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Bärbel Schoening

Eine Geschichte aus dem Zauberwald

Tomaso war ein kleines mickriges Männchen mit schütternem und grauem Haar, sein Gang vornüber gebeugt und schleppend. Er wohnte mitten in der Stadt in einem abbruchreifen Haus im ersten Stock. Freunde hatte er keine, da sein Gesicht immer mürrisch und ernst aussah. Die Kinder in der Nachbarschaft liefen weg, wenn er vor das Haus trat, um deren Müll mal wieder weg zu fegen. Das kam täglich vor und jedes Mal murrte und knurrte sich Tomaso etwas in den Bart, während er den Bürgersteig gründlich von all dem Müll befreite, den seiner Meinung nach die Kinder aus dem Haus in voller Absicht dahin geworfen hatten, nur um ihn zu ärgern. Das gelang ihnen immer wieder und sie machten sich schon einen Spaß daraus wenn sie sahen, wie er jedes Mal wütend mit dem Besen die Kellertreppe heraufkam und die Papier- und Zigarettenreste in hohem Bogen durch die Luft wirbelte. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein Spielplatz, auf dem alle Kinder aus der Gegend spielten. Aber auch hier hatte Tomaso seine Hand im Spiel. Er saß stundenlang am Fenster und beobachtete sie, wie sie den Spielplatz in Unordnung brachten, wie er es nannte. Dann lief er jedes Mal wie von der Tarantel gestochen nach unten und scheuchte alle auseinander. Die Kinder versteckten sich im Keller oder hinter der Hecke und warteten ab, bis Tomaso wieder im Haus verschwunden war. Erst dann trauten sie sich erneut auf den Spielplatz und spielten weiter. Im vergangenen Jahr hatten sich die Eltern zusammengetan und beschlossen, gegen Tomaso anzugehen. Selbst die Stadt war eingeschaltet worden, konnte aber nicht wirklich etwas für die Bewohner der Blumenstraße tun und Tomaso ins Heim schicken. Also blieb alles beim Alten und es gab täglich neuen Ärger. Alles in allem war Tomaso ein unzufriedenes altes Männchen und seit Jahren der Schrecken der Straße. Niemand wusste sein richtiges Alter und woher er kam.

Eines Tages machte Tomaso sich auf den Weg zum Wochenmarkt, um ein paar Kleinigkeiten einzukaufen. Die Sonne brannte heiß vom Himmel und Tomaso brach fast unter der Last seiner schweren Tasche zusammen. Er beschloss, im nahen Stadtpark eine kleine Pause einzulegen und setzte sich auf eine Bank.
„Hier ist es wenigstens friedlich und kein Kindergebrüll zu hören“, dachte er zufrieden und schloss seine Äuglein, um die Ruhe genießen zu können.
Dann spürte er, wie eine Hand ihn sanft am Arm fasste und mit einer lieblichen Stimme sprach:
„Tomaso, komm mit mir. Ich will dir eine Welt zeigen, die du ohne mich nie kennen lernen würdest. Vertrau mir und lass dich von mir führen“.
Tomaso schüttelte energisch den Kopf und wollte zuerst gar nicht aufstehen. Jedoch etwas war mit dieser Stimme los, sie war so anders als die, die er kannte. Er blinzelte vorsichtig durch seine Augenlider und sah schemenhaft eine weibliche Gestalt vor sich. Als er ihr unwiderstehliches Lächeln sah, konnte er nicht anders, als ihr zu folgen. Sie schwebte fast neben ihm her und lächelte ihn während der ganzen Zeit an. Ganz schnell hatten sie die Stadt hinter sich gelassen und standen nun auf einem Waldstück, das Tomaso fremd war. Suchend sah er sich um als dieses liebreizende Geschöpf sich zu ihm hinunter beugte und sagte:
„Herzlich willkommen im Zauberwald. Ich werde dir nun die friedlichen Dinge dieser Welt zeigen und nicht wie du sie kennst, Hass und Gewalt, Ungerechtigkeit und Streit. Tritt mit mir ein und lass dir von mir diese meine Welt zeigen“, dabei lächelte sie und nahm ihn bei der Hand.
„Wer bist du?“, fragte Tomaso mit brüchiger Stimme.
„Luna, die Fee des Mondes. Ich bin die Feenkönigin des Zauberwaldes und will dir mein Reich zeigen. Komm und folge mir, Tomaso. Hab keine Angst“, sagte sie immer noch lächelnd mit einem himmlischen
Stimmchen, wie Tomaso feststellen musste.
Hinter einem Blättertor mit einem Blütenrahmen befand sich der Eingang. Wie von selbst öffnete er sich und Tomaso schritt mit Luna - immer noch an der Hand - hindurch. Was er nun sah, verschlug ihm die Sprache:
„Wo bin ich? So etwas habe ich ja noch nie ge…“, stotterte er und klammerte sich fester an sie.
„Du wirst noch mehr sehen und es wird einen positiven Einfluss auf dich nehmen, wenn du den Zauberwald wieder verlässt“, antwortete sie. Beim Weitergehen erzählte Luna Tomaso eine Geschichte:
„Vor zirka 1 Mio. Jahren entstand der Wald der Elfen und Gnome und heißt seitdem der Zauberwald. Niemand der Menschen weiß, wo er sich befindet, außer seine Bewohner kennen ihn. Gehe deinen Weg Tomaso, die Bewohner des Zauberwaldes werden dir immer helfen. Nur vor dem Drachen solltest du dich in Acht nehmen und einen großen Bogen um ihn machen, wenn er dir begegnet. Der älteste Bewohner ist ein Baum. Er wohnt an einem Fluss und sein Gesicht ist mit tiefen Furchen übersät. Dort machst du Rast und erfrischt dich im kühlen Nass des Flusses. Dieser Fluss hat magische Kräfte, von denen die Bewohner des Zauberwaldes nie genug bekommen können. Er entspringt einer Quelle und endet in einem tosenden Wasserfall. Diese Gegend ist zu unruhig für die Bewohner und wird deshalb von den meisten gemieden. Der Drache Arnoldo ruht sich am Fuße des Wasserfalls aus und döst den ganzen Tag so vor sich hin. Auch ihn umgehst du und beachtest ihn nicht, denn wenn er gereizt wird, kann er ungemütlich werden“, erzählte sie, während Tomaso ihr gebannt zuhörte.
Sie kamen an einer Wiese vorbei, auf der sich kleine Elfenkinder aufhielten. Sie spielten zwischen den Blumen und andere flochten Blütenkränze und schmückten sich damit. Wie gebannt blieb Tomaso auf dem Moosweg stehen und sah dem friedlichen Treiben verzückt zu. Luna bemerkte es und lächelte versonnen. Dann führte sie Tomaso über eine schmale Holzbrücke, dessen Geländer mit einem Blütenreif geschmückt war. Zaghaft folgte er ihr und traute seinen Augen nicht. Sie standen plötzlich vor einer großen Felsspalte. Aus dem Innenraum fiel warmes Licht nach draußen und Luna erzählte:
„Hier wohnt ein kleines Völkchen schon seit Jahrtausenden. Sie sind schweigsam aber herzlich und sehr gastfreundlich. Erschrecke nicht wenn du sie siehst. Ihr Körper ist gedrungen und kugelig. Jeder der sich hierher traut wird hinein gebeten und mit dem bewirtet, was der Wald hergibt. Komm, sie haben uns schon gesehen. Gehen wir hinein“, bat sie und zog Tomaso hinter sich her. Sie gingen hintereinander durch einen schmalen Gang, an dessen Wänden Wasser herunter lief. Plötzlich standen sie in einem großen Saal, wo Kerzen aufgestellt waren. Kleine kugelige Wesen liefen geschäftig hin und her und es roch etwas sonderbar.
„Hier trifft sich das Völkchen regelmäßig und bewirtet seine Gäste. Kein anderer Waldbewohner konnte sich bis heute Zutritt verschaffen. Hier herrschen strenge Rituale“, klärte sie Tomaso auf. Der nickte nur verwirrt und schwieg. Dann kam ein Gnom zu ihnen und zeigte einladend auf den langen Holztisch, der mit Blütenblättern und dünnen Holzstäbchen eingedeckt war. Die Köpfe der Glockenblume dienten als Kelche. Zögernd wagte sich Tomaso vor und setzte sich. Ein Gericht wurde serviert, schweigend aber mit einem freundlichen Lächeln. Luna klärte ihn auf, als er mit dem ersten Bissen zögerte:
„Das ist ein Seerosensalat und schmeckt sehr gut. Man nimmt 1 Bündel Seerosen in verschiedenen Farben, 1 kleine Hand voll Schneckenhäuser, 1 mittlere Hand voll wilder Beeren, 8 eingelegte
Seerosenblätter. Das alles legt man in einen Sud von Mohnsamen und etwas ausgepresstem Waldhonig und lässt es durchziehen. Danach wird
alles miteinander verrührt und mit Zitronenmelisse garniert. Köstlich, sage ich dir“, und sie leckte sich verzückt mit der Zunge über die Lippen. Tomaso probierte etwas zögerlich und war erstaunt, wie gut ihm der Seerosensalat schmeckte. Kurz darauf verabschiedeten sie sich weil Luna ihm den kleinen See zeigen wollte. Dort ging gerade eine Krötenprozession vorbei und die anderen Bewohner standen andächtig und reglos am Wegesrand. Luna führte ihn zu einer Wiese, auf der Elfenkinder spielten. Alles sah so friedlich aus, das Tomaso stehen blieb und verzückt die Elfenkinder beobachtete. Ihn überkam plötzlich ein so seltsames Gefühl, das er in seinem ganzen Leben noch nie verspürt hatte. Alles war so friedlich und zauberhaft um ihn herum, so dass ein paar Tränchen über sein Gesicht liefen. Er beobachtete, wie sich die Bäume gegenseitig ihre Äste zur Begrüßung reichten und ihre Kronen dazu freundlich nickten. Schmetterlinge in den schönsten Farben schwebten lautlos umher und freuten sich über den neuen Besucher. Ein junges Elfenkind saß in einem weißen Blütenkleidchen im Gras und spielte mit einem Eichhörnchen. Auf der anderen Seite vom See spielten ein paar Einhörner mit den Elfenkindern, die im Fluss badeten. Sie spritzten sie mit ihren Hörnern nass und tanzten dabei im Kreis. Tomaso beobachtete, wie eine Fee auf einer Mondsichel saß und sich die kleine Gruppe lächelnd von oben ansah, während sie den Mond streichelte. Etwas größere Feenkinder schaukelten auf einem Zweig, der aus dem Fluss herausragte und schmückten ihn mit Moos und kleinen Blüten.

So langsam ging die Sonne unter und die blauen Veilchen am Wegesrand schlossen ihre Arme und verströmten einen betörenden Duft. Tomaso verließ über einen Teppich aus Moos und bunten Blüten den Zauberwald. Ihm begegneten Feen mit glänzenden Flügeln, die in der Dämmerung leuchteten und überall war ein zartes Stimmengewirr zu hören. Rosa und weiße Glöckchen klingelten, und eine Reihe grünen Farnes stand schützend im Hintergrund. Weißer Nebel legte sich über den Zauberwald und etwas Licht versuchte sich noch durchzukämpfen. Die Dämmerung hatte eingesetzt. Müde und glücklich setzte Tomaso seinen Weg fort und hörte noch lange das Läuten der Glockenblumen in seinen Ohren, während er alleine durch das Blättertor den Zauberwald verließ.

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Tag der Veröffentlichung: 20.10.2008

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