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»...und wenn das der hier angepriesene Service ist, dann haben wir bei der vereinbarten Bezahlung ebenfalls ein Deutungsproblem.« Er brachte das Ende seiner Schimpftirade nur stoßweise hervor und dann setzte sich der fettleibige Botschafter am Fuße der Treppe auf den Rand seines Koffers und nestelte ein rotes Tuch aus einer der vielen Taschen seiner Retro-Angler-Weste, um dem strömenden Schweiß auf seiner Stirn Einhalt zu gebieten. Während er schnaufend dagegen kämpfte den Schweiß in die Augen zu bekommen, kämpften die Levitations-Mikrogatoren seines Koffers laut summend mit dem nicht unbeträchtlichen zusätzlichen Gewicht. Um ihn herum hatte sich sofort eine wabernde Glocke aus Insekten gebildet, die nur von einem statisch aufgeladenen Konturfeld daran gehindert wurden ihm das, seiner Meinung nach, kochende Blut aus dem Körper zu saugen. Und aus dem umgebenden Dschungel drangen Laute von Wesen, die ganz sicher nicht nur an sein Blut wollten.
Ja, hier bin ich der Leckerbissen. Genau das hat mir noch gefehlt, dachte der Botschafter

. Er versuchte sich auf seinem Koffer in Richtung der pflanzlichen Wand hinter ihm zu drehen, schaffte es nicht, da ihn seine Leibesfülle daran hinderte und so gab er sich damit zufrieden mit dem Daumen hinter sich zu deuten. »Ich hoffe man kann diesen Lärm in der Unterkunft unterdrücken.«
»Natürlich, Eure Exzellenz. Ich würde Euch auch gerne tragen, aber dazu reichen meine Kräfte leider nicht aus. Ich bin untröstlich,« Wie kann ein Servitor untröstlich sein? Verdammte Etiquettenprogrammierung

.
Der Botschafter wusste nicht, ob er bei diesem Gedanken und in dieser Situation lachen oder wütend werden sollte.
Der Servitor plapperte munter weiter. »...aber wie gesagt, alle Gleiter und alle Hoover sind auf Safari, alle Außen-Servitoren ebenfalls. Ich bin der einzige verfügbare Servitor mit einer einigermaßen angemessenen Programmierung. Es ist mir, gerade bei Ihnen, richtiggehend peinlich, aber durch den Fehler ihres Schiffes in der Berechnung und Übermittlung ihres Ankunftszeitpunktes, stehen uns für Ihren Transfer zum Hotel nur beschränkte Mittel zur Verfügung.«
Jetzt wurde der Botschafter tatsächlich wütend. »MEIN SCHIFF MACHT KEINE FEHLER!«, schrie er den kleinen, kugelköpfigen Servitor an. »Das hinterwäldlerische Unternehmen, das dich Schrotthaufen geschickt hat, ist einfach nur schlampig und schlecht organisiert.« Er hievte sich von seinem Koffer, indem er die Schwebehöhenregulierung zu Hilfe nahm und deutete den schmalen, verwitterten Pfad entlang, der irgendwann einmal in den Dschungel bis zu der im irdisch-aztekischen Stil gehaltenen Treppe glasiert worden war. Der Dschungel hatte sich schon einen beträchtlichen Teil der ursprünglichen Breite von knapp sechs Metern zurück erobert. »Und das soll ein angemessener Weg für gut-, nein, königlich-zahlende Gäste sein?« Er rang nach Luft. Dicker, feuchter Luft, aber reden, das konnte er immer: »Wir sind bestimmt schon fünf Kilometer gegangen, jedesmal sagst du wir sind nach der nächsten Windung am Ziel, alles Lügen, und dann kommen wir an einer Treppe an? Mir reicht es. Wir warten hier, bis ein Gleiter frei ist und dann...« Der kleine Roboter sprang die ersten zwei Stufen herunter und legte seine veralteten, aus Hybridkarbon bestehenden Handflächen aneinander. Es klackte leise. Er schaute zu dem Botschafter auf, der das Dreifache seiner eigenen Körpergröße und ein Vielfaches seines Gewichtes aufwies und sagte flehend: »Eure Erhabenheit, ich muss Euch bitten mir nur noch diese Treppe hinauf zu folgen. Oben auf dem Plateau gibt es Laufbänder und allen erdenklichen Luxus. Wir müssten noch bis Anbruch der Dunkelheit warten bis eine Transportmöglichkeit bereit wäre und mit Einbruch der Dunkelheit werden die Haltefelder entlang des Pfades abgeschaltet, um die Viehwanderungen nicht über die Maßen zu stören.« Mit einer Handbewegung schnitt der Botschafter ihm das Wort ab. Er stemmte die Hände auf seine massigen Hüften und holte tief Luft. Während sich sein Brustkorb beim Einatmen kaum anhob, fiel sein gesamter Oberkörper beim Ausatmen in sich zusammen wie ein nasses Kissen. Ein Resultat der vielen Bankette und Ehrenempfänge, die er regemäßig in Gelage ausarten ließ. »Ich sehe das obere Ende der Treppe wegen des Dunstes nicht und es ist mir mittlerweile auch fast egal, wie hoch dieser Anstieg zur Hölle ist, aber eines versichere ich dir:« Er deutete zunächst auf die Treppe und dann auf das kleine Kunstwesen selbst. »Ich werde mich als Erstes dafür einsetzen, dass du eingeschläfert wirst. Ich hoffe, dass dir dann klar wird, dass man mich nicht mit abschaltenden Haltefeldern oder Viehwanderungen unter Druck setzen kann.« Er setzte, jetzt schon schnaufend, einen Fuß auf die erste Stufe und über seine Schulter hinweg knurrte er: »Und wenn wir oben sind, wird dir klar werden, dass mich auch keine noch so lange Treppe von meinem Ziel abhält, dich deaktiviert zu sehen, zum Teufel!«

*

Der Botschafter erwachte mit einem bohrenden Hungergefühl im Magen und stechenden Schmerzen im Rücken. Er hustete eine halbe Minute lang und spie den Auswurf auf den aus Reliefplatten bestehenden Boden. Als er die kunstvollen Darstellungen auf den einzelnen Segmenten betrachten wollte, wurde ihm schwindelig und sein Blickfeld verschwamm. Er wälzte sich auf die Seite, kam röchelnd in eine sitzende Position und stützte seinen Kopf in die Hände und die Ellenbogen auf seine Knie. Ihm war noch immer schlecht von der für ihn außergewöhnlichen Anstrengung. Aber er hatte die Treppe gemeistert.
Sie waren zu zweit, oder, wenn man den Koffer mitzählte, zu dritt (nichts sprach für den Botschafter dagegen den Koffer mitzuzählen, wenn man dieses kleine, melonenköpfige Scheusal, diesen artifiziellen Folterknecht auch als Wegbegleiter ansehen musste) Stufe um Stufe die künstlich verwitterte Treppe hinauf geklettert, hinein in den Dunst, der ab einer gewissen Höhe herrschte. Zunächst, der Dunst begann etwa fünf Meter über dem Niveau der höchsten Baumkronen, welche sich in bis zu fünfunddreißig Meter Höhe erhoben, war der Nebel dicht und der Botschafter hatte das Gefühl, dass die Luftfeuchtigkeit sich schlagartig verdoppelt hatte. Es war wie in einem Dämmungsfeld. Das Licht hatte zwar noch einen Ursprung, nämlich oben, aber es verteilte sich fast so, als würde es aus allen Richtungen kommen. Es kam ihm fast so vor als würde er in verdünnter Milch schwimmen, auch wenn er sich nicht einmal ansatzweise mit schwimmender, schwebender Leichtigkeit bewegte. Die Geräusche und das Gekreische aus dem nun weit unter ihnen liegenden Dschungel wurden immer dumpfer und verloren mehr und mehr an Durchsetzungsvermögen, bald waren sie nur noch ein summendes und brummendes Hintergrundgeräusch, durchbrochen von sporadischen Peaks, die die Todesschreie einzelner Kreaturen markierten. Das Keuchen seiner eigenen Atmung und das Pochen des Blutes in seinen Ohren wurden zur bestimmenden Geräuschkulisse für ihn.
Der kleine mechanische Satan hatte nach wenigen Metern im Nebel ein Positionslicht eingeschaltet und der Koffer hatte es ihm gleich getan. Vor ihm blinkte nun ein Licht im Dunst, es blitzte in einem regelmäßigen Rhytmus auf und verwandelte den Nebel um ihn herum dann für einen kurzen Moment in ein irisierendes Bad aus roter Lumineszenz. Von hinten kam in kurzen Abständen die grüne Antwort des Koffers. Nach kurzer Zeit befand sich der Botschafter in einem tranceähnlichen Zustand, in einer Blase ohne Ränder aus weißem, rotem und grünem Licht, die mit ihm die Treppe hinauftrottete. Stoisch setzte er einen Fuß vor den anderen, in der festen Absicht sich keine Pause mehr zu gönnen, bevor sie das Ende der Treppe erreicht hatten. Diese Genugtuung wollte er diesem zwergenhaften Besserwisser von einem Roboter nicht gönnen, wohl wissend, dass dieser so etwas gar nicht empfinden konnte. Er musste schmunzeln denn er tat in diesem Moment genau das, worüber er sich schon so oft bei anderen lustig gemacht hatte. Er personalisierte ein künstliches System, stand ihm Absichten und menschliche Regungen, ja, einen Charakter, zu. So wie eine Besatzung ihrem Schiff mehr und mehr eine Seele zusprach, wie ein Informatiker sein Terminal anschrie, manchmal auch schlug, oder wie man schon die einfachsten technischen Geräte zum Teufel wünschte wenn sie nicht parierten, in etwa so, wie man es seinem ärgsten Feind gerne angedeihen lassen würde.
Der Nebel wurde immer dichter. Konnte er eben noch die nächsten fünf Stufen erkennen, so sah er nun nurmehr drei. Seine Oberschenkel fingen an zu brennen, seine Waden wurden zu Betonblöcken, aber er wollte nicht so leicht aufgeben und nach einer Pause verlangen. Vor allem nicht in dieser unwirklichen Brühe. Noch überforderte auch die Frage nach der Länge der Treppe seinen Stolz. Warum mache ich diesen Mist überhaupt mit? Ich könnte in aller Ruhe auf Parnoppa XVI sitzen und bei einem Bankett die Hoffnungen geldhungriger, aber leichtbekleideter Töchter aus der planetaren Oberschicht enttäuschen. Oder endlich die Verschlankungs/Entschlackungs-Kur in den Cyrellischen Ringen antreten. Oder, ach...
Dem Botschafter war klar, dass er diesen Besuch hinter sich bringen musste, um seinen Anspruch auf diesen Mond zu behalten. Als Besitzer dieser miesen, edelstoffarmen Dschungelkugel sah das galaktische Boden- und Pachtrecht für Planeten, Monde und Planetoiden vor, dass er wenigstens einmal innerhalb von zehn Jahren persönlich anwesend sein musste oder einen Statthalter zu ernennen hatte. Würde ihm nur ein Grundstück auf diesem Drecksball gehören, hätte er nie in dieses System in der Peripherie der Galaxis springen müssen und hätte einfach nur jedes Jahr die Pacht eingestrichen. Aber das Gesetz besagte nun einmal, dass man als Bodenadliger, der er durch den Besitz eines ganzen Himmelskörpers geworden war, auch eine gewisse Verantwortung für die harmonische Nutzung des Besitztums hatte, wie auch immer diese aussehen sollte. Erhalten hatte er diese „Grafschaft“, wie der Mond in der Besitzurkunde genannt wurde, vor zehn Jahren, als Dank des Kaisers Nord für seinen Einsatz in der polaren Krise auf Parnoppa Prime. Ein Trick, nur ein kleiner Trick, Eure Hoheit, dachte er hämisch. Oder ist das hier eine diffizile Maßregelung für meine Gaunerei?
Der Kaiser Nord, oder vielmehr die Mühle seiner Bürokratie, nahm bei der Verteilung dieser Aufmerksamkeiten für geleistete Dienste keine Rücksicht auf Standorte und Verwertbarkeit eben dieser. Und so war der Botschafter von einer Honorarkraft im Dienste des Imperiums Nord zum Mondbesitzer geworden. Zur Überreichung der Länderei waren damals seine, und die Anwesenheit eines Notars im Orbit des Mondes erforderlich gewesen. Andere offizielle Örtlichkeiten existierten auch nicht, der Mond war noch vollkommen ursprünglich, mit einer üppigen Vegetation, unterirdischen Süßwassermeeren und einer nicht erforschten Fauna. Anzeichen von intelligentem Leben waren nicht gefunden worden, Bodenschätze Mangelware und Interesse an einer Pacht hatte nur ein Konsortium von Touristikunternehmen, die aus dem kleinen Mond eine Abenteuer-Naherholungs-Welt für Bestensverdienende machen wollten. Diesen Pachtvertrag hatte er noch im Orbit unterzeichnet, immerhin – ein lukratives Geschäft, bevor er sich eiligst wieder auf den zweiwöchigen Heimweg gemacht hatte. Seitdem hatte er kaum einen Gedanken an den Mond verschwendet und er wurde nur jedes Jahr daran erinnert, wenn der jährliche Bericht des Unternehmens in Einheit mit der Pachtüberweisung bei ihm eintraf. Das Geld wanderte auf sein Konto, der Bericht ungelesen in sein privates Archiv. Er war damals zu geizig gewesen einen Statthalter einzusetzen, diesen Fehler, das schwor er sich jetzt, würde er nach seiner Rückkehr nach Parnoppa XVI schnellstens ausmerzen. Und bezahlt hatte er für diesen Trip auch noch. Anstatt das Angebot des Konsortiums anzunehmen und gratis eine Woche lang alle Annehmlichkeiten ihres Angebots in Anspruch zu nehmen, hatte er darauf bestanden den Trip in vollem Umfang zu bezahlen. Er wollte nie wieder jemanden etwas schuldig sein, so wie damals... Aber das war jetzt nicht relevant.
Relevant war nur, dass er den Anstieg schaffte und diesen kleinen Bastard deaktivieren und zerstrahlen lassen würde, nur um seine auf den Roboter projizierte Wut zu besänftigen. Wenn er oben war, würde er dann gleichzeitig niemanden etwas schuldig und wieder beruhigt genug sein, um einen kühlen Kopf zu behalten, denn das hatte er in den Jahrzehnten seiner diversen Tätigkeiten gelernt – Gute Verhandlungen führte man nur mit Übersicht und Ruhe und wenn man seinen Hass auf die Geschäftspartner an einem leblosen Objekt abreagieren konnte, dann sollte man von dieser Möglichkeit gefälligst auch Gebrauch machen. Und er wollte verhandeln. Nach allem was er gehört hatte (er wollte den für ihn aufbereiteten, jährlichen Berichten kein Vertrauen schenken, also hatte er andere Quellen bemüht) brummte das Geschäft auf diesem Planeten. Die Reichen kamen und gaben ihre wertvollen Devisen mit vollen Händen aus, nur um auf äußerst exotische Großwildjagd zu gehen und dabei trotzdem jeden Abend allen erdenklichen, dekadenten Luxus zu genießen. Abends Geld, Drogen, Sex und rechtsfreier Raum. Vier Dinge die dieser Tage erstens zusammengehörten und zweitens durch das Fehlen eines bewohnten Planeten und damit dem Fehlen einer Ordnungsinstanz in diesem System begünstigt wurden. Tagsüber Nervenkitzel in Verbindung mit Töten. Das Konzept war voll aufgegangen und, nun, er selbst konnte auf Basis dieser Information getrost und in seinen Augen voll legitimert die Pacht erhöhen.
Apropos Augen, dachte er, die Sicht wird besser. Der Dunst lichtete sich und nun konnte er tatsächlich seinen kleinen Peiniger wieder vor sich die Stufen hinauf hopsen sehen. Der Servitor schaltete in diesem Augenblick sein Signallicht aus, während der Botschafter nun verwundert beobachtete wie der Nebel um ihn herum schnell dünner wurde. Er blieb stehen und drehte sich auf der Stufe um. Sein Oberkörper ragte aus dem Dunst hervor und er konnte seinen Blick über ein beeindruckendes Panorama schweifen lassen. Der Raumhafen (er verdiente diese Bezeichnung nicht wirklich) und der Fuß der Treppe lagen in einem Tal das von hohen, dicht bewachsenen Berghängen umgeben war. Er konnte nichts vom Talboden sehen, denn der Nebel lag wie eine wattige Decke über dem gesamten Kessel, von dem er während des automatischen Anfluges nichts gesehen hatte, da er ihn verschlafen hatte. In weiterer Entfernung konnte er nichts als andere grüne Bergkuppen und -grate erkennen, die sich vermutlich um ganz ähnliche Täler zwangen, wie das, aus dem er gerade aufgestiegen war.
»Wir müssen weiter, schnell«, sagte die kleine Maschine hinter ihm. Er drehte sich wieder zu dem Roboter hin und wollte ihn gerade für seinen unangebrachten Ton zurechtweisen, als ihm bewusst wurde was hinter dem Servitor auf ihn wartete. Der Rest der Treppe. Der unglaublich lange Rest der Treppe.

*

Jetzt saß er in dem kleinen Raum, der das Zentrum des tempelartigen Aufbaus am oberen Ende der Treppe bildete, der Raum, in dem er nach der Gipfelankunft stolz auf einer der seitlichen Bänke eingeschlafen war. Stolz auf seine Leistung, aber mit noch mehr Hass auf den Servitor. Jetzt verspürte er nur das Drängen seines Magens und die Gliederschmerzen. Gliederschmerzen? Jetzt schon? Wie lange habe ich geschlafen? Der Botschafter kramte seinen PDA aus der Tasche und traute seinen Augen nicht. Er wußte nicht mehr wann genau sie es geschafft hatten, aber als sie oben angekommen waren war der Abend angebrochen und nun herrschte wieder hellichter Tag. Dieser Mond brauchte dreißig Stunden um seinen Planeten zu umkreisen, während dieser Zeit stand er fünfzehn Stunden im Sonnenlicht des Muttergestirns und fünfzehn Stunden lang lag er im Schatten. Er hatte etwa siebzehn Stunden geschlafen. Der PDA bestätigte die Vermutung. Seine Laune hatte jetzt einen neuen Tiefpunkt erreicht. Er streckte sich und schaffte es dann beim zweiten Versuch schwankend stehen zu bleiben. Der Servitor war nirgendwo zu sehen und sein Koffer war auch nicht mehr da. Seltsamerweise hatte die kleine Halle nur eine Öffnung, es war ihm am Abend vorher nicht mehr aufgefallen, kein Wunder. Hinter dieser Tür, es war mehr ein Portal, lag die Treppe, die er sich gestern mit purer Willenskraft hinaufgequält hatte. Er quälte sich an den reich verzierten Wänden entlang zu der Öffnung und trat hinaus in das grelle Sonnenlicht. Seine Augen gewöhnten sich langsam an das morgendliche Gleißen und was er dann sah, veranlasste ihn sich sofort auf seinen Hintern fallen zu lassen und sich in den Fugen der Reliefplatten festzukrallen. Es war wie eine optische Keule und sie schlug mit ihrer Unwirklichkeit bei jedem Blick wieder und wieder zu.

Zuerst bemerkte er, dass etwas mit den Farben dieser Welt nicht mehr stimmte. Wo sonst Grün die beherrschende Farbe gewesen war, herrschte jetzt ein tristes Grau, durchzogen von braunen Streifen. Die dichtbewachsenen Berghänge waren es nicht mehr. Sie waren kahl und schmutzig, auf den höchsten Gipfeln in der Ferne konnte er nun sogar weiße Farbtupfer erkennen, die Anzeichen der ersten Übereisung. Unten im Tal hing kein Dunst mehr, die Sicht auf den Boden war frei, aber der gesamte Kessel war wie leergefegt. Nicht ein Anzeichen von Vegetation war mehr zu erkennen. Die Luft war kühl und er hatte sofort den Eindruck, dass sie jetzt rapide abkühlte während er an der Spitze der Treppe saß. Die Treppe hatte im Grunde genommen keine Spitze mehr, denn sie hatte auch keinen Fuß mehr. Etwa zehn Stufen unterhalb der Gipfelplatte war die komplette Treppe abgebrochen. Der gesamte Hang hatte anscheinend den Halt verloren, als die Pflanzen verschwunden waren und war dann abgerutscht. Der Hang hatte die Treppenstufen mit sich gerissen. Der Botschafter saß im Eingang eines jetzt unzugänglichen Tempels. Scheinbar war das Tempelgebäude selbst auf dem blanken Felsen errichtet worden, so dass er ein festes Fundament besaß, die Treppe aber war verloren.

*

Erst Minuten später kann sich der Botschafter wieder bewegen, er hat den Anblick in sich aufgesaugt. Er war zwar am ganzen Körper wie taub durch diesen Schock, aber die wichtigsten Erkenntnisse hatten sich in diesen Minuten in seinem Bewußtsein formen können: Er ist alleine. Der Raumhafen ist nicht mehr da. Das Raumschiff ist nicht mehr da. Der Servitor ist nicht mehr da. Es gibt weder einen zweiten Ausgang aus diesem Tempel, noch gibt es auf dieser Bergspitze etwas anderes als diesen Tempel. Es gibt keine Treppe mehr. Es existiert keine Chance auf einen unfallfreien Abstieg. Auf diesem Planeten existiert kein Datennetz und damit keine Anbindung an eines der Kommunikationsnetze. Der PDA ist so gut wie wertlos. Kurz danach bilden sich die ersten Fragen in seinem Gehirn: Was ist passiert? Wo sind die anderen? Wer kommt mir zu Hilfe, wer kann mir zu Hilfe kommen? Gab es eine Katastrophe? Habe ich diese etwa verschlafen? Und wo ist dieser verdammte Roboter hin?
Der Botschafter rafft sich auf und tritt zurück in das Halbdunkel des Tempelaufbaus. Er schaut sich um erkennt nichts außergewöhnliches. Links und rechts zwei durchgehende Bänke, auf der Bank auf der rechten Seite hatte er die Nacht verbracht. Der Raum ist etwa zehn Meter tief, die Bänke nehmen die gesamten Seiten ein, wie in einer Wartehalle. Der Boden, die Wände und sogar die Bänke sind über und über mit reliefartigen Darstellungen von Tieren bedeckt, alle in Segmenten von etwa Dreißig Zentimetern Kantenlänge. Sonst ist der Raum leer. Er geht zu der rechten Bank, lässt sich schon fast endlos erschöpft und resigniert darauf fallen und beginnt die Reliefdarstellungen genauer zu betrachten. Sie zeigen nicht nur Tiere, sie zeigen Massen von Tieren. Und Pflanzen. Und sie sind offenbar schematisch.
Beginnend in der rechten unteren Ecke der Platten zeigen sie scheinbar Grundtypen von Lebewesen und viele ihrer diversen Phänotypen. Es gibt keine Zeichen oder Zahlen auf diesen Platten, nur stilisierte Darstellungen. Die erste Platte, die er untersucht zeigt eine Art Insekt mit kleinen Maulzangen, das im Laufe der Darstellungen auf der Platte hin zu einem faustgroßen Insekt mit beeindruckenden Kieferzangen mutiert. Er kennt das Insekt nicht. Die nächsten Platten zeigen auch Insekten unterschiedlichster Erscheinungsformen, keines davon kommt ihm bekannt vor. Er geht zur Rückwand des Raumes. Diese Platten zeigen keine Insekten mehr, sie zeigen nur noch Pflanzen. Darstellungen von kleinen Keimlingen, verschiedenen Wachstumsstufen und verschiedenen Mutationen umfassen eine Pflanzengruppe und eine Platte. Die linke Wand des Raumes zeigt Säugetiere, er vemutet dass es Säugetiere sind, erkennen kann er keines. Die Stirnwand des Raumes, die Wand mit der Öffnung trägt nur eine Platte, direkt über der Öffnung, der Rest der Wand ist vollkommen glatt. Diese Platte ist größer als die anderen Platten und er kann nicht richtig erkennen was sie darstellt. Sie liegt fast in völliger Dunkelheit über der Tür und das hereinfallende Licht von Außen blendet ihn. Mehrere Minuten versucht er die Darstellungen auf dieser Platte zu erkennen oder zumindest ein entfernt vertrautes Element zu finden, aber er kann nichts ausmachen. Er wechselt den Standort und stellt sich auf eine der Bänke, auch von dieser erhöhten Position, in der auch die Lichtverhältnisse besser sind, gewinnt er keine Erkenntnis. Er kann nichts konkretes auf dieser Platte erkennen, nichts was er einzuordnen vermag. Auch wenn er keine der Gattungen auf den anderen Platten kennt, erkennt er zumindest ihre Zugehörigkeit. Diese Platte bleibt ihm ein Rätsel. Etwas wird dargestellt, aber er kann es beim besten Willen Nichts was er kennt zuordnen. Er kennt die Syntax der anderen Platten, rechts unten beginnend stellen sie eine Entwicklung dar, und vermutet, dass es bei dieser Platte genauso sein muss, aber er kann nicht einmal das erste Element auf der Platte benennen. Er kann es nicht einmal beschreiben. Er sieht nur Linien und Kreise und mehr Linien und das schon bei der ersten Figur. Sie ist so kompliziert, dass er keine einfache Beschreibung dessen was er sieht finden kann. Die nachfolgenden Typen sind nur noch komplizierter.
Der Botschafter reibt sich die Augen und springt von der Bank auf den Boden zurück. Der Boden. Er untersucht die Bodenplatten und stellt fest, dass sie Kleinstlebewesen darstellen. Angefangen mit Bakterien, bis hin zu höher stehenden, aber immer noch einfachen Wesen. Er gibt es auf und tritt wieder auf die Platten vor dem Eingang zurück. Die Aussicht hat sich nicht verbessert, vielmehr ist alles noch wesentlich schlimmer geworden.

Es wird immer kühler und die Windstärke draußen hat rapide zugenommen. Er schlägt die Arme um den Körper und bläst die Wangen auf. Ich muss etwas übersehen haben, denkt er und kehrt wieder zu der Bank auf der rechten Seite zurück. Das Relief ist weg. Er ist sich sicher, dass es an dieser Stelle eingelassen gewesen war. Gewesen sein muss. Anstatt des Reliefs sind nun andere Darstellungen zu sehen. Er sucht nach allen Platten, die er eingehender untersucht hatte, sie sind alle ausgetauscht. Zwar stimmen die Einteilungen in die Gruppen noch, aber die Darstellungen sind jetzt gänzlich andere. Nun wird es ihm unheimlich. Er hat nur kurz in der Öffnung gestanden und dieses apokalyptische Panorama betrachtet, dabei muss sich der Raum verändert haben. Lautlos. In seiner Verzweiflung zwängt er sich unter die Bank und betrachtet deren Unterseite in dem fahlen, schwachen Licht seines PDA´s, aber er erkennt nicht eine der Darstellungen wieder. Er rollt unter der Bank hervor und bleibt schwer atmend auf dem Rücken liegen. Seine Füße zeigen auf das Portal und sein Blick wandert von der hellen Öffnung zu der darüber eingelassenen Platte. Er springt auf, für seine Körpermasse beeindruckend schnell, und tritt wieder auf die Bank. Die Linien, die Kreise, diese Platte hat sich nicht verändert. Er kann die Bilder zwar immer noch nicht einordnen, kann auch nicht mit absoluter Sicherheit sagen, dass es die gleichen Bilder sind die er schon gesehen hat, aber irgendwie weiß er, dass sich diese Platte nicht verändert hat. Und während draußen der Wind immer zügelloser bläst und er angestrengt auf die Platte blickt, hört er hinter sich eine Stimme. Eine vertraute, verhasste, aber gleichzeitig Hoffnung weckende Stimme.

*


»Gefallen dir unsere jüngsten Kinder?«
Der Botschafter drehte sich langsam um und starrte den kleinen, melonenköpfigen Servitor, den Schrotthaufen, das kleine, melonenköpfige Scheusal, den artifiziellen Folterknecht, diesen zwergenhaften Besserwisser von einem Roboter, diesen Bastard, an. »Deine Gedanken sind nicht schmeichelhaft.«
Der Botschafter konnte den Blick nicht von dem Wesen vor ihm nehmen. Nicht weil es anders ausgesehen hätte, sondern weil es hinter seiner Stirn arbeitete.
»Jaja, jaja. Ich kann deine Gedanken lesen, sie leuchten ja quasi vor mir. Ich bin auch kein Servitor. Mein Körper im Moment schon, aber ich nicht. Ich bin auch nicht ich, ich bin wir, aber bleiben wir beim ich.« Er drehte sich auf seiner linken Fußspitze um die eigene Achse und dabei wurden am ganzen Körper grüne, biolumineszente Lichter sichtbar. »Ja, ich kann für dich leuchten, aber auch das bin nicht ich. Nicht nur.«
Ich kann sogar in deinem Kopf sprechen, aber auch das bin ich nicht. Nicht nur, dachte der Botschafter. Seine Eingeweide fingen an in seinem Körper zu rumpeln. Es hörte sich fast an wie »Nicht nur.«
Der Servitorkörper nahm Platz. »Ich bevorzuge es aber auf deine gewohnte Art und Weise mit dir zu kommunizieren, damit du auch alles ganz menschlich, und damit für dich deutlich, wahrnimmst. Setz dich.«
Der Botschafter konnte gar nicht anders, alles in ihm, jede Faser, jedes Partikelchen seines Körpers drängte ihn auf die Bank. Er wußte gar nicht wie ihm geschah, und wie er von einer absolut unwirklichen Situation in eine noch unerträglichere Lage geraten konnte. Der Roboter hatte jetzt eine Ausstrahlung die nicht von dieser Welt war. Eben noch war er so etwas wie Adam ohne Garten Eden und ohne Eva gewesen, jetzt war er so etwas Moses, zwar mit einem Berg, aber ohne Glauben und mit unerträglicher Angst. Und wenn sein Denken in biblische Relationen abrutschte, dann war es wirklich ernst, er verspürte eine kalt kribbelnde, und tja wirklich, finale Angst. Scheißangst. Dieses Wesen hatte eine absolut atemberaubende Ausstrahlung.
»Adam. Ein gutes Beispiel für das schlechteste und nebenbei, non-existenteste Beispiel. ... Na, so wie ihr ihn kennt "non-existent"...« Das Ding hieb mit der flachen Hand auf die Platten unter sich. Es klackte sehr laut als die künstlichen Finger auf den Boden klatschten. Der Botschafter zuckte zusammen. Er war jetzt kreidebleich und wilde Panik flackerte in seinen Augen. Seinem Fluchtreflex hatte er schon lange nachgegeben, aber sein Körper bewegte sich nicht von der Stelle. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
»Du denkst nur noch, weil ich es will, also nutze es auch. Ich will, dass dir das gesamte Ausmaß dieser Episode klar wird. JETZT!« Der menschliche Körper sank in sich zusammen, als würde er gerade tiefenentspannen und damit wurde ein wenig von der körperlichen Angst des Mannes gelindert. Seine Gedanken kreisten jetzt langsamer, sie kämpften nur noch mit etwa fünf Themenkomplexen aus seinem Leben. Eben noch war es als Gesamtheit in einer Schleife in seinem Kopf abgelaufen, ohne dass er Einzelheiten hatte fassen können. Der Servitor nahm keine Rücksicht auf seine Konzentration. »Die Reliefs hast du gesehen. Eigentlich sind es keine Reliefs, eigentlich ist das Ganze hier ein recht großer Biospeicher mit einer gigantischen Speicherkapazität. Denn die brauche ich. Die Reliefs sind Kunst, in diesem Fall Kunst die du verstehst, denn auch diese gehört zu mir. Es wird jetzt ein wenig abstrakt, aber ich versuche es dir so zu erklären, dass du es verstehst. Jedes dieser Reliefs stellt einen Genpool dar. Die Darstellungen sind wirklich stark vereinfacht. Der Wechsel, den du bemerkt hast ist in Wahrheit so schnell, dass du gar kein Relief lange genug betrachten könntest um Einzelheiten zu erkennen. Das war ein Entgegenkommen meinerseits. Jeder dieser Wechsel«, der Roboter sprang unvermittelt an die Decke und hing nun kopfüber von ihr herunter, »stellt normalerweise eine Auslieferung, ja, so will ich es einmal nennen, dar. Viele, nicht wahr?«
Der Botschafter war erst bei den letzten Worten richtig klar geworden. Er konnte sich überhaupt nichts unter ihnen vorstellen, aber jetzt versuchte er so aufmerksam zuzuhören, wie es die Situation ihm erlaubte. »Diese Chargen gehen an jede neue, vielversprechende Welt. Von jeder Wand eine und glaube mir, es gibt noch mehr Wände und Räume, um in deinem Vorstellungsdimensionen zu sprechen.« Der Servitor kletterte an der Decke entlang während er im Plauderton fortfuhr. »Dieser Planet hier, den ihr Mond nennt, nur weil er um einen größeren Planeten kreist, ist so etwas wie mein Labor. Eine Kinderstube, ein Brutkasten, ein Testlabor. 
»Ihr«, er sprang in eine stehende Haltung auf dem Boden und zeigte mit dem Finger auf den immer noch tief verängstigten Mann auf der Bank, »kommt hierher und bringt ein Jahrhunderttausendprogramm durcheinander. Dass ich das nicht zulassen kann, sollte klar sein.«
Der Botschafter zuckte zusammen. Sein Körper regte sich wieder. Sprechen konnte er immer noch nicht.
»Also, ich habe mich nun entschlossen, dem Ganzen hier ein Ende zu bereiten und meine Zelte abzubrechen. Schau...« Der Roboter zeigte auf die Tür. Draußen sah der Botschafter wie sich Risse in den Bergflanken bildeten, erst langsam, dann wurden sie schnell größer. Als nächstes riss es die Bergketten hinaus ins All. Das gesamte Tal und alles darum herum wurde weggerissen, untermalt von einem durchdringenden, gleichzeitig äußerst tiefen und doch schrill schreienden Ton. Es kam ihm fast vor, als würde das Alles in Zeitlupe geschehen, aber seine Sinne wurde getäuscht, weil sie so etwas noch nie gesehen hatte. Die Größenverhältnisse waren zu gigantisch um einen Vergleich heranzuziehen, der gesamte Mond brach um den Tempel herum weg.
Als die Bruchstücke keine Verbindung mehr zueinander hatten und die restliche Atmosphäre nun endgültig entkommen war, brach der Lärm mit einem Pfeifen ab. In gespentischer Stille und immer noch mit Zeitlupencharakter trieben die großen Bruchstücke durch den Weltraum fort. Es schien als bewegten sich alle auf den Gasriesen zu, um den der Mond bis vor kurzem noch gekreist war. Der Tempel selbst trieb nun ganz alleine im All.
»Mein Gott«, brachte der Botschafter nun hervor.
»Gott? Götter? Ja, euer Verstand bringt immer scheinbar Unerklärliches mit Übernatürlichem in Verbindung. Auch ein Mechanismus aus meiner Feder. Selbstschutz. Nun gut. Was du gesehen und erlebt hast wirst du mit ins Grab nehmen. Die Zeit der Menschen ist abgelaufen. Ist es nicht ironisch, dass ihr etwa zeitgleich mit der Fertigstellung eurer Nachfolger hier auftaucht und das Programm fast noch zunichte gemacht hättet? Ha. Ihr wart scheinbar besser konstruiert als ich dachte.« Er breitete die Arme aus. »Du hast die Zukunft gesehen. Die Zukunft in der ihr nicht mehr stattfindet. Es wird zwar noch eine Weile dauern, aber der Samen ist gesäht.«
Der Roboter sank in sich zusammen, schlug auf dem Boden auf und zerstob in Myriaden von Partikeln, die meisten waren für den Menschen nicht mehr sichtbar. Von von allen Seiten, aus ihm selbst heraus und in ihm selbst erklang noch einmal die Stimme. »Hast du noch etwas zu sagen, bevor alles zu Ende geht?«
Der Botschafter wand sich auf dem Boden, rollte sich auf den Bauch und hob in einer letzten Kraftanstrengung den Kopf. »Erstens: Ich hab einen Scheiss von der zukunft gesehen. Was hast du mir denn gezeigt? Nichts. Also leck mich. Und zweitens: Warum musste ich die Treppe hoch? Warum musste ich noch diese verdammte Treppe hochklettern, wenn ich jetzt sowieso sterbe?« Er konnte es nicht glauben, aber so etwas wie Glanz und Stolz schwangen in der geisterhaften Stimme mit.
»Ich wollte wissen wie gut meine Konzepte der Dickköpfigkeit und des Hochmutes funktionieren, die Parameter dafür waren bei euch neu. Brauchbar, aber ausbaufähig, würde ich sagen. Ich werde das berücksichtigen.«

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Tag der Veröffentlichung: 19.10.2008

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Widmung:
SF-Kurzgeschichte

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