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Zinnowitz

"Das ist alles schon so lange her." Meine Freundin Meli schaut mich an, aber nur, um einen realen Halt zu finden, während sie verschlossene Türen ihrer Erinnerung aufzustoßen sucht. "Ich war etwa vier oder fünf Jahre alt, jedenfalls war ich noch vor der Einschulung hier im Kinderkurheim in Zinnowitz, weil ich untergewichtig war. Sechs Wochen, sechs lange Wochen, bestätigte mir vor zwei Tagen meine Mutter am Telefon." Langsam gehen wir die Stufen zum alten Gebäude hoch, eine Ruine nur noch. "Der jetzige Eigentümer lässt das Haus mit Absicht verfallen", meint Meli, "im hinteren Trakt sollen damals Heimkinder untergebracht gewesen sein, las ich im Internet, aber daran erinnere ich mich nicht mehr; ich war ja nur zur Kur hier."  Mir fällt die gebeugte Haltung von Meli auf, mehr noch als sonst, aber ich schweige. Mir gehen die Berichte anderer nun Erwachsener durch den Kopf, die im Internet über Zinnowitz schrieben. Manche Erinnerungen lasen sich wie schöne Ferienerlebnisse, andere dagegen waren eher gruselig. Vor allem die noch jüngeren Kinder schienen teils Opfer einiger Erzieher gewesen zu sein; vielleicht, weil die sich noch nicht so gut wehren konnten. Ob diese Geschichten wahr waren, wusste ich nicht, von Schlägen und anderen Misshandlungen war die Rede und davon, dass Kinder hinter diesen Mauern gestorben sind. Das zu glauben, fiel mir schwer. Nie zuvor hatte meine Freundin etwas von Zinnowitz erzählt. Nach den ganzen Jahren, so begründete sie es mir, war sie selbst nicht mehr ganz sicher, ob die Erlebnisse, die in ihrer Erinnerung verankert gewesen waren, der Wahrheit entsprachen oder sich aus Kinderfantasien zusammensetzten. Bis sie neulich im Netz über einen Bericht gestolpert war, der über die Misshandlungen von Kindern berichtete. Die Schreiberin war als 6jährige für ein paar Wochen in Zinnowitz untergebracht und es war die schlimmste Zeit ihres Lebens. Die Beschreibungen von den Misshandlungen entsprachen in etwa dem, was sich Meli gemerkt hatte, worauf sie endlich den Mut fasste, ihre Mutter nach dem Ort der einstigen Kur zu fragen. Diese antwortete, dass es sich um das wunderschöne Zinnowitz gehandelt hätte und warum sie das denn wissen wolle. Nur so, hatte Meli geantwortet. Der Kontakt zur ihrer Mutter war unterkühlt, so dass diese nie von den Erlebnissen bezüglich der Kur erfahren hatte. Meli war es irgendwie wichtig, noch einmal nach Zinnowitz zurückzukehren, also machten wir einen Tag blau und fuhren hoch zur Ostsee. Warum ihr an der Rückkehr gelegen war, verstand ich nicht ganz, denn wer mochte schon an einen Ort zurückkehren, mit dem er schlechte Erinnerungen verband? Es ginge ihr darum, erklärte mir meine Freundin, den Ort als Erwachsene zu sehen, zu erleben und das Gefühl zu haben, die Kontrolle über Kommen und Gehen zu haben, damit die Vergangenheit ihren Schrecken verlöre. Ich verstand sie besser und unterstützte also ihr Vorhaben.Die Ruine wirkte von außen nicht gerade einladend, als läge ein Schatten auf ihr. Vielleicht kam das von den Geschichten, die ich gelesen hatte. "Woran erinnerst du dich?", frage ich meine Freundin. "An einen großen Speisesaal", antwortet sie. "Wir durften den Tisch nicht eher verlassen, bevor wir, was auf den Tellern lag, aufgegessen hatten. Manche Kinder mussten den ganzen Vormittag im Speisesaal sitzen bleiben und wurden vom meckernden Küchenpersonal beaufsichtigt, während die anderen Kinder draußen spielten oder Ausflüge unternahmen. Es war nicht alles schlecht, die Wanderungen waren schön. Aber die Nichtesser zu bestrafen, war kein guter Ansatz. Das ging so weit, dass manche Kinder sich noch direkt vor Ort übergaben, weil sie unter Zwang aßen. Klar, wir Kinder wollten draußen spielen und so aßen wir bis zum Erbrechen. Kinder, die mehrmals Nahrung verweigerten, mussten nachts auf dem dunklen Flur stehen, ein paar Stunden lang, mit nackten Füßen, das gehörte zur Strafe dazu. Ich weiß noch, dass mir der Flur riesig vorkam. Man stand da in der Dunkelheit und hatte natürlich Angst vor den sich bewegenden Schatten, die wohl von den Bäumen draußen stammten und vor den dunklen Ecken, den unbekannten Geräuschen in der fremden Umgebung. Und die Füße waren eiskalt. Besonders schlimm empfand ich, dass da weit und breit auch kein Erwachsener war, nur ein kleines Nachtlicht am Ende. Aber dennoch traute man sich nicht vom Fleck. Einmal kippte ich vor Erschöpfung um. Als man mich fand, schickte man mich nicht ins Bett, ich musste noch lange stehen." "Das ist ja schrecklich", entfuhr es mir, "konntest du deiner Mutter nicht irgendwie mitteilen, dass sie dich abholen solle und wie man mit Euch umging?" "Damals hatten Normalbürger noch keine Telefone daheim und schreiben konnte ich ja noch nicht; zudem sollen die Briefe, die ältere Kinder ihren Eltern zu schicken versuchten, abgefangen worden sein. Außerdem dachten wir in dem Alter noch, dass wir das alles verdient hätten, denn wir hatten ja nicht aufgegessen. Kinder hinterfragen meist nicht, ob sie Schuld haben, die glauben den Erwachsenen."  Ich mache mir ein Bild von dem, was Meli hier wohl erlebt haben muss. Nachts im Flur stehen zu müssen, klingt in den Ohren eines Erwachsenen nur halb so wild, aber aus kindlicher Perspektive betrachtet, ist die Strafe hart, denn Kinder haben andere Ängste, die fürchten die Dunkelheit oft viel mehr, v.a., wenn sie irgendwo fremd sind. Wir betreten einen verfallenen Raum, an einer Wand steht noch eine lange, schmale Bank. "Hier standen die Höhensonnen, auf dem Boden lagen Matten. Wir Kinder mussten uns nackt ausziehen, die Kleidung verstauten wir auf der Bank. Dann erhielten wir braune Brillen, die unsere Augen schützen sollten. Das war im Grunde okay und normal, aber für mich persönlich trotzdem schlimm, denn - ob du es glaubst, oder nicht - aber ich hatte schon im Kindergartenalter Schamgefühle und wollte mich nicht nackt vor Fremden zeigen. Stellte ich mich mal wieder an, wurde ich in die Kellerküche geschleift und mit eiskaltem Wasser aus einer Art Schlauch bespritzt, wie alle Kinder, die sich was geleistet hatten. Ich weiß noch, dass dieser Wasserstrahl wehtat, weil der Strahl so fest eingestellt war. Wie Peitschenhiebe war das und sollte wohl auch so sein." Ob sie auch direkt geschlagen wurde, wie es einige Leute im Netz berichteten, wollte ich wissen, aber sie verneinte. Jedenfalls könne sie sich nicht daran erinnern, nur daran, dass der Tonfall im Allgemeinen sehr rau war und die Kinder laufend angeschrien wurden, wenn es zum Beispiel zu lange gedauert hatte, bis sie aus- oder angezogen, in Reih und Glied aufgestellt waren oder wenn sie beim Zähneputzen trödelten. Waren die Schränke nicht ordentlich, wurde der gesamte Inhalt mit einer Wischhand auf den Boden gefegt, ganz gleich, ob darin zerbrechliche Gegenstände gewesen waren, an denen die Kinder hingen. "Ich weiß nicht", sagte Meli, "aber jetzt, wo ich dir davon erzähle, kommen mir diese Dinge gar nicht mehr so schlimm vor, ein Wasserstrahl, etwas Scham, etwas Kotze und Geschrei – aber in meiner Erinnerung empfand ich diese Wochen als sehr grausam. Anderen Kindern geschehen viel schlimmere Dinge." Fast schien sich Meli noch dafür entschuldigen zu wollen, dass sie mir nicht von Schlägen oder anderen schlimmen Dingen berichten konnte. Schweigend besichtigten wir noch den Rest der Anlage, aber es taten sich keine weiteren Erinnerungen auf. Mir war mulmig zumute mit dem Wissen, dass hier Kinder wochenlang gelitten haben mussten und froh, als wir nach etwa einer Stunde das Gelände verließen.Auf der Heimfahrt schwiegen wir viel und waren mit unseren Eindrücken beschäftigt, sogen die Gegenwart auf, in der wir lebten, in der es uns gut ging. Meli bedankte sich herzlich für die Begleitung und meinte, dass sie die Vergangenheit nun ruhen lassen könne, denn der verfallene Ort hatte seine dunklen Schrecken für sie verloren. Nie wieder sprachen wir über Zinnowitz.

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Tag der Veröffentlichung: 26.02.2013

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