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Ein Mann aus einer Großstadt war des Kraches um ihn herum überdrüssig und beschloss eine kurze Auszeit in einem französischem Dorf an der Atlantikküste in Form eines Urlaubes zu nehmen. Er meldete sich für zwei Wochen bei all seinen Bekannten, Gönnern und Dienstleistern ab und setzte sich in sein Auto, fuhr durch das halbe, mittlerweile zumindest oberflächig grenzenlose Europa und nahm sich, nachdem er ein paar Orte an der Küste abgeklappert hatte, in einer kleinen Pension ein noch kleineres Zimmer.
Seine Tage verbrachte er mit ausgedehnten Spaziergängen und gemütlichen Mahlzeiten in dem einzigen Restaurant des Nachbarortes, das er zur Mittagszeit aufsuchte. Nachdem das ohrenbetäubende Grundgeräusch der zivilisierten Welt immer mehr zu einem leisen Brummen wurde, ja sogar nach ein paar Tagen morgens nicht mehr mit ihm aufwachte, machte er sich daran über sein Leben und die Dinge nachzudenken, für deren Aufarbeitung er sonst nie die Zeit und Ruhe gehabt hatte. Er kam zu vielen Einsichten und mehreren Schlüssen, die seinen weiteren Weg hoffentlich begleiten würden und er freute sich darüber endlich wieder mehr Licht zu sehen. Er beschloss den restlichen Urlaub zu geniessen und sich, immer wenn es passend war, alle Zeit der Welt zu lassen um auch kleine Dinge zu betrachten und den Menschen, Tieren und Pflanzen um ihn herum bei ihren täglichen Verrichtungen zuzusehen.
Eines Morgens, er beobachtete gerade zwei Bauern, die das letzte Stroh des Sommers zu einem wirklich kunstvollen Heuhaufen zusammen steckten, fror die Welt um ihn herum ein. Der leichte Wind, der eben noch um seine unbedeckten Unterarme strich, hörte auf ihn zu streicheln, die Wärme der Sonne die ihn angenehm bestrahlte war zwar nicht verschwunden, aber sie nahm von einem Moment zum anderen einen statischen Charakter an. Die Männer auf dem Feld verharrten in ihren Bewegungen und selbst die Vögel in der Luft hingen zwischen zwei Flügelschlägen gefangen fest.
Er blieb sitzen und bewegte sich nicht, so als wollte er ein Teil des Phänomens sein, in dem klaren Bewusstsein, dass er es offenbar nicht war. Gerade als die Paralyse seiner Gedanken sich lockerte und er anfangen wollte zu begreifen was um ihn herum geschah, erschien ein alter Mann neben ihm auf der Bank und lächelte ihn gütigen Blickes an. Als er den ersten Schock überwunden hatte, wurde er fähig eine Frage zu stellen und als Mensch der er war stellte er sie in dem Moment, in dem sie ihm bewusst wurde, “Wer sind Sie?”.
Ohne sein Lächeln zu verlieren sagte der alte Mann, “Was denkst du wer ich bin?”
“Sind Sie,... bist Du... Gott?”
Der alte Mann lachte leise. “Wenn Du mich so nennen willst, dann bin ich das.”
“Beweise es!”, rief der tief verstörte Mann, lauter und krächzender als er es wollte und wunderte sich über seinen eigenen Mut.
“Wie?”, fragte der Alte.
“Verändere deine Gestalt.”
“In was oder wen soll ich mich denn verwandeln?”
Der Mann, nun schon etwas ruhiger, dachte kurz nach. “Wie wäre es denn mit Angelina Jolie? Die wollte ich schon immer einmal in Person treffen.”
Der alte Mann lachte wieder, diesmal lauter. “Na, das können wir doch besser.”, und er verwandelte sich vor den Augen des geläuterten Städters in die atemberaubenste Frau, die er in seinem Leben je gesehen hatte. Obwohl ihm im selben Augenblick klar wurde, dass sie im Prinzip nur virtueller Natur war, kam er nicht darum herum ihre Perfektion zu bewundern. Ihr goldbraun schimmerndes Haar, die volle und zugleich doch schlanke Figur, die absolute Paarungsbereitschaft und perfektes genetisches Ergänzungspotential signalisierte, die kleinen Schönheitsfehler, die Schönheit im Grunde erst definierten, alles passte zusammen und brachte sofort seine innersten Regungen in Wallung. In dem Moment verwandelte sie sich wieder und alterte vor seinen Augen in Sekunden um Jahrzehnte. Sie lächelte immer noch.
“Das war wohl etwas zu gut geraten und ich wollte deine Aufmerksamkeit erregen, nicht deine Libido.”, sagte sie in gütigem, großmütterlichem Ton.
Der Mann, noch leicht verwirrt von der überfallartigen hormonellen Wallung, schüttelte den Kopf und versuchte wieder klar in Kopf und Körper zu werden.
“Ich habe viele Fragen.”, sagte er.
“Und ich werde versuchen dir einige davon zu beantworten, auch wenn Du mit den Antworten zunächst vielleicht nicht viel anfangen kannst.”, erwiderte die alte Dame. “Lass uns dabei aber durch diese zeitlose Welt wandern.”
Die beiden erhoben sich von der Bank und begannen ihren Weg durch ein Wunderland von nie gesehener Schönheit. Alles Getier und jedes Element dieser Welt war in der gerade angefangenen Tätigkeit oder in der Natur der Dinge liegenden Bewegung erstarrt und gerade die Menschen boten dabei einen manchmal ans Lächerliche grenzenden Anblick. Wären sie sich der Darstellung die sie boten bewusst gewesen, sie wären rot angelaufen und hätten versucht im Boden zu versinken.
Die Menschen, von denen nur einer auch wirklich einer war, wanderten durch diese Welt und unterhielten sich ausgiebig über alle Arten von Themen, wobei sich der echte Mensch die Fragen von wirklicher Relevanz zunächst verwehrte. In dieser Umgebung entstand für ihn automatisch der Eindruck, dass er alle Zeit der Welt hätte und so plauderten sie zunächst über Belanglosigkeiten, Banalitäten, lachten über die verrückten politischen Geschehnisse der Welt auf der anderen Seite der Zeit und blieben dann und wann, wenn sich ein Anblick lohnte stehen und genossen ihn.
Sie sahen Zikaden, die mitten im Sprung die Bewegungsenergie verloren hatten, Ahornsamen, die gerade vom Ast gelöst ihre Rotation begonnen hatten um eine möglichst große Strecke zurückzulegen, aber sie nicht fortführen konnten, Katzen auf der Jagd, Hunde beim Betteln zu Tisch, Menschen bei ihrem Tagewerk - alle ihrer Mobilität, aber seltsamerweise nicht ihrer Vitalität beraubt. Bäume, die aufgehört hatten sich dem Wind hinzugeben, so als hätten sie die bequemste, stabilste und am wenigsten Energie verbrauchende Position erreicht, von der zu Träumen sie nie gewagt hatten.
Sie waren am Strand angekommen und blickten auf den Atlantik hinaus.
Die alte Frau, die erstaunlich, oder eben gerade nicht, sehr gut zu Fuß war deutete auf den Ozean hinaus, sagte, “Wie wäre es, wenn wir dort lang gingen?”, und setzte sich in Bewegung Richtung Meer.
Der Mann aus der Stadt folgte ihr in blindem Vertrauen. An der Wasserlinie angekommen hielt die Frau inne und deutete dem Mann, dass er den Vortritt hatte. Etwas unsicher setzte er den Fuss auf das Wasser und keuchte verhalten, als er ihn aufsetzte. Die Wasseroberfläche war fest, auf eine seltsame Art glasiert und trug sein Gewicht ohne Weiteres und so gingen die beiden hinaus in die unendlich scheinende Weite.
“Von diesem Trick habe ich schon gehört.”, schmunzelte der Mann, der sich mittlerweile in der Gegenwart des anderen Wesens sicher und geborgen fühlte. Sie kam ihm vor wie eine alte Freundin, die ihn sein ganzes Leben lang schon begleitet hatte.
“Ja, aber damals habe ich nur dem Wasser unter meinen Füßen die Zeitquanten..., ach das führt zu weit. Es hat seinen Zweck erfüllt. Eigentlich sogar übererfüllt, ich für meinen Teil wollte eigentlich nur schnell auf die andere Seite. Wie das Huhn”, sie keckerte.
Sie gingen weiter und um sie herum wurden aus den kleinen Hügeln aus Wasser immer tiefere Täler und dünenenhaftere Erhebungen.
Die Elemente, erklärte die alte Frau, sind sich im Grunde alle sehr ähnlich, selbst solche, die auf den ersten Blick so wirken als wären sie mit der restlichen Umwelt unverträglich, seien nur durch kleine Details verschieden von den Übrigen. Alles hätte seinen Platz und seinen Ort und die Menschen im Grunde eine Ausnahmegenehmigung sie aus ihren angestammten Umgebungen zu “entleihen” und sogar ihrem Zweck zu entfremden. Und Wasser, ja Wasser wäre das eigentliche Meisterwerk der Schöpfung. Ein Element gewordener Trick (sie scherzte es sei ein Ingenieurskniff...), eine mit verdrehten Eigenschaften geborene Unregelmäßigkeit.
Der Mann dachte über all das nach und kam zu dem Schluss, dass er selbst darüber nicht so genau Bescheid zu wissen brauchte, er wollte andere, persönlichere Dinge in Erfahrung bringen. Gerade als er eine dazu passende Frage stellen wollte sagte sie: “Erfahrung ist ein wichtiger Stichpunkt und war eine schwierige Angelegenheit. Aber sie ist ein Geschenk, das ich allen Höheren mitgegeben habe. Und sie war bitter nötig.” Der Mann hielt kurz inne, schüttelte die Verwirrung ab und beschloss später darüber nachzudenken.
“Wie verkraftet man eigentlich die Dreifaltigkeit mental?”, eine Frage, die ihn brennend interessierte, war er doch im zeitreichen Leben Psychologe.
Die Frau blieb stehen, schaute in den fast wolkenfreien Himmel, seufzte, setzte zu einer Entgegnung an, verharrte und sagte schließlich, “Es war eine schwierige Phase damals, was für mich weder Gestern noch Morgen ist, und ich bitte dich zu verstehen, dass ich dich darüber nicht in Kenntnis setzen kann. Es würde deine innersten Leitsätze außer Kraft setzen und dich damit unfähig machen weiter zu existieren. Du würdest einfach aufhören zu existieren.”
Sie erklärte dann aber doch noch, dass es damals nicht um die Menschheit gegangen sei, sondern um sie selbst. Die Menschen hätten es aber, wie es ihnen zu eigen ist, einfach auf sich interpretiert, was völlig in Ordnung sei. Nebenbei kamen sie später auch einmal kurz auf die Dinosaurier und ihr Aussterben zu sprechen, worauf sie nur lapidar und mit einem Schulterzucken antwortete, “Zu aggressiv. Neustart.”
Sie stiegen zusammen auf eine Wasserdüne und blieben auf ihrem Gipfelgrat stehen. Hinter dem nächsten Tal, auf der nächsten Düne war eine Regattayacht mit mehr als der Hälfte ihres Leibes in der Luft hängend, der atemberaubenste Anblick, den der Mann je gesehen hatte.
Um den Rumpf der Yacht, die ihre Zeit verloren hatte und nun nur noch mit dem Heck in der Welle steckte, herum waren wie an unsichtbaren Schnüren Myriaden von Wasserperlen aufgereiht.
Unsichtbare Schnüre, aber vorhanden, wurde dem Mann klar, die Gravitation. Die alte Frau nickte ihm annerkennend zu. Sie standen zusammen und betrachteten dieses in unglaublicher Dynamik eingefangene Bild.
Sie sahen die Männer, die mit dem Schiff als Waffe mit den Naturgewalten rangen und sie alle machten in diesem Moment des Kampfes einen urglücklichen Eindruck. Keiner zeigte einen Anflug der Angst, alle waren entschlossen diese Herausforderung zu meistern. Die zwei Männer die sich gegen das Steuerrad pressten, es mit ihrem ganzen Körper gegen den Druck des Wassers auf Kurs hielten, die zwei Frauen und der Mann die gerade zusammen ein Segel einholten, die Reihe von Leibern, die sich rücklings über die Steuerbordreling beugten um als lebende Gewichte zu arbeiten.
Angesichts dieser Verbeugung vor dem Leben und dem täglichen Kampf darin, stellte der Mann nun doch eine der zentralen Fragen. “Warum hast Du das alles hier geschaffen?”
Die Frau wandte sich ihm zu und schaute ihm tief in die Augen. “Ihr und ich sind uns nicht unähnlich, auch wenn ich aus eurem Blickwinkel unendliche Macht habe - da wo ich hingehöre habe ich sie nicht. Und auch ich bin oft schwach und verletzlich, traurig und ratlos. Und wenn ich einmal nicht weiter weiß, nehme ich mir die Zeit, von der ich genug habe und rede mit euch. Das hilft mir immer. Oft beobachte ich euch auch einfach nur und versuche aus eurem Verhalten, das, wie du weißt oft irrational und ambivalent ist, zu lernen und diese Erfahrung umzusetzen.”
Der Mann dachte darüber nach, und selbst diese “Offenbarung” eines so mächtigen Wesens, schwach zu sein, ja geradezu ratlos, machte ihm seltsamerweise keine Angst. Er fühlte sich sogar sicherer dadurch.
“Also Du darfst mir gerne über die Schulter schauen, wenn es dir hilft. So gebe ich auch etwas zurück.”, lachte er sie an. Und vorsichtig, sich gerade etwas bewußt geworden, fragte er, “Hast du denn gerade jetzt ein Problem?”
Der Anflug eines Lächelns huschte über ihr Gesicht und ein Zug von freudiger Milde blieb hängen, als sie sagte, “Danke der Nachfrage, aber da kannst du beim besten Willen nicht helfen. Ich wollte nur einmal wieder abschalten.”
“Und dann redest du ausgerechnet mit mir?”
“Ich rede gerade jetzt mit vielen von Euch und ich tue das fast immer. Auch wenn es nicht immer so offensichtlich ist wie jetzt. Vor allem Geistliche lasse ich gerne etwas länger zappeln, aber ein Teil von mir ist in Euch.”
Sie machten sich auf den Weg zurück zur Küste und gingen, stiegen und stolperten hintereinander her und wechselten sich in der Führung ab. Desöfteren entglitt der würdevollen, elangeladenen, alten Dame ein leiser Fluch, wobei der Mann sie in den seltesten Fällen verstand.
“Verflixte Schwerkraft”, oder “Verdammte Kumulationen von Stolperelementen”, waren die harmloseren. Auch ihre Sprache wechselte dabei oft und es waren Sprachen dabei, deren Klangton und Rhytmus er noch nie in seinem Leben gehört hatte.
Als sie an der Küste angekommen waren hielten sie etwa zehn Meter vom Ufer entfernt an und standen sich in dem Abstand gegenüber, den echte Freunde respektvoll zu wahren pflegten.
Die Neugier packte den Mann und er wollte sie noch einmal fragen, ob er denn wirklich nichts tun könnte um ihr bei seinem, ihrem, wie auch immer es geartet war, Problem zu helfen, aber sie grinste nur breit und plötzlich war sie verschwunden und die Zeit wieder da.
Der Mann glitt durch die eben noch feste Oberfläche, tauchte in das Wasser ein und kam strampelnd und prustend wieder an die Luft. Mit ein paar kräftigen Zügen schwamm er zum Strand und setzte sich, den Blick auf den Ozean gerichtet in den warmen Sand.
Natürlich wusste sie, dass ich schwimmen kann,

dachte er und, Schade, ich hätte es gerne gewusst.

In diesem Moment überkam ihn ein Zittern und er spürte noch einmal diese überwältigende Anwesenheit, nur diesmal in seinem Innersten. Ein farblose, aber allgegenwärtige, alles überdeckende Stimme stand in seinem Geist.
“Neugier.”, die Stimme lachte wieder einmal verhalten. “Du willst es wissen und das ist gut so. Höre, Sohn, Bruder und Nachfolger, was ein Mann von der Erde dazu sagen würde, damit du es verstehst:”
Die Stimme hielt kurz inne, was aber ausreichte die Spannung für den Mann fast unerträglich zu machen und dann erhob sich ein letztes Mal für diesen Tag das “Organ Gottes”,
“Ach, Frauen.”

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Tag der Veröffentlichung: 08.01.2009

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