Cover

Zwielicht

Als wir in grauen Betten lagen
und das Gesicht in Kissen bargen,
gingst du schon mal beherzt voraus.
Dein Handgriff knipste Sterne aus.
Du schobst den Mond vom Großen Wagen,
als wir in warmen Betten lagen.

Ich sah dich mehr als einmal sterben
sich deine Lippen blau verfärben.
Die Muskeln schlaff, die Augen starr,
der Scheideweg war absehbar,
denn öfter sah ich dich schon sterben.
Und trotzdem liegt Tukan in Scherben.

Du wirst mir stets lebendig bleiben,
dein wacher Geist mir Blüten treiben -
durch jede engstirnige Wand.
Wie oft hast du mir Stroh verbrannt?
Wie oft zertrümmert blinde Scheiben?
Du wirst mir stets lebendig bleiben.

Ich greif nach ausgeknipsten Sternen,
die Traueraugen zu entfernen.
Nimm meine heimatlose Hand,
sei Auge mir und auch Verstand.
Komm, greif nach ausgeknipsten Sternen!
Ich heb' den Mond, du trägst Laternen.

 

Flöz


In schiefer Lage gräbst du dieser Tage
vermeintlich gerade Gänge in die Hänge.
Die Zeche zahlen an der Oberfläche
deine Kumpel.

Und leere Kammern jammern. Zwischen vollen Stollen
stopfst du die Brotzeit armer Hauer durch die Maschen
deiner Taschen.

Die Firste bricht durch deine weiten Münder.
Du spuckst und schlägst die Hände gegen Wände,
die dir, trotz Abraum deiner Spesen, Kaue,
Heim gewesen.

 

 



Vögelchen

Aus Liebe wuchs mir Federnkleid,
ich schwang mich blindlings auf zum Flug.
Wie hat mich dein Gesang erreicht!
Mir war so leicht ums Herz, so leicht
der Trug, der Trug.


Und Lieder rissen Federn fort,
sie galten mir, auch dir und ihr.
Der Boden nahte, mir wurds schwer,
den blauen Himmel gabs nicht mehr
mit dir, mit dir.


Geliebter, flatterhafter Freund,
ich lasse dich nun frei. Verzeih,
doch deine Flügel taugen nicht
für einen Höhenflug ins Licht.
Vorbei, vorbei.

Waise

Was bleibt uns, außer diesem einen Wimpernschlag,

der Zeitgefühl entzweit und Notenhälse bricht?

Wir tönern alla breve noch aus Sorgfaltspflicht -

und stahlen uns doch längst aus dem Papiervertrag.

Verbindlich treiben wir aus Furcht vor Einsamkeit

die Tage und die Sehnsuchtswaisen vor uns her.

Sind wir am Ende doch schon angekommen? Wer

bedeutet uns noch mehr als bloße Nützlichkeit?

Ursprung


Ich atme. Die Entscheidung ist gefallen
und alles vorbereitet, um zu gehen,
nun wird mir niemand mehr im Wege stehen.
Ich lauf nicht mehr auf Fersen, sondern Ballen.

Und schweige. Denn nur diese Art ist sicher,
ich horche intensiv auf eure Stimmen,
schaut ihr mich an, gilt es, das Licht zu dimmen.
Ich wünschte nur, ich wär dir unähnlicher.

Doch treibt’s mich fort, ich möchte mich befreien
und selbst bestimmen über meinen Lauf.
Ich hoffe nur, ihr möget mir verzeihen.

Ein Schritt zurück, dann klappt der Sprungablauf,
ich tue, was die Gene prophezeien.
Und falle. Doch du fängst mich wieder auf.

 

Aortengeklapper


Wenn Mondlicht leise an die Häusertüre klopft,
die Menschen sich vereinen oder gliedern,
die Fenster meine Sicht nur noch erwidern,
dann fühle ich, wie all dein Gift ins Blut mir tropft

und die Kanüle tiefer dringt um deinen Stich,
als gelte es, mich vollends zu ergründen.
Wo Adern schlagend in die Kammern münden,
mischst Du dich richtungsweisend ein, da find ich dich.

Seit du mich aufgesucht, in mir zu Hause bist,
da fließt das Blut verkehrt durch meine Venen,
blockiert Gefäße, spült das Leid durch Sehnen
des Muskels, der nun spürbar am Zerbrechen ist.

Ich bitte dich, verlasse diese Stätte nun,
lauf durch den Vorhof, halt dich seitlich des Ventils,
betrachte dich als Sieger eines Liebesspiels,
von dem du nichts gewusst. Lass mich im Ausgleich ruhn.

[gew.]

 

Denkste!

Ich lass mich nicht zu deiner Hure degradieren,
verfügbar bin ich nur, wenn ich das will, kapiert?!
Du suchst ein Püppchen, das nach deinem Sinn agiert
und Regeln schluckt, die es auf Dummy reduzieren.

Du beugst mich nicht, ich krauche nicht auf allen Vieren
und lieg nicht ständig unter dir, das alterniert!
Wer wie sich stellt, wird stets aufs Neue arrangiert,
inzwischen kann ich mich - das nervt! - schon selbst zitieren:

Halt dich aus meinem Leben raus, stell keine Fragen,
Verwandte, Freunde, Umfeld sind für dich passé.
Verlangst und trachtest du nach mehr? Zisch ab, los, geh!

Ich wollte dich - mich aber nicht mit dir vertragen.
Mir reicht die Illusion zum Fick in allen Lagen,
denn zu viel Nähe brächte uns nur Schädelweh.

 

Mundschwund


Muhst von Freunden, die ich hätte,
abgeschmackte Zirkusnummer,
Charge! Dienst als Volksverdummer,
Harn drängt Wahn aufs Bühnenbrette.


Manch Maulwurf fliegt durchs Opernlicht
intakt in deine Muh-Kuh-Fresse,
checkt ein, pisst out und warme Nässe
hausiert in deinem Angesicht.


Nerv mich nicht mit Zwergenfrust und
infantiler Schuldverdichtung.
C'est la guerre auf unsrer Lichtung,
Hybris neben Geist und Mundschwund.

Lammkeule


Von Ferne urteilst du und glaubst,
dass Lämmer immer Lämmer bleiben,
sich am Geheul von Wölfen weiden -
für alle Zeit. Doch damit raubst

du jedem Lamm die Möglichkeit,
sich selbst als solches zu erkennen
und so von jenem Wolf zu trennen,
der sich als König in das Kleid

des Kaisers zwängt, das keines ist.
Das hat ein Kind erkannt, es sagt dir:
„Er hat ja gar nichts an“ und wagt hier,
das aufzudecken, was als List

gedacht war – doch vom Wolf an sich.
Den Kreidezahn hab ich gezogen.
Und auch das Schwert, das, ungelogen,
nicht seines, deines war, das wich,

weil du an alten Zeiten rührst,
um Lämmerherzen zu beflecken,
mit deinem Maule Blut zu lecken.
Wie trefflich du die Klinge führst!

Das Lamm, das Schaf, es starb in mir.
Als Richter nimmst du Maß und misst
die alte Schleppe – die nicht ist.
Das Blöken, hör doch, stammt von dir.

 

Klappt schon


Noch tanze ich
auf deiner Klinge
du schaust mir zu
und wenn ich springe
stellst du dich in den Weg


Noch lache ich
auf Messers Schneide
ich guck mir zu
und wenn ich leide
nehm ich mich in den Arm


Noch lebe ich
es ritzt die Klinge
du drehst dich weg
wenn ich mal springe
und klappst das Messer zu

Schritt nach vorn

Nun steh ich an der Eingangstür zur Stadt
und brauch die alte Klinke nur zu drücken.
Maskiert sie sich und fällt mir in den Rücken -
sobald mein Fuß sich überwunden hat?

Ist diese Tür ein Tor zur falschen Welt,
sperrt sie mich ein und ich mich somit aus.
Ich rüttle am Scharnier, es quietscht Applaus -
vielleicht als Warnung, die hier Einzug hält?

Der Anstrich blättert, taugt nicht als Symbol.
Die Schwelle, die dort liegt, kann harmlos sein -
doch manchem wurde sie zum Stolperstein.
Wer Ketten zynisch gliedert, lebe wohl!

Doch bin ich Teil und lasse mich nicht teilen.
Wo Fragen sind, versteckt sich meist auch Wissen -
ich dränge vor, will hinter die Kulissen,
ein Schritt zurück bedeutet: hier verweilen.

 

Aquatinta


Du nimmst mein Bild und trägst es durch die Nächte,
mischst Farben neu und tupfst sie auf den Grund;
doch liegt der viel zu tief, das Schwarz frisst Bunt.
Pastell ist nicht genug. Was Zukunft brächte


bedürfte mehr als Staubschicht und Pigmente,
braucht Haftung, Tiefdruck, Risse im Gesicht.
Bei Blätterstürmen reichen nicht Akzente -
die sind zwar schön, doch haben kein Gewicht.


Nimm weg das Rot, kratz mir die Lippen blutig
und schab das falsche Blau aus meinem Bauch,
zerstöre dieses Kunstwerk, komm, sei mutig!
Was unter Farben liegt, das bin ich auch.

                                                                    

[gew.]

 

Seifenkiste

Zwei Jahre fuhr ich auf gereimten Straßen
in meiner roten Seifenkiste quersilbein,
ließ mich durch Huckelworte stets bespaßen
und überschlug mich auch. Ich brach mir mal den Reim!
Doch ließ mich das nicht lange traurig sein.

Und dann kamst du den Berg herabgelettert.
Du Wildsau sahst mich nicht und fuhrst mich schnursatz um,
hast Gras verdichtet, meinen Helm versschmettert,
ich sah so viele Sterne. Nie nahm ich's dir krumm.
Doch krümmte ich mich immer öfter stumm.

Wir schlugen uns syntaktisch viele Beulen,
sechs Jahre Chiffrenfahrt durch totes Winkelwerk,
Vertrauen ging und zog dann mit den Eulen
in ferne Ebenen, die mir nun Augenmerk.
Du brachst mir das Gerüst. –

Jetzt bin ich übern Berg.

[gewidmet]

Luisa

Da saß sie wieder, diese fette Kröte. Seit Monaten schien sie sich auf dem Weg, den Luisa täglich ging, heimisch zu fühlen. Luisa missfiel das, denn es war ihr Weg und sie wurde ob des Eindringlings immer wütender. Heute näherte sie sich der Erdkröte bis auf einen Meter und stampfte neben ihr kräftig mit dem Fuß auf. Dabei stolperte sie über eine mächtige Wurzel, die sie wohl übersehen hatte, obwohl sie den Weg sehr gut kannte, denn sie lief ihn seit Jahren, bei Nacht, bei Tag, bei Sonne oder Regen, allein oder mit Weggefährten. Er führte sie immer geradewegs zur Schule und wieder nach Hause.

 

Die Kröte ließ sich nicht weiter stören, sie quakte lediglich leise vor sich hin, machte aber keine Anstalten, wegzuhüpfen und den Weg freizumachen. Luisa wurde darüber ärgerlich und stampfte abermals so fest mit dem Fuß auf, wie sie nur konnte, immer darauf bedacht, die Kröte nicht wirklich zu treffen, sondern sie nur derart zu provozieren und zu erschrecken, dass sie ihr aus den Augen sprang und nie wieder auftauchte. Ihr Fuß schmerzte, so fest hatte sie nach ihr getreten, aber die Kröte rührte sich immer noch nicht. Nein, sie saß da, nah bei der Wurzel, in der sich ihr Fuß vorhin verfangen hatte. Luisa spielte kurz mit dem Gedanken, die Kröte zu packen und in das angrenzende Waldstück zu setzen, um dieses Ding endlich los zu sein. Aber dafür hätte sie die Kröte berühren müssen und das wollte sie nicht. Wer weiß, was sie sich für Krankheiten einfangen würde, diese Kröten sind ja überall unterwegs, sitzen in den widerlichsten Dreckslöchern. Ekel überkam sie. Die Zeit lief ihr davon, denn um 8 Uhr begann die Schule. Die dumme Erdkröte würde schon von selbst wieder verschwinden.

 

Nach der Schule machte sie sich auf den Heimweg und hielt nach der fetten Kröte Ausschau. Vorsichtig näherte sie sich dem morgendlichen Krötenplatz, aber sie saß nicht mehr bei der Wurzel. Luisa atmete erleichtert auf und setzte ihren Weg fort. Plötzlich fuhr sie zusammen, da war sie wieder. Keine 3 Meter von ihrem Haus entfernt, saß dieses Krötenvieh als erwartete sie sie schon. In den wenigen Stunden schien sie noch hässlicher geworden zu sein, die Augen traten hervor und die Haut war mit Warzen übersät. Luisa versteckte sich hinter einem Baum, der nah am Haus stand. Aus sicherer Entfernung warf sie mit einem kleinen Stein nach der Kröte, verfehlte sie aber. Ein zweiter Stein traf sie mitten am Kopf. Die Kröte erschrak, zuckte kurz zusammen und hüpfte davon. Luisa sprang auf und stieß sich an einem überhängenden Ast den Kopf. Aber das machte nichts, erleichtert lief sie ins Haus.

 

Am nächsten Morgen suchte sie abermals den Schulweg mit den Augen ab. Fast hätte sie die Kröte übersehen, denn heute saß sie nicht auf Luisas Weg, sondern sonnte sich ein paar Meter neben dem Wegesrand auf einem Stein. Luisa verließ ihren Weg und schlich sich an die Kröte heran. So hässlich und abschreckend sie auch war, irgendetwas faszinierte sie an dem Tier. Manchmal schien es fast menschliche Züge zu zeigen, wie gestern, wo es so erschrak. Um ein Haar hätte sie noch Mitleid gehabt, als der Stein sie getroffen hatte. Sie fröstelte in ihrem grünen Shirt und hätte sich gewünscht, die Wärme zu spüren, die die sich sonnende Kröte wohl gerade empfinden mochte, so zufrieden, wie sie aussah. Luisa nahm einen Stock und stupste die Kröte leicht in die Seite, aber die glotzte nur. Luisa piekste sie noch einmal, diesmal heftiger, bis plötzlich Flüssigkeit aus dem Bauch austrat. Die Kröte quakte, erst leise, dann lauter, dann elendig. Luisa erschrak und rannte los. Sie rannte den ganzen Weg in die Schule, obwohl sie schon nach 500 Metern heftige Seitenstiche hatte, und auch ihr Herz tat schon weh, aber sie rannte weiter, als renne sie um ihr Leben.

 

Nach der Schule blieb sie noch etwas auf dem Schulhof, wechselte dann auf den Spielplatz, obwohl sie keine rechte Freude beim Spielen mit den anderen Kindern empfand. Als das letzte Kind nach Hause ging, machte auch sie sich auf den Heimweg. Zögerlich ging sie Richtung Zuhause und suchte nach der Kröte. Den ganzen Weg war sie nun abgelaufen, doch die Kröte war verschwunden. Seit Monaten verging kein Tag, an dem sie sich nicht über dieses hässliche Ding, das ihr innerlich zum Feind geworden war, geärgert hatte – aber jetzt, wo sie fort war … Luisa schluckte schwer. Die Sonne drohte, unterzugehen und Luisa lief den Weg erneut ab, ein zweites, ein drittes Mal, suchte immer hektischer und verzweifelter, bis sie ihre Kröte hinter hohen Gräsern fand.

 

Diese gab kaum noch Lebenszeichen von sich. Die Wunde, die Luisa ihr zugefügt hatte, sah schlimm aus. Schuld, Angst, Mitleid, Trauer, Zuneigung – eine Gefühlswelle überkam sie und erstmals berührte sie die Kröte mit ihren Fingern. Sie fühlte sich warm und angenehm an, gar nicht so kalt und glitschig, wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Sie hob sie hoch und trug sie vorsichtig nach Hause, wo sie sie versorgte. Und tatsächlich, die Kröte erholte sich langsam wieder. Als sie ganz genesen war, trug Luisa sie in die Sonne hinaus und setzte sie auf dem Weg aus, den sie täglich ging.

Luisa II

Gestern feierte Luisa ihren siebten Geburtstag, es gab sogar Kuchen mit Schokoladenüberzug und Kerzen, weil Verwandte und Kollegen eingeladen waren. Zu Luisas Bedauern durfte keiner ihrer kleinen Freunde an der Feier teilnehmen, da es sonst zu viele Gäste sein würden, meinten Vater (so musste sie ihn nennen, auch wenn er es nicht war) und Mutter, die im Berufs- und Privatleben anerkannte Leute waren.

Als Luisa nachts wieder Hunger bekam, erinnerte sie sich an den schönen Geburtstagskuchen und schlich - am elterlichen Schlafzimmer vorbei - in die Küche, um sich ein Stück zu stibitzen. Aber was heißt stibitzen? Immerhin war es eigentlich ihr Kuchen. Eigentlich. Als sie das große Messer in die Hand nahm, um sich ein Stück abzuschneiden, glitt es ihr durch die Finger, fiel mit lautem Scheppern auf die Kacheln, so dass ihr schon jetzt klar war, dass diese nächtliche Aktion nicht unentdeckt und ohne Folgen bleiben würde. Folgen gab es immer, man hatte stets zu folgen, sonst würde dies mit Bestrafungen geahndet werden; und Strafen waren gut für Luisa, denn sie dienten der Erziehung. Gehorsam war nun einmal wichtig, wenn man im Leben voran kommen wollte. Weit kam sie nicht, denn als sie im Begriff war, aus der Küche zu fliehen, stand er bereits im Türrahmen und erwartete sie in der Dunkelheit. Strafen waren gut für Luisa.

Ihr Rücken hatte sich etwas entzündet bzw. war er - dem Puckern nach zu urteilen - gerade dabei. Unter den Nägeln, die er ihr in den Rücken geschlagen hatte, mussten auch ein paar rostige gewesen sein. Aber letztlich hatte sie doch noch Glück gehabt, weil die ziemlich kurzen Nägel, so hoffte sie jedenfalls, nur kleine Narben hinterlassen würden. Heute ist ein guter Tag, beschloss sie und stieg aus dem Bett.

Rasch zog sie sich eines ihrer viel zu langen Unterhemden an; sie besaß keins in ihrer Größe, obwohl die Sachen immer ganz neu gekauft wurden und Luisa und ihre Schwester nie schlampig gekleidet waren. Aber die Nieren mussten bedeckt sein; das war ungemein wichtig. Selbst in der brütenden Sommerhitze, wie sie um diese Jahreszeit herrschte, gestatteten die Eltern keine Ausnahme. Heute ist kein guter Tag, dachte Luisa und machte sich auf den Weg.

 

"Haben Sie das Hemd vielleicht noch zwei, drei Nummern größer da? Es ist für eine Freundin gedacht." "Da muss ich mal im Lager nachschauen, junge Frau, einen Moment Geduld, bitte." Luisa schwitzte, was bei den Außentemperaturen um die 38 Grad kein Wunder war. "Die Größen 42/44 und 44/46 habe ich noch auf Lager, welche darf es sein?" Luisa überlegte kurz und dachte, dass es nichts schadete, wenn auch die Beine etwas warm gehalten würden, zumal sie die Träger notfalls ja kürzen könnte. "Ach, dann bringen sie bitte ruhig die größere mit", erwiderte sie, bezahlte und beschloss: Heute ist ein guter Tag. Sie ging nach Hause und legte sich ins Bett. In der Dunkelheit erwartete er sie bereits.

Von Möwen und Tauben

mit dem rücken im meer

waren wir uns verbindlicher

schwammen dem klischee von freiheit nach

und schauten den möwen beim fliegen zu

 

am strand warfst du mit sand nach mir

kleine steine landeten im schuh

wie gestochen scharf

wir uns von der umgebung abhoben

wurde uns erst später bewusst

 

mit dem meer im rücken

würde es schwerer werden

hattest du gesagt

aber das war mir egal 

 

Wir stiegen wieder ins Auto und öffneten die Fenster. Doch mit jedem Kilometer landeinwärts wurde die Straße staubiger und die Luft dicker. Dein asphaltierter Blick blendete mich. Ich setzte die Sonnenbrille auf, schaltete das Radio ein und hörte angestrengt dem Countrysänger zu, der von Freiheit und Liebe sang. Deine Augen verengten sich und suchten auf der Straße Halt. Immer geradeaus, dann werden wir schon ankommen, hattest du gemeint - und ich hatte dir geglaubt. Ich blickte ich nach links, über deine Schulter hinweg, und sah dort eine Möwe fliegen. Wie schön sie war. Doch du wolltest nichts mehr davon wissen. Als ihre Flügel Schatten warfen, schnappten wir nach Luft.

 

  nach zwei stunden fahrt

wurden die häuser meer um uns

und wir atmeten durch

 

ein paar kinder spielten

in der abendsonne auf der straße

und schienen ihre freiheit zu genießen

 

 wir fuhren am bahnhof vorbei ...

als wir dort uhren hängen

und tauben sitzen sahen

grinsten wir uns an

                                                          [gew. Marco]

Wurzelgesetz

 

Die Worte krallen voller Furcht sich an die Blattstruktur,

doch wächst sich aus den Silbenklumpen kein Gedanke frei.

Sie hängen, viel zu kultiviert, am Zipfel der Natur:

wie Blei, wie Blei, wie Blei.

 

Zerstöre dort Kultur, wo Starre dir ins Auge fällt,

wo linke Hand die Rechte bricht und sich dein Mund verschluckt.

Getraue dich und zeichne neue Grenzen auf die Welt,

wenn dich ein Mut durchzuckt.

 

Wirf deine stumpfen Zähne und die Zunge in den Wald,

kratz alte Konventionen ab von zellnormierter Haut,

verachte jeden Halt, der mehr als nur ein Aufenthalt -

 

Ich? - Hab mich nie getraut.

In diesen Tagen

Wie du an meiner Seite gehst in diesen Tagen

so selbstverständlich zu mir stehst fernab von Fragen

nach Zukunftsplänen, Ewigkeit - das wär nur Dichtung.

 Wir zögern nicht, wir schreiten fort in eine Richtung.

 

Wie du mir deine Hände reichst ich will sie nehmen

wie du dir aus den Träumen gleichst da bleibt kein Sehnen

dass irgendetwas anders wär' fern der Verpflichtung.

Wir zögern nicht, wir schreiten fort in eine Richtung.

 

Zwar sind wir oft getrennt durch Raum- und Alltagssplitter

doch nährt das einen Zukunftstraum von jenem Gitter

das Plan und Ewigkeit umfasst sogar Verpflichtung.

Wir zögern nicht, wir schreiten fort in eine Richtung.

Oops!

"Was ist ficken?"

 

Nun sah ich mich, ganz unverhofft,

mit dieser Frage konfrontiert

und dachte, Knirps, du bist erst sechs,

da fragt man nicht, (schon gar nicht mich!)

nach Blümchen, Bienchen, na halt, Sex,

das ist so, weißt schon, kompliziert.

 

Und dafür sind die Eltern da!

Ich bin in Basteln, Spaß versiert,

die ABC mit dir trainiert

und Tränen trocknet, wenn du, Kind,

vergisst, dass Türen schmerzhaft sind,

wenn man verpennt dagegen rennt.

 

Die Beule stand mit dir im Raum,

dabei war es längst Schlafenszeit,

ach, könnte ich nur strenger sein,

dann fiele auch dem Knirps nicht ein,

sich wieder aus dem Bett zu pellen

und diese Frage dann zu stellen.

 

Woher, oh Herr, stammt überhaupt

das Wort? Nicht SEINS, ich meine seins;

er ist doch gut erzogen. Wer hat ihn so verbogen?

 

(Der Paule aus der Kita,

der sprach’s zu Leonita.)

 

Und ich, ich soll es richten?

Ich denke nur: mitnichten!

 

Denn dafür sind die Eltern da,

(die Tanten sind für Trallala!),

die Tagung ist bald aus,

dann kommen sie nach Haus

und werden lügen oder dichten,

zum Kindswohl nebeln, wenig lichten,

das sind ja nun mal ihre Pflichten.

 

Minütlich bin ich heute strenger,

er darf nur fünf, sonst etwas länger

des Nachts an meiner Seite sitzen,

ich rette mich mit schlechten Witzen

und doch: Er lacht. (Kuss): „Gute Nacht.“

 

 

Schmale Gasse Leben

Wir liegen Kopf an Fuß im Bett,

wir sind uns unterlegen,

der Zweifel frisst sich an uns satt,

wir tun nichts mehr dagegen.

Entblößt vor engem Raum sind wir:

nicht Frau mehr und nicht Mann.

Dort draußen wächst ein Apfelbaum,

so gut er eben kann.

 

Mein schwarzer Kaffee schafft den Sprung

nicht in die gelbe Tasse,

das Gras wächst unerhört bemüht

in deiner schmalen Gasse.

Wir ziehen Glück mit Flasche groß

und spalten uns daran,

von draußen schaut das Einst herein

und blickt uns müde an.

Forderungsbewertung

Als der Wecker klingelte, drehte sie sich noch einmal um, wie ein Mensch, der im Leben nichts mehr zu erwarten hätte, außer fremder Leben zu bilanzieren. Jeden Tag neue zweifelhafte Forderungen, die gegen sie Verbindlichkeiten wurden. Das war ihr Job und den machte sie gut.

 

Sie stand auf, setzte sich an den Laptop, las die neuesten Nachrichten, weckte dann sanft ihren Mann und ging duschen, während er Kaffee machte. Jenen Kaffee, für den Herr Noak 3,99 Euro bei Lidl und Frau Mayer 5,99 Euro bei Kaisers bezahlt hatten, wie die Belege verrieten. Keine Buchung ohne Beleg, geisterte es durch ihren Kopf, während das Wasser wie Zahlen auf sie herabregnete. Früher arbeitete sie als Buchhalterin in einer Tagesstätte für alte und/oder demente Menschen. Abgesehen von Gesprächen, die vertraulichen Ursprungs waren, stand ihre Tür stets offen und fast täglich statteten ihr die alten Menschen einen Besuch in ihrem Büro ab und erzählten eine Episode aus ihrem Leben oder aus dem Leben ihrer Kinder oder Enkel. Der Geschäftsführung blieb der gute Zugang, den sie zu den alten Leuten hatte, nicht verborgen und so wurde sie gefragt, ob sie neben der Buchhaltung auch mit den Menschen arbeiten wolle. So trug es sich zu, dass sie mit den alten Leuten auch zum Arzt, Optiker oder einkaufen ging, die Gruppen (Musik- und Lesestunden) leitete und Feste organisierte. Einwandfreie Forderungen, dachte sie. Sie genoss diese Zeit, machte Überstunden, um auch noch der Buchhaltung gerecht werden zu können und war zufrieden, wenn auch nicht glücklich, denn dazu fehlte es noch an der eigenen Familie.

 

Sie drehte den Hahn zu und wickelte sich ein Handtuch um den Körper. Nach und nach offenbarte der beschlagene Spiegel ihr Gesicht. „Alt bist du geworden“, flüsterte sie sich zu. Frau Sommermeyer, die etwa nach zwei Jahren ihrer Tätigkeit in die Tagesstätte kam, war damals 81 Jahre alt, leicht dement und fast blind. Eine derart ängstliche Person hatte sie noch nie kennengelernt, die alte Frau war so hilflos. Nein, sie tat so hilflos, denn selbst für die kürzesten Gänge bat sie um Begleitung, obwohl in den Gängen Führungsbalken angebracht waren. Sie bemühte sich nicht mehr um Selbständigkeit. Das ging so weit, dass man sie fütterte. Nein, so gerne sie Frau Sommermeyer auch mochte, das ging zu weit, dagegen wehrte sie sich, denn auch eine fast blinde Frau findet ihren Mund, wenn sie nur will, war ihr Einstellung dazu. Doch man fütterte sie weiterhin und nahm ihr nach und nach immer mehr ab, was sie durchaus noch alleine hätte bewältigen können. Sie musste an manche ihrer jetzigen Mandanten denken, die anfangs ihre Belege nicht mal nach Jahren sortiert hatten, obwohl sie diese Aufgabe leicht hätten bewältigen können. Solche Unterlagen gab sie postwendend an die Mandanten zurück oder verlangte einen ordentlichen Aufschlag für Sortierarbeiten. Der Chef schmunzelte nur und ließ sie gewähren. Er vertraute ihr, das wusste sie, und bis jetzt hatte sie ihn nicht enttäuscht. Sie wurde gut bezahlt, sie hatte sogar das beste Gehalt, obwohl sie erst vor zwei Jahren in die Kanzlei eingestiegen war.

 

Es roch nach Kaffee und ihr Mann rief „Schatz, kommst du“? Es war ihm wichtig, dass sie die wenige Zeit, die sie zusammen hatten, miteinander verbrachten, dafür stand er zeitiger auf, als er es hätte müssen und sie genoss das auch. Bald hätten sie auch das verflixte siebte Jahr geschafft, und etwas Stolz schlich sich in ihre Gedanken. Frau Sommermeyer war 40 Jahre verheiratet, dann starb ihr Mann an Krebs und sie blieb für den Rest ihres Lebens allein. Ihre Tochter wohnte in Italien und besuchte sie einmal im Jahr zu ihrem Geburtstag. Der Sohn kümmerte sich nicht um seine alte Mutter, die immer öfter kränkelte. Krank zu sein, war teuer. Erst neulich, als sie eine Einkommensteuer bearbeitete und bei den außergewöhnlichen Belastungen landete, wurde ihr das wieder bewusst. Über 10.000 Euro Krankheitskosten kamen im Laufe des Jahres zusammen, aber in der Steuererklärung nicht zum Tragen. Die Enttäuschung in den Gesichtern der Mandanten ist groß, wenn man Ihnen die Belege zurückgibt und erzählt, dass dies und jenes sich bei der Berechnung nicht ausgewirkt hätte und daher unberücksichtigt blieb.

 

Sie föhnte sich die Haare trocken, schminkte sich und ging in die Küche. Ihr Mann saß schon am Tisch und schaute sie erst liebevoll und dann verschmitzt an. Sie wusste, worauf das hinaus laufen könnte und normalerweise auch würde, aber heute fehlte einfach die Zeit, denn sie hatte gebummelt und musste als erste vor Ort sein und die Kanzlei aufschließen. Finnley, ihr kleiner Sohn, war auch schon aufgewacht und machte sich deutlich bemerkbar. Sie ging ins Kinderzimmer und nahm ihn auf den Arm. Er war ein unkompliziertes Kind und es wurde einem nicht schwer gemacht, ihn zu lieben. Sie strich ihm über den Kopf und trug ihn in die Küche. Nach Paragraf 33 des Einkommensteuergesetzes ist die zumutbare Belastung unter anderem von der Zahl der Kinder abhängig. Früher hatte sie das auch noch so gesehen.

 

Sie schloss die Kanzlei auf, schaltete Drucker, Computer sowie Multifunktionsgerät ein und checkte ihre Mails. Die Mandanten sprachen zu ihr, aber es ging immer nur um Zahlen oder ums Bezahlen oder Erstatten von Steuern, ums Aufschieben oder Abstottern von Verbindlichkeiten, um Lohnabrechnungen, um Einsprüche und darum, wie man den Mindestlohn für seine Angestellten untergraben könne. Uneinbringliche Forderungen, dachte sie bei dieser Frage nur und ließ den Mandanten im Regen stehen.

Treppenkind

Seit Stunden hockt es unterm Treppenlauf,

ein Schuss entriss die warme Mutterhand.

Es war den rechten Schlächtern fortgerannt,

am Bahnhof türmt man weiter Leichen auf.

 

Und immer noch durchsuchen sie den Block,

mit Stethoskopen horcht man an der Wand,

ob eine Judensau darin verschwand.

Die Suche nach dem wahren Sündenbock

 

verliert sich nicht, sie zieht sich bis ins Heute.

Und wieder bläst die hasserfüllte Meute

aus Angst vor Überfremdung zur Attacke.

 

In sorgsam gelbbesternter Waisenjacke,

ergriffen sie das Treppenkind.

Es baumelt sacht im Aschewind.

 

 

 

 

 

Gabelaspik

Wir liefen 1000 Meilen übern Tellerrand,

durchstaksten Erbsenbrei mit totem Federvieh,

wie Kinder hüpften wir auf zähem Sehnenband,

versanken hier und da in fetter Agonie.

 

Wir standen Hand in Hand auf dem Kartoffelberg,

nichts konnte uns die scharfe Aussicht trüben.

Nun musst du wieder, fern von uns, ans Tagewerk -

ich werd' solang das Kochen für dich üben.

 

 [gew.]

Kusenbrecher

jjj

Schleudertrauma

hhhh

Vater, sarg doch mal

kkkk

Das Mädchen an der Tankstelle

kkkk

Unbemannt

kkkk

Aschehaar

kkkk

Pausenfratze

kkkk

Wärmeimpuls

jjj

Settam - wo Notwehr aufhört

 jöhh

Sicherheitsbarrieren

jhgg

Impressum

Texte: M.-L. Sommerschuh
Bildmaterialien: Karl-Heinz Laube_pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 27.06.2012

Alle Rechte vorbehalten

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