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Bärbel Schoening

Fensterplatz


Auch an diesem Nachmittag wage ich mich vor die Tür, obwohl es regnet.
Der ganze Tag ist grau gewesen und die Wolken stehen tiefschwarz am Himmel, als ich auf die Straße trete. Es ist November und für mich der schlimmste Monat des Jahres. Beim Öffnen meines Schirmes überlege ich kurz und zögere, ob ich meinen täglichen Spaziergang trotz des Mistwetters antreten oder lieber wieder zurück in die Wohnung gehen soll. Ich entscheide mich gegen meine Wohnung und mache mich auf den Weg zu meiner Stammkneipe, die ein paar Straßen weiter liegt.
Diesen Weg gehe ich seit einem Jahr regelmäßig. Ich bin arbeitslos und recht einsam mit meinen achtundvierzig Jahren. Meine Frau hat sich von mir getrennt und mein Sohn sich von mir abgewandt. Mit so einem wie mir konnten sie nichts mehr anfangen. Seitdem lebe ich zurückgezogen und teile mir das bisschen Geld was ich monatlich bekomme, akribisch ein.
Natürlich bin ich kein Alkoholiker, nur weil ich jeden Tag meine Stammkneipe besuche, weiß Gott nicht. Mir geht es um den Kontakt zu den Menschen und ums Beobachten. Beobachten, das ist mir seit dem das Wichtigste geworden. Meist trinke ich einen Kaffee oder am Wochenende auch schon Mal eine kleine Karaffe Rotwein, mehr nicht. Dann gehe ich nach Hause und spinne mir kleine Geschichten über die Menschen zusammen, die an diesem Tag in der Kneipe gesessen haben. Manche Geschichten habe ich sogar schon einmal aufgeschrieben. An meinen schlimmen Tagen koche ich mir dann einen Tee und lese sie. Dann erinnere ich mich wieder an jede Einzelheit und mir geht es meist danach um einiges besser.
Mein Ziel habe ich erreicht und während ich meinen nassen Schirm ausschlage sind die Menschen damit beschäftigt, schnell ins Trockene zu gelangen. Max der Wirt, begrüßt mich wie immer freundlich und fragt nach meinem Wohlbefinden, auch wie immer. Dann ruft er mir den Satz zu:
„Wie immer Ernst?“ Ich nicke und gehe zu meinem Lieblingsplatz am Fenster in der Ecke. Das Lokal ist heute nur mittelmäßig besucht und ich entdecke ein paar neue Gesichter. Marie die Kellnerin, bringt mir ein Kännchen Kaffee und ein Stück Apfelkuchen. Wie immer stellt sie alles wortlos auf den Tisch und zieht sich beim Rückzug zur Theke ihre weiße Schürze glatt. Dann zündet sie sich eine Zigarette an und sieht gelangweilt zur Tür. Auf einmal geht die Kneipentür auf und herein kommt ein junger Mann so Ende zwanzig. Sofort erhellt sich Marie´s Gesicht, sie wirft sich in Positur, schiebt ihren Minirock noch etwas höher, öffnet unauffällig den oberen Knopf ihrer Bluse und leckt sich über ihre knallroten Lippen, während sie dabei genüsslich an ihrer Zigarette saugt.
Sie hat in meinen Augen etwas von einem Flittchen und reagiert nur, wenn so ein Individuum wie gerade den Raum betritt. Der junge Mann sieht ganz passabel aus und fährt auch sofort auf Marie ab. Geschmack hat sie ja denke ich bei mir, was ich von ihm nicht gerade behaupten kann. Lässig baut er sich neben sie am Tresen auf und meint:
„Na meine Süße, kannste mir nen Bier machen?“ grinst er sie lüstern an.
„Ich kann dir noch ganz anderes Sachen machen, mein Süßer“, flötet sie ihm zu und bewegt sich - ihn nicht aus den Augen lassend - hinter die Theke. Sie nimmt sich ein Bierglas aus dem Regal, stellt es unter den Zapfhahn und beobachtet den Typ dabei, wie er sich auf einen Barhocker schwingt. Max ermahnt sie:
„Marie, wir haben auch noch andere Gäste, die bedient werden wollen. Schleich dich“, und wirft ihr einen wütenden Blick zu. Marie ignoriert Max
wie sie es immer macht, wenn sich ein junger Mann in ihrer Nähe aufhält. Marie ist nie die Freundlichkeit in Person gewesen; habe ich jedenfalls bis heute nicht erleben dürfen. Ich nippe an meinem Kaffee und beobachte, wie die beiden ihre Handynummern austauschen. Dieser Abend ist gerettet, denke ich halblaut.
Nun kommt eine Frau herein, sieht sich um und steuert dann einen Tisch in Thekennähe an. Sie ist etwas älter, unscheinbar und winkt unsicher nach der Bedienung. Als Marie nicht reagiert, ruft sie in den Raum:
„Für mich einen Schnaps, bitte!“ Sie fingert nach den Zigaretten in ihrer Tasche, zündet sich eine an und nimmt hastig einige Züge. Warum ist sie so aufgeregt, frage ich mich insgeheim. Sie muss massiv Ärger gehabt haben in den letzten Stunden. Scheidung? Tod? Auf sie könnte alles zutreffen, denke ich. Ihre Zigarette ist schnell aufgeraucht und schon greift sie nach der nächsten. Max bringt ihr den Schnaps, weil Marie sich stur stellt. Sie bestellt gleich noch einen Schnaps bei Max. Dann starrt sie auf ihr leeres Glas und ihre Lippen bewegen sich wie im Traum.
Inzwischen verabschiedet sich der junge Mann mit einem Klapps auf Marie´s Hintern und beide grinsen sich an. Er zahlt und geht ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen, zur Tür. Sofort verfinstert sich ihre Miene wieder. Sie bringt der Frau lustlos den bestellten Schnaps und stellt ihn laut auf den Tisch, so wie sie es immer macht und immer machen wird.
Inzwischen habe ich genüsslich alles verspeist und bezahle bei Max an der Theke.
„Machs gut Ernst! Bis morgen“, ruft Max freundlich und winkt mir nach.
Ich nicke ihm zu und trete auf die Straße.
Es hat aufgehört zu regnen und die dunkle Wolkendecke ist verschwunden. Ein schmaler Sonnenstrahl lässt sich blicken und am Himmel erscheint ein Regenbogen. Ich bleibe stehen und genieße das Schauspiel, während die Menschen um mich herum ihren Weg fortsetzen. Nach ein paar Minuten setze auch ich meinen Weg nach Hause fort und immer mehr Sonnenstrahlen kämpfen sich durch die dunkle Wolkendecke.


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Tag der Veröffentlichung: 23.10.2008

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