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Bärbel Schoening

Die Liebe meines Lebens

Seit vierzig Jahren sind wir ein Paar und immer zusammen gewesen ohne einen Tag der Trennung. Nun stehe ich an Elisabeths Bett und schaue sie an. Wie lange kann ich ihr noch so nah sein, sie fühlen und ihre Hand in meiner wärmen? Mein Herz krampft sich zusammen bei diesem Gedanken, der mir in den letzten Wochen im Kopf herum spukt. Niemand hat mit so einer niederschmetternden Diagnose gerechnet; Elisabeth am allerwenigsten.
Sie war diejenige, die durch ihr ganzes Leben positiv gewandert war, immer lächelnd und meist gut gelaunt. Die Kinder waren noch klein, als der Betrieb in dem ich als Lagervorarbeiter seit meiner Lehre angestellt war, plötzlich dicht machte. Ich erinnere mich heute genau an die Situation, als ich nach Hause kam an diesem Tag X und mir vornahm, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Ich stellte mein Fahrrad an die Hauswand und schloss es ab, so wie ich es immer tat. Es war Adventszeit und durch das Küchenfenster strahlte mir warmes Licht entgegen. Ich nahm meine Aktentasche mit der leeren Brotdose und klemmte beides unter den Arm, ging auf das beleuchtete Fenster zu und blieb stehen, um die Szene zu beobachten. Elisabeth saß mit unseren beiden Töchtern am Küchentisch, der mit Bastelmaterial übersät war. Immer wieder strich Elisabeth den beiden über die Wange und sagte etwas zu ihnen, während sie sie zärtlich ansah. Meine Augen füllten sich bei diesem friedlichen Bild mit Tränen und mein Herz krampfte sich zusammen. Je länger ich dieses Bild der Liebe beobachtete, desto schwerer fiel es mir, mich von der Stelle zu rühren.
„Da, da ist Papa schon!“, rief Lisa plötzlich, hüpfte von ihrem Stuhl und rannte mit ihrer Schwester und einem halbfertigen Goldrauschengel in der Hand
aus dem Haus, um mich stürmisch zu begrüßen. Meine Tasche fiel zu Boden, da ich beide gleichzeitig auf den Arm nehmen musste. Hunderte von feuchten Küssen und Schmatzerl übersäten mein Gesicht und beide überschlugen sich mit Worten.
„Wollt ihr euren Papa eigentlich umbringen oder nur begrüßen?“ fragte ich lachend während ich mit ihnen auf dem Arm ins Haus stolperte.
„Beides natürlich“, antwortete Mona schlagfertig, die nie um eine Antwort verlegen war. Elisabeth kam lachend mit einer Tasse Tee auf uns zu und meinte:
„Da siehst du einmal, was ich mit diesen Wirbelwinden aushalten muss tagsüber“, rief sie und forderte beide auf, sich wieder an den Tisch zu setzen und endlich fertig zu basteln. Etwas widerstrebend gehorchten sie.
Elisabeth schob mich in die Küche und drückte mich auf einen Stuhl, während sie mich prüfend ansah:
„Du hast doch etwas, Robert? Etwas ist heute passiert, das spüre ich“, meinte sie etwas energischer.
„Man kann dir nichts vormachen, was? Dafür liebe ich dich so Elisabeth“, erwiderte ich kleinlaut und zog sie auf meinen Schoss. Ich erzählte ihr alles während sie mir aufmerksam zuhörte.
„Mach dir keine Sorgen, Robert. Lass uns gleich gemeinsam überlegen, wo wir einsparen können im Notfall, meine ich. Der da oben ist ja auch noch da“ meinte sie versöhnlich und zeigte mit dem Finger in Richtung Himmel.
Elisabeth bekam einen Job im Supermarkt angeboten für vormittags und zwei weitere Putzstellen in einem Großraumbüro, während ich mich um den Haushalt kümmerte. Anfangs fiel es mir schwer aber dann lief es gut. Elisabeth sah auch dieses wieder positiv:
„So hast du wenigstens etwas von deinen Töchtern und nicht erst, wenn sie aus dem Haus sind und schon eigene Kinder haben“, meinte sie lachend und verschwand zu ihrer Putzstelle.
Erst nach einem Jahr fand ich eine neue Arbeit. Bis vor zwei Jahren – bevor ich in Rente gehen konnte – blieb ich bei der Firma. In den letzten Jahren waren Elisabeth und ich viel gereist. Ja, und nun stand ich am Krankenbett meiner großen Liebe und hielt ihre Hand. Es war vor vier Wochen an einem Freitag den Dreizehnten, als Elisabeth endlich zum Arzt ging, da sie häufig über Magenschmerzen klagte. Nachmittags rief Dr. Meyer bei uns an und bestellte Elisabeth für Montag in seine Praxis zur Magenspiegelung, da ihm die Blutwerte nicht gefielen. Sie war nach diesem Anruf durcheinander und ich tröstete sie:
„Mach dir jetzt keinen Kopf, Liebes. Es ist nur Routine“, und nahm sie in den Arm. Mir war schon lange aufgefallen, dass mit Elisabeth etwas nicht stimmte. Sie war in letzter Zeit so furchtbar blass und müde. Nach der Magenspiegelung rief Dr. Meyer mich in sein Zimmer und überbrachte mir die Hiobsbotschaft:
„Es tut mir Leid Herr Schneider. Bei Ihrer Frau haben wir einen schnell wachsenden Tumor festgestellt. Die Leber, die Speiseröhre und der Darmkanal scheinen auch befallen“, dabei drückte er mir mitfühlend die Hand. Ich war geschockt und stotterte:
„Ja, dann operieren Sie sie doch einfach! Worauf warten Sie denn noch?“ schrie ich in meiner Verzweiflung. Dr. Meyer reichte mir ein Glas Wasser und setzte sich in seinen Sessel.
„Das heißt Herr Schneider, der Tumor Ihrer Frau ist inoperabel. Ich habe von der Pathologie nach zehn Minuten schon das positive Ergebnis gefaxt bekommen. Es tut mir so Leid!“, meinte er ruhig und sah mich kopfschüttelnd an.
Was er mir dann noch alles erzählt hat, weiß ich nicht mehr nur, dass sie sofort ins Krankenhaus müsse. Elisabeth meinte: „Es wird schon werden, Robert. Du kennst mich doch. Auch eine Chemotherapie werde ich überleben“, sagte sie leise und drehte ihren Kopf zur Seite.

Seit zwei Wochen besuche ich sie jeden Tag. Ohne einen Ton von sich zu geben, lässt sie alles über sich ergehen. Ihr Lächeln ist müde geworden. Jeder Tag macht mich psychisch fertig wenn ich sie so sehe, an Geräten und an einem Infusiomat angeschlossen mit halbwachen Augen und ihren müden Blick auf mich gerichtet. Wo ist das dichte Haar geblieben? Der Krebs hat alles zerstört, was sie ausgemacht hat. Sie atmet seit gestern über ein Sauerstoffgerät und wird künstlich ernährt. „Man kann ihr nur wünschen, dass sie friedlich einschläft“, meinte gestern der Onkologe und drückte verlegen meine Hand. Ich verließ das Krankenhaus und setzte mich auf eine Bank und weinte bitterlich. Dann schrie ich alles heraus, was sich in den letzten Wochen bei mir aufgestaut hatte. „Das Leben ist nicht fair!“, brüllte ich und schlug mit der flachen Hand auf die Bank ein. Vor Elisabeth spielte ich den tapferen Ehemann. Manchmal jedoch drückte sie ganz sacht, ja fast zärtlich meine Hand und ich weiß sie spürt, dass ich da bin.
Am nächsten Morgen fuhr ich mit einem Rosenstrauß und besserer Laune zum Krankenhaus. Vor mich hin pfeifend lief ich zu ihrem Zimmer. Ich sehe, wie eine Schwester Elisabeth etwas in die Braunüle spritzt.
„Hallo Herr Schneider. Ihre Frau war die ganze Nacht so unruhig; ich spritze ihr Morphium nach, damit sie besser schlafen kann“, meint sie und legt die leere Ampulle in eine Nierenschale. „Nein, wie traumhaft! Da wird sich Ihre Frau aber freuen. Der ist ja wunderschön!“, meint sie zum Rosenstrauß und zieht den Duft der von ihm ausgeht beim Verlassen des Zimmers ein. Ich begrüße Elisabeth mit einem zärtlichen Kuss und halte Ausschau nach einer Vase. Sie beobachtet mich und gibt mir mit den Augen zu verstehen, dass ich die Rosen gegenüber dem Bett aufstellen soll. Ich tue ihr den Gefallen und gehe zurück ans Bett. Eine kleine Träne läuft über ihre Wange und sie kneift beide Augen fest zu, während ich nach ihrer Hand greife. Plötzlich wird ihr Händedruck fester und sie bewegt hektisch ihre Augäpfel hin und her.
„Soll ich die Schwester rufen, meine Liebe?“, fragte ich sie. Sie schüttelt den Kopf und gibt mir zu verstehen, ich solle näher an sie heran kommen. Sie
bewegt ihre trockenen Lippen und setzt zu einem Flüstern an.
„Robert, erlöse mich bitte! Meine Zeit ist vorbei. Mir fehlt die Kraft, um weiterzukämpfen. Ich will nicht mehr!“, haucht sie mir kaum hörbar ins Ohr. Ich bin so durcheinander, dass ich ruhelos durchs Zimmer gehe, die Augen immer auf Elisabeth gerichtet. Sie sieht zum Rosenstrauß hinüber und schließt müde die Augen. Plötzlich drehte sie ihren Kopf nach links mit einem Lächeln, das ich immer so an ihr geliebt habe. Sie ist friedlich eingeschlafen, die Liebe meines Lebens.


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Tag der Veröffentlichung: 23.10.2008

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