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Bärbel Schoening

Gleiswechsel

Wie jeden Tag muss ich mich beeilen, um meine Bahn noch zu erhaschen. Wie immer springe ich noch in letzter Sekunde in die Bahn und lasse mich auf einen freien Sitz fallen, wenn sich noch einer findet. So auch an diesem Morgen. Im allerletzten Moment komme ich wieder einmal angehetzt und bin schon in Schweiß gebadet, als ich mich irgendwohin plumpsen lasse. Es riecht nach Zigarettenrauch obwohl Rauchen verboten ist. Die Luft ist abgestanden und neben mir steht eine große dicke Frau, die so früh schon nach Schweiß riecht. Mir wird kurz übel und ich fange an zu husten. Alle paar Minuten hält die Bahn und es steigen Leute ein und aus. Am Berliner Platz öffnen sich wieder die Türen und ein junges Mädchen setzt sich mir gegenüber. Ich bin gedanklich schon an meinem Arbeitsplatz und weiß, dass der Tag heute besonders hart wird. Mit einem „Haaaaatschi!“ reißt mich das Mädchen aus meinen Gedanken. „Gesundheit“ ,sage ich kaum hörbar. Sie ignoriert es und sieht aus dem Fenster. Ich betrachte ihr Gesicht von der Seite und bemerke eine rote lange Narbe, die neben ihrem Ohr verläuft. Sie ist jung aber nicht unbedingt das, was man hübsch nennen könnte. Irgendetwas Trauriges ist in ihrem Gesicht zu lesen, was sie interessant macht. Plötzlich starrt sie mich an, nur kurz. Dann kramt sie in ihrer Basttasche und holt einen Geldbeutel heraus. Ein kurzer Blick zu mir und sie beginnt ihr Geld zu zählen. Viel scheint es nicht zu sein,
enttäuscht kippt sie es wieder zurück in den Beutel. Energisch verschließt sie die Tasche und schaut mich direkt an.
„Tja, es reicht wohl nicht für einen Fahrschein. Ich kann nur hoffen, dass kein Kontrolleur vorbei kommt“, meint sie schüchtern und sieht mich hilfesuchend an.
„Ich glaube heute nicht“, versuche ich sie zu beruhigen. Sie nickt und sieht aus dem Fenster.

Am nächsten Morgen.
Berliner Platz. Sie steigt ein und nickt mir zu. Dieses Mal setzt sie sich nicht sondern bleibt in der Nähe der Tür stehen. Ihre Hände krallen sich an den Türgriff, so dass ihre Knöchel weiß werden. Nervös wischt sie sich die linke Hand an ihrer Jeans ab, die am Oberschenkel dunkle Flecken aufweist. Unruhig blickt sie im Abteil umher, holt ein Taschentuch aus der Tasche, spuckt hinein und wischt notdürftig über ihre Jeans. Auf dem Taschentuch bleibt eine rote Spur zurück. Ein kurzer Blick zu mir, dann wirft sie es auf den Boden und niemand achtet darauf.
Zwei Haltestellen weiter steigt sie aus. Sie wirkt nervös und putzt sich immer wieder mit dem Ärmel über die Stirn. Ihre Augen blicken unruhig, gehetzt. Sie hat Angst.

Am nächsten Tag und auch nicht an den kommenden Tagen sehe ich sie. Ende der Woche kaufe ich mir eine Zeitung und lese folgendes:
Düsseldorf: Ein 28-jähriger ist in seiner Wohnung am Lindenweg erstochen aufgefunden worden. Verdächtigt wird die Freundin des Toten, die ihn mit einer anderen Frau überrascht hat. Eine Nachbarin berichtet: „ Sie stritten häufig in letzter Zeit und es war immer sehr laut in der Wohnung. Sogar nachts.“ Die Frau ist auf der Flucht. Zeugenaussagen nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.
Bei diesen Zeilen stockt mir der Atem und Schweiß tritt auf meine Stirn.
Ich weiß, dass es dieses Mädchen ist, das sie suchen. Und ich kenne sie.

Gut eine Woche später, ich sitze gerade wieder in der Bahn und sehe gähnend aus dem Fenster. Haltestelle Berliner Platz. Da steht sie und steigt ein. Zögernd kommt sie auf mich zu und setzt sich mir gegenüber.
„Hallo“, sage ich und…“lange nicht gesehen, was?“
Sie nickt, streicht verlegen über die Narbe in ihrem Gesicht und beginnt zu reden, erzählt mir ihr ganzes Leben und ich höre zu. Ab und zu blickt sie auf und lächelt. Sie redet wie im Rausch, erzählt mir ihre ganze Kindheit, die Marotten der Mutter, dass sie bis zu ihrem zwölften Lebensjahr noch Zöpfe getragen hat, von den zickigen Jahren als sie sechzehn war. In dem Alter hat sie ihren ersten Freund gehabt. Später, als sie eine Lehre im Supermarkt macht und danach auch noch übernommen wird glaubt sie, nun fängt ihr Leben erst richtig an. Sie erzählt ohne Punkt und Komma, über die zickigen Kolleginnen, dem cholerischen Chef, der sie auf dem Kieker hat, egal was passiert ist, sie ist es immer gewesen. Diese Ungerechtigkeit macht ihr so zu schaffen, dass ihre Beziehung sich so langsam auflöst und sie sich von einer Affäre in die andere stürzt. Sie will doch nichts Besonderes von den Männern. Nur geliebt und verstanden werden. Dann kommt Rolf, die Liebe ihres Lebens. Sieben Jahre ist sie mit ihm zusammen und sie schwören sich, miteinander ehrlich umzugehen. Dann findet sie ihn mit ihrer besten Freundin im Bett. Sie rastet aus und es tut so furchtbar weh.
Nun flüstert sie nur noch und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Ich will nach ihrer Hand greifen aber sie zieht sie zurück und ballt sie zu Fäusten. Die Bahn hält an und sie steigt ohne ein Wort zu sagen, aus.
Ich sehe ihr nach, wie sie auf dem Bahnsteig stehen bleibt, zunächst unentschlossen und dann mit schnellen Schritten auf die Gleise zugeht.

Ich denke: Sie werden sie finden, aber nicht mehr lebendig.

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Tag der Veröffentlichung: 19.10.2008

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