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Bärbel Schoening

Keine Zeit

Fünf Jahre hatte ich mit meinem Lebensgefährten in Spanien gelebt, und als Übersetzerin bei einem großen Verlag gearbeitet. Als unsere Beziehung zerbrach zog ich wieder zurück nach Deutschland. Meine ehemalige Firma machte mir ein Angebot, das ich nicht ausschlagen konnte. Ich fand schnell über einen Makler eine Wohnung im stillen Teil der Stadt mit gepflegten Vorgärten. Ich wollte mein Alleinsein erst einmal so richtig genießen. Für meine Nachbarn interessierte ich mich nicht und am Wochenende beschäftigte ich mich mit Übersetzungen.
Mir war erst neulich die zweistöckige Jugendstilvilla neben meiner Wohnung aufgefallen, als ich sonntags an meinem Schreibtisch saß und arbeitete. Ich hatte mir einen Cappuccino zubereitet und war ans Fenster getreten. Im Garten der Villa sah ich eine ältere Frau mit einer Rosenschere in der Hand, die fast zärtlich an den Kletterrosen herumschnippelte. Sie war eine kleine und zierliche Person mit grauem Haar, das in der Sonne bläulich schimmerte. Ihr sommerlich geblümtes Kleid bewegte sich durch den Wind leicht an ihrem Körper. Ich schaute genauer hin und sah, dass ihre nackten Füße in Gesundheitslatschen steckten. Sie schien mit der Rose zu sprechen, die sie gerade fast andächtig behandelte. Ab und zu lächelte sie sie an und hielt dabei einen Augenblick inne. Dann schritt sie langsam durch den Garten, bückte sich hier und da, pflückte ein paar verwelkte Blüten oder Blätter ab, die sie alle in ihrer kleinen Hand sammelte und zu dem Komposthaufen an der Hecke brachte. Dann ging sie zurück zu ihren Rosen, um mit ihrer Arbeit fortzufahren. Beneidenswert, dachte ich bei mir und schämte mich auf einmal, welch nüchterner und pragmatischer Mensch ich doch im Vergleich zu der älteren Lady war. Ich schaute ihr noch eine Weile
zu, bevor ich mich wieder an den Laptop setzte.

Dies alles geschah ungefähr vor einem Jahr.
Die letzten Wochenenden sah ich sie kaum noch in ihrem herrlichen Garten, der etwas Verwunschenes an sich hatte. Mittlerweile vermisste ich sie und der Garten blieb sich selbst überlassen. Da ich ihren Namen nicht wusste, erkundigte ich mich in der Nachbarschaft danach. Ein junger Mann, ungefähr zwanzig meinte:
„Ach, die alte Damen aus der Villa dort drüben?“
Ich nickte.
„Berger heißt sie oder so ähnlich. Genaues weiß ich auch nicht. Die Leute hier in der Straße sind alle berufstätig und haben keine Zeit, sich um jeden Kram zu kümmern. Ciao“, und weg war er.
Da stand ich nun und war nicht schlauer als vorher.
Die nächsten Wochen waren gefüllt mit Arbeit und ich musste beruflich nach England. Frau Berger war - seit meiner Begegnung mit dem jungen Mann - aus meinem Gedächtnis verschwunden.

Jeden Tag, den ich nach Hause fuhr, musste ich in an der Kirche vorbei. Dort war eine Ampel installiert wegen diverser Umbauarbeiten am Kirchenportal. Ein Haufen Schutt lag neben dem Eingang, das Gras wuchs wild und jeden Abend kam ich genau vor dieser Ampel zum Stehen. Ich hatte Einblick in die Seitenstraße, in der ein Altenwohnheim vor einem Jahr neu errichtet worden war. Eine halbhohe Hecke gewährte mir Sicht in die schmale Auffahrt. Es gab nur diese Lücke. Sie war nicht groß, jedoch gerade so groß, dass ich in die Auffahrt sehen konnte. Direkt in der Einfahrt stand jeden Tag ein Rollstuhl, indem eine Frau saß. Die Ampel sprang auf Grün und ich fuhr nach Hause.

Am nächsten Tag wieder das gleiche Spiel. Die Ampel war rot – wie sollte es auch anders sein – und der Rollstuhl stand wieder in der
Einfahrt mit der alten Frau. Ich konnte sie von hier aus nur schemenhaft erkennen und wurde das Gefühl nicht los, dass es sich um Frau Berger handelte. Dieser Anblick bot sich mir täglich und ich beschloss, am nächsten Abend einmal auszusteigen und mir die Dame aus der Nähe anzusehen. Unauffällig, versteht sich.
Ein paar Tage später parkte ich einige Häuserblocks neben dem Altenheim und benutzte die andere Straßenseite um nicht aufzufallen. Das Kopfsteinpflaster wirkte holprig und war alles andere als optimal für meine High Heels. Immer wieder trat ich mit den Absätzen auf Moos,
das die defekten Stellen ausfüllte. Eine alte Scheune lugte hinter dem Altenheim hervor und wirkte nicht gerade einladend auf den Besucher.
Dahinter fand sich ein kleines Wäldchen und lud zum Spazierengehen ein. Von hier aus konnte ich sie erkennen; es handelte sich tatsächlich um Frau Berger. Ich ging etwas näher, und beobachtete sie jedoch aus der Ferne. Ihr Kopf war mit einem weißen Strohhut bedeckt unter der ihr graues Haar verschwunden war. Die breite Krempe des Hutes schützte sie vor der Sonne, denn es war Sommer und heute besonders heiß gewesen. Auf ihrem Schoß lag eine helle Leinendecke, die bis zu ihren Füssen reichte. Nun stand ich ihr genau gegenüber und starrte sie an. Sie schien mich nicht zu bemerken denn ihr Blick war gesenkt und weilte auf ihrem Schoss. Ihre Haut war gebräunt und unzählige Furchen bedeckten ihr Gesicht. Jede einzelne schien von ihrem Leben zu erzählen. Große und kleine Leberflecke machten sich auf ihren Handrücken breit, die sie gefaltet auf die Decke in ihrem Schoß gelegt hatte. Es sah fast andächtig aus, wie sie da so saß. Bewegungs- und teilnahmslos. Ich sah ein bewegtes Leben, das in der Einfahrt verharrte und zu Ende ging. Nachdenklich fuhr ich nach Hause und nahm mir vor, sie morgen einmal anzusprechen oder ihr wenigstens die Tageszeit zu sagen. Von da an fuhr ich jeden Abend an ihr vorbei, grüßte sie. Sie nickte kaum merklich zurück. Einmal hob sie ihre rechte Hand. Sie hatte vorher in ihrem Schoß auf der hellen Decke geruht. Manchmal jedoch hatte sie ihre Hände auch gefaltet und bewegte ihr Lippen so, als würde sie ein Gebet aufsagen. Angesprochen hatte ich sie bisher noch nicht. Ich traute mich einfach nicht und nahm es mir wieder einmal für den nächsten Tag vor. Inzwischen war es für mich schon zu einem Ritual geworden, jeden Abend vorbeizufahren um Frau Berger zuzunicken. Heute hatte ich schon mittags frei und war ein paar Stunden früher als sonst in dieser Straße. Auch heute saß sie schon da; wieder mit ihrem breitem Strohhut und einer Decke um ihre Beine geschlungen. Das Wetter war ein wenig bewölkt und etwas kühler als gestern. Ich stand ihr gegenüber und grüßte sie laut. Sie drehte ihren Kopf leicht zur Seite und sah mich aus müden aber freundlichen Augen an. Sofort richtete sie ihren Blick wieder auf ihre Hände, die sie faltete. Beschämt und unsicher ging ich weiter zum Wagen und fuhr nach Hause. Wieder ärgerte ich mich über mich selbst, dass ich nicht auf sie zu gegangen war, ihre Hand zu nehmen und ein paar Worte mit ihr gewechselt hatte. Doch mir fehlte die Courage und ich nahm es mir für morgen vor. Ich hatte den Eindruck, dass sie mich schon registriert hatte, als ich sie heute grüßte. Nicht, dass sie etwas zu mir gesagt hätte nein, das nicht. Sie hob nicht mehr nur kurz ihren Kopf zum Gruße, sondern ihre rechte Hand, nicht viel höher als bis zur Armlehne, aber hoch genug, dass ich es sah. Vielleicht freute sie sich ja auch ein bisschen, mich tagtäglich zu sehen und wartete schon auf mich, wenn ich die Einfahrt vorbei ging und nach ihr schaute jeden Tag? Ich hatte keine Ahnung und doch fühlte ich mich ihr gegenüber irgendwie verantwortlich.
Eine Nachbarin erzählte mir etwas über Frau Berger. Sie hatte nach dem
Krieg eine Firma mit Strickmodellen im Alleingang geführt; ein
Unternehmen mit weit über zweihundert Mitarbeitern. Ihr Mann war im Krieg gefallen und sie baute damals alles wieder auf und die Firma
vergrößerte sich im Laufe der Jahre. Italien war der Hauptabnehmer ihrer Ware. Dort verbrachte sie die letzten Jahre mehrere Monate in ihrem Ferienhaus, um dort ungestört die Modelle für die nächste Saison zu zeichnen und zu entwerfen. Als ihr Lebensgefährte – ein Italiener – vor ein paar Jahren starb, war sie nicht mehr dort gewesen, sondern hielt sich nur noch in ihrer Villa auf. Seitdem sei sie mehr und mehr verfallen und zwar in Richtung Demenz.
Bei einem Espresso, den ich mir meist nach Feierabend machte, dachte ich mich in Frau Bergers Leben hinein.
Sicher hat sie zwei Weltkriege hinter sich gebracht, viele Verluste hinnehmen müssen, und durch Fleiß ihr Leben dann alleine gemeistert.
Ist sie heute zufrieden, nachdem sie ein so erfülltes Leben geführt hatte?
Vielleicht gab es Dinge, die sie immer wieder aufgeschoben und nie in Angriff genommen hatte? Oder träumte sie von ihrer vergangenen Jugend, ihrer schönen Villa und dem herrlichen Garten mit den schönen Rosen? Was hatte sie erlebt? Was hätte sie vielleicht anders gemacht in ihrem Leben? Konnte sie sich ihre Träume erfüllen? Oder gab es Dinge, die sie nicht getan, sondern immer wieder aufgeschoben hatte?
Für morgen nahm ich mir fest vor, anzuhalten und sie näher kennen zu lernen.
Daran dachte ich wieder, als ich heute auf die Einfahrt zu fuhr und zum Gruß ansetzen wollte.
Aber … Die Einfahrt war leer.

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Tag der Veröffentlichung: 20.09.2008

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