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Der alte B.



Morgens, auf dem Schulweg, langer Weg, lange her, da ging ich immer an ihm vorbei, schenkte ihm keine wirkliche Beachtung, war zu jung, um seine Schönheit, seine Stärke zu bemerken.
Ohne Bewunderung, morgens auf dem Schulweg - bloß nicht zu spät kommen- und ohne die nötige Ehrfurcht, wenn ich an ihm vorbei eilte. Und doch, wenn ich ihn dann sah, war da etwas, eine Verbindung, ein magisches Band, das aber nicht so stark ziehend war, wie das magische Band der Schule. Deshalb zog es mich auch nur nach der Schule, besonders wenn niemand Zeit für mich hatte, zu ihm, in sein verwurzeltes Reich, dem perfekten Ort zum spielen.
Dann kniete ich in seinem Schatten, der Abends über die weite Wiese reichte und noch die Häuser hinten bedeckte, und schob Armeen durch feindliche Verteidigungsringe. Die breiten Wurzeln, die nach einigen Verzweigungen im Erdreich verschwanden, verwandelten sich zu meinem Schlachtenschauplatz, in mein Kinderkriegstheater - Stellungskrieg, Schützengräbenkonfrontationen für Kleinarmeen in Berglandschaft.
Der Baum wachte dabei über mir.
Am deutlichsten in Erinnerung geblieben ist mir seine alte zernarbte Haut. Tiefe, breite Risse, die scheinbar durch den dicken Mantel krochen. Manche so breit und tief, dass ich meine Hand hinein legen konnte.
Er war ein alter, vernarbter Gigant. Grau, graugrün, dunkelgrau mit braun, schwarz und schwarzbraun gefleckte Rindenschichten bedeckten ihn. Er hatte unzählbare davon und jede trug ihr eigenes melancholisches Farbenspiel.
Immer wenn ich irgendwo ein abstehendes Stück abriss kam ein neuer, frischer Farbton zum Vorschein. Es war immer wieder eine Herausforderung, mich mit der Stärke des Baumes zu messen und seine pellende Baumhaut abzubrechen. Es gelang mir aber nur selten, er trennte sich nur ungern von der alten, schützenden Rinde.
Ich erinnere mich, wie groß mir der Baum als Kind immer erschien. Im Sommer, wenn ich am Stamm stand und hoch sah, fand kein Stück Himmelblau seinen Weg durch das Baumgrün zu mir hinunter. Und wenn ich zu lange hinauf sah, wurde mir schwindelig. Meine Blicke verloren sich dann irgendwo in seiner Mitte und ich fühlte Millionen Äste und Blätter, die auf mich herunterfielen, und meine Beine weich werden ließen.Ich hatte oft versucht dort hinaufzusteigen, um meine Angst zu besiegen.

Dieser Baum war eine Herausforderung für jeden Jungen. Wunderbare, einladende Arme, die einen nach oben zogen, immer höher, und je höher man kommt, desto grösser wird man selbst, wächst mit dem Baum, während die Erde und alle Sorgen unter einem, immer kleiner und kleiner werden.
Um herauf zu kommen, habe ich mich an seinen Rissen und Kanten festgekrallt, habe überall nach kleinen Möglichkeiten gesucht, an denen ich mich hochziehen konnte. Auch mal zu zweit, mit Räuberleiter - harte Sohlen, Schmerzen auf knochigen Jungenschultern. Es hatte nie zum ersten Ast gereicht. Er lag so weit weg, dass er immer unerreichbar blieb.
Aber vielleicht war ich doch schon mal oben gewesen - Ich sehe mich zwischen den Ästen hängen, einen nach dem anderen erklimmend, immer weiter, immer höher, die Blätter rauschen laut in der Luft und die Geräusche der Strasse verblassen, wie der, auf die Scheibe gehauchte Atem-

Ich bin dann viele Jahre nicht mehr den alten Schulweg gegangen. Nur noch auf Erwachsenenwegen, die nie zur Schule führten. An den alten Weggefährten, zwar an seinem Platz verwurzelt, aber, auf der langen geraden Strasse zur Schule, immer zu sehen gewesen, hatte ich schon lange nicht mehr gedacht. Um ehrlich zu sein, ich hatte ihn ganz Vergessen. Zu viele -hier sein- und zu viele -da sein-, Verantwortungen und Verantwortlichkeiten im Arbeitsalltag ließen mich ihn vergessen. Es war ja nur ein Baum. Er war ja nur da - majestätische Selbstverständlichkeit auf meinem Schulweg.
Irgendwann bin ich aber dann doch mal geschäftlich in der alten Schulwegstrasse unterwegs gewesen. Ich erinnere mich noch an den ersten Moment, als ich ihn wieder sah. Nur dass er nicht mehr da war. Ich starrte, während ich weiterging, die ganze Zeit auf diesen leeren Platz. Es kam mir vor, als stünde er immer noch dort. Nur, dass ich ihn nicht mehr sehen konnte. Aber ich konnte ihn fühlen. Es war dieses Gefühl, das ich als Kind immer hatte. Das Gefühl von Ehrfurcht, von Schwindel, von schattigen Sommertagen mit Miniatursoldaten und Panzern, und es war das Gefühl, dass etwas fehlte, das gar nicht fehlen durfte.
Sein Zauber war für mich immer noch an diesen Ort gebunden, das magische Band zog immer noch an mir. Ich ging auf meinem alten Schulweg und sah ihn klar vor mir, unverändert, der riesige Baum, seine raue, knorrige Rinde. Die Farbschichten in Pastelltönen. Die weiten starken Arme, unerreichbares Kletterparadies, mit den wunderbaren, großen, im Wind rauschenden Blättern, die ich als Kind oft aufsammelte und den Narben folgend, vorsichtig auseinander riss. Und im Winter war er nur dieses große Skelett, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er jemals wieder blühte.
Ich vermisse ihn, ich vermisse seine Ruhe, seine stille Überlegenheit. Wie er scheinbar auf mich herabsah, aber in Wirklichkeit bemerkte er mich, meine winzige Gestalt, nie.
Nur jetzt habe ich das Gefühl, dass er mich sieht.

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Tag der Veröffentlichung: 05.10.2008

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