Der Kastanienbaum
Es war ein stürmischer Frühlingstag und der Wind fegte über die Wiesen und Felder. Die Äste an den Bäumen bogen sich im Wind und knackten unheimlich.
„Was ist das heute nur für ein Wetterchen!“, rief die Amsel und flatterte mit letzter Kraft in Richtung eines Kastanienbaumes. Dort nahm sie erschöpft Platz und atmete erst einmal durch. Der kleine Vogel war aus dem sonnigen Süden nach Deutschland zurückgekommen und wegen des starken Windes hatte er sich verflogen. Verdutzt sah die Amsel sich um und rief verwundert:
„Was ist denn hier los? Bin ich zu früh zurück aus dem Süden? Wieso sehe ich noch keine Knospen oder Blätter an dem Baum auf dem ich sitze?“, schimpfte sie laut.
„Na, dann flieg doch wieder dahin wo du hergekommen bist“; sagte plötzlich eine dunkle Stimme.
„Hallo, ist da noch jemand?“, fragte die Amsel und reckte neugierig ihren kleinen Körper über den Ast.
„Ich bin es, der Kastanienbaum. Du sitzt gerade auf mir“, antwortete er traurig.
„Ach so. Ich dachte schon du seiest tot, so vertrocknet wie du aussiehst“, meinte die Amsel frech.
„Du hast ja Recht. Aber ich bin schon so alt und habe das Blühen aufgegeben. Mir fehlt einfach die Kraft, kleiner Vogel“, antwortete die Kastanie müde.
„Es muss doch einen Grund haben, warum du so depressiv geworden bist“, bohrte die Amsel weiter.
Die Kastanie begann zu erzählen, was sie so sehr belastete.
„Vor vielen Jahren standen hier eine Menge schöner Bäume. Unter mir befand sich eine saftige grüne Wiese, auf der hunderte von wilden Blumen und Gräsern wuchsen und ihren Duft versprühten. Dazwischen tummelten sich Hummeln, Bienen, Käfer und Grashüpfer. Selbst die Hasen und Rehe aus dem nahe gelegenen Wald suchten Schutz auf dieser Wiese. Eines Tages kam ein neuer Besitzer und fällte alle Bäume. Nur mich ließ er hier alleine stehen. Von diesem Tag an verloren die Pflanzen und Tiere ihren Schutz und ich alleine konnte sie nicht mehr schützen. Anfangs kamen noch mal ein paar Vögel vorbei, die sich auf mir nieder ließen. Als ich im Herbst das letzte Blatt abgeworfen hatte beschloss ich, nicht mehr zu blühen und keine Blätter mehr zu tragen“. Die Amsel war sehr betroffen von der Geschichte und flog zu ihrer Vogelschar, und erzählte ihnen alles. Am nächsten Tag kamen hunderte von Vögeln angeflogen, setzten sich in den Kastanienbaum und stimmten ein Liedchen an. Die Kastanie traute ihren Augen und Ohren nicht. Die kleine Amsel sang am lautesten und meinte:
„Wir werden den ganzen Sommer in deinen Ästen verbringen und Nester bauen wenn du uns versprichst, wieder zu blühen. Schließlich brauchen wir alle deine Blätter“.
Der Baum nickte und schlang die Äste um seine neu gewonnenen Freunde. Er hielt sein Versprechen und stand bis zum Herbst in voller Pracht auf der Wiese.
Tag der Veröffentlichung: 14.09.2008
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