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Da stand ich nun. Allein vor dem Grab meiner Eltern. Was sollte ich jetzt tun? Ich hatte die Beerdigung überstanden, ebenso die anschließende Trauerfeier mit den Freunden und Geschäftspartnern meiner Eltern. Sie waren beide Anwälte gewesen.
Keiner meiner Freunde war zur Beerdigung gekommen. Selbst meine beste Freundin nicht. Sie sagte sie könne nicht damit umgehen, dass meine Eltern gestorben seien und dasselbe ja auch ihren Eltern hätte passieren können. Tolle Freunde, sie konnten mir nicht helfen als ich auch nur einen von ihnen gebraucht hätte.
Ich wollte eigentlich im September an einer Universität in den USA Jura studieren. Leisten konnte ich es mir, meine Eltern hatten mir eine Menge Geld hinterlassen. Ich wäre den Rest meines Lebens damit versorgt. Aber ich konnte doch nicht tatenlos in diesem Haus sitzen und auf mein Ende warten. Ganz davon abgesehen, dass meine Eltern das niemals gewollt hätten. Ich entschloss mich dazu mein Studium, wie geplant, zu beginnen und zwar an dieser kleinen privaten Universität in Portland.
Ich konnte das Haus meiner Eltern behalten und die beste Freundin meiner Mutter würde ab und zu nach dem Rechten sehen. So brauchte ich nur die Dinge, die ich nicht zurücklassen konnte in meine vorerst neue Heimat voraus zu schicken. Ich würde fast zeitgleich mit meinen Möbel in Portland eintreffen.

So machte ich mich Anfang September auf nach Portland. Nach einem wie es mir schien endlosen Flug kam ich völlig übermüdet in Portland an. Nachdem ich im Sekretariat meine Zimmerschlüssel abgeholt hatte und einen Stunden- und Lageplan bekommen hatte, trat ich aus dem Gebäude heraus in den Sonnenschein. Den genoss ich auf meiner Haut, da nicht klar war wie lange der noch anhalten würde. Ich orientierte mich mit Hilfe der Karte und schaffte es irgendwie bis zu meinem Wohngebäude. Jetzt noch ins oberste Stockwerk, zum Glück gibt es hier Aufzüge. Endlich im Zimmer C337 angekommen.
Obwohl Zimmer war untertrieben. Es war eine große Wohnung mit einer Küche, die wie es aussieht ultra modern eingerichtet war, einem Wohnzimmer, welches bisher leer war und zwei riesigen Zimmern, die vom Flur abgingen. In jedem Zimmer gab es ein geräumiges Bad (mit einer Dusche und einer Badewanne) und kaum zu glauben einem begehbaren Kleiderschrank, der mit sämtlichen Regalen, Kleiderstangen, und Ablagen ausgestattet war. Ich entschloss mich das hintere Zimmer zu beziehen.
Ich machte mich erstmal etwas frisch. Mit dem was ich im Spiegel sah war ich nicht zufrieden. Meine ansonsten kräftigen blonden Haare wirkten schlaff und meine blauen Augen hatten ihren Glanz verloren. Nach einer Katzenwäsche überlegte ich mir wie ich mein neues Zimmer einräumen sollte. Meine Möbel und sonstigen Sachen warteten schon in einem Lagerhaus auf mich. Ich beschloss mir vorerst nur eine neue Matratze und Bettzeug zu besorgen. Ich nahm mir vor die weißen Wände morgen erst mal zu streichen. Wir konnten mit unseren Zimmern alles anstellen, solange sie beim Auszug in den Urzustand zurückversetzt waren. Meine Matratze wurde noch am selben Abend geliefert. Ich schlief sofort nach dem Beziehen des Bettes ein und wachte erst am nächsten Morgen gegen Mittag wieder auf.

Ich beschloss auf dem Weg zum nächsten Baumarkt zu frühstücken. Im Baumarkt angekommen, war ich erstmal überwältigt. Der Baumarkt war riesig. Ich schaffte es die Farbabteilung zu finden. Na gut, ich musste dreimal nach dem Weg fragen. Ich entschloss mich zu einem hellen Fliederton, der würde gut mit meinen Möbeln harmonieren. Die Farben wurden mir samt Maler, der mir half, ins Haus geliefert. Am Abend war mein Zimmer gestrichen und ich lag in meinem provisorischen Bett im Wohnzimmer.
Ich hatte noch einige Tage bis die anderen Studenten eintreffen würden. Es war ja erst Mittwoch und am Montag würde der Unterricht beginnen. Die anderen kämen erst am Samstag oder Sonntag. Am nächsten morgen wurde ich von einem Türknallen geweckt. Und plötzlich stand eine kleine Person mit kurzen braunen Haaren, die in alle Richtungen abstanden, einem strahlenden Lächeln und glänzenden braunen Augen vor mir. Sie hatte exotische Gesichtszüge die durch ihre milchkaffeefarbene Haut noch betont wurden. Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen um herauszufinden was sie hier wollte. Aber das brauchte ich gar nicht, es fing schon an förmlich aus ihr heraus zu sprudeln. „Hey ich bin Carmen und du bist bestimmt meine Mitbewohnerin. Im Sekretariat sagten sie mir, dass du schon angekommen wärst. Aber warum schläfst du denn im Wohnzimmer? Ist das nicht toll, dass hier jedes Zimmer ehr eine eigene Wohnung ist?“ Jetzt musste Carmen erst mal Luft holen. Das war meine Chance. „Hey ich heiße Sarah. Ich schlafe hier, weil ich gestern mein Zimmer gestrichen habe. Ich hoffe es ist in Ordnung, dass ich das hintere der Zimmer genommen habe.“ „Oh, klar ist das in Ordnung, für welche Farbe hast du dich denn entschieden? Darf ich es mir ansehen?“ Sie wartete die Antwort gar nicht erst ab sondern stürzte gleich drauf los. Ich rappelte mich langsam auf und folgte ihr, als sie mir schon um den Hals fiel. „Wow, das sieht richtig toll aus! Du musst mir bei meiner Farbauswahl unbedingt helfen. Ich finde es genial wie viel Platz wir überall haben aber am Besten ist ja wohl der Kleiderschrank, ich hoffe meiner sieht genau so aus.“ Mit diesem Wortschwall war sie auch schon in ihrem eigenem Zimmer verschwunden. Hinter mir hörte ich es poltern. Ich drehte mich um und sah in das Gesicht von zwei verdutzten Möbelpackern, die mich mit einem anzüglichen Grinsen von oben bis unten musterten. Da fiel mir ein, dass ich nur ein XXL-Shirt trug, mein übliches Schlafoutfit. Ich wurde knall rot und hastete in mein Zimmer um mich erst mal anzuziehen. Als ich angezogen in unserer Küche erschien, saß Carmen am Küchentisch und hielt einen Kaffeebecher in der Hand. Ich fragte mich ob Koffein in ihrem Zustand wirklich gut war. Nach dem Frühstück, welches Carmen irgendwie hervorgezaubert hatte, machten wir uns also wieder auf den Weg in den Baumarkt. Sie entschied sich für ein zartes gelb und wir würden einige Akzente in Orange setzen. Derselbe Maler half uns auch an diesem Tag. Nach einem langen Tag, wir hatten noch meine Möbel aus dem Lager bringen lassen und hatten begonnen mein Zimmer einzurichten, lagen wir beide in meinem Bett und waren sofort eingeschlafen.

Früh am nächsten Morgen wurde ich wachgerüttelt. Carmen, sie wollte jetzt endlich ihr Zimmer einrichten und dann könnten wir ja Pläne für unser Wohnzimmer schmieden. Wir hatten all ihre Klamotten in ihrem Kleiderschrank geräumt, der jetzt voll war, meiner war nach wie vor fast leer. Ihre Möbel standen am richtigen Platz und wir saßen vor unseren Kaffeebechern in der Küche. Ich kannte Carmen erst seit nicht ganz 2 Tagen und schon waren wir die besten Freundinnen. Wir glichen uns aus. Carmen war immer zu stürmisch und ich zu planmäßig und ruhig. Wir entschieden uns unser Wohnzimmer mit einigen Akzenten in dunkellila zu vervollständigen. Die Möbel würden wir gemeinsam aussuchen und die Kosten teilen.
Nach einer endlosen Shoppingtour durch mehr als drei Möbelhäusern hatten wir alles zusammen. Mit ihrem kleinen Flitzer war es kein Problem auch weitere Strecken zurück zu legen. Wir gönnten uns abends eine Pizza. Bei der erzählte ich ihr dann vom Unfall meiner Eltern. Sie war so nett, sie versuchte mich zu trösten und redete mir gut zu. Als ich im Bett lag, viel mir auf wie anders Carmen im Gegensatz zu meinen sogenannten Freunden reagiert hatte. Ich lag noch lange wach und schlief erst spät ein.

Am nächsten Morgen wurde ich von Carmen mit einem Becher Kaffee in der Hand geweckt. Unsere Möbel, die wir gestern ausgesucht hatten würden heute geliefert werden und auch aufgebaut werden. Wir hatten schon entschieden wo was stehen sollte und hatten einen Plan gezeichnet, sodass die Arbeiter uns eigentlich auch nicht brauchten. Nach einem Einkauf in einem für mich riesigen Supermarkt konnte ich Carmen dazu überreden mir beim Brotbacken zu helfen. Es gibt hier einfach kein vernünftiges Brot. Meine Mutter hatte mir einige Rezepte beigebracht. Wir hatten eine Menge Spaß, sodass wir uns danach ans Kekse backen machten. Als die Schokokekse im Ofen waren war es kurz vor 2. Jetzt waren auch die Handwerker fertig und unser Wohnzimmer sah unglaublich aus. Wie aus einem Werbeprospekt. Die Couch hatte den gleichen Ton wie unsere Farbakzente an den Wänden und die restlichen Möbel waren alle in weiß gehalten und wurden durch farbige Dekoelemente betont. Am Abend weihten wir unser Wohnzimmer mit einem DVD-Abend ein und naschten von unseren Keksen.

Der nächste Morgen verlief für mich ruhig, da Carmen mit ihrem Vater verabredet war, ich kuschelte mich in meinen Lesesessel ein und las bis Carmen am Nachmittag wieder aufkreuzte. Ihr Vater hatte uns beide zum Essen eingeladen. Ich kannte das Restaurant nicht und war verunsichert was ich anziehen sollte. Carmen musste meine Unsicherheit gespürt haben. „Du brauchst gar nichts zu entscheiden. Ich suche aus was du anziehst. Ich schminke und frisiere dich, also mach dir keinen Kopf.“ Nach ihrer Behandlung erkannte ich mich fast selbst nicht wieder. Ich hatte mein einziges Kleid an. Ein schwarzes Cocktailkleid, welches mir bis knapp übers Knie ging. Meine langen Haare hatte sie zu einer kunstvollen Frisur aufgesteckt und mir ein leichtes Make up aufgelegt. Sie selbst machte sich in Null Komma Nix fertig und schon klopfte es an der Tür und ihr Vater holte uns ab.
Das Restaurant war traumhaft schön, so wie man es immer in Hollywoodfilmen sieht. Nach dem Dessert begleitete uns Carmens Vater bis zum Campus, dort verabschiedete ich mich von ihm. „Ich danke Ihnen für die Einladung, es war ein sehr schöner Abend.“ Dann wandte ich mich an Carmen „Geht ihr doch schon vor, ich möchte noch etwas allein sein und die ruhige Nacht genießen.“ Carmen schien zu verstehen was ich ihr eigentlich sagen wollte.
Auf meinem kleinen Umweg zum Wohnheim kam ich an einem kleinen See vorbei. Ich setzte mich auf eine Bank unter einer Laterne und schaute auf das Wasser, welches im Mondlicht schimmerte. Plötzlich hatte ich das Gefühl beobachtet zu werden. Deswegen wischte ich mir die Tränen von der Wange schaute mich hektisch um und fragte „Wer ist da?“ Es dauerte etwas bis sich eine Gestalt aus dem kleinen Wäldchen schräg hinter mir löste. Ich hatte echt Angst in diesem Moment. Mir gingen all die Bilder von ermordeten Frauen durch den Kopf, die ich im Fernsehen und Filmen gesehen hatte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, aber ich konnte mich nicht bewegen, ich war wie festgenagelt auf dieser Bank. Die Gestalt schien zu merken welch große Angst ich hatte, denn sie hob beschwichtigend die Hände und sprach in einem beruhigenden Ton auf mich ein. Diese Stimme war mit einer wunderschönen Melodie zu vergleichen. „Hab keine Angst. Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich konnte einfach nicht schlafen und wollte mir etwas den Sternenhimmel ansehen.“ Mein Herz beruhigte sich langsam und meine Starre schien sich aufzulösen.
„Da geht es dir ähnlich wie mir. Ich wollte auch etwas die ruhige Nacht genießen. Mittlerweile war die Gestalt näher gekommen. Ich erkannte, dass es sich um einen Mann in meinem Alter handelte, er war ein ganzes Stück größer als ich mit meinen 1,75m, und gut gebaut. Seine Haut leuchtete weiß in der dunklen Nacht so bleich war er. Er fragte ob er sich zu mir setzen dürfte und ich stimmte zu. Jetzt konnte ich auch sein Gesicht und seine Augen erkennen. Wieder schlug mein Herz schneller, aber dieses Mal aus einem anderen Grund. Diese Augen waren die ungewöhnlichsten und schönsten die ich jemals gesehen hatte, sie hatten die Farbe von Gold und er schien mich mit seinem Blick festzuhalten. Es fühlte sich an, als ob er bis zum Grund meiner Seele blicken konnte. Sein Mund verzog sich zu einem zaghaften Lächeln und da war der Bann gebrochen. Nun hatte ich die Möglichkeit auch den Rest seines Gesichts zu mustern. Es war genauso wunderschön wie seine Augen. Ich war sprachlos.
Sein Lächeln wurde breiter. Er hatte gemerkt wie ich ihn anstarrte, prompt lief ich rot an. „Warum hast du geweint? Hat dir irgendjemand etwas getan?“ fragte er vorsichtig. Ich blinzelte einmal und entschied mich ihm die halbe Wahrheit zu erzählen. „Ich vermisse nur meine Eltern und mein Zuhause.“ „Wo bist du denn zu Hause?“ „Ich komme aus Deutschland, ich wohnte in einer kleinen Stadt an der Grenze zu den Niederlanden. Wo kommst du denn her?“ Er schien einen Moment abzuwägen was er mir erzählen sollte und dann antwortete er „Ich wohne mit meiner Familie außerhalb des Campus meine Schwester und ich gehen beide hier zur Uni.“ Ich wunderte mich kurz was er denn hier macht, wenn er doch außerhalb des Campus wohnt aber viel Zeit hatte ich nicht darüber nachzudenken.
„Ist es auch dein erstes Semester? Welche Fächer hast du belegt?“ „Ja, es ist mein erstes Semester. Ich studiere Jura und du?“ Der Wind frischte auf und ich fing an jetzt ernsthaft zu frieren. „Du solltest jetzt vielleicht doch lieber rein gehen, es wird richtig kalt.“ Mit diesen Worten erhob sich und ging. Nach einigen Metern drehte er sich um und winkte mir zu. Ich ging zurück zum Wohnheim und grübelte auf dem Weg über ihn nach. Da viel mir auf, dass ich nicht einmal seinen Namen kannte. Ich war enttäuscht. Vielleicht sehe ich ihn ja nicht mehr wieder? Obwohl der Campus ist nicht sehr groß deshalb werde ich ihn bestimmt mal wieder treffen. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht legte ich mich ins Bett und schlief sofort ein.
In dieser Nacht träumte ich zum ersten Mal von meinem namenlosen Fremden.

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Tag der Veröffentlichung: 27.05.2010

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