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Bärbel Schoening

Blauer Montag

Es ist gerade einmal 7.45 Uhr und mindestens zwanzig Patienten stehen schon hinter der Glastür am Eingang. Meine Kollegin ist bei diesem Anblick genervt und meint:
„Heute scheint es wieder heftig zu werden. Die vielen Patienten, die schon seit einer halben Stunde die Stellung halten, weil jeder der Erste sein will und niemand auch wirklich Zeit mitgebracht hat.“
Frau Doktor lächelt und Herr Doktor meint:
„Ach, das ist der erste Schwung. Wenn die Blutabnahmen gelaufen sind, wird es hier auch besser aussehen, glaubt mir.“
Wir nicken alle und ich sage:
„So Mädels, lasst uns anfangen, desto eher sind wir fertig“,
und stürzen uns ins Geschehen. Die Patienten drängen alle auf einmal zur Anmeldung und jeder gibt vor, zuerst da gewesen zu sein. Meine Kolleginnen und ich ignorieren es und nehmen einen nach dem anderen dran. Für acht Uhr ist eine Magenspiegelung eingetragen, doch die Patientin ist noch nicht zu sehen. Egal, es gibt bis dahin noch für alle genug zu tun bis sie auftaucht. Meine Kollegin geht mit einem Patienten ins EKG, der seit Samstag schon starke Herzbeschwerden hat und heute erst seinen Hausarzt, also uns, aufsucht.
„Ich wollte nicht ins Krankenhaus“, so sein Kommentar. Nach etwa drei Minuten ruft meine Kollegin aufgeregt einen der Ärzte ins EKG. Herzrythmusstörungen und Vorhofflimmern, lautet die Diagnose. Also ein Notfall. Ich rufe den Rettungswagen mit Notarzt und der ganze terminliche Ablauf platzt und verschiebt sich nach hinten. Die Patientin für die Magenspiegelung kommt eine halbe Stunde zu spät, weil sie im Stau stand. Das Telefon - alle vier Leitungen blinken ununterbrochen - wird von mir nonstop bedient und vor der Anmeldung hat sich ebenfalls der nächste Stau gebildet. Viele möchten heute noch in die Sprechstunde, weil es ihnen nicht gut geht. Leider kann ich auch den Patienten die anrufen, keine genaue Uhrzeit sagen, wann sie heute zur Sprechstunde kommen können. An diesem Morgen sind nur noch „zweieinhalb“ Termine frei und inzwischen ist der Terminplaner rappelvoll geschrieben. Der Rettungswagen trifft kurz darauf ein und aus dem Wartezimmer treten einige Patienten aus Neugier um zu erfragen, was passiert sei. Freundlich schicke ich sie wieder zurück und bitte alle um etwas Geduld, da wir einen Notfall haben. Alle nicken verständnisvoll und widmen sich wieder ihrer Zeitschrift. Es ist kurz nach neun Uhr und eine Patientin kommt aus dem Wartezimmer zur Anmeldung und blitzt mich genervt aus ihren Augenwinkeln an:
„Schwester! Wie lange dauert das denn noch? Schließlich hatte ich um viertel nach acht einen Termin in der Sprechstunde. Ich habe noch nicht gefrühstückt und so lange kann ich einfach nicht nüchtern bleiben!“
Ich entgegne ruhig:
„Frau Meyer. Gedulden Sie sich bitte noch ein wenig. Wie Sie ja mitbekommen haben, liegt ein Notfall im EKG. Also bitte, nehmen Sie noch Platz im Wartezimmer. Sie werden bestimmt gleich aufgerufen.“
„Na, hoffentlich“, meint sie und geht kopfschüttelnd zurück ins Wartezimmer.
Ich halte weiter meine Stellung an der Anmeldung. Gegen 9.15 Uhr wird der Patient aus dem EKG mit einer Infusion und dem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht. Bis zu diesem Zeitpunkt hat niemand der Ärzte nur einen einzigen Patienten behandelt. Frau Doktor beginnt zunächst einmal mit ihrer Magenspiegelung von acht Uhr. Beide Ärzte hatten sich bis jetzt im EKG aufgehalten. Gerade will ich den nächsten Anruf entgegen nehmen, da kommt Frau Meyer aufgeregt aus
dem Wartezimmer geschossen und baut sich vor mir auf, obwohl ich am Telefonieren bin, spricht sie in das Gespräch:
„So geht das aber nicht! Ich warte nun schon eineinhalb Stunden hier! Und ich bin nüchtern! Ich werde gleich auch zu einem Notfall, das können Sie mir aber glauben! Ich habe nun endlich die Faxen dicke! Wofür mache ich denn überhaupt Termine hier bei Ihnen, wenn ich eh´ nicht pünktlich dran komme? Gut, eine Viertelstunde Wartezeit plant man ja ein, aber dieses hier grenzt an Unverschämtheit!“
Ich lege die Hand auf den Hörer und sage hinein:
„Einen Moment bitte“ und wende mich an Frau Meyer.
„Ich habe Ihnen doch vor einer Viertelstunde erklärt, dass wir kurz nach acht Uhr schon einen Notfall hatten, Frau Meyer. Es wird noch eine Weile dauern, bis Herr Doktor Sie aufruft. Die anderen Patienten haben schließlich auch Termine und warten genauso wie Sie auch. Also, gehen Sie bitte noch einmal ins Wartezimmer.“
„Ich denke nicht daran! Ich bin nicht irgendjemand sondern Privatpatientin und ich hatte einen Termin bei Ihnen und kann dann auch erwarten, dass ich dran komme. Die meisten Patienten die im Wartezimmer sitzen, sind ohne Termin. Ich habe einen Termin! Oder haben Sie mich vielleicht vergessen? Zuzutrauen wäre es Ihnen ja bei dem Chaos, das hier herrscht. Sie haben sicher selbst nicht mehr den Durchblick, was hier alles so abläuft. Geben Sie es doch ruhig zu“, schreit sie hysterisch und sieht mich mit wütenden Augen an. Dabei zittern ihre Mundwinkel.
So habe ich Frau Meyer noch nie erlebt in all den Jahren. Im Gegenteil.

Sie ist mir bis heute als nette und freundliche Patientin begegnet. Deshalb sehe ich sie sprachlos an, hole tief Luft, und meine Kollegin übernimmt freundlicherweise mein Telefonat. Frau Meyer macht keine Anstalten, die Anmeldung zu verlassen. Sie weicht nicht von der Stelle. Langsam, mit belegter Stimme sage ich und versuche dabei ruhig zu bleiben:
„Frau Meyer. Sie kennen den Grund Ihres Wartens, den ich Ihnen vor einer halben Stunde schon erklärt habe. Der Arzt kann auch nur einen Patienten nach dem anderen aufrufen und ich denke, dass Sie als nächstes aufgerufen werden. Aber bis dahin nehmen Sie noch bitte einen Moment im Wartezimmer Platz, ja?“
Erbost schlägt sie auf die Anmeldung und kreischt:
„Sofort sehen Sie jetzt bei Frau Doktor nach ob ich die Nächste bin. Sofort! Nicht gleich oder irgendwann im Laufe des Vormittags. Schließlich bin ich Privatpatientin und kann diese Kleinigkeit von Ihnen verlangen! Ich bewege mich keinen Zentimeter von der Anmeldung weg, bis ich nicht von Ihnen die genaue Auskunft bekomme, wann ich endlich an der Reihe bin!“
Dabei trommelt sie nervös mit ihren Fingern vor mir herum und sieht Hilfe suchend zu meiner Kollegin. Die tut so, als wäre sie mit Telefonieren beschäftigt und würdigt sie keines Blickes.
„Ich kann erst ins Sprechzimmer wenn der Patient herauskommt, der gerade behandelt wird, Frau Meyer, und so lange nehmen Sie bitte im Wartezimmer Platz“, antworte ich nun wütend und sehe ihr dabei fest in die Augen. Sie kann meinem Blick nicht standhalten und kreischt:
„Den Teufel werde ich tun! Sie haben mir hier gar nichts zu sagen! Seit wann sind Sie so stur und nicht einsichtig, so wie ich Sie all die Jahre erlebt habe? Sicher sind Sie schon berufgeschädigt und ohne
Verständnis was mich betrifft! Ich werde mich über Sie beim Arzt beschweren, da können Sie Gift drauf nehmen!“, sagt es und wartet immer noch vor der Anmeldung, ihren strafenden Blick auf mich gerichtet. Nun reicht es mir und ich versuche mit fester Stimme mich zu rechtfertigen:
„Frau Meyer, es reicht! Beleidigen muss ich mich von Ihnen nicht lassen. Auch wenn Sie Privatpatientin sind, werden Sie hier nicht bevorzugt behandelt, selbst wenn Sie einen Termin haben. Die anderen Patienten müssen genauso warten, das ist nun mal so bei einem Notfall. Der geht immer vor. Wenn Sie einen Herzinfarkt hätten, wären Sie auch froh, wenn alles Menschenmögliche für Sie getan würde und dann müssten die anderen Patienten mit Termin auch warten. Und nun setzen Sie sich bitte sofort zurück ins Wartezimmer und oder gehen Sie nach Hause und frühstücken. Ich kann Ihnen gerne einen neuen Termin geben. Aber in den nächsten drei Wochen habe ich leider keinen mehr frei, Frau Meyer. Wir sind so ausgebucht es sei denn, Sie nehmen Wartezeit in Kauf. Dann hätte ich schon in der nächsten Woche einen Termin für Sie bei Herrn Doktor. Also, was möchten Sie?“, sage es und lächele sie dabei freundlich an, obwohl sich inzwischen mein Magen umdreht. Sie schnaubt und meint:
„Einen neuen Termin brauche ich nicht mehr. Ich werde mich bei Herrn Doktor telefonisch beschweren über Sie und dann den Arzt wechseln. Als Privatpatientin kann ich nämlich hingehen wo ich will!“, antwortet sie schadenfroh und schlägt noch einmal kräftig auf die Anmeldung.
„Tun Sie das, Frau Meyer. Einen schönen Tag noch“,
bringe ich hervor und gehe in die Küche, um mir einen Kaffee zu holen. Vielleicht hilft er mir ja, den Rest des Tages noch zu überstehen.

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Tag der Veröffentlichung: 20.10.2008

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