Das andere Leben
Schweigend sitzen wir beim Frühstück, bis Vater die Stille unterbricht:
„Sind die Croissants noch aus dem Krieg, Barbara?“ poltert er und wirft wütend das angebissene Croissants zurück auf den Teller. Ich schlucke und entgegne ruhig:
„Nein Vater, im Krieg gab es keine Croissants, wie du sicher weißt!“.
Kopfschüttelnd hält er mir seine halbleere Kaffeetasse unter die Nase und wartet ungeduldig darauf, dass ich sie sofort fülle. Danach gestatte ich mir einen Blick in die Morgenzeitung und schweige.
„Natürlich weiß ich das! Schließlich bin ich aus dieser Zeit! Wenn es einer weiß, dann ja wohl ich!“, rechtfertigt er sich und beißt wütend in das ach so harte Croissant, an das ich absolut nichts auszusetzen habe.
Während ich weiter lese, redet er ununterbrochen und wirft mir alles Mögliche an den Kopf, so wie er es jeden Morgen macht. Oft habe ich ihm schon vorgeschlagen, er möge einfach später aufstehen und zwar erst dann, wenn ich das Haus schon verlassen habe. Inzwischen weiß ich, dass er so einen Tagesbeginn braucht. Ich bin dann jedes Mal froh, wenn ich zur S-Bahn gehen, und zu meinem kleinen Buchladen fahren kann. So auch an diesem Morgen. Ich schnappe mir meine Jacke und Tasche, streichle Mautzi meine Siamkatze, wünsche beiden noch einen schönen Tag und verlasse die Wohnung. Vor der Tür höre ich, wie er etwas hinter mir herruft. Auch das kenne ich nicht anders. Jeden Tag das gleiche Spiel. Ich laufe die Treppe hinunter zu meiner Bahn und denke darüber nach, warum er den Tag immer so negativ beginnen muss.
Seit Mutters Tod verließ ich Vater zuliebe meine Wohnung über dem Buchladen in der Stadt und zog bei ihm ein. Kurz darauf erkrankte er an einem schweren Diabetes und war auf meine Hilfe angewiesen. Inzwischen bewegt er sich im Rollstuhl durch die Wohnung und verrichtet tagsüber die kleinen Arbeiten, die im Haushalt so anfallen, da ich erst am Abend nach Hause komme. Während des Tages schaut unsere Nachbarin, Frau Conrads öfters nach ihm. Sie wohnt in der Wohnung gegenüber und hat unseren Wohnungsschlüssel. Nach Mutters Tod wurde das große Haus umgebaut und die restlichen Wohnungen als Eigentum verkauft. Vaters Wohnung ist mit 120 Quadratmetern die größte während ich zwei separate Zimmer bewohne und auch über ein eigenes Bad verfüge. Die Küche benutzen wir gemeinsam und der Rest steht Vater zur Verfügung.
Ich trete vor das Haus und atme die feuchte Morgenluft tief ein. In der Nacht hat es geregnet und mich fröstelt ein wenig. Ich ziehe den Gürtel meiner Jacke enger und laufe über die Straße zur Bahn. Einige Fahrgäste stehen schon dort, ihre Hände tief in den Taschen vergraben. Auch sie scheinen zu frieren und treten ungeduldig von einem Bein aufs andere. Ich nicke ihnen kurz zu und geselle mich dazu. Ein paar Minuten später fährt die Bahn ein. Heute hat sie keine Verspätung wie sonst meist. Morgens ist sie immer überbesetzt, da alle zur Arbeit fahren. Ich rutsche auf die Bank zwischen einem jungen Mann und einer älteren Frau. Er murmelt etwas verschlafen:
„Herrgott, muss das jetzt sein?“ während die ältere Frau mich mit einem wütenden Blick straft. Ich lächle verlegen und entscheide mich, auf der Seite des jungen Mannes zu bleiben. Leichte Übelkeit überkommt mich; er riecht stark nach Alkohol und Nikotin. Sicher schläft er seinen Rausch aus bis zur Arbeit, denke ich während die ältere Frau mich immer noch mit zusammengepressten Lippen anstarrt. Nach vier Haltestellen muss ich aussteigen und bin erlöst von dem „Gestank“.
Dann gehe ich auf die andere Seite zu meinem kleinen Laden und freue mich auf die Arbeit. Hier fühle ich mich wohl. Heute werde ich einiges umräumen und diverse Ecken mit Büchern umdekorieren. Wenn ich es schaffe, könnte ich noch das Schaufenster verschönern, denke ich gerade als ich die Ladentür aufschließe und nach den Croissants schnappe, die mir Frau Schafhausen jeden Morgen vor den Eingang legt. Nachdem ich mir sonst immer zuerst einen Kaffee genehmige, bereite ich mir heute eine Kanne Tee zu. Der Streit mit Vater ist mir gehörig auf den Magen geschlagen. Ich blättere schnell durch die Morgenzeitung und denke, dass ich als erstes mit der Herbstdekoration meines Schaufensters anfangen sollte, so lange es noch ruhig ist. Ich hole das Material aus der Ecke und stelle alles für eine herbstliche Deko zusammen. Am Fenster und überlege mir, wie ich die Bücher geschickt mit dem Herbstlaub dekorieren kann.
Da sehe ich, wie ein maskierter Mann aus der Bank stürmt und direkt auf meinen Laden zu läuft. Er stößt die Tür auf und tritt sie genauso schnell wieder hinter sich zu. Er bedroht mich mit seiner Pistole und brüllt:
„Wo geht’s hier raus? Keinen Mucks, sonst bist du dran!“ Von weitem höre ich die Alarmanlage der Stadtsparkasse und das Quietschen von Bremsen. Bevor ich reagieren kann brüllt er:
„Hast du`s mit den Ohren? Wo ist der Hinterausgang? Ich hab nicht ewig Zeit!“ und schiebt mich mit seiner Pistole in die äußerste Ecke des Ladens. Bevor ich reagieren kann, hat er die Tür entdeckt, die zum Hof führt. Er schubst mich zur Seite und ich falle zu Boden. In der Tür dreht er sich noch einmal kurz um und blickt mich wütend an:
„Wenn du mich verpfeifst, wirst du deines Lebens nicht mehr froh werden! Das garantiere ich dir!“, poltert er, während er mir mit der Waffe vor dem Gesicht herumfummelt. Dann ist er verschwunden.
Von der Straße dringt Lärm zu mir. Ich rapple mich langsam auf und schleppe mich wie in Trance zum Fenster. Dort sehe ich das komplette Polizeiaufgebot der Kleinstadt. Die Polizisten können die Gruppe Menschen nur mit Mühe und Not hinter die Absperrung schieben. Alle reden laut und wild durcheinander. Ich halte mich an der Barriere vom Schaufenster fest, da ich das Gefühl habe, umzukippen und beobachte, wie ein silbergrauer BMW vorfährt. Ein hoch gewachsener schlanker Mann steigt aus. Die Menge wird sofort ruhiger und schaut hinter ihm her. Er zuckt ein kleines Notizbüchlein und es sieht für mich so aus, als ob er mit der Zeugenbefragung beginnt.
Mir sitzt der Schock immer noch in den Gliedern. Ich blicke unruhig in Richtung Hintertür. Nach wenigen Minuten traue ich mich erst, sie abzuschließen. Dann sacke ich in den Korbsessel. Was war das denn gerade? Eine Filmszene oder was, schießt es mir durch den Kopf. Ich gieße mir mit zittrigen Händen Tee ein und wärme meine eiskalten Hände an der Tasse. Was ist, wenn der Kommissar auch mich befragen wird? Was sage ich dann? Soll ich ihn anlügen oder erzählen, dass ich vor einigen Minuten die Bekanntschaft eines weniger charmanten, in schwarz gekleideten Mannes gemacht und ihm zur Flucht verholfen habe? Erst jetzt erfasse ich die Situation und mir dreht sich der Magen. Dann schiele ich durch das Schaufenster über die Straße und bemerke, dass inzwischen nur noch wenige Leute vor der Bank stehen. Die Geschäftsleute öffnen nun endlich ihre Läden.
Das Telefon klingelt. Ich starre wie versteinert darauf und kann mich keinen Zentimeter von der Stelle bewegen. Ein paar Minuten später hört das Klingeln auf und ich atme erleichtert ein und aus. Während ich alle Bücher einfach ins Schaufenster staple, durchlebe ich wieder das vor wenigen Minuten Geschehene. Seine Augen… fällt mir ein. Sie waren schwarz wie die Nacht und sein Blick, voller Panik und Wut zugleich. Ach ja, er war schwarz gekleidet und trug einen Rucksack über den Schultern. Mehr fällt mir auch nicht ein außer, das er groß und schlank war und eine schwarze Wollmütze auf dem Kopf trug. Das Läuten der Ladentür schreckt mich aus meinen Gedanken und herein kommt der Herr aus dem silbergrauen BMW.
„Hallo, ist hier niemand?“, ruft er und sieht sich suchend um, bis er mich in der hinteren Ecke entdeckt.
„Frau Paulussen? Hauptkommissar Wächter! Entschuldigen Sie die frühe Störung! Sicher haben Sie mitbekommen, das sich drüben in der Stadtsparkasse ein Bankraub ereignet hat vor gut einer halben Stunde“, sieht er mich prüfend an.
„Ich? Bankraub? Ja, nein, ich … ich meine nicht so richtig“, stammele ich, reiße mich zusammen und frage:
„Wie viele Täter waren es denn, Herr Kommissar?“ und versuche angestrengt zu lächeln.
„Bis jetzt einer, aber das weiß man ja nie so genau. Haben Sie denn nichts beobachten können? Immerhin ist die Stadtsparkasse genau gegenüber und man sieht dann doch schon eher mal das eine oder das andere“, meint er und schaut sich so ganz nebenbei im Laden um.
„Wenn ich ehrlich bin, habe ich nichts gesehen, Herr Wächter! Ich hatte vor, mein Schaufenster herbstlich zu dekorieren und stand auf dieser Leiter, um mir das Dekomaterial aus dem obersten Schrank zusammen zu suchen“, antworte ich ernst.
„Aber die Alarmanlage müssen Sie doch gehört haben!“, meint er und bleibt direkt vor mir stehen.
„Das schon! Aber das ist nichts Außergewöhnliches! Die wird alle naselang getestet und darum habe ich dem keine Beachtung geschenkt“, antworte ich so logisch wie möglich.
„Na ja, wenn Sie mit der Deko beschäftigt waren, dann rennt man ja auch nicht ständig zum Fenster um nachzusehen, was sich da draußen so alles tut“, meint er verständnisvoll lächelnd und drückt mir seine Visitenkarte in die Hand.
„Für alle Fälle! Falls Ihnen doch noch etwas einfallen sollte“, grinst er und wünscht mir noch einen schönen Tag.
Der Tag ist für mich gelaufen. Mein ganzer Körper steht unter Strom und ich bekomme ihn nicht mehr unter Kontrolle. Ich kann mich erst viel später wieder beruhigen indem ich mir einrede, dass der Bankräuber schon über alle Berge sein muss. Er wird sich doch denken können, dass man bundesweit nach ihm fahnden wird...
Heute Vormittag geht es im Geschäft zu wie im Taubenschlag. Meine Kunden sind neugierig und einer weiß mehr als der andere. Alle haben was gesehen, aber jeder etwas anderes. Auch Frau Schafhausen verbringt den halben Vormittag bei mir und holt Erkundigungen von Kunden ein, die mehr über die Ereignisse reden, als dass sie ein Buch kaufen. In der Mittagspause ziehe ich mich in meinen Sessel zurück und lege die Beine hoch. Der Schock sitzt mir immer noch tief in den Gliedern und ich sehne mich nach Jochen, der die Liebe meines Lebens war.
Vor fünf Jahren lernten wir uns hier kennen, als er ein Buch über Italien im fünfzehnten Jahrhundert bestellte. Es war Liebe auf den ersten Blick von beiden Seiten. Er war charmant, gefühlvoll und wir verstanden uns ohne Worte. Durch ihn wurde mein Leben wieder lebenswert und schön. Jede Sekunde, dir wir miteinander verbrachten, war stimmig und liebevoll. Wir respektierten und achteten einander. Ich erinnere mich, wie schnell wir uns verlobten und unsere Verlobungsreise unbedingt in die Dolomiten gehen musste. Jochen war ein begeisterter Bergsteiger, während ich ja das Meer bevorzuge. Mit Vater war es ein Desaster, er begriff überhaupt nichts mehr, aber ich habe mich durchgesetzt und während unseres Urlaubs eine Hilfe für ihn organisiert. Auch wenn er mir das bis heute vorwirft, ich hätte ihn damals herzlos in fremde Hände gegeben, ohne Rücksicht auf sein Wohlergehen.
Obwohl Jochen genügend Erfahrung als Bergsteiger besaß, geschah das Unglück schon am dritten Tag. Er stürzte in die Tiefe und ließ mich allein. Von da an hatte ich keine Freude mehr am Leben und ich flüchtete mich in Arbeit. Jochen fehlt mir immer noch so sehr und ich weiß, dass ich keinen Mann mehr so lieben kann, wie ihn. Vater war es nach Jochens Tod sehr Recht, dass ich nun wieder ganz für ihn da sein konnte, und zeigte mir gegenüber keine Spur von Mitgefühl. Nun sitze ich hier wie ein Häufchen Elend und sehne mich so sehr nach Jochen. Er könnte mit der Situation umgehen und wüsste, was zu tun wäre. Leise weine ich vor mich hin.
In den nächsten Tagen ist der Bankraub das Gesprächsthema Nummer eins. Jeder scheint live dabei gewesen zu sein. Vater erzählt mir schon davon, bevor ich die Tür hinter mir geschlossen habe.
„1,5 Millionen haben die erbeutet!“, ruft er bewundernd und … „bisher fehlt jede Spur von den Tätern! Wenn die clever sind, haben die sich schon ins Ausland abgesetzt!“, meint er und zeigt mir den Artikel in der Abendzeitung.
Ich nicke nur und mache das Abendbrot. Heute ist nicht mein Tag, stelle ich enttäuscht fest und gehe deshalb früh schlafen.
Am nächsten Tag ist der Nachmittag den Kindergartenkindern gewidmet. Einmal im Monat veranstalte ich so einen Nachmittag nach dem Motto: „Malen für die Kleinsten“. Die Resonanz war anfangs so positiv, dass sie zu einer Regelmäßigkeit geworden sind. Ich mag Kinder und habe eine Engelsgeduld beim Beantworten ihrer tausend Fragen. Manchmal geschieht es, dass die Mütter mir ihre Kleinen anvertrauen während sie ihre Einkäufe erledigen. Dann setze ich mich in einen Sessel und lese ihnen aus dem Buch ihrer Wahl vor und sie lauschen wie gebannt meiner dunklen Stimme. Kommen dann die Mütter von ihren Einkäufen zurück, gibt es jedes Mal ein großes Geschrei, weil keiner der Kleinen Lust hat, wieder mit nach Hause zu gehen. Nachdem ich fast den ganzen Vormittag mit meiner „Kinderbuchecke“ beschäftigt bin, gehe ich ein paar Schritte in Richtung Theke, um meine Dekoration zu bewundern.
„Ja, so kann es bleiben! Das wird den Kleinen gefallen“, sage ich halblaut vor mich hin und beschließe, mir einen Espresso zu machen.
„Das finde ich auch“, vernehme ich eine Stimme und … „Die Kinder werden ihre Freude daran haben“. Erschrocken drehe ich mich um und sehe in Frau Schafhausens Gesicht.
„Es ist ganz schön geworden“, antworte ich zufrieden und biete ihr auch einen Espresso an.
„Ja gerne, Barbara! Da sag ich nicht nein“, meint sie und hat es sich schon bequem gemacht.
„Gibt es schon was Neues vom Bankraub, Frau Schafhausen“, frage ich, während ich nach dem braunen Würfelzucker suche.
„Nicht das ich wüsste. Was sagen Sie denn zu dem Ganzen?“, dabei zeigt sie kopfschüttelnd zur Stadtsparkasse. Meine Hände sind schweißnass und mein Herz stolpert. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen und antworte betont ruhig:
"Tja, was soll ich dazu sagen? Haben sie ihn schon gefasst?“, frage ich und nippe an meiner Tasse.
„Keine Ahnung! In der Stadt redet man darüber, dass es zwei gewesen sein sollen! Wie kommen Sie denn auf einen, Barbara?“, fragt sie und sieht mich prüfend an.
„Natürlich! Es war immer von zweien die Rede, das meinte ich ja auch! Noch einen Espresso?“, lenke ich ab.
„Nein danke. Sonst kann ich heute Abend wieder kein Auge zu machen“, antwortet sie und erhebt sich.
Ich atme erleichtert auf, als sie durch die Tür nach draußen verschwindet.
Auf der Heimfahrt nehme ich mir vor, gleich mit Vater noch eine Kleinigkeit zu essen und mich dann in mein Reich zurückzuziehen. Der schwarze Mann geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Heute sehne ich mich nach Ruhe und möchte viel lieber meinen Gedanken nachgehen. Das mache ich sehr oft an solchen Tagen mit einem besonderen Erlebnis. Meist dusche ich zuerst, und rede mit Vater noch eine halbe Stunde über die Ereignisse des Tages, um mich danach mit einem Buch aufs Bett zurück zu ziehen. Jedoch muss ich feststellen, dass es nicht so einfach ist mit dem Zurückziehen. Seit ein paar Tagen läuft alles anders, hier zuhause und im Laden.
Also setze ich mich mit Vater an den Küchentisch und zünde eine Kerze an. Er sieht mich verwundert an, sagt aber nichts. Ich jedoch höre ihn denken. Während des Essens sprechen wir beide über belanglose Dinge. Vater berichtet über die Meldungen, die er in den stündlichen Nachrichten gesehen hat und es kommt eine kurze Diskussion über Politik und die allgemeine Wirtschaftslage in der Welt zustande. Bei dem Thema Politik läuft er zu Hochform auf und steigert sich jedes Mal so hinein, dass ich kaum dagegen halten kann. Er hält mir eine ausführliche Rede und ist in seinem Element. Schweigend und nickend nehme ich alles zur Kenntnis. Ich esse weiter aber meine Gedanken sind nicht hier. Vater ahnt nichts und ich will ihm auch nichts erzählen. Seine Meinung ist, dass seine Tochter zwar tagsüber in ihrem Buchladen arbeitet, jedoch die Abende und Wochenenden mit ihm zu verbringen hat. Von einem eigenen Leben kann ich nur träumen, geschweige denn, ich habe keines zu haben und zwar so lange er lebt. So einfach ist das für ihn.
Selbst der Kontakt zu meiner Freundin Marlene in Frankfurt ist fast eingeschlafen. Dabei kennen wir uns seit dem Abitur. Sie hat drei Kinder und ist glücklich mit ihrem Ralf. Er ist in der Computerbranche tätig und sehr häufig unterwegs, während Marlene zuhause bei den Kindern ist. Sie ist eine liebevolle Mutter und genießt es, dass sie so viel Zeit mit ihren süßen Geschöpfen verbringen kann. Finanzielle Sorgen haben die beiden keine, da Ralf sehr erfolgreich in seinem Job ist. Marlene kommt nicht gut mit Vater aus und darum treffe ich mich eher bei ihr, als das sie mich besucht. Alle paar Monate müssen wir uns sehen. Das haben wir uns damals geschworen, aber es geschieht immer seltener, und wenn, dann natürlich nur am Wochenende. Dann hütet Ralf die Kinder, während Marlene und ich ins Kino, Theater und anschließend immer zu unserem Lieblingsitaliener gehen. Wir haben sehr viel Spaß zusammen, ratschen und tratschen über die alten Zeiten. Gerade denke ich, es ist schon wieder fast drei Monate her, als ich bei Marlene war und es wird höchste Zeit, sie mal wieder zu besuchen. Ich nehme mir vor, sie nach dem Essen anzurufen als Vater, eine Spur zu laut, meint:
„Sag mal Barbara, hörst du mir überhaupt zu? Wie schmeckt dir denn der französische Wein? Ich habe das Gefühl, dass du mit deinen Gedanken ganz woanders bist! Es ist doch nun wirklich nicht zuviel von mir verlangt, wenn ich die einzige Stunde die wir miteinander am Tag verbringen von dir erwarte, dass du mit mir sprichst und vor allen Dingen, dass du mir wenigstens zuhörst?“ Ich zucke zusammen und meine kleinlaut:
„Entschuldige Vater, was hast du mich gerade gefragt? Ich bin mit meinen Gedanken noch im Geschäft! Also, was möchtest du wissen?“
„Nun nichts mehr! Es hat sich erledigt! Ich gehe in mein Zimmer und du solltest vielleicht heute einmal früher schlafen gehen, weil du so einen anstrengenden Tag hattest! Gute Nacht!“, sagt er und rollt kurzerhand mit seinem Rollstuhl aus der Küche. Immer muss er mir sagen, was ich zu tun habe, denke ich wütend. Aber so ist er nun mal und das wird sich auch nie ändern. Ich mache mich fertig für die Nacht und nehme die angebrochene Flasche Wein mit in mein Zimmer, schnappe mir ein Buch, lege eine Entspannungs-CD ein und lasse meinen Gedanken freien Lauf.
Am nächsten Morgen verlasse ich wie immer zur gleichen Zeit das Haus. Ich frühstücke heute ohne Vater, denn er hat sich seit gestern Abend nicht mehr sehen lassen und wird beleidigt sein. Ich bereite ihm alles soweit vor, so dass er nur noch die Kaffeemaschine anstellen muss. Meist schaut Frau Conrads gegen zehn Uhr mal nach ihm und bringt die Morgenzeitung. Die Einkäufe erledige ich in der Mittagspause oder auf dem Nachhauseweg. Frau Conrads schickt er dann auch sehr schnell wieder zum Teufel, damit er in Ruhe und in aller Ausführlichkeit seine Zeitung lesen kann. Sein Insulin spritzt er sich drei Mal täglich selbst und sein Bad ist behindertengerecht für ihn umgebaut worden. So gesehen kommt er ganz prima alleine klar. Außerdem rufe ich Vater mehrmals täglich an. Er aber erwartet von mir, dass ich mich immer zur gleichen Zeit melden soll und versteht nicht, dass das nicht geht, weil ich oft Kunden im Geschäft habe, die evtl. eine ausführliche Beratung benötigen. Also höre ich mir seine Vorwürfe an und lege dann auch schnell wieder auf. Hauptsache ich merke, das alles in Ordnung ist. Spreche ich ihn abends darauf an, weiß er überhaupt nicht, wovon ich rede.
In der S-Bahn denke ich über mein bisheriges Leben nach und stelle enttäuscht fest: Berauschend ist das bis heute nun wirklich nicht gewesen außer, die kurze Zeit mit Jochen. Mit Marlene bin ich nach seinem Tod nur zwei oder drei Mal Essen gewesen. Das war es bis heute auch. Hätte ich nicht meine Bücher und die Musik, dann würde ich für mich behaupten, dass ich ein Scheißleben führe.
Ich bin ja nicht unattraktiv, im Gegenteil! Mit meinen dunklen, gelockten Haaren, die mir bis zu den Schultern fallen und meinen tiefbraunen Augen sehe ich schon ganz passabel aus; wurde mir wenigstens schon öfters bestätigt, von meinen Kunden. Während die männlichen Vertreter der einzelnen Verlage eher mein Lächeln und meine etwas dunkle weiche Stimme positiv erwähnten. Solche Andeutungen machen mich dann immer sehr verlegen, weil ich nicht gut mit Komplimenten und Lob umgehen kann. Bei einer Körpergröße von einhundertundfünfsiebzig Zentimeter bin ich nicht gerade klein und mit meiner Figur vollends zufrieden. In punkto Kleidung kann ich mich auch sehen lassen, und habe deswegen schon sehr viele Komplimente von diversen Leuten bekommen.
Meine Geschäftsnachbarn scheinen es genau zu beobachten und bemerken, wenn ich morgens mit einem neuen Kleidungsstück erscheine. Dennoch habe ich seit Jochens Tod niemanden mehr gefunden, der das Leben an meiner Seite leben möchte, außer Vater. Die Bahn hält auf der gegenüberliegenden Seite meines Ladens, und es sind bis dahin
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Bärbel Schoening
Tag der Veröffentlichung: 18.09.2008
ISBN: 978-3-7309-3033-5
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