentlich noch alles?“, fragte ich während er sich an der Küchenzeile auf einen Hocker setzte. Das war das Einzige, was wir dazu gekauft hatten, eine amerikanische Küche.
„Dass du endlich bessere Laune bekommst“, meinte er und sah mich dabei an. „Bill, hallo? Wir sind in Los Angeles, da wollten wir doch schon immer mal hin.“ „Ja, Tom, wollten wir. Aber wir haben nie davon gesprochen, dass wir komplett herziehen.“ „Natürlich haben wir darüber geredet.“
„Nein, Tom, du hast darüber geredet, ich hab dazu nichts gesagt und dann kamst du an und hast gesagt, dass du hier ein Haus gekauft hast und wir für über ein halbes Jahr herziehen!“ Eigentlich wollte ich ihn nicht anschreien, doch das alles musste jetzt raus. „Warum hab ich das denn gemacht, hm?! Weil du total am Arsch warst wegen dieser Schlampe!“ „Das ist meine Sache! Oder glaubst du, nur weil wir Zwillinge sind, dass meine Probleme auch deine sind?!“ „Ich wollte dir doch nur helfen!“
„Darauf kann ich verzichten!“ Ich drehte mich um und lief die große Treppe hoch ins Obergeschoss, riss irgendeine Zimmertüre auf und knallte sie mit voller Kraft zu. Ich hatte auch noch Glück, es war meins. Meine Couch stand dort, wo in ein paar Tagen mein Bett hinkommen sollte, Schränke und mein Spiegel waren auch schon aufgebaut und aufgehängt.
Die Sonne schien durch die Glastür herein und brachte so eine angenehme Helligkeit in den Raum. Auch, wenn mir nicht danach war, öffnete ich die Türe und trat raus auf den Balkon. Von hier aus hatte man eine atemberaubende Aussicht auf das Meer, die jeder in diesem Moment genossen hätte.
Langsam rutschte ich an der Tür herunter, zog meine Knie an den Körper und legte meinen Kopf darauf um das Schluchzen, was nun kam zu dämpfen. Ich wollte doch gar nicht hier sein…
~Indiras Sicht~
Hustend öffnete ich meine Augen und blickte um mich herum. Es war alles dunkel. Ich war viel zu geschwächt um etwas zu erkennen, doch... was war das?
Mit leicht zusammen gekniffenen Augen schaute ich auf den Boden, auf dem ich lag. Wo war das Wasser? Erschrocken blickte ich nach hinten. Erblickte das rauschende Meer, welches hinter mir Wellen schlug. Ich riss meine Augen auf.
Ach du meine Güte.
Ich war in der Menschenwelt. Auf der Erde, nicht mehr im tiefen Ozean. Wo war ich hier eigentlich?
Hatte mich die Strömung hierher gespült?!
Mein Blick glitt an meinen Körper hinunter. Was zum... Wo... wo war meine Flosse?
Erschrocken sprang ich auf und flog im nächsten Moment wieder um. Ich war nackt! Splitternackt.
Und... ich hatte menschliche Beine?!
Wieso?
Was war geschehen?
Ich bekam Panik.
Ich kroch Richtung Meer und versuchte erneut aufzustehen. Ich schwankte. Es fiel mir schwer, mich auf den Beinen zu halten. Wie machten die Menschen das bloß?
„Woah", ich kippte leicht auf die Seite und machte einen kleinen Schritt nach vorne und flog darauf nach vorne in den Sand. Gepeinigt kniff ich meine Augen zusammen und blieb liegen.
Was war, wenn jemand kommen würde und mich vorfand?
Das wäre gar nicht gut.
Ich hatte nichts am Land zu verlieren. Ich musste zurück ins Wasser. Das hier war nicht meine Welt. Hier gehörte ich nicht hin.
Erneut erhob ich mich, stand dennoch nicht auf, sondern beschloss einfach, ins Meer zu krabbeln. Sofort seufzte ich wohlig auf, als das kalte Wasser meinen Körper umschlang. Es war so, als würden die Wellen mich zurück ins Wasser ziehen wollen. Ich tauchte ab und bemerkte ein Kribbeln an meinen Füßen. Ich sah, wie sich meine Füße unter Wasser wieder in Flossen verwandelten. Erstaunt legte ich meinen Kopf schief. So war das also... Ich ‚verwandelte' mich sozusagen in einem Menschen, wenn ich an Land ging?!
Erfreut darüber, dass ich meine Flossen doch wieder hatte, begann ich leise vor mich hin zu trällern. Tauchte des Öfteren immer wieder mal auf und lugte aus dem Wasser. Beobachtete das Leuchten von den Häusern. Es sah wunderschön aus. Wie das Licht auf dem Wasser reflektierte und es somit zum Schimmern brachte. Dennoch taten die Menschen nichts Gutes für die Umwelt. Sie verschmutzten mit ihren Schiffen das Wasser. Brachten die Unterwasserlebewesen zum aussterben...
So schön die Menschenwelt auch war, tat sie uns nicht gut. Menschen waren böse. Gemein.
Wie mein Vater schon so oft sagte, ich sollte mich von ihnen fern halten. Hatte ich auch. Ich hatte sie nur des Öfteren mal beobachtet. Hatte ein paar Begriffe von ihnen gelernt. Zum Beispiel, dass ‚Häuser' sowas hieß, wie bei uns Palast...
Erschrocken tauchte ich ab, als ich jemanden sah, der auf das Meer zu gelaufen kam. Vielleicht wollte er baden?...
~Bills Sicht:~
Zum Abendessen saßen wir in der Küche und unsere Diskussion von vorhin hatte immer noch keinen Ende gefunden: „Ich hab’s doch nur gut gemeint, verdammt!“, brüllte Tom mich an. Gott, ich konnte es nicht mehr hören. „Ja, Tom, du meinst alles nur gut! Alles, egal, was du machst, immer hast du eine Entschuldigung dafür!“, schrie ich zurück. Unsere Hunde hatten sich schon längst unter dem Esstisch im offenen Wohnzimmer verkrochen. Sie waren es nicht gewohnt, dass es bei uns so laut wurde.
„Was willst du eigentlich?! Ich versuche doch nur, dass es dir endlich besser geht und du trittst das alles mit Füßen!“ „Vielleicht will ich das ja alles gar nicht! Vielleicht will ich ja nicht, dass du das machst, hast du daran schon mal gedacht?!“ Eine Weile sah er mich stumm an, dann sammelte er sich wieder.
„So kenne ich dich gar nicht“, meinte er ruhig und stand von seinem Hocker auf, nahm seinen Teller und stellte ihn in die Spüle. „Hat dich die Alte so verändert, dass ich nicht mehr vernünftig an dich rankomme?“ „Kannst du sie einmal, nur ein einziges Mal aus dem Spiel lassen?“, knurrte ich.
„Wenn es doch so ist. Man Bill, du bist nicht mehr mein Bruder!“ Ohne wirklich darüber nachzudenken, griff ich nach meinem Teller und warf ihn nach Tom. Aufgeregt sprangen unsere vier Hunde auf und begannen zu bellen. Tom starrte erst den zerbrochenen Teller, der neben ihm am Hängeschrank zersprungen war, dann mich mit großen Augen an. Ich wollte nichts mehr hören, rein gar nichts mehr. Ich sprang von meinem Hocker und lief zur Terrassentüre, riss sie auf und rannte hinaus in die dunkle Nacht. Unser Garten war ziemlich beleuchtet, dahinter war es wieder schwarz. Und ich rannte weiter, hinein in die Dunkelheit, die sich langsam aber sich von innen nach außen durch mich fraß.
Es hatte damit angefangen, dass sie mein Herz gebrochen hatte. Es mir rausgerissen, auf den Boden geschmissen und noch darauf herum getrampelt war. Die ersten Tränen kamen, die ich versuchte wegzublinzeln, doch wer sah mich hier schon? Ich war mittlerweile ein gutes Stück von unserem „neuen Zuhause“ weg und Tom war mir mit Sicherheit nicht gefolgt. Dafür kannte ich ihn zu gut, er würde jetzt erst einmal bis morgen schmollen. Sollte mir Recht sein, dann hatte ich wenigstens mal meine Ruhe.
Der Schein von den Villen, die etwas abseits vom Strand standen, erhellte den kleinen Weg ein wenig, der runter zum Strand führte. Langsam ging ich den etwas steilen Weg hinunter, kam im weichen Sand an. Leise hörte ich die leichten Wellen des Meeres, ein leichter Salzgeruch war auch da. Früher war ich immer gerne am Meer gewesen, zusammen mit Tom, Mama und Gordon. Tom und ich hatten dann immer mit Scotty am Wasser gespielt, ihr hätte das hier bestimmt gut gefallen.
Ich ging immer näher ans Wasser, war jetzt schon so weit, dass das Meer meine Schuhe berührte. Ich beobachtete es, schaute dabei zu, wie es beim nächsten Mal schon ein Stück weiter kam, danach schon hinter mir war und ich das Wasser in meinen Schuhen spürte. Ich hob meinen Kopf und sah geradeaus. Nichts, einfach nur Dunkelheit und das Geräusch der Wellen. Schritt für Schritt ging ich weiter, das Wasser ging mir bis zu den Knien, kam bald schon bis zu meiner Hüfte. Auch wenn es schwer wurde, ich wollte weiter. Und irgendwann spürte ich keinen Boden mehr unter den Füßen, schwamm weiter raus aufs Meer.
Es war kalt, meine Klamotten hatten sich vollgesogen und zogen mich nach unten. Ich drehte mich um und sah noch ein Mal zurück. Sah ganz klein unser Haus und dachte daran, wie Tom und ich nun auseinander gehen würden. Zurück konnte ich jedoch nicht mehr. „Ich hab dich lieb, Tom“, flüsterte ich, dann hörte ich auf, mit den Füßen zu paddeln.
Langsam ging ich unter, wurde von meinen nassen Sachen in die Tiefe gezogen. Meine letzten Gedanken glitten zu ihr, zu ihrem triumphierenden Lächeln, als sie mir offenbarte, dass sie mich nur benutzt hatte, dann zu Tom, wie er mich getröstet hatte. Ein kleines Lächeln huschte über meine kalten Lippen. Und mit den letzten Luftblasen, die ich ausatmete, verließ mich auch mein Bewusstsein.
~Indiras Sicht~
Was tat er da?
Er wollte doch etwa nicht mit Kleidern schwimmen gehen? Nein, das wollte er nicht.
Langsam schwamm ich näher heran. Tauchte ab und an ab, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
Er schwamm weiter hinaus, sodass der Mond leicht sein Gesicht blendete. Ich konnte sein Gesicht erkennen und auf eine Art verzauberte es mich. Ich war so sehr in Gedanken versunken, dass ich erst jetzt bemerkte, dass er unter gegangen war. Sofort tauchte ich. Sah ihn unter Wasser. Wie er seine Augen geschlossen hatte und ein leichtes Lächeln seine Lippen zierte.
Ich schwamm zu ihm, runter zum Abgrund, den er noch nicht ganz erreicht hatte. Ich packte ihn an seinem Arm, zog ihn an meinen Körper und küsste ihn. Gab ihm Luft zum Atmen, immer wieder bis wir oben an der Wasserfläche ankamen. Ich hörte, wie er leicht röchelte. Wie er wieder atmete, dennoch seine Augen geschlossen hatte. Mit aller Mühe zog ich ihn an den Strand. Seine Beine waren noch im Wasser, der Rest am Strand. Als ich das Wasser komplett verlassen hatte, verwandelten sich meine Flossen sofort wieder in menschliche Beine. Kurz taumelte ich und ließ mich zu dem Jungen auf den Boden fallen.
Scheu strich ich ihm eine Haarsträhne zurück und begutachtete sein Gesicht.
Es kam mir bekannt vor. So vertraut. Als hätte ich es schon mal irgendwo gesehen.
Vorsichtig beugte ich meinen Kopf zu ihm nach vorne. Küsste ihn nochmal. Diesmal nicht, um ihm Luft zu geben, sondern aus Neugierde.
Es war verboten. Küsste eine Meerjungfrau einen Menschen, so hatte dieser eine gewisse Verbindung mit der Meerjungfrau.
Er konnte ihren Gesang unter Wasser hören.
Die Wellen würden ihn magisch zu ihr ziehen.
„Wach auf", flüsterte ich in einer gebrochenen Menschensprache.
Meine Hand wanderte vorsichtig über sein weiches, nasses Gesicht. Seine Lippen hatten wieder eine rötliche Farbe angenommen. Sie wurden wieder durchblutet.
Erschrocken zuckte ich zusammen, als er hustete. Er drehte sich leicht auf die Seite und spuckte das Wasser aus, welches er geschluckt hatte. Wie erstarrt saß ich da. Er hatte mich noch nicht bemerkt. Und eher ich das gedacht hatte, wanderten seine Blicke an meine Füße hoch zu meinen Beinen und immer weiter bis er mir ins Gesicht sah.
Seine Augen weiteten sich, worauf er einen kurzen Schrei los ließ, sodass ich mich so sehr erschreckte, dass ich aufsprang, ins Wasser rannte und abtauchte...
Komischer Menschenjunge.
Ich hatte doch gewusst, es kam nicht gut, wenn ich nackt war...
~Bills Sicht:~
Ganz schwach nahm ich das Geräusch der Wellen wahr. Sollte ich nicht eigentlich tot sein? Ein heftiger Hustenreiz überkam mich, weshalb ich zu husten begann und dabei eine Menge Wasser ausspuckte. Als ich mich wieder beruhigt hatte, bemerkte ich erst, dass jemand neben mir war. Mit verschwommenem Blick sah ich von schönen, langen Beinen hoch bis ich in zwei warme Augen sah, die mich abwartend anguckten.
Doch die Tatsache, dass sie nackt war, ließ mich kurz aufschreien, weshalb sie erschrocken aufsprang und ins Meer lief, wo sie untertauchte, dann war es wieder still. Zitternd legte ich mich in den nassen Sand und blickte hoch in den Himmel. Mir war schwindelig, kalt und dazu war ich auch noch total verwirrt. Wieso war sie mir hinterher geschwommen? Und überhaupt, warum war sie wieder ins Wasser gesprungen? Ich setzte mich langsam auf und schaute aufs Meer, dann nach links und rechts.
Nirgends war sie zu sehen. Ein Stück weiter hörte ich Hundegebelle und wenig später stand Santos neben mir und schlug an. „Bill!“ Mit Finn und Jack kam Tom angelaufen und kniete sich neben mich in den nassen Sand. „Ist alles okay bei dir? Du bist ja komplett nass“, stellte er besorgt fest und legte mir seine Jacke über die Schultern. „Tom, ist schon gut“, winkte ich ab und stand auf. Allerdings wollten mir meine Beine nicht ganz gehorchen, weshalb ich in die Arme meines Bruders sackte.
„Bill…“ Ich spürte, dass Tom mich ansah, doch ich konnte dies nicht erwidern. „Sag mir bitte nicht, dass du im Wasser warst… Bill…“ Er zwang mich dazu, ihn anzusehen. Sofort erkannte ich die Angst und Verzweiflung in seinen Augen. „Bill, lass dich doch nicht so von ihr kaputt machen.“ Er schlang seine Arme fest um mich und drückte meinen kühlen Körper an seinen, der um einiges wärmer war. „Komm, ich bring dich nachhause“, meinte er und pfiff kurz nach unseren Hunden.
Die verstanden und liefen das Stück zurück in Richtung Villa, die Tom als zu Hause betitelte. Es war nicht mein zu Hause, warum wollte er es nicht verstehen? Während ich mit ihm am Meer entlang ging, sah ich die ganze Zeit über auf das dunkle Wasser. Irgendwo da war sie noch, ich spürte es. Bei der Villa angekommen brachte Tom mich auf direktem Wege in mein Zimmer, setzte mich auf meinem Bett ab und suchte mir trockene Klamotten aus meinem Schrank. „Willst du einen Tee, Kakao oder sonst was?“
„Tom, mir…“ „Nein, dir geht es nicht gut!“, fuhr er mich an und drehte sich vom Kleiderschrank zu mir um. „Verdammt, Bill!“ Er kam auf mich zu und packte mich an den Schultern. „Du wolltest dich da draußen ertränken! Zum zweiten Mal. Erzähl mir nicht, dass es dir gut geht!“ Er brach ab und ließ mich los. Ich erkannte, dass er innerlich mit sich rang, bevor er fluchtartig mein Zimmer verließ. Langsam rutschte ich auf den Boden und krabbelte zu meinem Kleiderschrank, zog mir etwas Trockenes an und machte mich dann auf den Weg nach unten.
Auch die Treppe rutschte ich auf dem Hintern runter, Stufe für Stufe. Ich hatte einfach zu viel Angst, dass mir die Beine auf einmal wegknickten. Unten angekommen stütze ich mich an der Wand ab und ging so ins Wohnzimmer, wo Licht brannte. Doch Tom war nicht hier. Kurz blickte ich durch den Raum und erblickte ihn dann. Er saß an der offenen Küche, den Kopf in die Hände gestützt. Vorsichtig ging ich zu ihm und legte meine Hand auf seinen Rücken.
„Ich dachte, dass ich dir damit irgendwie helfen kann“, murmelte er und starrte die Thekenplatte an. „Ich dachte, dass du dich hier wohl fühlst und du sie irgendwie vergisst… dass du versuchst dich umzubringen, das…“ „Es ist einfach nicht mein zu Hause, Tom.“ „Aber was hat das denn damit zu tun?“ „Gib mir einfach Zeit“, war alles, was ich hervorbrachte. Wir wussten beide, dass es gelogen war, dass ich nur versuchte, ihn zu beruhigen. Doch das tat ich nicht und genau das machte mich innerlich fertig. Es war ein Teufelskreislauf.
Wenn Tom traurig war, dann war ich es auch und umgekehrt. „Ich will dich nicht verlieren… nicht wegen ihr.“ Tom drehte sich zu mir und umarmte mich. Ich ließ es über mich ergehen, erwiderte seine Umarmung. Seine Körperwärme tat gut, was er wohl spürte. „Sollen wir noch was fern gucken?“ Ich nickte und ging zusammen mit ihm zur großen Couch, wo ich mich in eine Decke eingehüllt mit dem Kopf auf seinen Schoß legte.
Der Film interessierte mich eigentlich nicht, meine ganze Aufmerksamkeit galt noch immer dem Moment, als das nackte Mädchen neben mir war und einfach so ins Wasser gesprungen und nun verschwunden war. Würde ich Tom davon erzählen, würde er sofort den Arzt rufen und mich einweisen lassen. Deshalb würde ich dies erstmal für mich behalten… vielleicht würde ich sie ja irgendwann wiedersehen…
Tag der Veröffentlichung: 30.07.2011
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