Es ist der 31 Juli 2006 und ich sitze einsam und verlassen in meinem Zimmer. In den letzten Wochen und Monaten habe ich immer mehr das Gefühl mein ganzes Leben stürzt langsam aber sicher um mich herum ein.
Alles wofür es sich bis jetzt zu leben gelohnt hatte war einfach weg.
Meine Familie interessiert sich nicht für mich, in der Schule läuft es absolut scheiße und auch meine große Liebe hat mich verlassen.
Ich bin gerade einmal 16 Jahre jung und komme einfach mit meinem Leben nicht mehr klar. Jeden Tag aufs Neue kommen mehr Enttäuschungen hinzu und ich kann damit nicht mehr leben. In meiner ganzen Familie ist der große Stress ausgebrochen. Jeder mit jedem und das aus irgendwelchen belanglosen Gründen. Ich kann es nicht nachvollziehen warum man nicht einfach in Ruhe sein Leben leben kann, warum sich einfach jeder einmischen muss. Kann mir das mal jemand erklären? Mit unnötigem Ärger kommt man doch auch nicht weiter, was hat man denn davon? Immer müssen die Menschen alles komplizierter machen als es eigentlich ist. Jetzt, wo ich mir da so Gedanken drum mache fällt mir auf, dass auch ich zu diesen Menschen gehöre. Ich mache auch alles komplizierter als es ist und nehme mir alles viel zu sehr zu Herzen, aber so bin ich nun mal und das kann ich nicht ändern. Es ist dunkel draußen und der Himmel ist sternenklar. Mein Radio läuft und die Texte von Linkin Park klingen mir in den Ohren. Wie sehr ich mich in die Songs der Jungs hineinversetzten kann ist schon fast ein bisschen gruselig.
Als meine Eltern feststellen mussten dass ich an der Borderline Krankheit erkrankt war, ist für sie nichts mehr wie zuvor. Für meine Mum ist die Situation am schlimmsten da sie selbst in einer Psychiatrie arbeitet und deshalb sehr genau weiß wie Personen die an dieser Krankheit litten nach einiger Zeit aussahen und ich weiß selbst dass das kein schöner Anblick ist.
Doch knnen sie mich nicht verstehen? Mein Leben ist sinnlos. Meine beste Freundin hat sich aufgrund von Lügen anderer, denen sie mehr glaubt als mir, von mir abgewandt. Wie haben Jahrelang alles miteinander geteilt und jede freie Minute miteinander verbracht und jetzt so etwas? Nur weil jemand meinte eine dumme Lüge erzählen zu müssen? Es will mir einfach nicht in meinen Kopf gehen warum jemand so etwas tut.
Ich sitze also in meinem Zimmer und tausende Gedanken gehen mir durch den Kopf. Ich singe leise bei den Songs mit um niemanden zu wecken und versuche all meine Gefühle in einem Abschiedsbrief zu beschreiben. Es würde nicht mein erster Suizidversuch werde, nein, drei hatte ich schon hinter mir, doch jedes Mal war ich zu feige um es durchzuziehen. Doch heute, heute bin ich mir sicher dass es klappt. Was soll ich denn noch hier? Keiner versteht meinen Kummer. Nicht den Kummer was die Trennung von meiner großen Liebe oder den Verlust meiner besten Freundin betraf, das können alle nachvollziehen, denn es sind Erfahrungen die jeder in seinem Leben über kurz oder lang macht. Nein, es geht um die Schmerzen zu wissen nur unter Schmerzen leben zu können. Das mag jetzt wirklich seltsam klingen und ich werde versuchen es zu erklären. In den Augen vieler sind Jugendliche oder junge Leute im Allgemeinen die sich ritzen oder auf andere Art und weiße selbst verletzten einfach nur Aufmerksamkeits- bedürftig. Doch warum will keiner verstehen dass es mehr eine Erlösung ist? Wenn ich da sitze, mir mit der Klinge über den Arm fahre und sehe wie das Blut sich langsam am Ende des Schnittes zu einem kleinen Tropfen formt und mir sanft über den Arm fließt, dann geht es mir gut. Jeder hat so seine Dinge die er braucht das es ihm gut geht und bei mir ist es das. Zumindest für den Moment. Es zeigt mir dass ich noch lebe, noch fühle und noch da bin.
Es gibt mit Sicherheit Leute bei denen es wirklich nur ist das sie Aufmerksamkeit bekommen, doch so ist es eben nicht bei allen. Ich hebe den Kopf und schaue auf die Uhr. Es ist fast Mitternacht. Mein Brief ist fast fertig und ich bin schon dabei zu überlegen wo ich den Selbstmord versuch durchführen sollte. Die Tabletten habe ich sicher in einem kleinen Döschen verstaut und daneben glitzert die frische Rasierklinge im Schein des Lampenlichts meines Zimmers.
Schnell kritzle ich die letzten Zeilen aufs Papier und stopfe sie anschließend in einen großen Umschlag. Ich hatte mir vorher schon genau Gedanken darüber gemacht wo ich ihn platzieren würde. Da gibt es diese Bushaltestelle, nur einige Meter von unserem Haus entfernt. Wie oft war ich dort abends gesessen, alleine oder mit Freunden?
Es ist eigentlich ein völlig sinnloser Platz, aber wir hatten und dort irgendwie wohl gefühlt. Ich würde diesen Ort heute das letzte Mal besuchen. Mit zitternden Knien und schweißnassen Händen stehe ich auf und wanke zum Schrank. Kein Zweifel, ich habe Angst vor dem was ich gleich tun würde, aber ich war mir gleichzeitig im Klaren darüber das es das einzig richtige sein würde. So wäre allen geholfen. Meine Familie und meine Freunde werden sich keine Sorgen mehr um mich machen müssen und die Menschen die mich nicht leiden können oder mich zutiefst verletzt haben hätten mich endlich ganz los. Ich ziehe ein weißes T-Shirt aus dem Schrank und drücke es mir aufs Gesicht. Wenn mich jetzt jemand sehen könnte, wie lächerlich würde das dann wirken? Das T-Shirt habe ich von IHM, meiner großen Liebe geschenkt bekommen. Es ist eigentlich ein ziemlich Kindisches Geschenk. Es war ein weißes T-Shirt das mir mindestens drei Nummern zu groß ist. Mit einem pinkenen Textmarker hatte er vorne drauf geschrieben "Ich liebe dich" und es mit seinem absolut herrlichen Parfüm besprüht. Ich hatte nie gedacht dass ein so primitives Geschenk, einmal das wichtigste in meinem Leben sein würde. Ich streife es mir über und packe meine Sachen zusammen. Ich schalte meinen Radio aus und werfe noch einen letzten Blick auf mein Zimmer. Tränen steigen mir in die Augen und ich kämpfe mit aller Macht dagegen an zu weinen. Auf Zehenspitzen schleiche ich durchs Treppenhaus. Zum Glück habe ich über die Jahre gelernt welche Stufen an welcher Stelle knarren und umgehe diese geschickt.
Ich treffe hinaus an die frische Luft und atme tief ein. Man hört den Wind leicht durch die Bäume rauschen, ansonsten ist es vollkommen still. Mit schnellem Schritt mache ich mich auf den Weg zu der Haltestelle und deponiere den Brief unter der Bank. Gemütlich schlendere ich durch die Straßen. Zumindest nach außen hin sieht es so aus. Innerlich bin ich dabei ganz zu zerfallen und immer mehr habe ich Angst vor dem was ich vorhabe. Mein ganzer Körper zittert und mein Herz schlägt als würde es sogleich zerspringen. Mir schießen plötzlich völlig abwegige Ideen in den Kopf. Das ganze einfach abblasen und tatsächlich nur einen Spaziergang machen. Nein, dazu war es jetzt zu spät. Meine Entscheidung war gefallen. Es ist eine recht warme Nacht und ich kann mir sicher sein das keiner meiner Freunde mir zufällig über den Weg laufen wird, da sie alle gemeinsam unterwegs sind. So, jetzt bin ich weit genug weg von unserem ehemaligen Stammplatz um meinem besten Freund eine Sms zu schreiben und ihm den Ort mitzuteilen an dem der den Brief finden wird. Schließlich sollten ihn ja schon meine Freunde finden und nicht sonst irgendwer.
Ich schicke die Sms ab und laufe weiter. Vorsichtig, um mich nicht zu verletzen, greife ich in meine Tasche und hole die Rasierklinge heraus. Wie unlogisch war das denn? Warum gehe ich so vorsichtig mit dem kleinen, glänzenden Teil um? Und das gerade jetzt, wo ich doch eigentlich sowieso den Plan verfolge mich damit zu verletzten? Ich kann es selbst nicht ganz nachvollziehen. Ich drehe sie in meinen Händen und betrachte sie von allen Seiten. Man sollte eigentlich nicht meinen dass so ein kleiner Gegenstand den Tot und gleichzeitig die Erlösung bedeuten kann. Erschrocken zucke ich zusammen als mein Handy vibriert. Ich ziehe es aus der Tasche. Ein Anruf. Ich lasse es vorsichtig zurück gleiten und ignoriere das Vibrieren. Weiter betrachte ich die silberne Klinge in meiner Hand. Mit einem Finger fahre ich über die scharfe Seite und sofort bildet sich ein Tropfen aus roter Flüssigkeit. Ich nehme sie zwischen zwei Finger und fahre mir damit den Unterarm entlang. Den Schnitt entlang bilden sich viele weitere Tropfen und meine Anspannung und die Angst beginnen sich zu lösen. Ein weiterer Schnitt, diesmal in der Armbeuge. Immer weiter schneide ich immer den Adern entlang meine Arme auf und noch immer laufe ich planlos durch die Straßen. Wo bin ich eigentlich? Ich habe nicht die geringste Ahnung und es interessiert mich auch nicht. Es ist einfach nicht mehr wichtig. Irgendwann lasse ich mich an einer niedrigen Mauer nieder. Jetzt sitze ich also hier. Allein. Tränen und Blutüberströmt. Ich suche in meiner Tasche nach der kleinen Dose in der ich die Tabletten versteckt habe. Ich lege mein Handy, meine Zigaretten und alles andere was ich bei mir habe neben mich auf den Boden. Wieder dieses Vibrieren. Genervt werfe ich einen Blick auf das Display. Meine Mum. Solche Idioten. Warum habe sie das gemacht? Meine Mum kann doch auch nichts dafür, warum lassen sie sie nicht einfach schlafen?
Ich wende den Blick wieder ab und starre auf die Dose. Ich ziehe den Deckel vorsichtig ab und lasse die Tabletten in meine geöffnete Hand fallen. Ich frage mich warum ich ausgerechnet beschlossen hatte Tabletten zu schlucken? Ich konnte es als Kind schon nicht leiden welche zu nehmen und habe bis heute Probleme damit. Warum also? Ich fange an zu lachen als mir der Gedanke kommt das ich das getan habe um mich selbst noch ein bisschen mehr zu quälen. Ich nehme eine Tablette nach der anderen und schlucke sie ohne etwas dazu zu trinken hinunter. Wieder stehe ich mit zittrigen Beinen auf. Ich will nicht einfach hier sitzen bleiben und warten. Ich laufe weiter durch die Nacht und genieße die Zeit bis es endlich vorbei sein würde. Mit der Zeit fangen schwarze Flecken an vor meinen Augen zu tanzen und ich erkenne die Straße immer undeutlicher. Irgendwann sehe ich wie ein Auto angefahren kommt und versuche mich mit aller Kraft links auf dem Gehweg zu halten, den überfahren will ich mich dann doch nicht lassen. Nur am Rande bekomme ich mit dass das Auto neben mir anhält. So sehr ich mich auch anstrenge, es gelingt mir nicht mich auf den Beinen zu halten und mit einem Ruck sacke ich auf dem Boden zusammen. Im nächsten Moment spüre ich wie mich jemand an den Haaren wieder auf die Füße zieht und mir eine saftige Ohrfeige verpasst. Es ist nicht der Schmerz den ich spüre, sondern lediglich die Bewegung.
Angestrengt kneife ich die Augen zusammen und erkenne das Gesicht meiner Mum in dem sich ihre ganze Wut, ihre Trauer und ihr Schmerz widerspiegeln. So sehr ich auch sagen versuche anzukämpfen, ich kann es nicht unterdrücken und falle ihr mit einem lauten Schluchzen in die Arme. Sie hält mich ganz fest und plötzlich bin ich eigentlich doch ganz froh dass sie bei mir ist. Ich lasse mich von ihr ins Auto setzen und wir fahren nach hause. Schnell packt sie mir einige Kleider ein während ich abwesend auf dem Bett sitze und die Welt um mich herum nicht mehr verstehe. Mein Papa ist auch da. Wie lange ist es jetzt schon her seit meine Mum und mein Daddy zusammen nachts in meinem Zimmer waren? Definitiv zu lange. Sie schicken mich ins Bad, ich solle mir das ganze Blut abwaschen. Ich sehe an mir herunter und stelle fest dass ich wirklich grauenhaft aussehe. Wie in Trance wanke ich zum Waschbecken und beginne damit mich zu waschen, doch noch bevor ich fertig bin packt mich eine Hand und zieht mich nach draußen zum Auto. Wir fahren eine lange Strecke die ich nicht kenne und mein Daddy sitzt neben mir und redet auf mich ein. Ich realisiere nicht wirklich was er sagt, ich bin nur froh darüber dass er da ist. Diesmal habe ich den Mut gehabt es durchzuziehen und es hat wieder nicht geklappt. Es sei mir wohl einfach nicht gegönnt zu sterben, so sehr ich es auch will. Die Fahrtgeschwindigkeit nimmt ab und wir halten an einem großen, hell beleuchteten Gebäude. Immer noch nicht ganz Herr meiner Sinne steige ich aus und Folge meinen Eltern und meinem Stiefvater. Als ich merke wo wir sind, drehe ich mich schnell um und laufe in die andere Richtung, doch sie sind schneller. Wieder packt mich eine Hand mit festem Griff und zieht mich zurück. Vor mir erstreckt sich ein Tresen auf dem etliche Broschüren stehen denen ich entnehmen kann das wir uns in einer Kinder und Jugendpsychiatrie befinden. Was wollen wir hier? Ich brauche das nicht, mir geht es doch gut. Meine Eltern sprechen hektisch mit der unsympathisch wirkenden Dame am Schalter. Als alles geklärt ist werde ich nach oben geführt und bekommen ein Bett auf dem Flur zugewiesen. Hier liege ich nun, frage mich warum und was das alles bringen soll...
In dem Zeitraum in dem ich mich in der Psychiatrischen Anstalt befand, kam es mir vor wie die schlimmste Woche meines Lebens. Ja, ihr werdet lachen, es war nur eine Woche, doch diese war schlimm. Nicht weil die Leute unfreundlich waren oder dass Essen nicht schmeckte, nein, es war schlichtweg die Tatsache dass ich es mir selbst zu zuschreiben hatte dort zu sein. Im Nachhinein betrachtet wurde mir klar, dass ich schon in dem Moment in dem ich meinem besten Freund die Sms geschrieben hatte, hoffte dass mich jemand fand und an meinem Vorhaben hinderte. Mittlerweile bin ich wirklich froh dass ich damals versucht habe mich umzubringen und in der Psychiatrie gelandet bin, denn sonst wäre mein Leben nicht so verlaufen wie es letztendlich verlief und würde jetzt auch ganz anders sein.
Und was noch viel wichtiger ist: Ich würde nicht die sein die ich jetzt bin!
In dieser einen Woche habe ich mir sehr viele Gedanken um mich und mein Leben gemacht und habe angefangen Gedichte und Geschichten zu schreiben, was bis heute mein ein und alles ist und mir immer wieder hilft, egal wie tief ich falle.
Alles in allem möchte ich euch damit eigentlich nur einen Rat mit auf den Weg geben: Bereut nichts was ihr in eurem Leben getan habt, egal ob positiv oder negativ, denn wäre dass alles nicht so passiert, wärt ihr heute nicht die Menschen die ihr seid und auf die ihr stolz sein könnt!!
Tag der Veröffentlichung: 29.01.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Buch widme ich meinen wenigen Freunden die mir in dieser schweren Zeit immer beigestanden haben und es bis heute tun und meiner Familie, die auch wenn ich es manchmal nicht erkennen konnte, immer für mich da war!