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Die Garderobe

Am Morgen lag Juliana Graf – 37-jährig, Ehefrau, Mutter von zwei Kindern und Putzfrau bei „Blitzblank“ - tot in ihrem Ehebett. Es war ein schöner Julimorgen. Durch das halboffene Fenster drang der süße Duft von Blumen, die Luft war erfüllt von Vogelgezwitscher. Dieser Sommertag versprach sehr heiß zu werden, denn schon jetzt um 8:00 Uhr lag das Thermometer bei 27°C im Schatten. Kein Lüftchen regte sich.
Andreas Graf – Julianas Ehemann – war um 7:00 Uhr zur Arbeit gegangen. Die Kinder Jonas (sieben Jahre) und Anika (neun Jahre) spielten im Garten. Die Katze der Familie – Lissi – lag faul von fetten Mäusen und Kittekat träumend auf dem Sofa im Wohnzimmer. Eine Fliege flog ins Schlafzimmer, setzte sich auf Julianas Nase und begann eifrig, das Gesicht der Frau zu untersuchen. Fröhlich surrend schwebte sie von der Nase auf die Stirn über die Augen bis weit auf die Lippen hinüber. Dort fand sie heraus, dass diese – möglicherweise im Todesruf erstarrt – leicht geöffnet standen. Noch unentschlossen darüber, was sie als nächstes tun sollte, begab sie sich erstmal auf die in Erinnerung an das vor etwa vier Stunden erloschene Leben schweißnassen Haare. Da es jedoch für die Fliege hier nichts weiter Interessantes gab, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und flog energisch in Julianas Mund. Man hörte noch ein leises Surren bevor die Fliege in tiefster Dunkelheit verschwand.
Um 10:00 Uhr klingelte im Flur von Familie Graf das Telefon. Niemand ging dran, denn Andreas war noch bis 16:00 Uhr in der Arbeit und die Kinder hatte um 9:00 Uhr Oma Anneliese zum Zoobesuch abgeholt. Somit sprach sich Herr Blank – Geschäftsführer der Firma „Blitzblank“ - auf den Anrufbeantworter: „Guten Morgen, Frau Graf. Bitte melden Sie sich so schnell wie möglich bei uns. Unser Kunde wartet schon seit 8:00 Uhr auf Sie. Wenn Sie sich bis morgen früh nicht melden, werde ich mich gezwungen sehen, Ihnen eine Kündigung auszusprechen.“ Tüt.
Andreas geriet auf dem Heimweg von der Arbeit in einen 25 km langen Stau. Pflichtbewusst griff er zum Handy und wählte seine Hausnummer. Oma Anneliese, die vor dreißig Minuten mit den Kindern vom Zoobesuch zurückgekehrt war, hob auf der anderen Seite ab: „Anneliese Kurz bei Graf. Wen spreche ich?“ „Ja, hier ist Andreas.“ „Hallo Andreas, das ist ja nett.“ „Hör mal, sag Juliana, dass ich später komme. Bin in einen Stau geraten. Verdammt lang, das Ding. Sie soll nicht mit dem Mittagessen warten.“ „Ist gut, Andreas. Weißt du, was dein Sohn heute...“ setzte Anneliese zum Plaudern an. „Das wird mir Jonas sicher selbst erzählen. Ich muss jetzt etwas weiterfahren.“ wehrte Andreas genervt ab. Enttäuscht legte Oma Anneliese auf und begann, nach ihren Enkeln Ausschau zu halten. Anika und Jonas hatten die Gunst der Stunde genutzt und jetzt schon das Fernsehgerät eingeschaltet. „Muss das denn um diese Zeit sein?“ rügte die Oma. „Jaa!“ grölten die Kleinen. Anneliese verdrehte entwaffnet die Augen, wollte sich gerade abwenden, als ihr etwas einfiel: „Sag mal, Anika, wo ist denn deine Mutter?“ Müsste die nicht schon lange von der Arbeit zurück sein?“ Anika zuckte unwissend, desinteressiert mit den Schultern und wandte sich wieder dem Fernsehprogramm zu. Etwas ratlos lenkte die Oma ein: „Na, dann muss ich euch wohl etwas zu Essen machen. Wäre ja nicht das erste Mal.“
Gegen 19:00 Uhr kam Andreas müde und hungrig nach Hause. Anneliese war mittlerweile gegangen, nachdem die Kinder gegessen hatten und sie Andreas Portion in die Mikrowelle gesteckt hatte. Es gab Lasagne. Das mochten alle. Nach der Mahlzeit setzte sich Andreas vor den Fernseher. Um 20:00 Uhr schickte er Jonas und Anika in ihre Zimmer. „Schlafen!“ wie der Vater ausdrücklich betonte. Die Beiden folgten brav – auf jeden Fall, was das „auf die Zimmer gehen“ betraf. Kaum, dass sie sich flüchtig die Zähne geputzt und der Mutter durch die einen Spalt weit geöffnete Schlafzimmertür ein lautes aber flüchtiges „Gute Nacht“ zugerufen hatten – ohne deren Antwort abzuwarten, huschten sie in ihre Räume. Anika knipste das Licht aus, legte sich mit einem Comicheft ins Bett, stülpte die Decke über ihren kleinen Körper und knipste ihre rosa Barbietaschenlampe an. Recht bald war sie in ihre Lektüre vertieft. Da sie aber sehr müde war nach diesem aufregenden Tag im Zoo mit den vielen verschiedenen Tieren, verfiel sie rasch in Tiefschlaf. Wie herrlich doch die Ferien waren. Zur gleichen Zeit im Zimmer nebenan dachte Jonas noch lange nicht an Schlaf. Er saß an seinem Computer und spielte angespannt das neueste High-Speed-Autorennspiel in 3-D, das auf dem Markt gekommen war. Um mehr mittendrin zu sein, drehte er die PC-Lautsprecher auf. Laut surrten die Motoren, schrill hallten die Ansagen der Rennsportmoderatoren. „Normalerweise“ - dachte Jonas - „wäre Mama gekommen. Ganz böse würde sie schreien, weil es doch so spät sei und laut.“ Etwas unruhig drehte der 7-jährige seinen Kopf Richtung Tür, so als erwarte er jeden Moment das Kommen Julianas. Nichts passierte. Die Sache wurde ihm etwas ungeheuer. Er fuhr den PC runter und da er ohnehin auf Toilette musste, beschloss der Kleine noch bei seiner – wahrscheinlich ungewöhnlich tief schlafenden Mutter – vorbeizuschauen. Wann war sie denn eigentlich von der Arbeit nach Hause zurückgekommen? Er hatte nichts gehört. Im Flur begegnete er seinem Vater, der gerade die Treppen hoch zum Schlafbereich hochkam. „Jonas“ flüsterte Andreas „was machst du denn hier noch um diese Zeit. Wo ist Mutti?“ „Weiß nicht, wollte gerade gucken.“ „Ist sie nicht nach Hause gekommen?“ „Weiß nicht, Andreas. Du Papa, ich dachte, du hättest sie gesehen.“ „War Juliana denn immer noch nicht da, als Omi gegangen ist?“ „Nö, oder doch. Ich weiß nicht.“ geriet der Junge ins Schwanken. Andreas nahm Jonas huckepack, so wie früher, als er noch kleiner war. „Dann gucken wir mal nach, ob die Mami doch schon da ist und schläft.“ Vorsichtig machten Vater und Sohn die Tür weiter auf und spähten hinein in den halbdunklen, nur durch das schwache Licht der Straßenlaterne beleuchteten Raum. Lissi, die Katze, sprang vom Bett. Die Silhouette von Juliana in ihrem Bett war leicht erkennbar. Sie schien sehr tief zu schlafen, denn nichts rührte sich. Es war sogar etwas bedrückend ruhig hier. Ganz, ganz schwach strömte ein leicht süßlicher Geruch in die Nasen der Späher. Wahrscheinlich wieder so ein seltsames Aromaduftstäbchen – Juliana hatte einen Hang zu solchen Dingen. „Seltsam“ - dachte Andreas bei sich, als er leise die Schlafzimmertür schloss - „dabei habe ich sie gar nicht zurück kommen hören.“ Um Jonas nicht weiter zu beängstigen, sagte der Mann jedoch nichts. Er brachte noch das Kind zu Bett, wusch sich und ging pottmüde wieder die Treppe runter, denn seit einem halben Jahr schlief er in dem sich im Untergeschoss befindenden Gästezimmer.
Gegen fünf Uhr morgens weckte Andreas ein lauter, bis ins Knochenmark durchdringender Schrei. Er kam von oben. Anika schrie. Andreas rannte hoch, sah sich um. Der Schrei kam aus Anikas Zimmer. Der Vater schaute besorgt ins Kinderzimmer. Hatte seine Große was Schlechtes geträumt? Das Mädchen stand totenbleich auf ihrem Bett und starrte auf die Wand. Dort saß recht oben eine dicke, riesige Hausspinne. Selbst Andreas war von diesem Anblick angewidert. Er nahm einen Tritthocker aus dem Bad. Ausgerüstet mit einer Zeitschrift, kletterte er da drauf und erschlug das ekelerregende Tier. Erst jetzt kam ihm in den Sinn, dass der laute Ruf ihres Kindes Juliana erst recht geweckt haben müsste, wenn er sogar unten davon aufgeschreckt wurde. Dass seine Frau ihn nicht mehr liebte, war seit Dezember klar, als sie betrunken nach Hause gekommen war - weit nach Mitternacht - und Andreas lallend ihre neue große Liebe – den Peter – gestanden hatte. Später, als sie wieder bei allen Sinnen war, hatte das Ehepaar vereinbart, dass sie nur noch wegen den Kindern zusammenblieben. Zugegeben – Juliana war eine lausige Mutter. Sie blieb ihrem Heim und ihren Kindern immer öfter fern. Aber bisher hatte sie vorher wenigstens angerufen, wenn es wieder später wurde. Heute, nach der Arbeit, würde Andreas Juliana zur Rede stellen. Aber erst mal wollte er sich noch etwas hinlegen, bevor der Wecker um sieben klingelte.
Um 9:00 Uhr – Andreas war schon weg, Lissi aß Kittekat – fiel Anika beim Spielen im Garten auf den Bordstein, schlug sich ihr Knie auf und heulte herzzerreißend. Oma war noch nicht gekommen. Jonas rannte nach oben. Er war sich nicht ganz sicher, ob Mutti da war. Mit Herzklopfen riss er die Schlafzimmertür auf: „Mutti! Mutti! Anika ist verletzt!“ rief er. Keine Reaktion. Langsam, mit Unbehagen, trat er ans Bett und schaute Juliana an. Er erblasste. Riss seine Augen weit auf. Ein übler Geruch strömte auf ihn zu. Dieser kam ohne Zweifel von seiner Mutter. Eine Fliege spazierte gelassen aus deren Nase. Warum verscheuchte Mami sie nicht? Er trat noch einen Schritt näher und fasste die Hand seiner Mutter an. Sie war ganz seltsam, so kalt. Da erahnte er es: Juliana war tot.

* * *

Als die Polizei bei Andreas auf der Arbeit anrief, hatte er gerade Frühstückspause und sinnte über die Nachricht von „Blitzblank“ auf dem Anrufbeantworter nach. Ominös. Dabei war Juliana den ganzen Tag außer Haus, hatte sich nicht blicken lassen. Undenkbar, dass sie auf der Arbeit fehlte. Sie hatten es finanziell zwar nicht unbedingt nötig aber seiner Frau ihr eigener Zuverdienst äußerst wichtig. Dann kam die Todesnachricht. Bei Juliana soll schon vor über 24 Stunden der Tod eingetreten sein. Nein, Andreas nahm sich nicht sofort frei. Er warf auch nicht den Hörer auf oder brach in Tränen aus. Er bat Oma Anneliese lediglich per Telefon, die Kinder zu sich zu nehmen. Seine Kehle war trocken, als er den Hörer wieder auflegte. „Wie konnte es passieren, dass der Tod meiner Frau so lange unbemerkt blieb?“ fragte der Familienvater sich erstaunt. Heute wollte er nicht länger darüber nachdenken. Es gab genug für ihn zu tun. Zahlreiche Projekte warteten auf ihre Verwirklichung. Als Architekt konnte er es sich nicht erlauben, seine Arbeit auch nur einen Tag schleifen zu lassen. Kurz vor Feierabend nahm ihn seine Sekretärin – die zierliche Sarina – unter Beschuss. Er sagte nicht nein. Sie kannten sich seit über 10 Jahren und seit über drei Jahren verband die Beiden mehr als nur das Berufliche. Schon lange hatte er mit ihr mehr gemeinsam, als je zuvor mit Juliana.
Um 19:00 Uhr – gut neun Stunden nachdem ihm die Polizei angerufen hatte – kam Andreas Graf zu seiner Schwiegermutter Anneliese Kurz, um seine Kinder Jonas und Anika abzuholen. Als er an der Tür klingelte, öffnete zunächst niemand. Erst nach dem dritten Versuch ertönte durch die Sprechanlage die leise, schluchzende Stimme seiner Schwiegermutter und gleich daraufhin ein bitterer Vorwurf: „Andreas, wie konntest du das nur tun?“ Herr Graf war empört: „Verzeih, aber ich verstehe nicht ganz.“ „Deine Kinder brauchten dich.“ „Jetzt bin ich da.“ „Geht dich denn der Tod deiner Frau gar nichts an?“ Ein raues Lachen von Andreas: „Du weißt doch bestimmt, wie es um unsere Ehe bestellt war.“ „Wie kann man nur so gefühllos sein.“ Andreas schnippte ungeduldig mit den Fingern: „Darf ich bitte herein zu meinen Kindern?“ Schweigen. Ein Surren. Der Mann wurde hereingelassen. Im Flur wartete niemand auf Andreas. Die Oma saß mit ihren Enkeln in der Küche. „Hast du dich auch mal an uns erinnert.“ bemerkte Anika spitz. „Na, werd mal nicht frech, junges Fräulein.“ schalt sie ihr Vater. Jonas schaute mit tränenüberfluteten Augen auf ihn und wimmerte: „Aber sie hat doch Recht. Mama ist tot und was machst du? Du bleibst auf der Arbeit. Wir sind dir doch ganz egal.“ Woraufhin der Kleine vom Stuhl springend ins Badezimmer lief. Die Tür knallte. Andreas seufzte laut und klopfte an ihr: „Na, komm Jonas. Es tut mir ja leid. Aber jetzt bin ich ja bei euch.“ Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis der siebenjährige gewillt war, den Feuchtraum zu verlassen. Fast mit Gewalt schleifte Andreas seine Kinder nach Draußen in sein Auto, so sehr leisteten die Beiden ihm Widerstand.
21:00 Uhr bei Familie Graf: Andreas Graf – Witwer, Vater zweier ihn hassender Kinder – steht schweißgebadet vor seinem eigenen blinkenden Anrufbeantworter, drückt die Abhörtaste: „Guten Tag, Frau Graf. Hier ist Blank. Ich darf ihnen mitteilen, dass ich heute Ihr Kündigungsschreiben versandt habe. Ich wünsche Ihnen viel Glück in ihrer beruflichen Laufbahn.“ „Mistkerl.“ knurrte Andreas und löschte abrupt die Nachricht. Dann gab es noch einen Anruf bei dem die Rufnummer getarnt war und nichts draufgesprochen wurde. Dieser beunruhigte den frischgebackenen Witwer wesentlich mehr. Er kaute gerade unruhig auf seinen Lippen herum, als der Klingelton ertönte. Sofort hob er ab: „Guten Abend. Andreas Graf am Telefon.“ „Hallo. Hier spricht Meier von der örtlichen Polizei. Ich möchte gleich zur Sache kommen. Es spricht einiges dafür, dass Ihre Gattin Juliana Graf keines natürlichen Todes gestorben ist. Wir möchten Sie bitten, morgen um 8:00 Uhr auf die Wache zu kommen, um einige Unklarheiten zu beseitigen.“ „Ja.“ antwortete der Angesprochene kühl und knapp. Dann legte er den Hörer lauf auf, ging schwankend ins Wohnzimmer und ließ sich verzagt, die Hände über das Gesicht haltend, schwer auf die Couch fallen. Oben war es still. Zum Glück waren die verdammten Blagen gleich nach der Heimkehr schmollend in ihre Zimmer gerannt. Er musste seine Gedanken sammeln. Anscheinend brachte man ihn mit dem Tod Julianas in Verbindung. Warum nur? Er war sich keiner Schuld bewusst. Hatte an einen natürlichen Tod geglaubt. Ja, es war ihm tatsächlich relativ gleichgültig aber er war kein Mörder.
Um 4:00 Uhr in der Früh – genau zwei Tage nach dem Ableben Julianas – fing es an zu blitzen und zu donnern. Ein heftiger Regenguss begann. Die Vorhänge in Jonas` Zimmer bewegten sich heftig, das halb geöffnete Fenster drohte zuzuknallen. All das wirkte auf den Jungen, als würden sich Gespenster gruselig heulend an der Fensterbank bewegen, mit ihren riesigen Händen nach seinem jungen Leben greifend. Ob die auch Mama etwas angetan hatten und sie vor Angst gestorben war? Er hatte schon mal gehört, dass man auch so sterben konnte. „Und dann bleibt das Herz einfach stehen.“ hatte Anika mit einem Funkeln in den Augen damals gesagt. Er wusste nur nicht mehr so genau, wann das war. Mama hatte damals noch gelebt... Plötzlich klirrte es grässlich. Jonas fuhr wie vom Blitz getroffen in seinem Bett hoch. Was war das nur? Er warf die Bettdecke von sich und rannte panisch zu Anika. Hoffentlich würde sie ihn nicht auslachen und wieder fort schicken, wie ehemals. Wie erstaunt war der Kleine gleich darauf, da er seine Schwester nicht in ihrem Bett vorfinden konnte. Auch im Bad schaute er nach aber dort war sie ebenfalls nicht. Dass sie zu Vater gegangen war, schloss er aus und ins Schlafzimmer traute er sich nicht, denn da hatte ja noch bis gestern die Leiche seiner Mutter gelegen. Zitternd von großer Angst vor dem Gewitter und Trauer um die Mutter bewegt, krabbelte er unter Anikas Bett. Dort lag er immer noch auf dem Bauch mit den Händen über den Ohren als das Gewitter vorüber gezogen war und der neue Tag mit zaghaften Sonnenstrahlen das Zimmer Anikas abtastete. Anika war nicht zurückgekehrt. Jonas lugte nun unter seinem Versteck hervor. Unsicher wälzte er sich heraus. Am Liebsten wäre er für immer hier geblieben aber er musste auf Toilette – dringend. Mit zitternden Knien schlich er durch den Flur,als ihm auffiel, dass die Schlafzimmertür einen Spalt weiter als gestern Abend aufstand. Als er vorsichtig in den Raum guckte, wäre er vor Entsetzen fast wieder zurückgegangen. Anika lag im Doppelbett genau auf der Stelle, wo noch bis gestern Juliana gelegen hatte. Gut – irgend jemand hatte Bettlaken und Bettzeug abgestreift und weggetan aber die alte Matratze war noch da. Und genau dort lag seine Schwester. War sie auch tot? Jonas schaute notgedrungen genauer hin. Nun, sie atmete noch. Aber sonst lag sie so ruhig da, dass man glauben könnte, auch sie wäre nicht mehr unter den Lebenden. Warum hatte sie das nur getan? Wer machte schon so etwas? In diesem Zustand wie erstarrt in der Tür stand der Junge immer noch, als Oma Anneliese unbemerkt von hinten an ihn herantrat. „Jonas, was ist denn hier los?“ fragte die ältere Dame. Sie hatte erst mal nur ihn gesehen und mit in ihrem Alter etwas verlangsamten Reflexen die Enkelin übersehen. Jonas fuhr herum und deutete schweigend mit dem Zeigefinger auf das Mädchen. Erst fassungslos, fing Anneliese als nächstes an zu rufen: „Anika, um Gottes Willen, was machst du da, Kind.“ Anika erhob sich leicht und öffnete ihre vor Müdigkeit und Tränen geröteten Augen. Ihr Blick war seltsam wirr, silbern und abwesend. Sie schien nicht zu verstehen, was man sie fragte und warum man dies tat. Nun griff Oma energisch durch und versuchte, das verstörte Kind vom Bett zu holen. Als sie den Arm nach der Enkelin auszog, fing diese an zu schreien; laut und immer wieder das selbe:“Mama!“
„Wo ist dein Vater, Jonas?“ wandte sich Anneliese an den Jungen. „Ich...ich weiß nicht.“ stotterte der Gefragte. „Typisch. Geht zur Arbeit und überlässt seine verstörten Kinder ihrem Schicksal.“ grummelte die ältere Frau. Sie konnte ja nicht wissen, dass Andreas tatsächlich gegen Sieben aufgebrochen war aber diesmal zur Polizeiwache. Gereizt versuchte sie, ihren Schwiegersohn telefonisch auf der Arbeit zu erreichen. Wider Erwarten war er nicht dort. Das Telefongespräch nahm Sarina entgegen und die wusste natürlich, wo der Familienvater war. „Die Sekretärin wird benachrichtigt, die eigenen Kinder nicht.“ dachte Anneliese bitter als sie – nun um eine Information schlauer – den Hörer aufknallte. Schon lange hatte sie den Verdacht, dass sich Sarinas Rolle mehr als nur auf das Büroangestelltendasein beschränkte. Der nächste Anruf ging an den Kinderarzt, denn Anika hatte eindeutig einen Schock erlitten und benötigte dringend ärztliche Hilfe. Der hatte seine Praxis zwei Straßen weiter und war nach nur drei Minuten vor Ort. Anika bekam eine Beruhigungsspritze und schlief – jetzt in ihrem eigenen Bett – ihre Angst aus.
Zur gleichen Zeit befand sich Andreas Graf immer noch auf der Wache. Er wurde verhört. Schon allein die Tatsache, dass der Tod angeblich erst nach einem Tag bemerkt wurde, weckte den Verdacht der Beamten. Hinzu kam, das, was die im Eilverfahren durchgeführte gerichtsmedizinische Obduktion ergeben hatte. Anlass zu dieser hatte eine angebrochene, auf dem Nachttisch der Verstorbenen gefundene Packung eines Herzmedikaments mit Digitoxin gegeben. Die wenigen entnommenen Tabletten mit der Wirkstoffmenge von je 0,07 mg waren zwar zu gering, um eine erwachsene Frau zu töten aber unter den gegebenen Umständen schien eine genauere Untersuchung ratsam. „Im Blut ihrer Frau wurden größere Mengen der Giftstoffe Digitoxin und Digoxin nachgewiesen. Diese Wirkstoffe werden bei Patienten mit Herzinsuffizienz angewandt. Wie erklären Sie sich das, Herr Graf?“ „Meine Frau war herzkrank.“ „Die Dosis, die im Blut ihrer Frau gefunden wurde, überschritt bei Weitem die medikamentenüblichen Mengen. Hatte ihre Frau Feinde?“
Bei diesem Gespräch fühlte sich Andreas äußerst unwohl aber am Meisten traf ihn die folgende Frage: „Herr Graf, hatten Sie Gründe, Ihre Frau zu töten?“ Andreas sprang auf, warf die vor ihm hingestellte Kaffeetasse um und brüllte: „Nein! Natürlich nicht! Was erlauben Sie sich eigentlich, mir solche Fragen zu stellen?“ Der Polizist konterte süffisant: „Jetzt sagen Sie ja nicht, dass Sie Ihre Frau geliebt haben. Wir wissen aus sicherer Quelle, dass Sie zwar unter einem Dach aber doch getrennt gelebt haben. Wie hätte auch sonst ihr Tod über 24 Stunden unbemerkt bleiben können?“ „Haben Sie Kinder? Wissen Sie nicht, wie das zwei Menschen miteinander verbindet. Wir blieben für die Beiden zusammen. Damit sie keine Scheidung durchleben müssten.“ argumentierte Andreas.
So zog sich das Verhör über mehrere Stunden hin, fast den ganzen Tag lang. Schließlich wurde der Witwer wegen Mangels an Beweisen und weil man ihm zu keinem Geständnis bewegen konnte, entlassen.

* * *

Drei Tage vorher: Um 14:00 Uhr waren Peter und Juliana Essen gegangen. Zunächst war die Beziehung mit einer verheirateten und älteren Frau äußerst reizvoll für den zehn Jahre jüngeren Mann. Vor zwei Wochen hatte er die 24-jährige Tierarzthelferin Jenny kennen gelernt. Es hatte sofort gefunkt – bei Beiden. Heute wollte Peter reinen Tisch mit Juliana machen und die Beziehung beenden. Er rechnete nicht mit größeren Schwierigkeiten, da in seinen Augen alles nur pure Leidenschaft war.
Als Juliana Peter kennen lernte, war ihre Welt kurz davor, zusammenzubrechen: Vor einigen Tagen hatte sie erfahren, dass ihr Ehemann fremd ging und das – oh, wie profan – mit der eigenen Sekretärin. Für sie war Peter die neue große Liebe; in ihm setzte sie viele ihrer Hoffnungen und mit ihm verband sie all ihre Zukunftspläne. Mit ihm wollte sie ein Kind haben. Vor zwei Monaten hatte sie es mit dem ganzen Aufgebot ihrer Verführungskünste geschafft, Peter zum ungeschützten Geschlechtsverkehr zu bewegen. Für sie war das heutige Essen mit ihrem Liebhaber etwas Besonderes: Sie wollte ihm mitteilen, dass sie ein Baby erwarteten. Sie rechnete ausschließlich mit seiner Zuneigung und tiefster Freude.
Vor dem Essen kündigten Beide an, dass sie sich etwas Wichtiges zu sagen hätten. Nach einigem hin und her gab Juliana Peter den Vortritt. Seine Ankündigung traf sie wie ein Schlag. Er war so überzeugt von dem, was er sagte, was er glaubte, wie unwichtig ihre Beziehung wäre, ja, nur eine Affäre wie viele andere. Juliana kämpfte mit den Tränen, hielt bis zum bitteren Ende tapfer durch. Sie machte gute Miene zum bösen Spiel. Über ihre Opfer, dass sie wegen ihm die Kinder vernachlässigte, ihre Liebe, Zukunftspläne, erzählte sie nichts. Ja, sie wehrte sogar lachend ab, behauptete, er hätte es doch auf den Punkt gebracht. Ihre Schwangerschaft verschwieg sie. Sie wollte sich nicht lächerlich machen in den Augen Peters – des Mannes, den sie über alles liebte; des Mannes, von dem sie bis zu diesem Zeitpunkt das Gleiche ihre Person betreffend gewünscht – ja sogar geglaubt – hatte.
Das Essen zog sich hin. Danach blieben sie noch zusammen, gingen zu ihm. Ein letztes Mal noch wollte er sie lieben – zum Abschied. Am Abend wünschten sie sich noch alles Gute für die Zukunft und ihre Wege gingen für immer auseinander.
Zu Hause angekommen, bereitete Juliana mechanisch das Essen für Andreas, Jonas und Anika zu. Mechanisch fütterte sie Lissi. Mechanisch saugte sie den Boden und wischte das Bad. Es sollte niemandem auffallen, dass etwas anders war als sonst. Wegen angeblichen Kopfschmerzen ging sie früh zu Bett. Aber auch das war bei Familie Graf nichts Ungewöhnliches. Sie stellte den Fernseher in ihrem Schlafzimmer an und wartete. Endlich waren alle schlafen gegangen. Ganz leise, um niemanden zu wecken, ging Juliana die Treppe runter in die Küche. Dort oben, über den Hängeschränkchen, hatte sie ihr kleines Versteck. Verriegelt mit einem Kombinationsschloss. Sie wusste nicht, was sie dazu bewegt hatte, es vor einigen Monaten im Internet zu bestellen. Heute würde sie es brauchen, das kleine Tütchen mit 5 g getrockneten Blättern, auf dem die Aufschrift „Digitalis purpurea“ zu lesen war. Sie war ohnehin herzkrank und therapierte sich mit einem Wirkstoff des Fingerhuts. Bei ihr würde der mit 3 g Digitalis gebrühte Tee hervorragend seine gewünschte Wirkung zeigen. Sie brühte den Tee, spülte die Reste der Blätter und den Rückstand in der Toilette runter. Anschließend trank sie alles zügig aus, zerschlug die Tasse und entsorgte sie im Hausmüll. Alsbald setzte die erwartete Wirkung ein: Juliana bekam Durchfall und erbrach sich fast, während sie die Treppe nach oben ins Bad schwankte. Noch während sie in der Toilette war, setzten heftige Kopfschmerzen und eine bleierne Müdigkeit ein, die sie ins Bett trieben. Ihr Herz wurde ganz schwer. Sie fühlte sich schrecklich und wimmerte in ihrem Bett. „Nur durchhalten. Nichts bereuen.“ dachte sie, bevor sie verschied.
Anika vernahm nach Mitternacht seltsame Geräusche. Sie schaute durch einen kleinen Türschlitz und sah ihre Mutter über die Treppe ins Bett torkeln. Das war ungewöhnlich, denn Juliana war schon seit Stunden daheim gewesen und zu Hause trank sie nie. Anika schlich ins elterliche Schlafzimmer und versteckte sich in der begehbaren Garderobe. Einige Zeit später ließ sich Juliana schwer in ihr Bett fallen. Dort starb sie wimmernd vor Angst und Schmerz. Zwischen den Röcken in der Garderobe verharrte ihre 9-jährige Tochter und sah ihr dabei zu. Das Geschehene verdrängte Anikas junge Psyche zwei Tage lang. Später, als sie sich dessen bewusst wurde, verfiel sie in einem Schockzustand, der mehrere Monate andauern sollte. Oberflächlich gesehen, kam sie nachher zu sich aber in ihrem tiefsten Inneren hat sie es nie verwunden. Kein Psychiater war Imstande, ihr die eigentliche Ursache ihrer psychischen Gelähmtheit zu entlocken. Jonas hatte auch noch lange mit dem Tod der Mutter zu kämpfen. Keines der Kinder war später zum Führen einer längerfristigen Beziehung fähig. Einige Monate nach Julianas Suizid heirateten Andreas und Sarina. Ihre Ehe war nicht von Dauer. Wie nicht anders zu erwarten, betrog Andreas seine junge Frau. Eine turbulente Scheidungsschlacht folgte. Durch den Ehevertrag kam Sarina damit sehr gut - und vor allem wohlhabender als je zuvor – davon.

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Texte: Alle Rechte liegen beim Autor.
Tag der Veröffentlichung: 25.01.2012

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