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Ein neues Leben

Herr B. wohnte in einer Satellitensiedlung nahe der großen Stadt Polis und wenn man etwas sagen konnte über diese Siedlungen, mit fürchterlichen Neubauten bestückt wie sie waren, ist es folgendes:Das Leben in Polis mochte zwar hektisch und bisweilen auch grau sein, aber es war ein graues Herz, das wenigstens schlug. Die Satellitensiedlungen aber waren Vornekropolen, die im langsameren Rhythmus wie Schwämme menschliches Treibgut aufsaugten und auspressten, zu gar nichts anderem waren sie gut. Und es schien nur natürlich, daß sich ihnen in losen schiefernen Tupfern die Friedhöfe anschlossen, in roten die Industrieruinen und in grünen die Schrebergärten.

 

Herr B. wohnte in einem Sechsgeschosser im vierten Stock, mitten in einer Betonzeile und umgeben von Strassen. Während sich westwärts weitere Zeilen anschlossen, war auf der Ostseite eine größere Ödfläche, die mit Maschendraht eingezäunt war und die Herr B. auch gern benützte, so wie viele andere, denn Herr B. hatte einen Hund, den er sich bald angeschafft hatte, nachdem ihn seine Frau verlassen hatte und er hierher gezogen war. Der Hund war eine Pudel-Dackel Mischung, eine graue gelockte Wurst. Wenn Herr B. sein Haus verließ und durch einen Durchgang ging, der unter dem Häuserblock hindurchführte, kam er gleich an einer Apotheke vorbei, die von einem türkischen Apotheker geführt wurde, an einem Friseur, einem Kinderarzt und einem Physiotherapeuten. Der Gehwegrand war mit Birken gesäumt, die Herr B. als Bäume sowieso ulkig und zum Schießen fand, denn sie hatten schon seit ihren jungen Jahren eine weiße Rinde, währen seine Haare immer noch schwarz waren (und voll, wie er dazu bemerken würde) und er war schon fast 50. Ging er noch weiter, kam er in eine Vorstadtmall mit einem Diskamarkt und lauter so kleinen Läden wie Blumenladen, Geschenkartikel, Bäcker und Fleischer. Halb unter der Mall versteckt war ein Parkhaus, bei dem die Erbauer sich wohl nicht richtig hatten entschließen können, es ganz unter die Erde zu versenken und so schaute es halb aus der Erde heraus und in die Mall führte eine Betonrampe hinan.

 

Herr B. war ein rosiger und rundweg gesund aussehender Mann, dem niemand, der ihn das erste Mal traf, abnahm, daß er ein Frührentner war. Und doch hatte Herrn B. in der Blüte der Jahre ein schweres Aneurysma gepackt, eine Blutansammlung im Hirn, die ihn ein halbes Jahr ins Krankenhaus gebracht hatte, auf Leben und Tod. Das Aneurysma, kirschgroß wie es war, hatte einiges mit ihm angestellt, vor allem hatte sich seine Persönlichkeit deutlich verändert, worauf vor allem seine damalige Frau beharrte und es hatte ihm auch immer wiederkehrende höllische Kopfschmerzen beschert.

Herr B. war Akademiker gewesen, ein gescheiter und eloquenter Mann, der mit seiner Gattin und seinen Büchern eine Etage einer Stadtvilla bewohnt hatte, in der anderen Etage lebte dereinst ein Professor für Anthropologie. Herr B. selbst war damals ein Dozent für Elektrotechnik an der Universität. Als Herr B. jedoch aus der Klinik kam, hatte er angefangen, seine geliebten Bücher zu meiden, ja, sie eins nach dem anderen fortzuwerfen. Des weiteren, wen wundert’s, bekam er hypochondrische Neigungen. Er kaufte Medikamente mit denen er die Badezimmerschränke füllte, die doch eigentlich für die Kosmetika des geliebten Weibes vorgesehen waren. Außerdem entwickelte er, der sein Lebtag RocknRoll, Blues und Jazz geschätzt hatte, die drei schwarzen Geschwister der amerikanischen Musik, eine Vorliebe für Wagneropern.

All das sind Marotten, die, meine lieben Leserinnen, wohl kaum eine Akademikergattin aus der Bahn geworfen hätten, wäre da nicht noch das schlimmste und letzte gewesen, daß Herr B. nämlich anfing, einmal gesagte Sachen immer wieder zu erzählen, wie eine Schallplatte oder heute, wenn man modern sein will, auch eine CD mit einem Sprung.

Die Sachen die er erzählte, Schwänke aus seiner dörflichen Jugend, den Inhalt der Revolverblätter, denen er den Vorzug zu seinen Büchern gegeben hatte und über die Gespräche mit seltsamen Gestalten aus noch seltsameren Spelunken ließen ihr keinen anderen Schluß außer dem, daß Herr B. wohl einen guten Teil seiner Intelligenz auf dem Operationstisch gelassen hatte (obwohl die Ärzte immer wieder beteuerten, daß sie da etwas verwechsele) und sie nun mit einem Proleten verheiratet war. Na ja, außer, daß er Wagner hörte. Und das war es gewesen. Herrn B.s Eltern hielten von seinem Wandel auch nicht viel und bedauerten ihn, umsorgten ihn aber im Krankenhaus und auch später rührend und besuchten ihn häufig. Die einzige Schwester, die Herr B. hatte, hatte der Familie schon früh den Rücken gekehrt. Alte Freunde kamen und gingen und die meisten waren schon bald verstört und blieben, unter Vorwänden, fern.

Die „Grüne Wiese“ war eine der seltsamen Spelunken, ein viereckiger kleiner Betonbungalow und früher ein Jugendclub gewesen, der dicht gemacht hatte, als das Geld für die Sozialarbeiter gestrichen wurde. Der neue Besitzer hatte einen Tresen hineingebaut, neues, keine Spur nostalgisches Mobiliar hineingestellt und jede Menge Leuchtreklamen und Spiegel mit Werbungen für amerikanische Spirituosen aufgehängt. Und natürlich gab es Billardtische. Die Klientel indessen war die alte geblieben, die nicht mehr so junge Jugend aus dem Jugendclub. Hinzu waren dünne Trinker gekommen, schmerbäuchige Männer mit Jeans und Lederwesten, mit Vokuhila oder Glatze, meistens hatten diese dicke Schnurrbärte. Des weiteren gefönte Weibchen mit Strähnchen und Leopardjäckchen. Was die Musik anging, konnte jeder seine CDs selber mitbringen, was eine gewöhnungsbedürftige Mischung aus Punkrock, Heavy Metal, Country, Glam, Disco und Schlager ergab, mit Wagner jedoch war Herr B. hoffungslos bei allen gescheitert und begann oft lange Tiraden über Banausen und den schlimmen Krach der Neuzeit. Trotzdem kehrte er gern hier ein. Er hielt im Klackern der Billardkugeln beachtete Vorträge über die Weltregierung, Geheimkomplotts der NASA und Killerviren, die bald überall seien.

Und hier geschah es eines Tages, daß er Gabi traf. Gabi war eine Alkoholikerin und erst Anfang 30. Sie hatte einen ziemlich drahtigen Körper irgendwie, ohne besondere Rundungen, kurzes braunes Haar und tiefe, faltenumstandene Augenringe. Und, Wunder was, sie hatte einst studiert, eine echte Sensation. Aber der Alkohol hatte sie aus dem Leben gespült, zu den anderen Wracks und Tagelöhnern. Obwohl Gabis IQ weit über dem lag, der Herrn B. übriggeblieben war, unterhielt sie sich gern mit ihm und blieb an seinem Tisch sitzen, denn er gab ihr Halt. Unter dem Tisch lag der Hund, der Herrn B. Halt gab.

Zu berichten ist von einem denkwürdigen Abend, als Gabi ihm eröffnete, ihr biologischer Vater sei auch Elektroingenieur gewesen und Herr B. noch spät nachts mit zerzausten Haaren am Telefon seine ehemalige Gattin mit der Frage aus dem Schlaf nötigte, ob sie nicht zufällig eine Tochter gehabt hätten. „Mein Gott, weißt du denn gar nichts mehr?“, stöhnte diese müde durch den Hörer. „Nein, eben nicht!“, schrie Herr B. zurück und knallte den Knochen auf die Gabel. Damit war das wenigstens geklärt, Zufälle gab es immer und man konnte ja nie wissen, erzählte Herr B. seiner grauen Wurst. Wenige Wochen später zog Gabi bei ihm ein und stellte ihren Jack Daniels zwischen seine obskuren Tinkturen, die er von seinem Heilpraktiker aufgeschwatzt bekommen hatte und die er vom Türken aus der Apotheke bezog.

Neben der Rente verdiente sich Herr B. einen zweiten Lebensunterhalt als Fahrkartenkontrolleur bei den städtischen Verkehrsbetrieben. So kam er erstens ganz kostenlos in ganz Polis herum. Er liebte es, in den gelben Glas- und Stahlschläuchen, ob U-Bahn, Bus oder Straßenbahn an spontane Ziele zu gondeln, dort auszusteigen und die graue Wurst auszuführen. Das Ausführen natürlich nicht gleichzeitig mit dem Kontrollieren. An Kontrolltagen mußte der Hund zu Hause bleiben. So sah Herr B. immer wieder witzige Dinge, führte streunende Hunde dem Tierheim zu und ältere Damen über den Damm.

Zweitens hatte Herr B. eine ganz neue Schäfermentalität in sich entdeckt, die ausgelebt werden wollte. Die Bahninsassen waren seine Schäfchen, die schwarzen unter ihnen galt es zu finden. Herr B. sah das Gute in allen Menschen, auch den Schwarzfahrern. Es war nur so, daß diese selbst das Gute in sich nicht mehr so recht sehen konnten und so ein Bußgeld war ein prima Denkzettel, haha Nachdenkzettel, der selbst einem hochnäsigen kalten Gesellschaftsschmarotzer zeigen mußte, daß er nicht allein auf der Welt war. Und nicht allein zu sein, was für ein schönes Gefühl war das! So etwas verteilte Herr B. gern.

Und drittens, denn ein drittens gibt es ja immer und wer weiß wie oft noch ein viertens, beobachtete Herr B. gerne Menschen. Wie sie sich miteinander unterhielten, ihre Kinderwagen in die Bahn hoben, junge Mädchen mit verheultem Makeup, die von ihren Freundinnen getröstet wurden, Rentner mit Schiebekarren, streitende Eheleute, muskulöse Männer mit kahlem Schädel, schlaksige Jungs mit Kaugummi und halblanger Mähne und Touristen, die sich gegenseitig die Stadt erklärten.

Mittagessen ging Herr B. stets an irgendeinem Schnellimbiß, denn Kochen hatte Herr B. nicht gelernt und, wie es sich herausstellte, Gabi auch nicht, die, wenn sie überhaupt mal etwas aß und nicht tagsüber nur ihren Rausch ausschlief, Fertiggerichte verdrückte. So aß er zum Beispiel an jener Schnellpizzeria an der K.-Strasse, in der vier Italiener an der Theke standen oder zumindest hoffte Herr B., daß es Italiener waren. Diese arbeiteten wie eine schwitzende, achthändige Maschine in einer Atmosphäre aus hektischer Ethnomusik, Kundenwünschen und ausgestreckten Händen, die die Bestellungen abholten. Einer knetete den Teig, warf ihn in die Luft und klatschte ihn auf die Platte, der zweite warf den Belag drauf, der dritte bediente die Öfen und der vierte die Kasse. Die vier hatten ein Nummernsystem, man konnte sich so einen Zettel ziehen wie auf dem Arbeitsamt. Herr B. gab nur seine Bestellung an der Kasse ab, zog seine Nummer und ging nach draußen, bis die Nummer irgendwann durch den Musikteppich geschrieen wurde. Dann stellte er sich mit dem leckeren Teil an einen der Tische und aß.

Wenn Herr B. den Hund nicht mitnehmen konnte und er etwa mit Frau W. auf Kontrolltour war, einer unruhigen und ungewaschenen Frau seines Alters mit weißen Brillengestell und ebenso weißer Ledertasche, die im Gegensatz zu Herrn B. immer auf „Quote“ aus war, keinen von der Angel liess und jeden anfuhr, der nur noch 5 Minuten auf seinem Fahrschein hatte, daß er nächste Haltestelle aussteigen müsse, konnte nun Gabi auf den Hund aufpassen und ihn ausführen. Manchmal vergaß sie das aber und der Hund machte in die Wohnung, ein Umstand, der Herrn B. dazu veranlaßte, zu versuchen, Gabi trockenzulegen. Wobei er aber erfuhr, was es hieß, im wahrsten Sinne des Wortes „dümmer“ zu sein. 

Denn Gabi fand Verstecke, gegen die jedes Ostereiersuchen ein Klacks war. Im Klospülkasten etwa.
Außerdem fing sie an, wenn ihre eigenen Vorräte knapp wurden, Herrn B. s Tinkturen auszutrinken, denn die enthielten fast alle Alkohol. Wenn seine Tinkturen ausgingen, geriet Herr B., genau so wie ein Alkoholiker, in einen zittrigen, hilflosen Zustand, aus Angst, die nächste Krankheit könnte ihn auffressen, als Ebolahäppchen wollte er nicht enden. Also wurde Waffenstillstand geschlossen. So in etwa könnte man die Umwälzungen in Herrn B.s Leben grob skizzieren, die wie so viele Biographien einfacher Leute bei genauerem Hinsehen umfangreicher waren, als man für einen Menschen annehmen konnte und die zu einem Nachmittag führten, der Herrn B.s Nerven arg belastete.

An diesem Tag hatte Herr B. den Hund früh selbst Gassi geführt, um später keine Überraschungen zu erleben. Er hatte ihn auf der Freifläche herumlaufen lassen und Stöckchen geworfen. Danach hatte er aufgeräumt, abgewaschen und das Leergut weggeschafft. Am Glascontainer hatte Herr B. dann seinen wöchentlichen Spaß, in dem er die Flaschen schwungvoll wie Torpedos in den Metalltank schoß und es herrlich splitterte und krachte. Danach verließ er die Blocks für seine tägliche Tour.

Als er zurückkam, fand er zuhause neben Gabi und dem Hund auch noch eine Trinkfreundin von Gabi vor, Becky. Becky war ein dürres bleiches Weibchen mit schwarzgefärbten Haaren und Mordsohrringen, gern im Trainingsanzug unterwegs und nicht besonders helle. Zu Beckys schlechteren Eigenschaften gehörte es leider, daß sie keine Ausländer mochte, besonders wenn sie wie welche aussahen, weil sie gelesen hatte, daß die Arbeitsplätze wegnahmen. Sie nahmen sie einfach mit und verkauften sie ins Ausland. Oder so ähnlich.

Sie schickten ihre Kinder zum Betteln statt in die Schule und verkauften Drogen, hatte sie gehört. Trotzdem aß Becky gern in ausländischen Restaurants, ein Paradox, welches sie sich übrigens mit vielen ihrer engstirnigen Geisteskollegen teilte. Herr B. mochte Becky nicht besonders, sie sagte im Rausch nämlich so Dinge, die man lieber für sich behielt, etwa, daß Herr B. gar kein richtiger Mann sei, mit seiner Größe und Statur.

Beim Eintreten bekam Herr B. ein großes Hallo und einige Jauchzer, die ihre Herkunft in einer Flasche Jim Beam und einem vollen Aschenbecher auf dem Wohnzimmertisch erklärten.
„Heeeeey komm rein Knutschibär, laß dich drücken“, quietschte Gabi.
Als Herr B. seine Tasche abgestellt hatte, ließ er das mit sich geschehen, und auch das japsige Gespringe seines Haustieres.
„Na B., du Nußwurst! Kloppste ein Skat mit uns? Schluck aus der Pulle? Das macht ein richtigen Mann aus dir hahaha.“ gackerte Becky. Herr B. fing an zu husten. Zigarettenrauch machte ihm normalerweise nicht soviel aus, aber hier stand er knüppeldick in der Bude. Er ging ins Badezimmer, um sein Asthmaspray herauszusuchen, das er für alle Fälle hatte. Weil er es nicht gleich fand, schmiß er einige von Gabis Lotion- und Schaumflaschen ins Waschbecken und beim Wühlen begannen seine Finger wieder zu zittern. „Gabi, wo ist der Spray?“, flüsterte er. Seine Bronchien begannen zu krampfen. Jetzt warf er pauschal alles ins Becken.
„Machst'n für'n Lärm?“ erschien Gabi an der Tür. „Der Spray!“ flüsterte Herr B. wieder.
„Hier doch, Bär. Sorry.“ fingerte Gabi mit einem Griff den weißen Behälter zu Tage.
„Danke.“ Ffffft, zog Herr B. am Spray.
„Willsten Kaffee? Komm zieh doch endlich die Jacke aus.“
"Ja bitte, Gabi. Ja. Mach das Fenster auf“

Dann setzte Herr B. sich zu den Spiritusmiezen, trank seinen Kaffee und klopfte einen Skat mit ihnen auf dem Glastisch.
„Hab ich euch schon die Story erzählt, wie ich beim Militär mal zwanzig Eier auf einmal verdrückt habe? Das war eine Wette…“
„Die kennen wir schon…“
„Na egal, Humor muß sein, oder. Den laß ich mir von euch nicht austreiben!“
„Muß das sein mit dem Rauchen, Becky, wie ein Stadtsoldat rauchste, wie ein Stadtsoldat. Sogar die Ärzte damals in der Klinik haben geraucht, in ihren Schlachterkitteln standen sie draußen vor der Chirurgie und haben geraucht, wie die Stadtsoldaten. Keiner hat ein Einsehen.“, knurrte Herr B. beim Austeilen.
„Ach hör doch auf.“
„Du kennst mich doch, Becky“ sagte Herr B. und klopfte auf seinen Kopf. „Fünf Bohrungen und eine Metallplatte! Toi, toi. Humor muß sein.“

Die Plastekuckucksuhr hatte gerade drei Uhr gekuckuckt, als es an der Tür schellte und es Herrn B. siedendheiß wieder einfiel, daß sich seine Exfrau für einen Besuch angekündigt hatte. Wankend wie ein Steuermann im Sturm stand er auf, obschon der einzige Nüchterne der Runde.
„Mist, Leute, ich hab vergessen, meine Ex kommt heut zu Besuch!“ Gabi wurde blaß. 
„Was will die denn hier?“ Becky lachte.
„Benehmt euch, wird schon nicht lange dauern.“ stammelte Herr B., während er in den Korridor schlüpfte, den Türknauf ergriff und öffnete. Der Hund kam zur Tür gerannt und knurrte. „Still“, mahnte B. und zog ihm am Halsband.

„Hallo B.“, sagte seine Frau und in ihrer sanften Stimme schwang ein leises Bedauern mit, welches sich über die letzten Jahre eingeschlichen hatte und als Dauermieter geblieben war.
„Gut siehst du aus. Du hast immer schon so gut ausgesehen.“ Seufzte sie weiter.
„Ja meine Liebe. Du kennst mich doch. Fünf Bohrungen und eine Metallplatte." Die Frau verzog schmerzlich das Gesicht.
"Wer ist denn dein Freund da?“, nahm er die Hand vom Kopf.
„Ja“, seufzte sie wieder und „das ist doch Paul A., dein langjähriger Arbeitskollege aus Übersee. Wir wollten dir eine Freude machen.“
„Ha, Paul, Alter, du meine Güte, kaum wiedererkannt“, sagte Herr B. verwirrt und schüttelte dem schwarzen Hünen die Hand. Etwas urtümlich Vertrautes lag in dieser Geste, in dieser großen Hand und dem nach oben schauen. Das war das alte Leben gewesen. Kompliziert war es gewesen.
"Ich hab von deinem Unglück gehört", sagte Paul und B. nickte.

„Kommt doch rein in die Stube, wollt ihr einen Kaffee? Ich koch euch neuen.“
„Sag bloß nicht, du hast vergessen, daß ich komme.“ „Ja Schatz…“ horchte Herr B. in sich hinein. Es tat ihm aufrichtig leid und der Ton seine Stimme ließ seine Exfrau lächeln.
„Willst du mir nicht deine Freunde vorstellen?“
„Jaaah, hallo, daß ist Gabi, sie wohnt jetzt bei mir…“ Herr B. ließ eine bedeutungsvolle Pause. Die beiden schüttelten sich die Hände, gerade so an den Fingerspitzen und sahen sich nicht in die Augen.
„Und das ist Becky, eine Freundin von Gabi.“
„Hallöle!“ Becky stand nicht mal vom Sofa auf. Satt dessen fixierte sie Herrn B.s ehemaligen Arbeitskollegen mit schmalen Augenschlitzen.
„Becky, Gabi, das sind meine Exfrau und mein alter Kumpel Paul.“ 
„Du hast einen Negerfreund, B.? Oh Mannomann.“
Pauls Miene, die schon von ergrauten kurzen Locken gekrönt war, verhärtete sich deutlich.
„Verschwinde mal Becky! Raus!“, versuchte B., die Situation zu retten. Der Hund bellte.
„Ich soll verschwinden, du Hanswurst? Er soll verschwinden! Die Neger nehmen uns die Arbeitsplätze weg und so!“ blubberte Becky. B.s Exfrau stand einfach geschockt im Wohnzimmer und sagte gar nichts. Gabi ging schnell in die Küche. Bei so was ging sie immer weg, sie hatte gute Instinkte in der Hinsicht.
„Mach dich raus Becky.“ Herr B. sagte B. mit weitausholender theatralischer Geste und einer Stimme, die er sonst nur bei der Lockenwurst oder Schwarzfahrern gebrauchte.
„Dich hab ich gefressen, B. ! Tschüss!“, fauchte Becky.
„Und deeeeheer da!“, sie deutete auf Paul, wobei sich ihr Zeigefinger vor Hass durchbog, „schläft doch mit deiner Ex, siehst du das nicht?!“
„Deine Jacke, Becky!“ Herr B. gab ihr die Jacke, schob sie durch die Tür und schloß diese.

Becky warf von außen ihre Faust gegen die Tür. „Ihr Ausländerschweine!“ Dann stolperte sie die Treppen hinunter.

„Entschuldigt, Paul, Schatz, ich weiß nicht was ich sagen soll, das hatte ich nicht erwartet.“
„Du hattest uns nicht erwartet, B. Was für einen Umgang du nur hast“. Die Stimme seiner Exfrau war auf Grabesniveau angekommen.
„Darauf erst mal einen Schnaps, was, Paul?“
„Die kommt mir nicht mehr über die Schwelle!“, beteuerte er, als er das tief verstörte Gesicht von Paul sah. „Wir sind doch Akademiker, B.“ war alles, was Paul mit rauher, tiefer Baßstimme sagte, bevor er das angebotene Whiskeyglas nahm, aber seinem Gesicht war es anzusehen, daß seine Zuneigung zu Herrn B. gerade einen Riß bekommen hatte. Die drei setzten sich steif und umständlich auf die Couch. Gabi traute sich aus der Küche und brachte den Kaffee mit. Sie schwankte dabei ein wenig, blickte nach unten und sagte kein Wort. Dann ließ sie sich in den Sessel fallen.

„Deine Wohnung sieht anders aus“, stellte B.s Exfrau nach mehreren Minuten peinlicher Stille fest. 
„Ja, Gabi hat ein bißchen gewirkt.“, sagte Herr B. nicht ohne Stolz. 
„Endlich stehen wieder mal ein paar Bücher in deinem Regal.“ Herr B. runzelte die Stirn und schaute. 
„Tatsächlich! Nicht von mir. Das war so eine Zeitverschwendung, du kennst ja meine Meinung.“
„Warum nur. Du hast früher so gern gelesen.“
„Und, was hat es mir genützt? Du siehst doch, was aus mir geworden ist.“, sagte Herr B. und hielt mitten in der Bewegung inne, mit der er sich immer auf den Kopf klopfte.
„Mein ganzer Kopf ist explodiert mit den Büchern, die ich da rein gestopft habe. Und diese komische Wissenschaft, die da drin stand. Was hatte die wirklich mit den Menschen zu tun? Ich bin jetzt lieber den Menschen näher. Ich brauch keine Bücher mehr.“ 
„Ich habe dir ein paar alte Fotos mitgebracht, B.“, sagte seine Exfrau und gab ihm einen dicken Briefumschlag aus ihrer Handtasche. B. nahm ihn und fischte ein Foto heraus. Die andern nahmen ihre Tassen.

Auf dem Foto zu sehen war er, an seinem Schreibtisch in der Villa, vor einer Bücherwand. Auch er schaute von einem Buch auf fragend in die Kamera hinein. Herr B. saß lange vor diesem Bild, still und andächtig, bis Gabi sich schließlich regte.
„Fotos? Mann, zeig doch mal!“
Manche Dinge und Frauen ändern sich nie, dachte Herr B. und stand auf, um eine Schallplatte aufzulegen, mit Aufnahmen aus "Tristan und Isolde".
Und dann, wieder nach einer Weile, als sie fast schon eine richtige Kaffeegesellschaft waren, sagte seine Exfrau in die Musik hinein:
„Paul wollte noch was Fachliches mit dir besprechen.“
„Also, ja, ich weiß nicht, in Anbetracht der Sache“, zögerte Paul, während B. ihn fragend ansah. Seine Augen leuchten noch immer so wie früher, dachte Paul.
„Na gut, also.“ Paul nahm Zettel und Stift heraus, und füllte den Zettel mit Symbolen, Strichen und Zahlen. „Wir haben da eine neue Schaltung…“ Dann folgten viele Fachtermini, die Herrn B. umschwärmten wie Mücken bei der Paarung. Mit offenem Mund saß er da und fuhr die Linien andächtig mit den Fingern nach. Verzweifelt versuchte er, sich zu konzentrieren. Da war etwas, aber er konnte es nicht fassen. Das war es gewesen, das alte Leben. Symbole und Zahlen. Kompliziert war es gewesen.  
„Stop, Stop, Paul", wollte er gerade sagen, als sich Gabi unvermittelt zu ihnen beugte und über die Zeichnung schaute.
„Gib mir mal den Stift. Also das hier kommt mir komisch vor“, sagte sie und deutete auf eine Zahl. „das müßte so sein…“ Dann drehte sie den Zettel um und füllte die Rückseite mit ihrer Version.
Herr B. sah sie entsetzt an, seine Exfrau amüsiert und Paul argwöhnisch und mit fortlaufender Entwicklung freundlicher. Schließlich war er sogar begeistert.
„Wo haben sie denn studiert?“, begann er achtungsvoll eine Konversation mit Gabi. Der Hund schlief unter dem Tisch.

„Ich glaub, die zwei brauchen uns nicht B. Komm laß uns auf den Balkon gehen.“, sagte die Exfrau. Sie löste den fassungslosen B. aus der Couch und zog ihn auf den Balkon.
„Also deine neue Freundin scheint ja doch eine nette zu sein.“
„Also das hätte ich auch nicht erwartet. Ich hab ihr nie zugehört, wenn sie von ihrem Studium geredet hat. Ich weiß eigentlich gar nicht, was sie ….“
„Ach B." 
"Du kennst mich doch, fünf...."
"Deine Sprüche haben mir nicht gefehlt. Ich bin fast verrückt geworden durch diese Endlosschleifen. Sei mal kurz ruhig." Und dann schwiegen sie eine Weile zusammen. Sonne und Wolken mischten sich ineinander und lösten sich wieder.
„Sag mal stimmt das eigentlich?“, fragte B. in die Stille hinein.
„Was?“
„Daß du mit ihm schläfst?“
„Was?“ Ihr Gesicht fror kurz ein, dann lachte sie.
„Und wenn so wäre, es ginge dich nichts mehr an.“
„Nein.“, sagte Herr B. langsam.

Als sie wieder in die Stube kamen, diskutierten Paul und Gabi noch angeregt miteinander. Sie hoben die Köpfe. „Ich habe von ihrem Problem gehört, B". sagte Paul.
"Wenn sie entzieht und trocken bleibt, könnte ich ihr trotzdem eine Stelle verschaffen.“
„Du mußt ja Eindruck gemacht haben“, sagte B.
„Das hat sie“, sagte Paul.
„Laß uns gehen“, die Exfrau beugte sich zum sitzenden Paul herunter, wobei sie sich eigentlich nicht viel bücken mußte. Etwas in dieser Bewegung ließ Herr B. stutzen und...lächeln. Dann ging sie in den Korridor und kam mit einem Mantel wieder.
„Kann ich mal schnell aufs Klo?“. Paul zog sich an.
„Also dann mal wieder. Wenn’s paßt.“, sagte er mit seinem Baß.
„Aber das hier ist echt nichts für dich und mich.“ und deutete um sich, Wohnung und Stadtviertel auf einmal verdammend.
„Mir gefällt's hier, ob du's glaubst oder nicht.“, sagte Herr B. Paul zuckte mit den Schulten.
„Bist du fertig?“ fragte die Exfrau, aus der Toilette zurück, Paul.
„Fertig sind wir schon lange, nur die Haare und Nägel wachsen noch kontinuierlich!“ schoß Herr B. dazwischen. "Humor muß sein, oder, den laß ich mir von dir nicht austreiben.“
„Na, denn tschüß!“ An der Schwelle standen fünf Kreaturen und eine davon wedelte mit dem Schwanz. Als der Besuch fort war, fing Gabi an, zu heulen.

Eine Woche später fand sich Herr B. seltsamerweise in einer Buchhandlung wieder. Er wußte nicht mehr so genau, wieso er den Laden betreten hatte. In seiner Hand hielt er ein Foto. Darauf, war er, wie er an seinem Schreibtisch saß, dem alten Schreibtisch in der Villa.
Hinter ihm eine Wand aus Büchern. Und auch er schaute aus einem Buch heraus auf, fragend in die Kamera.

Mit einem Bein auf der Erde

Es war an einem heißen Tag im Frühsommer und die Kirschbäume waren schon ganz lange verblüht. Dicke rote Zwillingsfruchtdropse zeugten nun von vergangen eiliger Geschäftigkeit der Bienlein. Ein mittelgroßer, mittelschlanker und auch sonst irgendwie mitteldingsiger braunhaariger Junge kauerte auf den Treppen und sah ganz blass aus. In Jeans und T-Shirt, wie sich das gehört. Die Treppen waren die Treppen vor seiner Schule, eine Plattenbauschule ganz aus Betonplatten. Auch die Treppen aus Beton. Der Junge hieß Thomas. Sein Innenleben war in einigem Aufruhr. Das Gefühl war wie in einer Waschmaschine. Mit Waschmaschinen kannte Thomas sich aus, welche Köpfe und so. Oder man hing am Propeller eines ver… zum Kuckuck noch mal abstürzenden Hubschraubers. Sonnig-trudelnd-rosarot-tonnenschwer-abgehoben-im Gulli bei Tomaten und Speck mit Buttercremetorte. Sagenhaft. Sein Gesicht hätte er es sehen können, wurde immer grüner. Schulspeisung, ohne Frage.

„….ch .ir ..fen? ….soo blass ..sss! Soll ich dich zu einem Arzt bringen?"
Das streng drein blickende Brünettchen, vom Beruf seine Biologielehrerin, wurde ihm nur schluckweise bewusst. Die Sonne brannte heiß und innig ins Sahneblau. Sie war ein vertrocknetes Zimmerpflänzchen und Thomas mochte sie eigentlich ganz gern. Nicht die Sonne. Aber Nervengehen war ihr Hobby.
„Nnein. Ghheht schon."

Nachdem sie ihn zögernd verlassen hatte und ihm einen guten Nachhauseweg gewünscht, versuchte er vorsichtig aufzustelzen und seine Beine zu bestolpern. Na, es ging doch! Die seines Erachtens viel zu lauten Hupen warnten ihn jedes Mal, wenn er in seinem gewagten Zickzackkurs zu weit auf die Strasse abwich. Thomas torkelte um die Ecke und umklammerte ein Halteverbotsschild. Das war doch nicht normal, ganz entschieden nicht. Was war bloß mit ihm los, zum Aasgefieder? Es sah so aus, als bräuchte er jetzt ganz dringend einen Pfefferminztee. Schweißperlen liefen ihm in die Augen und brannten höllisch. Er nahm noch eben gegenüber das große fleckige Sandsteingebäude wahr, die Kirschbäume beiderseitig schön in einer Reihe, die Gitter der Entlüftungsschächte im Gehsteig und die misstrauischen Blicke der Menschen, die an ihm vorüber liefen. Sein vorletzter Gedanke bedachte sie mit Blumennamen (auf denen Hunde ihr Wasser gelassen hatten). Ganz schwach war ihm um die Beine. Der Junge klappte zusammen. Kurze Zeit später gab sein Gehirn den Kontakt zur Wirklichkeit auf. Es durchflog einen weiten Raum eine ganze Weile jenseits von Vorstellung und Zeit. Nicht das er sie hätte nachschauen können, denn er hatte keine Uhr am Gelenk. Eine Stimme wie mahlende Steinplatten fing an zu sprechen.

Auch mitteldingsige nicht rockstarfähige Jungens haben zuweilen Freundinnen und Thomas’ Freundin hieß Patrizia. Sie stand vor dem Bett in der Intensivstation. Sie hatte kurze rote Haare und war bekleidet mit einer Lederjacke, schwarzen Jeans und sehr modernen Knobelbechern. „Gib’s zu Thomas. Diesmal hast du das Baby aber wirklich in die Grütze gekippt. Sieht aus, als bräuchtest du ganz schön dringend einen Arzt. Ich hab dir Kirschen mitgebracht und dabei bist du fast ne Leiche. Was hast du bloß angestellt?" flüsterte sie. 
Mächtige Tränen kullerten aus ihren grünen Augen über ihre Sommersprossen. Ihr wurde bewusst, dass sie eine Kirsche nach der anderen aß. Kirschkern für Kirschkern rollte zurück in die Tüte. Sie knüllte den Rand zusammen.

„Eyh, Mann, mach keinen Mist, lass uns hier abhauen. Wach auf. Wach wieder auf!"
Sie schüttelte ihn, aber alles blieb still. Thomas blieb still. Die Apparate protestierten mit keinem Ton.
„Schätze das hilft dir nicht. Du kannst mich doch nicht einfach hängen lassen, hmm? Dinosaurierkotze."
Patrizia ließ ihn los und heulte auf die Kirschkerntüte. Plötzlich stand jemand neben ihr.
„Du hattest ihn wohl ziemlich gern? Bist du eine Verwandte?"
„Was solln das für ne Frage sein? Hattest? Sie sind wohl, oh, Sie sind die Ärztin. Entschuldigung."
„Schon in Ordnung. Das war wirklich nicht nett von mir. Er ist ein seltener Unglücksfall. Komm."
Die Frau im weißen Kittel führte sie herum um das Bett zu dem Bildschirm mit den Lebensfunktionen.
„Bist du seine Freundin?"
Patrizia nickte.
„Es waren schon Leute aus dem Heim hier.", fuhr sie fort, und: „Ich kenne nur sehr sehr wenige Fälle, bei denen der Patient so plötzlich aus einem stabilen Zustand ins Koma gefallen ist. So etwas passiert, ist aber selten, wie gesagt. Siehst du diese Linien? Das ist das EEG. Sie sind stark abgeflacht, das heißt so ungefähr… also es ist wie ein sehr tiefer Schlaf und er wird auf nichts reagieren können."
„Was soll das heissen, wird er wieder gesund?"
„Zurzeit ist niemand da, der diese Frage beantwortet, das kann nämlich bloß er selbst. Manchmal kommt ein Komapatient nach kurzer Zeit zurück, wenige brauchen Jahre, aber wenn es länger als vier bis sechs Monate dauert, ist die Wahrscheinlichkeit einer Erholung gering."
Anteil nehmend legte die Medizinerin die Hand auf Patrizias Schulter. Stumm riss Patrizia sich los, zum Fenster hin.
„Hör zu." Die Stimme der Ärztin klang nun beschwichtigend und ermahnend zugleich.
„Er bedarf jetzt deiner Anwesenheit und Fürsorge. Alles was wir tun können, ist seine Lebensfunktionen aufrecht zu erhalten. Den Willen zum Leben können wir ihm nicht geben, aber vielleicht du. Rede mit ihm. Sing ihm was vor. Berühr ihn. Alles kann helfen." Sie notierte sich ein paar Werte von der Maschine. "Ich muss jetzt weiter. Bis bald!"

Die Tür ging hinter ihr ins Schloss. Patrizia beachtete ihr Gehen mit keiner Regung. Als Stille die einseitige Zweisamkeit begleitete, dann ergriff sie die Hand des Bewusstlosen. Sie sah hinaus in das blutige Abendrot. Draußen benetzte die Hitze den Asphalt und ließ die Gebäude erzittern.

Thomas fand sich wieder, weich gebettet und im Gegenüber ein freundlich dreinblickender alter Mann mit Wallebart. Der hatte ganz glasige Augen. 
Du bist im Himmel. Sei mir gegrüßt.
„Was ist denn das für ein Name? Nimm den Strohhalm aus der Nase und sag mir genau ins treue blaue Auge, was ich hier soll, Opa!" Nach einer Weile kurzen Schweigens schienen Thomas die Umstände, in denen er sich befand, einzusickern. „Heiliges Kanonenrohr… Bin ich jetzt tot? Wozu der Aufwand für mich kleines Heimkind? Das war doch ein Gottver…zum Kuckuck noch mal ein Irrtum? Ich bin ganz jung noch. Lasst mich bitte sofort wieder runter!"

Der Alte verzog das Gesicht.

Du redest wie ein Bauernlümmel. Tja. Tut mir leid. Eine kleine Fehlfunktion. Es war ein Azubifehler. Wir hatten gerade einen Test, ein neue Automatisierungsstrecke, den „Seelenerlöser V 1.7". Aber ich kann dich nicht weglassen.
„Haben Eure Niederträchtigkeit damit ein Problem?"
Du verstehst das nicht. Das Experiment war erfolgreich.
„Na, anscheinend doch nicht."
Was, wenn wir öffentlich eingestehen müssten, wir wären fehlbar? Schließlich sind wir ein ehrbares Unternehmen.
„Schock, Schock. Aber was wird aus meinem Körper werden?"
Komafall. Er wird ohne dich nicht mehr lange da sein. Nun nimm schon deine Harfe und geh.
„Ist ja echt grell, echt grell. Saftladen. Immer auf die Kurzen. Kein Wunder bei der Senilitätsrate! Ich kann gar nicht Harfe spielen! Was für ne kranke Massenabfertigung. Und außerdem…" Thomas runzelte seine metaphysische Stirn.
Ja?
„Ich hab da noch jemand der mich liebt. Lässt sich da überhaupt nichts machen?"
Ach Thomas.
„Ja, wie lautet deine Entscheidung, Ehrerbietiger?"
Es wäre sowieso langweilig geworden. Den Löffel hättest du in einem Pflegeheim geworfen.
„Oh, danke, das …"
Nichts zu danken.
„Sag mal, warum willst du hier eigentlich das letzte Wort haben?"
Ich bin das jüngste Gericht.
„Ach so."
Ich erwarte von dir, dass du dich fügst. Geh in Glückseeligkeit.
„Da sehe ich pechschwarz für dich."
Halt die Klappe, sonst schicke ich dich wieder nach unten, und zwar ganz unten. Wir haben da ein paar nette Räumlichkeiten, wir nennen sie die „Keller der Inquisition". Stehen schon seit einiger Zeit leer. Versprechen lange Seelenpein oder so ähnlich.
„Du meinst die Hölle?"
Gelangweilt blickte Jüngstes Gericht zur Seite. Frau Holle ist hier oben bei uns, wenn du die suchst. Sonst würde es ja von unten schneien, kapiert?
„Ach weißt du was? Ich habe genug von diesem Rentnerlaienkunstverein. Pflegt eure Macken alleine. Ich ignoriere dich einfach und verschwinde….in einem fort….von diesem…Ort." Und da wurde Thomas schon ein wenig fadenscheinig.
Mist. Er wird doch nicht etwa? Wachen!
„He was soll das, lasst mich gefälligst los, ihr widerlichen Mutanten! Flügel am Rücken, wer hat je so was Lächerliches gesehen? Ruf deine Hampelmänner zurück und ich befasse mich mit dir! Nein, ich will keine Harfe und was soll ich mit dem hässlichen Nachthemd, anziehen? Das könnt ihr dem lieben Gott erzählen! Nehmt eure blöden Griffel von mir ich spucke auf euch ihr blöden… Robert, Daniel, was macht ihr denn hier?"
Der mit Robert titulierte Engel guckte dumm und feixte dann und schaute gleich wieder betroffen.
„Thomas, altes Haus! Hat es dich erwischt? Wir machen hier Ferienjobs. Engelvertretung und Kulissenschieben und so. Das Personal ist total dekadent hier und viele sind deprimiert. Wer macht schon gerne den Türsteher am Paradies? Oder das Catering? Deswegen wird das auch alles automatisiert hier. Aber wenn du mich fragst…" Beide machten die bewusste Handbewegung.
„Bei denen piepts." bestätigte Daniel. „Komm lass uns einen heben gehen."
„Klar, hehe", Thomas lachte erleichtert.
„Und Jesus und Elvis geben heute Abend ein Messiasseminar. Oder wir gehen Schlittschuh laufen." sagte Robert.
„Geil."
Seufz.

Thomas wachte in seinem Bett auf und sein Schädel brummte. Er versuchte sich an den letzten Abend zu erinnern. Er hatte mit Robert und Daniel tierisch einen hinter die Rinde gezimmert, aua, aua. 
„Komapatient?" hatte Jesus irgendwann nach dem dritten Mass gefragt. „Klar kannst du da hier weg. Lass dir von Jüngstes Gericht keinen Scheiß erzählen. Der ist doch voll auf Koks. Hau schon ab!" sagte er und „Komm mich mal wieder besuchen! Natürlich nur wenn du willst. Ist alles eine Glaubensfrage hier."
Jemand saß an Thomas’ Bett.
„Hey Kleine…wo bin ich…"
Patrizia erschrak furchtbar, dann fing sie sofort an zu heulen. Das kannte er von … früher? Überhaupt war alles an ihr so, wie er es mochte, die grünen Augen, die roten Backen wenn sie aufgeregt war, auch die Gnubbel. Aber das Haar war länger. Ganz schön sogar. Thomas schwante etwas und er wehrte die wilde Abknutscherei ab, die da so eben begonnen hatte.
„Was soll…Sag mal, wie lange wartest du schon hier?"
„Im Krankenhaus. 22 Monate fast. Wo warst du?" Patrizia umklammerte seine Hand. Jetzt sah sie doch schon ganz schön mitgenommen aus.
Thomas ächzte. „Mit den Kumpels weg. Scheiße, wie seh ich denn aus…?"
Patrizia gluckste. „Du musst unbedingt bald raus hier. Draußen blühen die Kirschen…"

Ein Auftrag wie jeder andere (Kurzkrimi)

1. Agent Ricser, Tempe, AZ

"Herren in dezenten Einreihern klopfen, hämmern an meine Bürotüre und fragen barsch nach einem Herrn "Cole". Aus Filmen und von früher weiss ich, dass man solchen Fragen nicht zustimmen darf. Nichtsdestotrotz steht mein Deckname ja an der Tür. Ich erwarte jeden Moment eine Pistole mit Schalldämpfer zu sehen oder einen Dienstausweis und Handschellen. Die Vergangenheit hat mich eingeholt. Nach einem panischen Moment schaue ich resigniert zu Boden und frage leise, ob ich noch ein paar Sachen packen darf. Die Herren sind darauf sichtlich verwirrt und beteuern, dass sie nur eine Praktikumsvorschrift haben wollen, Kladden, in denen ihre Experimente beschrieben seien. Erleichtert atme ich auf. Wie konnte ich das vergessen. Das Semester hat begonnen und so junge Studenten kommen, um im akademischen Amüsierbetrieb Sachen zu erfahren, die ich mir 5 Minuten vorher aus dem Internet gezogen habe. Noch also ist meine wahre Identiät geheim und sicher."

2. Agent Ricser, Phoenix, AZ

"Seit Wochen werde ich beschattet. Sie sind gut, aber ich habe es trotzdem bemerkt. Ich weiss, ein kurzes Entkommen ist unter Umständen sogar möglich. Ich aber verstecke mich nicht mehr. Ich bin müde, nur werde ich mich nicht wie ein alter Hund unter dem Haus verkriechen, sondern aufrecht stehen. Es wird des Abends passieren, wenn ich beim Fernsehen sitze oder des Morgens, wenn ich aus dem Haus gehe, einfach irgendwann. Ein gläsernes Auge und ein überschallschneller Tod. Ich habe mich nie näher auf einen Menschen eingelassen, das hat der Beruf erfordert. Ich hinterlasse nichts und niemanden. Auch diese Notiz wird verschwinden. Was bleibt, ist eine leere Wohnung. Ich kenne mich da aus, warum, darüber muss man keine Worte verlieren. Wenn es einen Gott im Himmel gibt, möge er mir in meiner letzten Stunde beistehen. R. Ricser." 

3. Agent Sickby, Phoenix, AZ 

Wie jeden Samstag ging er 11.00 pünktlich zum Einkauf. Mit einem firmenüblichen „kwik-pick-lock-opener“ hatte ich mir Zugang zur Wohnung im 2. Stock des „Arrowhead-Appartments“-Komplexes verschafft, ohne auf übermässige Sicherheitsmaßnahmen zu stossen und alles oberflächlich durchsucht. Pünktlich 11.20 kam er zurück. Seitdem hatte ich auf einen günstigen Moment gewartet. Nun war es 12.30. Seine Trägheit nach dem Mittagessen würde mir behilflich sein. Mit einer raschen Bewegung stand ich neben ihm, mitten im Raum, unmissverständlich. Er war nicht einmal überrascht und blieb gelassen sitzen. Das Möbiliar war zweiter Hand, in Unterhemd und kurzen Hosen sass mein Auftrag auf einem abgewetzen Ledersofa unbestimmter Farbe, aus dem schon hier und da die Füllung herausquoll. Vor ihm stand eine leere Packung Fish&Chips vom "Lazy Sue’s" an der Ecke und eine halbleere Flasche "Mickey's" Maltliquor auf einem dieser Tische mit Glasplatte, nur dass die Glasplatte bereits durch Sperrholz ersetzt worden war. Auch ein halb beschriebener Zettel lag da. Billige Regale voll mit Büchern und Tand, ein Schrank, ein Teppichimitat orientalischen Aussehens und ein Fernseher mit Kabelanschluss rundeten das Bild. Er hatte eine Klimaanlage. Alles war sauber. Das machte ihn mir auf jeden Fall sympatisch. Eine Yuccapalme, nun ja, alle Menschen haben Fehler. Jealousien schnitten das Sonnenlicht in Scheiben. Fragend schon er die Augenbrauen nach oben. 
„Agent im Auftrag ihrer Majestät“, sagte ich mit dem Ausweis brav in der linken Hand, und: “Mr. Ricser, sie haben uns durch ihre Indiskretion in beträchtliche Schwierigkeiten gebracht. Ich bitte sie, mir zu folgen.“
„Ich schwöre ich habe nichts…“
„Nun, das werde ich natürlich sofort überprüfen. Ein Fehler sollte nicht passiert sein, aber…“ unterbrach ich ihn und griff in meine Jackeninnentasche.
Auf diesen Moment schien er gewartet zu haben. Wie eine Katze sprang der Bastard quer durch den Raum, über die Tischecke hinweg, rollte ab und griff seinerseits in seine Hosentasche. Ich war inzwischen auch nicht faul, sprang auf seinem Brustkorb und holte zum Schlag aus.

Da krachte etwas - ein bekanntes Geräusch wie ein brechender trockener Ast - und durch meinen Oberschenkel peitschte der Schmerz. Dieser Bastard. Aber auf solche Zwischenfälle bin ich trainiert.
Mit einem groben Schlag ans Kinn schickte ich ihn beherrscht ins Reich der Träume. Dann stand ich mühsam auf, atmete kurz durch und SSSSnipp. Das wars. Meine Walther P99 mit Schalldämpfer verschwand wieder im Revers. Ich griff mir seine Hand. Darin war ein weibischer Revolver Marke „Lemonsqueezer“, wie alte Damen ihn ihren Handtaschen aufbewahren. Ein nettes Souvenir! Den Zettel auf dem Tisch faltete ich und liess ihn ebenfalls mitgehen. Abschiedsbriefe sind mein einziges literarisches Hobby. Ich tätigte den Anruf und wartete ungeduldig auf den Umzugsservice. 13.05 Uhr klingelte es und nach kurzem Warten öffnete ich pflichtschuldig die Tür, worauf zwei vierschrötige Kerle in Latzhosen, Turnschuhen und Baseballkappen durch die Tür der Mietswohnung traten.

„Wir haben hier einen kalten Abgang gemeldet bekommen, Sir.“ ,sagte der eine. Er hatte eine grosse hakige Nase und schaute fragend auf die blutende Wunde an meinem Bein.
„Das ist richtig, Jungs. Macht hier mal sauber. Nein, es ist nichts ernstes. Ich verdrück mich dann. Meine Instruktionen?“ Hakennase warf mir einen Beutel Busmünzen zu.
„Sie nehmen den Bus Linie 6 Ecke 28th/Indian School. Mit dem fahren Sie raus bis zur Cypress Hill Station. Dort erwartet sie dann ein Fahrer. Sehen Sie zu, daß Sie sich vorher umziehen.“

Die beiden begannen, die Leiche von Mr. Ricser im Schrank zu verstauen.

Ich verband mich und wählte eine Hose aus Ricsers Sortiment.

Dann verschwand ich humpelnd durch die Tür, nickte unten dann dem Fahrer vom Möbelwagen zu. Ich setzte meine Sonnenbrille auf und schlich mißmutig die Betonplatten unter Palmen entlang. Latinokinder malten am Gehweg mit Kreide. Die Sonne schien vom blauen, wolkenlosen Himmel. Was für ein wundervoller Scheißtag.

Herr Blattschuss folgt seinen Trieben (Satire)

 Der Herr Blattschuss wacht morgens auf und ist schon mürrisch drauf. Das ist sonst nicht so, aber heute. Er weiß heute ist der Tag, an dem er seinen eingetretenen literarischen Pfad verlassen muss. Sein Doktor hat ihm das ans Herz gelegt, denn dem Herrn Blattschuss steht eine Verblödung ins Haus. Herr B. ist süchtig nach Arztromanen. Die verschlingt er zum Frühstück, Mittagessen und Abendbrot.
"Der Körper liest mit, Herr B." hat der Arzt gesagt. "Sie müssen ihren literarischen Pfad verlassen und auch mal was Gesundes lesen. Gedichtbände zum Beispiel, ja und Erstausgaben erfolgloser Schriftsteller. Die ersten werden die letzten sein, kleiner Scherz, haha, auch Antiquarisches, das ist sehr gehaltvoll, jaja. Schriftsteller war damals noch eine Berufung und kein Beruf, hören sie, Herr B.! Die armen Teufel sind dutzendweise für ihre Ideale in die Kiste gesprungen. Solche ballasthaltige Kost brauchen sie. Nicht den aalglatten Konfekt von Schwester Brunhilde und ihrem ähh, Doktor."

So denkt Herr B. an die letzte Sitzung und merkt nicht mal, dass er beim Ankleiden die Mütze falsch herum aufsetzt. Draussen regnet es, bald wird es auch schneien. Sorgenvolle Gedanken schieben sich, dicken Raupen gleich, durch seine Morgenwelt. Die muss er loswerden, also dackelt er noch mal in die Praxis, mit verdrehter Mütze und verdrehten Gefühlen.

"Neues ist gefährlich" händeringt Herr B. "Ich habe von spontanen Geisteszuständen gehört. Manche Leute sollen danach herumgelaufen sein und von Niveau geredet haben. Genie und Wahnsinn sollen dicht beieinander liegen, ja auf offener Straße miteinander schmusen, Herr Dokter. Einer soll gesagt haben, verkehrt herum gelesen mache das Buch erst Sinn! Er las ein Telefonbuch Herr Dokter. So was macht mir Angst. Soll ich nicht lieber auf Liebesromane umsteigen? Die regen bestimmt an, ja?"
"Nein, Herr B., das sind Gerüchte, nur so leer gedroschenes Stroh. Leben sie die Vielfalt. Auf einen Hesse können sie schon mal ein lustiges Taschenbuch folgen lassen."

„Da fällt mir aber ein Stein aus der Niere, Herr Dokter, Sie machen mir richtiggehend Lust auf die Avantgarde.“ Gesagt getan. Herr B. schlägt sich wohlfeil ins wilde Gebüsch, dass die Federfuchser da so struppig wuchernd in die platte Landschaft kippen. Nachdem er die ausgetretenen Straßen des Mainstreams hindurchgehüpft ist und nur verächtlich gelacht hat über all die müden Socken, die Dünnbrettbohrer, die immer nur den Weg des geringsten Widerstandes gehen und nicht weitergehen wollen, stehenbleiben bei eilig zusammengenagelten Mythenfetzen und staunend den immer wieder selben Sensationen nachgeifern, weil sie das Langzeitgedächtnis schon lange für ein Mitspracherecht unter ihresgleichen eingetauscht haben. Was für ein plumper, rückratloser Bückling er gewesen war. Er hat die schönen einsamen Früchte nicht gesehen, die abseits des Weges unter schweren Dornen reifen! Doch jetzt kämpft er sich vorwärts. Schon bald hat ihn kein Mensch mehr gesehen. Er schmaust Festmähler jenseits aller Vorstellung. Er hat sich ein Haus errichtet mit einem Fundament aus Folianten noch aus dem Zechstein und Dachschindeln aus Anthologien. Eine Tür ganz aus Grimoires mit Bannsprüchen gegen Heyne, Bastei und Co. Er hält sich sogar eine kleine bissige Streitschrift in einem Zwinger aus Lehrbüchern. Doch ach es sollte ihm nicht gut ergehen. Schon bald fängt Herr B. an, zu interpretieren, mit sich selbst zu hadern, zu reflektieren und zu sinnieren und zu philosophieren und der ganze Zirkus. Nach einem russischen Revolutionswälzer ist Herrn B. vier Wochen schlecht. James Joyce bringt ihn schließlich auf die Intensivstation.

"Abwechslung, Mann! Um Gottes willen!", stirnrunzelt der Arzt. Herr B. blickt ihn gequält an. Er kann nicht mehr anders, nie mehr will er zurück gehen in diese schalen Niederungen des immer wieder kehrenden Dummseins.

"Wer einmal aus dem Blechnapf fraß, haarrrgh!", ächzt er und schießt sich mit einem Traktat über ökologische Psychologie ins Nirwana. Später dann hat man ihn ganz locker auf Telefonbücher umstellen können.

Der leere Kasten

Herr Dr. psych. Spinnebein trommelte gelangweilt mit den Fingern auf den Tisch und blickte in seine leere Praxis. Er hatte einen grossen Tisch und ein paar Stühle drumherum. Die "Bekloppten", wie er seine Patienten insgeheim liebevoll nannte, konnten sich einen der Stühle aussuchen, je nachdem, wieviel Distanz sie brauchten. Dann gab es noch einen Wasserspender mit spitzen Wasserhütchen und eine Tafel zum dran herum malen. Eine Couch gab es nicht. Dr. S. mochte es nicht, wenn die Patienten einschliefen. Herr S. trug einen Kittel, als niedergelassener Psychologe eigentlich eher eine blöde Angewohnheit. Dann klopfte es endlich und ein neuer Patient, den er noch gar nicht kannte, betrat den Raum. S. stand auf und gab ihm die Hand, die ihm der andere, etwas mechanisch, wie S. schien reichte und schlaff auch noch. Der Blick des Patienten war stur auf seine Füße gerichtet. Er war ein hoher und auch recht beleibter Herr mittleren Alters mit Halbglatze. Roboterhaft schnurrte er ein "Gutentachherrdokter" herunter und setzte sich auf den Stuhl, der am nächsten zu den stand, auf den sich Herr S. gesetzt hatte.

'Also Kontaktangst hat der schon mal nicht', dachte S. und fragte: "Sie sind also Herr...?"
"Wast mein Name, Johann."
Wieder dieses Schnurren. S. lief es kalt den Rücken herunter.
'Sei ein Profi!', rief er sich zur Ordnung. "Ah, ja und weswegen haben sie diesen Termin verabredet Herr Wast?"
"Hmm nun ja, sie können sich vorstellen wie peinlich mir das ist..."
"Nur keine Scheu."
"Also mich, mich, ähhhh...."
"Ja?"
"Mich befallen Persönlichkeiten anderer Menschen Herr Dokter. Sie befallen mich wie Krankheiten."
"Ja, das ist nicht unbekannt, Herr Wast, da seien Sie beruhigt. Wie wachen Sie denn morgens auf?"
"Ja ganz normal mit dem Wecker."
"Ah nein, als wer oder was wachen Sie denn morgens auf?"
"Ja, morgens ist es auch sehr schlimm, da bin ich praktisch leer." Herr Wast griff sich an den Kopf "Ein ganz leerer Kasten ist das dann."
"Ah, Sie meinen also, morgens gar keine eigene Persönlichkeit zu haben, in der Nacht wird alles gelöscht und Sie.."
"Genau so ist es..."
"...müssen sich ihre Person im Laufe des Tages erwerben? Wie ein geschlüpftes Küken?"
"Muss ich, ja, und dass ist mir peinlich."
"Aber das braucht Ihnen doch nicht peinlich zu sein."
"Ich habe Skrupel."
"Hmmm?"
"Und es ist unangenehm, ich habe ja oft keine Handhabe, was ich da abbekomme. Wie eine Krankheit ist das, ich schaue nur jemanden an und es geht ratzfatz! Plötzlich sind Sie eine Backwarenverkäuferin. Busfahrer. Oder ein Bettler. Oder..." er schüttelte sich, "...ein Pantomime. Und wenn dann jemand den Schwindel entlarvt, muss ich wieder wechseln. Das kann ganz schön chaotisch werden. Also ich war da mal in einem Stadion zwischen zwei Fanblocks..."
"Soso, hörn Sie mal, Herr Wast. Ich verschreibe ihnen eine verspiegelte Brille. Das dürfte Ihnen helfen, bis wir für Sie was dauerhaftes gefunden haben."
"Oh, danke Herr Dokter."
"Noch eins Herr Wast."
"Ja?"
"Schauen Sie mir doch bitte mal in die Augen. Wer sind sie gerade?"
"Aber...Sie wissen nicht...!"
"Ich bitte Sie! Ein Experiment!"
"Bittesehr. Jetzt werde ich. Ich werde Sie." Johann Wast starrte Dr. Spinnebein eindringlich in die Augen.
"Hochinteressant! Hochinteressant! Das will ich sehen, warten Sie!" Herr S. kramte nach seiner Videokamera. Als er aufsah, war Herr Wast verschwunden!
"Na sowas. Bin ich jetzt überarbeitet oder was?" murmelte er.
Er sinnierte eine Weile auf seinem Stuhl, dann rief er: "Schwester! Haben wir noch einen Termin?"
'Zu langsam!', lachte eine schnurrende Stimme in seinem Kopf.

Die Schwester steckte den Kopf ins Zimmer.
"Haben Sie mich gerufen? Wo ist denn der Herr Dokter hin?"
Herr S. schaute sie stirnrunzelnd an. "Aber ich bin..." Bevor ihm noch etwas klar werden konnte, schwand seine Persönlichkeit dahin wie ein Filmtitel von der Leinwand.
"Ja das ist mir jetzt wieder peinlich, aber...", sagte Herr Wast, sah sie bübisch an und legte den viel zu kleinen Kittel sauber über den Stuhl, "...es geht immer so verdammt schnell."

Der Auftritt des Centipeden (Phantasie)

 Fugelhuf Vielgebein war eine "Ein-Mann-Band". Von der Art her ein Hundertfüssler (Centipede), stand er einem König zu Diensten und zwar einem geizigen, dem eine orchestrale Bemannung mit eben separat eßlustigen Individuen gegen den Strich ging, salopp gesagt. Vielgebein spielte etwa 60 Instrumente, ein, zwei oder 3-händig, ein Standbein nicht zu vergessen. Alle Blasinstrumente waren jedoch des Mundes bedürftig und davon hatte Fugelhuf auch etwa 25. Mehr oder weniger (aber Gott sei Dank nur einer mit Zugang zum Magen, wie Ihro Durchlaucht bemerkte). Der Hundertfüsser besaß auch eine bemerkenswerte Präzision. Nachdem er Instrument für Instrument eine jeweilige Sinfonie oder Sonate einstudiert hatte, ratterte alles nur so und schnurrte aus ihm heraus. Beim Spielen wiegte er sich dann auch ästhetisch und der Klang der Geigen, Oboen und Brummtöpfe und was-weiss-ich schwappte nur so kreisrund in das sprachlos gaffende Publikum. Aber es begab sich zu der Zeit, als just auch der Dekan für neue Musik der musikalischen Fakultät Ausschau nach Möglichkeiten hielt, die maroden und verkommen blasierten alten Zöpfe der Kammermusik radikal neu zu frisieren, dass Herr Vielgebein krank wurde. Ein zehrendes Fieber zerstörte seine Präzision zunehmend, Husten und Schneuzanfälle kamen hinzu! Der Dekan erreichte den Hof mit verhaltener Langeweile, während bei dem Musikanten schon kein Fuß mehr wusste, was der andere tat, man munkelte auch von Gehirnerweichung! Der Füsser hatte darob in den vergangenen Tagen begonnen, scheußliche Klangunfälle zu produzieren, Disharmonien von solch entfesselter Vehemenz, daß Mittelohrentzündungen den halben Hof erfaßten. Der Koch etwa konnte den Unterschied zwischen Rouladen und Buletten nicht mehr verstehen und servierte Rouletten. Der König grübelte, ob er sich eine Orchesterpause leisten konnte, während der Dekan, nach Erfrischung und Neugewandung an der Tafel Platz nahm.

„Der Vielgebein spielt heute die Lachkantate von Vogelschrei dem Heiseren!“ tönte der Herold, während auch der Hof platziert war und sich, die Ohren wohlverstopft, über das Essen wunderte.
„Fanget an!“

Fugelhuf begann nun sein jämmerliches Schauspiel, während Triefbäche sich seines Körpers entwanden und ihn so glitschig gestalteten, das er glänzte wie eine Specktomate und einzelne Instumente, flutsch, sich ins Dunkel verabschiedeten. Während die Fürsten und Grafen und dergestalt trotz Pfropfen schmerzvoll die Augen verdrehten, durchfuhr den Dekan ein ganz neues Gefühl der Leichtigkeit. Diese Freiheit der Form! Diese lustigen Soli! Das war neu, das war vielleicht sogar Jazz! Juchzend sprang er auf und applaudierte.
„Maestro, bravo, bravo.“

Dann hielt er inne und sinnierte, ob er diesem Wahnsinnswerk noch das eine oder andere Krönchen aufsetzen könne. Da hielt er ihm eine Handvoll Heu unter die Nase, das er achtlos aus dem Sitzkissen gerupft. Der Centipede explodierte daraufhin, der Schall der Hörner brachte eine Wand der Burg zum völligen Einsturz. Sonnenlicht umflutete den Künstler wie eine Aura. Der Gelehrte war hin und weg.
„Aha!!! Und hiermit?“

Respektlos stopfte er einen Löffel Senf in einen der Münder, bis heute ist es fraglich, ob es der richtige war. Herr Vielgebein schwankte und schüttelte sich, ja er zitterte ein zermürbendes Vibrato, dass nicht nur die Gläser und Krüge zersplitterten. Etliche Damen fielen in Ohnmacht. Der Füsser flatulierte und vestummte. "Welch ein neuer Ton!" frohlockte der Musikwissenschaflter.
"GENUG!", brüllte der König. "DAS DULDE ICH NICHT LÄNGER! VERSCHWINDE ER DER HERR DEKAN UND NEHME ER DEN KRACHMACHER MIT SICH!“

Sprachlos vor Glück hüpfte der Dekan durch das Loch in der Mauer, zog sein japsendes Geschenk mit sich, hob es auf den Esel, warf die Instrumente in den Karren und schritt hinfort. Über den Gesesungsfortgang und wissenschaftlichen Fortlauf der atonalen Experimente des Dekans und seines Maestros ist nicht viel bekannt, nur einige wenige Auftritte mit Neuschöpfungen des Dekans, die kaum Anklang fanden, sind in den Annalen der musikalischen Fakultät notiert. Später freilich, lange nach deren Tod wurde der Dekan rehabilitiert und Fugelhufs Dissonanzen etablierten sich auf dem Musikmarkt.

Tellerwäsche (Absurdes)

Genervt schleppt Ewald den schweren Koffer Treppe um Treppe. Es rasselt, Ewald schwitzt. Die Promenadenmischung von Opa Gernot japst aufgeregt, schnüffelt gierig am ominösen Behältnis und beginnt, sich daran zu reiben. 
"Weg da!" raunzt Ewald und "Tach Opa Gernot!"

Er versuch auch, gleichzeitig zu treten, zu grüssen, und den Koffer festzuhalten. Das geht schief.
"Hergottnochmal!"
Der Koffer rumst, der Hund jault auf. Der Opa geht dann lieber gassi. Nur noch paar Stufen. Hau Ruck. Er läutet, die Mutter macht auf.
"Ach, Klein-Ewald, gerade richtig zum Essen!".
Der Nämliche stellt den dämlichen Koffer schnaufend ab. Der Koffer geht auf.
"Aber Ewald, wie lange hast du die wieder angehabt! Komm doch öfter mal vorbei, mein Lieber", linst die Mutter und rümpft die Nase. Ihre stets frischgewaschenen Teller und Tassen klappern dabei missbilligend. Dann giesst sie den Eintopf in Gummistiefel, für jeden genau viel, und trägt diese zum Esstisch. Da hört man dann auch den Vater aufgeregt klimpern
"Jaaa, lecker!", und wie er die Folienrolle mit den Tagesnews in die Ecke pfeffert, um zum Teeei zu greifen. Das erschreckt den Goldfisch im Käfig, er hustet und dann muss sich der Ewald auch schon ducken, welcher sich auf den besitzbaren Geschirrschrank seiner Mutter gesetzt hat. Denn Vater hat den Bildwerfer angeschaltet, also der wirft Bilder an die Wand. Ganz schön hart, wenn die einen treffen.
"Und, wie gehts mit dem Studium, Sohnemann?"
"Ach, Sargnagelkunde ist so ein ödes Fach", mümmelt Ewald. Mehr will er nicht drüber reden.

Eine Geschichte über Geschichten (Metatextliches)

Es war einmal eine Geschichte die lebte ganz allein. Da begann sie sich selbst Geschichten zu erzählen und die waren ihre Kinder und ihre Heimstatt und sie schützten sie, weil sie an sie glaubte. Doch eines Tages bemerkte die Geschichte, dass ihre Kinder sich alle sehr ähnlich waren und ihre Heimstatt ein hoher, enger Turm ohne Treppe oder Leiter. Und auch den Kindern dürstete nach einem Entkommen und Gesellschaft. Des nächtens sang die Mutter mit dünner Stimme ihr Klagelied, bis die Mäuse hinter den Mauern weinten und die Sterne am Himmel ganz schlapp aussahen. Da erschien ihr in bitterster Not eine Geisterfee, die ihr folgenden Zauberspruch gab:

„Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern."

Kaum gesprochen, erschien eine Strickleiter am engen Fensterchen des hohen Turmes und die Geschichte und ihre Kinder konnten hinabsteigen. Nun dauerte es nicht lange, bis sie an einen Ort kamen, wo andere Geschichten sich trafen, um sich gegenseitig Geschichten zu erzählen. Das war der bislang einsamen Geschichte neu und sie schickte ihre Kinder zu den anderen zum spielen. Nun muss man bemerken, dass die Geschichtenkinder ob ihrer Isolation sehr schwächlich waren und dünn. Da geschah es, dass die anderen Geschichtenkinder kamen und sie veränderten, so dass sie farbenfroher und robuster wurden und auch die Kinder zusammen neue Kinder erfanden. Auch die Eltern mischten sich ein und demontierten einige der schwächlichsten Geschichten in Teile. Da wurde die bislang einsame Geschichte traurig, da sie nur dies angeblich Schlechte sah und nicht die Vorteile und begann ihre Kinder zu beschützen, indem sie Gitter darum baute die hiessen

„Meine Kinder sind eben anders, sie können nicht mit den anderen spielen und dürfen nicht demontiert werden."
Das begann die anderen Geschichten aufzuregen, denn nun mussten sie immer um die Käfige herumlaufen, das war beschwerlich und da rissen sie die Käfige ab und bauten daraus eine Geschichte, die nur die einsame Geschichte wieder ganz allein einschloss, während ihre Kinder draussen blieben. Da die Gefängnisgeschichte sehr überzeugend war, glaubten sie alle einschliesslich der Eingeschlossenen.

Und nun verstand erst die eingesperrte Geschichte den Zauberspruch und sie sah, dass Geschichten sogar Macht über ihre Erfinder haben und sie zerstören können. Desweiteren leuchtete ihr ein, dass es möglicherweise auch eine Geschichte war, die über sie alle erzählt wurde und in der sie alle lebten... Und war es dann nicht möglich dass, auch diese grosse Geschichte irgendwann einmal zerlegt wurde und all die Abgrenzungen hatten keinen Sinn? Nun war es nicht ausgeblieben, dass einige mitleidige Geschichteneltern sie in ihrem Gefängnis besuchten (sie wurden von den anderen auch als Verräter beschimpft), um mit ihr zu diskutieren und denen erzählte sie eines Tages von ihrer Erkenntnis. 

Das kam nach draussen und da wurde das Gefängnis abgebaut und Zäune wurden allgemein verboten. Und sie erkannten auch den Gram der Mutter über die demontierten Kinder und führten sie zum Ort der Zerbaunis. Da sah sie, dass die Einzelteile nicht tot waren, sondern ein eigenes, kleines Leben weiterführten. Und von Zeit zu Zeit kam auch Eltern oder Kinder vorbei und borgten sich was für etwas Grösseres. Es war ein Ort des Lebens, nicht des Todes. Und danach begann die einsame Geschichte erst, die anderen Geschichten zu lesen und mit ihnen neue Geschichtenkinder zu erfinden. Doch auch Geschichten sind vergesslich, denn sie sind dem Diktat der umgeblätterten Seite unterworfen. Und wenn keiner zurückblättert, wird wohl dieselbe Geschichte, von der die einsame Geschichte nur vermutet hatte, dass es sie gibt, noch einmal erzählt werden.

Das Loch

Es war einmal ein Loch, in das fielen die Wörter hinein. Von dorthin flossen sie alle an einen unbekannten Ort. Der gebeutelte arme Schriftsteller Lotro hatte dieses Loch direkt in seinem Kopf und nichts, rein gar nichts fiel ihm mehr ein. Verzweifelt versuchte er, Stöpselworte in das Loch zu stopfen, solche Worte wie Schwammwunderginster oder Langzeitzentralerfassungsraumklang aber ach, auch die Stöpsel fielen in das viel zu grosse Loch. Wohin führte es? Lotro wurde neugierig. Er dachte sich selbst in ein -bootartiges- Adjektiv und schon ging es abwärts im Strudel. Abenteuerlich trieb er im dunklen Malstrom genialischer Einfälle und Konstruktionen und er warf ein Fischernetz aus, um wenigstens einige von ihnen zu retten. Mit der Beute im Ausmass einer kleinen Novelle sank er erschöpft zu Boden. Doch noch war das Ende seiner Reise nicht erreicht. Wo würde der Strom zu Tage treten? Ja, es war ein helles Glimmen, das ihn wieder zu Sinnen kommen liess und Lotro machte sich bereit. Aufrecht strebte er am Mast empor, das Gesicht ehern, die Schultern gespannt. Plopp! Plopp, plopp... Lotro hatte mit Schwierigkeiten gerechnet. Weit ausholend schleuderte er den Anker und sah bass erstaunt das schier Unglaubliche. Ein gigantisches Häckselwerk teilte den Strom in tausend kleine Teile und dieser floss nun in Federn, Stempel und Walzen. Und dort hindurch sah Lotro, wer ihm die Worte aus dem Kopf saugte. Alle die Leute, die beim Schreiben gar nicht dachten. Da es keine ungedachten Worte gab, war da dieses gewaltige Vakuum, das den Denkern wie ihm zu schaffen machte. Euch werd ichs lehren, schüttelte Lotro die Faust! Und so fischte er erneut an gefährlichen Schlünden und schrieb einen hermetisch-enigmatischen Roman. Dieser bestand aus einem einzigen Wort, welches über viele Seiten hinweg aufsehenerregend und hitparadenverdächtig vorsichhinondulierte, ja mäanderte, sinnheischend und doch frei von Sinn. Die Kritiker, ja die Presse und alle Nichtdenker schrien vor Schmerz, den die versuchte Verdauung ihnen bereitete. Dennoch wurde es ein Erfolg und nicht wenige Denker nahmen sich nun ein Beispiel. Der Häckseler zerbrach, das Loch verstopfte und fortan konnte Lotro wieder in Frieden schreiben.

In der Werkstatt des Uhrmachers (Philosophisches)

„Fragen : Diese unseligen Kinder der rastlosen Geistes verlangen nach Variationen des Unabänderlichen und führen zum Widerspruch. Frage also: Hat Gott den Menschen erfunden oder der Mensch Gott? Der Gedanke von Gott enthält alles und ist doch menschlich. Er ist eine persönliche Version. Eine Variation des Unabänderlichen. Ein Widerspruch. Gott ist dem Menschen sehr ähnlich, er ist ein Macher, Veränderer, Zerstörer und Schöpfer. Also ist er nicht eins. Sondern viel. Wie eine Schublade enthält er verschiedene Dinge, die alle dazugehören. Und zwar wirklich alle. Denn er ist die Beschreibung für alles das um uns und in uns ist. Der Name dafür ist genauso sinnlos wie alle Namen. Aber eine Hilfe, um Unfassbares fassbar zu machen. Wie bei der Luft. Also ist Gott da, in Form einer Idee von Präsenz. Präsenz aber ist keine bloße Idee. Luft ist keine bloße Idee. Das ist die äussere Wahrnehmung. Vakuum, Dunkelheit und Kälte sind Defintionen von Nichtpräsenz. Nicht präsentes ist nicht präsent. Nichtpräsenz ist eine bloße Idee. Von etwas das da sein müsste aber nicht da ist. Gott ist eine Nichtpräsenz, denn seine Präsenz ist eine bloße Idee. Ein Traum, eine Variation. Träume unterscheiden sich, Träume widersprechen sich. Das ist die innere Wahrnehmung. Glauben wir an den Widerspruch: Widersprechen wir Gott. Suchen wir nach unseren Träumen.“ 

Müde blickte ich auf den vollgekritzelten Bogen Papier herab, ein weiterer nutzloser Versuch von vielen und wahrscheinlich nicht der letzte. "Was war es noch, wonach ich gesucht hatte? Was die Welt im Innersten zusammenhält? Die letzte unteilbare Wahrheit? Das Elementarteilchen? Was uns die Physik gibt, sind Elektronen, Quarks, Photonen, die sich benehmen wie ewige Halbstarke: sie lassen sich nicht definieren, leben in den Tag hinein, versammeln sich in Cliquen und verpuffen ihre ganze Energie beim Sex. Sie bestehen aus Widersprüchen. Das sollen unsere Fundamente sein? Woraus besteht ein Widerspruch?" 

Doch alles, auf was ich mich zu konzentrieren versuchte, floh meinem Geist in ähnlich schwammigen Ergüssen wie diesen. Ich seufzte, nahm einen Schluck direkt aus der Rotweinflasche (eine weitere und wahrscheinlich nicht die letzte) und stierte aus dem nachtschwarzen Fenster. Wie grau mein Haar schon geworden war, seit ich in dieses Zimmer kam, dachte ich und über diesem Gedanken muss ich wohl eingeschlafen sein. Ich fiel aus dem Schlaf direkt in die Werkstatt des Uhrmachers. 

Er starrte fassungslos aus seinem Monokel, dann fasste er sich: 
„Ah, Besuch! Können nicht mehr anklopfen, die jungen Leute, was?“. Er war ein kleiner, bulliger Mann, mit Halbglatze, einem lustigen weissen Haarkranz und blauem Kittel. Es umgab ihn eine Aura von aufrichtigem Stolz. Nun etwas freundlicher, als er gesehen hatte, das ich nicht minder erschrocken war als er, legte er die kleine silberne Pinzette, die er in der Hand gehalten hatte , auf den Tisch und holte zu einer einladenden Geste aus:
„Nur zu, schauen Sie sich um!“ und ging wieder an seine Arbeit. Zuerst warf ich einen Blick durch die halbgeöffnete Tür. Ich befand mich in einem geräumigen, wahrscheinlich zweigeschossigen Haus im Kolonialstil mit weitläufigen Fensterfronten und viktorianischen Möbeln. Durch das Fenster sah ich Felsen, das blaue Meer und eine üppige Vegetation. Dann drehte ich mich wieder um und sagte im verbindlichen, warmen Tonfall und einem Hauch von Ehrlichkeit: „Schön haben Sie es hier.“ Was man eben so sagt, wenn man zu Gast ist.
„Das soll wohl!“ antwortete er fröhlich, ohne sich umzudrehen. Eine riesige Werkbank dominierte den Raum, darauf einige unfertige silberne und goldene Apparate unbekannter Art, filigrane Federn, Schrauben und Räder. Auch Werkzeuge. An den Wänden befanden sich Regale mit Folianten und Papierrollen, sowie Kästen mit Kleinteilen. Eine Lampe, die gleichzeitig Lupe war, erhellte den Tisch. Zwei einfache Schemel rundeten das Interieur des Raumes ab.

„Ich bin Uhrmacher. Unruhen und Regulatoren und so weiter. Hoffe, sie kennen sich aus?" sagte der Mann plötzlich und wandte sich nun wieder mir zu. "Und ich mache Universalkonzepte.“
„Sowas wie Universen?“
„Eben dies.“
„Kennen sie dann auch das Kugelweltkonzept?“ fragte ich vorsichtig. Er schaute mich an, als habe ich im gerade ins Bein gebissen.
„Warum interessiert sie das?“ fragte er leise und herausfordernd fügte er hinzu „Davon will ich nichts hören, Bursche. Lassen Sie die alten Geister ruhen. Das ist kein Ruhmesblatt für einen Mann in ihren Jahren, die Kenntnis dieser Kugelweltsache. Gehen sie auf Weibersuche. Das ist weitaus interessanter uuund vergnüglicher.“
„Ich komme aber daher. Aus der Kugelwelt.“, sagte ich schlicht.
"Oh, ach, Sie armer.“ Sein ganzer stolzer Habitus sackte in sich zusammen.
„Dann werden sie Fragen haben? Setzen wir uns.“
„Ja: Was ist es, was die Welt im Innersten zusammenhält? Was ist die letzte unteilbare Wahrheit, das eine Elementarteilchen?“
„Sie kommen gleich auf den Punkt.“ seine Mundwinkel zuckten „Das gefällt mir, haha!“ Und schlug mir auf die Schulter.
„Geradeheraus, mein Sohn: Die Idee war simpel. Polarität, Widerspruch, Unterscheidung durch Trennung und Teilung, plus und minus, hier und da. Mehr habe ich gar nicht dazu beigetragen. Wer konnte denn ahnen. Das ganze Konzept ist mir praktisch unter der Hand explodiert.“
„Nanu, was ist denn passiert?“
„Es gab eine Reihe ganz unerfreulicher Folgen, von denen eine der furchtbarsten gerade die Vereinigung war.“ „Sie meinen den Urknall?“
„Ja, genau. Glücklicherweise oder auch nicht beinhaltete die Idee auch ein mehr und ein weniger. Und dann waren da noch Zeit und Raum. Aus dem Dazwischen. Schnell und langsam, alles geriet in Bewegung und Wandlung, man wurde ganz verrückt.“ Er rollte mit den Augen, dann kratzte er sich an der Nase: „Und dann hat es sich einfach immer weiter geteilt, immer weiter. Immer weiter, verstehen Sie?“
„Verstehe.“
„Sie verstehen nicht! Immer weiter! Jede Teilung gebar unendlich viele neue Teilungen! Und Vereinigungen! Und dann das SCHLIMMSTE, WECHSELWIRKUNGEN!“ Jetzt wurde er laut. „Wechselwirkungen führten zu Information und Information führte zu Codes. Codes führten zu Leben. Und da, wo es endlich anfing, interessant zu werden, kamen nur die Schnecken und Würmer. Das war mir zuviel. Mir wird schlecht von Würmern, verstehen Sie?“

Ich sagte nichts.

Leiser fuhr er fort: „Seitdem guck ich nur noch ab und zu rein. Fische und Dinosaurier, was? Jede Menge Käfer? Maulesel? Wie seit ihr denn zurecht gekommen? Habt ihr etwas erreicht?“
„Wir können bald klonen.“
„Wie bitte?“
„Mit ihren Worten: Herstellung einer Kopie ohne Vereinigung.“
„Ist das nicht langweilig?“
„Denken sie an Anfang und Ende. Das Ende ist schwer zu verkraften.“
„Ahh. Soo. Ein bischen unsportlich, was? Na macht mal.“ lachte er.
„Aber als leidenschaftlicher Golfer gebe ich Ihnen einen Tipp: spielen Sie Ihren Ball, wo er liegt. Tasse Tee?“ „Gerne.“
„Gehen wir nach draussen in den Garten!“

An einem kleinen Holztisch unter üppig blühenden Büschen unterhielten wir uns – beim Tee – weiter. 
„Wir haben auch Theorien, wie alles kam. Genaugenommen zwei: Eine geht von einem Schöpfer, Ihnen, aus, der alles mit einem Schlage schuf, die andere von einer Sache namens Evolution, der langsamen Entwicklung der Arten durch Selektion und Anpassung. Was ist ihre Meinung?“
Der Uhrmacher bohrte den Finger in die Luft und zeigte auf meine Brust. „Beides Richtig: alles wurde auf einmal geschaffen, aber nur als Möglichkeit. Die tatsächliche Ausführung der Möglichkeit läuft über Affen, Molche und Maulesel. Möglickeiten erzeugen Wahrscheinlichkeiten. Als logische Folge entsteht die Möglichkeit der Entstehung der Variation gleichzeitig mit der einfachen Orginalidee. Als Folge des Widerspruchs ergibt sich der Kompromiss oder das Dazwischen, der Raum, das Neutron, das Grau, alle Farben, Raum-Zeit jaja das hatten wir ja schon.“ Und dann schlürfte er an der Teetasse. „Ahhhh. Nicht zu vergessen die Ähnlichkeit. Die Ähnlichkeit habe ich immer gemocht. Fabelhafte Versteckspielerin. Keine zwei Dinge sind gleich. Wissen Sie, man könnte einen tiefen See für ein flaches Gewässer halten, wenn er nur klar genug ist. Noch was?“
„Ja, warum fällt uns der Himmel nicht auf den Kopf? Warum vereinigen sich nicht einfach alle Widersprüche?“ „Denken sie an die Wechselwirkungen: Wenn mehrere Widersprüche sich überlagern, können sie sich auf Dauer erhalten.“ Dann summte er eine Melodie, die mir verdächtig wie „Es waren zwei Königskinder“ vorkam. „Dann hatten die Chinesen also recht. Die haben das hier gebastelt.“ Stolz zeigte ich ihm meinen Ying Yang Anstecker: „Das ist ein Ying Yang oder Tai Gi.“
„Total verrückt.“ Er verdrehte den Kopf. „Was ist auf der Anderen Seite?“
„Eine Anstecknadel.“
„Oh, ah, verstehe. Ja, das kommt in ungefähr hin. Aber schwarz und weiss ist kein gutes Beispiel für Polarität. Das Alles oder nichts, die Null und die Eins, diese Sachen sind nur die Hälfte der Wahrheit. Was fehlt, ist das minus. Das Gegenteil von Sein ist nicht Nichtsein, sondern Anderssein, während das Nichtsein zwischen den beiden liegt."
"Angenommen man nähme zwei Menschen, wie wäre das dann mit dem Anderssein?"
"Dann wäre es nur bezüglich einer einzelnen Eigenschaft oder Meinung und man müsste alle Eigenschaften und Meinungen nacheinander prüfen."
"Da würde man im Leben nicht fertig und dann könnte man wieder von vorn anfangen."
"Genau so. Die Tupfen sind für Quellen und Senken?“
„Und die Symmetrie steht für Harmonie und Gleichgewicht.“ vollendete ich stolz. Ich atmete tief ein und fast hätte ich „Omm.“ gesagt.
Abwehrend schob er die Hand nach vorn. „Nein, nein. Harmonie ist kein symmetrisches Konzept, die Symmetrie ist ein Sonderfall der Harmonie! Sie haben es doch hier...“
"Also jetzt versteh ich nix mehr."
"Also was ihr hier als Symmetrie bezeichnet, liegt in den Formen. Die Symmetrie ist das Gleichgewicht zwischen Gleichem. Die Harmonie ist zwischen dem Schwarz und dem Weiss und in der Welle, sie ist das Gleichgewicht zwischen Ungleichem. Beides sind Sonderfälle."
„Sonderfälle kommen in die Klinik.“ antwortete ich wie aus der Pistole geschossen.
„Na eben!“ rief er und warf die Hände jetzt hoch.
"Was fasziniert euch denn an Absonderlichkeiten?"
"Beide haben aber ihren Ursprung im Gleichgewicht?", ich blieb beharrlich.
Seine linke Augenbraue erhob sich und schnippste mit den Fingern nach Beantwortung.
"Sie machen es uns einfacher. Wir benutzen sie als Grundformen." gab ich nach.
"Einfach kann auch ganz schnell kompliziert werden", grinste er. "Bin ja selbst das beste Beispiel."
"Und meine Frage?"
Nicken. "Ja, richtig. Gleichgewicht wiederum ist ein Spezialfall des Widerspruchs. Es sind aber die Widersprüche, aus denen eure Welt aufgebaut ist, das sagte ich Ihnen doch schon. Alles andere entsteht daraus, auch die Ausnahmen."
„Oh.“
„Was ist?“
„Eine Frage hätte ich aber noch.“
„Dann raus damit!“
„Gibt es die Ewigkeit und den Augenblick?“
Amüsiert lächelte er „Hartnäckig, was? Das nenne ich Sportsgeist.
Ja, das ist alles dasselbe dem Ursprung nach: Augenblick, Ewigkeit, Symmetrie, Harmonie, die NULL. Absonderlichkeiten. Sie existieren nicht einzeln."
„Ich erinnere mich aber an einzelne Augenblicke.“
Wie ein ertappter Lausejunge scharrte er mit den Füssen. "Mir ist da was in den Sinn gekommen", antwortete er schliesslich. "Wie lange dauert euer Augenblick?"
"3 Sekunden. In etwa." "Und das können eure Uhrenapparate zählen?"
"Die zählen Schwingungsdauern. Das ist es ja. Aber wir erinnern uns nicht an Schwingungsdauern, sondern an Augenblicke."
"Aber doch, weil sie sich von den anderen unterscheiden?"
"Ja, das ist der Grund, aber der einzelne Augenblick ist es trotzdem, der übrigbleibt."
Da stand er auf und lachte und schüttelte er mir die Hand. Er schien sonderbareweise sehr erleichtert. "Mein lieber Freund, sie haben ihr Elementarteilchen gefunden. Den Augenblick. Ihr Augenblick. Ihr Augenblick ist ihre Ewigkeit. Unteilbar und doch...“
„Ein Widerspruch!“ beendete ich seinen Satz und in dem Moment bin ich aufgewacht.

Ich stand auf und öffnete das Fenster. Draussen war es Frühling und die Vögel zwitscherten. Ich entsorgte die Flaschen und das Papier und beschloss, auf Reisen zu gehen. Vielleicht in die Südsee. Ein paar neue Widersprüche konnten meinem Leben nur gut tun.

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Tag der Veröffentlichung: 02.03.2009

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