Neulich traf ich in der Stadt eine alte Bekannte aus Studientagen. Da wir beide etwas Zeit hatten, setzten wir uns in ein Café und sprachen über alte und neue Zeiten.
Sie arbeitete mittlerweile in einem Museum.
Die Arbeit war nicht immer einfach oder spannend, aber an und zu gab es durchaus interessante Begebenheiten.
Was ich bisher nicht wusste, war, dass es anscheinend immer wieder Menschen gab, die ihren gesamten Nachlass einem Museum vererbten.
Zwar konnten sich unter den ganzen Sachen auch wirkliche Schätze befinden, aber oft waren es nur viele Kartons voller Dinge, die Menschen gerne über die Jahre hinweg anhäuften.
Ich war neugierig geworden und fragte, ob sie Hilfe bräuchte. Sie bejahte tatsächlich, denn erst letzte Woche hatten sie einen sehr großen Nachlass erhalten und bisher waren sie nur soweit gekommen, die Habseligkeiten ins Lager des Museums zu schaffen.
Wir verabredeten uns für den nächsten Tag.
Frisch ausgeruht und voller Tatendrang betraten wir das Lager, obwohl man auf den ersten Blick wohl eher von chaotischen Wirbelsturm-Attacken sprechen könnte. Überall nur Kartons und Kisten, wo man nur hinsah. Dieser Raum wurde wirklich bis zum letzten Millimeter als Lager in Beschlag genommen.
In erster Linie ging es darum alles zu sondieren und in brauch- und wegwerfbares zu trennen.
Ich atmete tief durch und wandte mich dem erstbesten Karton zu meiner Rechten zu.
Fünf Stunden und etliche verlorene Nerven später, wurde ich fündig. Es war vielleicht nicht gerade der große Fang, aber immer noch besser als 30 Jahre alte Ausgaben irgendwelcher Hausfrauenzeitschriften aus verschiedenen Ländern zu durchforsten. Ich fand einen Stapel Briefe, fein säuberlich gestapelt und mit einem roten Band verschnürt.
Ich durfte die Briefe mitnehmen und zu Hause durchlesen. Eigentlich konnte man mich nicht für solche Dinge begeistern, aber die Frau, deren Nachlass ich durchwühlt hatte, war interessant gewesen. Sie hatte unendlich viele Fotoalben, da sie anscheinend sehr viel gereist war. Zu jedem Bild hatte sie in fein säuberlicher Schrift Ort, Jahr und besondere Vorkommnisse notiert.
Vielleicht waren diese Briefe ja auch kleine Kostbarkeiten.
In meiner Wohnung angekommen, warf ich wie üblich meine Sachen auf den Boden und marschierte direkt ins Wohnzimmer.
Vorsichtig öffnete ich die rote Schleife und besah mir die Briefe genauer. Sie waren chronologisch geordnet und alle noch in ihren Umschlägen. Ich begann gleich den ersten Brief zu lesen.
Liebe Kati,
Ich freue mich, dass dein Umzug gut verlaufen ist. Es ist wirklich schade, dass dein Vater ausgerechnet in Frankreich eine neue Arbeit gefunden hat. Wir vermissen dich alle sehr!
In deinem letzten Brief hast du dich gar nicht gut angehört. Du solltest nicht immer nur das Schlechte am Umziehen sehen. Du kannst neue Orte und Menschen kennenlernen und du kannst neue Erfahrungen machen, die du hier niemals gemacht hättest.
Weil du wahrscheinlich nicht auf mich hören wirst, habe ich mir einen neuen Namen für dich ausgedacht. Für mich bist du jetzt nur noch Nostalgia.
Nostalgia, die Heimweh hat.
Bitte schreibe bald zurück!
Dein Freund Thomas
Irgendwie war das ja ganz niedlich, aber Nostalgia? Früher galt Heimweh als Krankheit und bekam deshalb den Namen Nostalgia, aber schön klingt er irgendwie trotzdem.
Ich nahm gleich den nächsten Brief zur Hand.
Liebe Nostalgia,
Sei mir bitte nicht mehr böse, wegen des Namens, er klingt doch gar nicht so schlimm und besser als den, den du mir gegeben hast, ist er ja wohl: Itchy Feet. Was soll das überhaupt heißen?
Diesen Sommer waren wir wieder nicht im Urlaub. Es wäre zu teuer, hat meine Mutter gesagt.
Dabei hatte ich schon Pläne. In die Toskana zum Wandern oder lieber Schwimmen in Griechenland oder Schnorcheln auf den Seychellen! Das wäre so schön gewesen, aber wir waren dann doch nur Grillen am Baggersee.
In deinem letzten Brief hast du wieder gesagt, dass du zurück willst. Ist Spanien nicht schön?
Und warum vermisst du ausgerechnet den nervigen Ameisenhaufen in eurem alten Garten?
Euer Haus steht immer noch leer, aber manchmal schleiche ich mich zu den Himbeersträuchern. Unsere Schätze sind noch da vergraben. Ich passe nämlich gut drauf auf!
Du musst im nächsten Brief unbedingt etwas über La Rambla erzählen. Ich habe in einem Buch gelesen, dass es dort super schön sein muss.
Schick mir auch noch unbedingt mehr Fotos von Spanien.
Dein Freund Itchy
Was für ein Spitzname, aber er passt wirklich zu ihm. „Itchy Feet“ ist ja eigentlich der englische Begriff für Reiselust, glaube ich, oder auch Fernweh, wenn man so möchte.
Die Sehnsucht nach zu Hause ist nicht rational. Oft vermissen Menschen die Kleinigkeiten, die ihr Heim ausgemacht haben und das kann dann auch ein Ameisenhaufen sein.
Ich legte mir den nächsten Brief schonmal zurecht, aber bevor ich weiterlas, holte ich mir noch eine Tasse Kaffee. Der Abend könnte noch eine Weile dauern.
Liebe Nostalgia,
Jetzt bist du schon 5 Jahre fort von hier und unsere Briefe sind das Einzige, dass mich vor dem Verrücktwerden bewahrt. Hier ist es so trostlos und langweilig. Eigentlich hatte ich vor nach der Schule zu reisen oder zumindest irgendwo anders hin zu ziehen. Vor allem jetzt, da mein Vater uns verlassen hat und meine Mutter krank ist. Bevor du mich jetzt beschimpfst, keine Sorge, ich bleibe hier. Ich kann doch meine Mutter nicht allein lassen.
Wie ist London so? Warst du schon in diesem Wachsfigurenkabinett?
Ich weiß nicht, was ich dir noch erzählen soll. Hier passiert doch nichts!
Deinem kleinen Rosenbusch geht es übrigens gut. Ich habe dir doch versprochen, dass ich mich um ihn kümmere. Leider ist vor zwei Wochen das Vogelhäuschen kaputt gegangen, dass wir im Werkunterricht gebastelt hatten, aber vielleicht lässt es sich ja reparieren.
Bitte schick ganz viele Fotos.
Dein Freund Itchy
Die nächsten Briefe waren ein paar Jahre später datiert. Vielleicht hatten sie sich nicht mehr so häufig geschrieben oder sie hatte einfach nicht mehr alle Briefe finden können.
Liebe Nostalgia,
Jetzt bist du ja noch weiter weg, als bisher. Tokio, wow! Da würde ich auch gerne studieren oder wenigstens mal zu Besuch kommen.
Du hattest geschrieben, dass es dort sehr viele Menschen gibt und das alles anders ist. Es riecht sogar anders. Warum hast du gefragt, ob man hier in der Nähe auch deine Fächer studieren kann? Was willst du denn hier? Es ist immer noch so langweilig wie früher auch.
Ich habe meine Ausbildung mittlerweile abgeschlossen. Ich arbeite in einer Bank, so langweilig!
Hast du schon jemanden kennengelernt?
Bitte hör auf ständig nach meinem Hund zu fragen, er lebt noch, auch wenn er fast nicht mehr laufen kann. Er ist nunmal alt!
Ich warte gespannt auf neue Fotos von dir!
Dein Freund Itchy
Jetzt auch noch Japan. Da kann man wirklich neidisch werden! Sie ist also ein richtiger Globetrotter. Bei all den Erlebnissen und Eindrücken, die sie sammeln konnte, vermisst sie immer noch ihre alten Freunde, ihr altes Haus, einfach alles.
Liebe Nostalgia,
Ich hätte mich auch sehr gefreut, wenn du zu meiner Hochzeit hättest kommen können. Wir wollten sie extra im Sommer abhalten, weil du ja meintest, dass du im Herbst zuviel zu tun hast.
Wir wollten dich eigentlich in New York besuchen, so als Flitterwochen, aber ich habe keinen Urlaub bekommen.
Deshalb waren wir nur übers Wochenende hier in der Nähe. Die Feier war wirklich schön und dir hätte es bestimmt auch gefallen, überall waren Rosen, aber nur rote und weiße. Meine Frau hat sich dafür entschieden.
Dein altes Haus wurde vor einiger Zeit neu vermietet an eine junge Familie. Sie kümmern sich gut um alles. Ich bin vor kurzem vorbei gelaufen und da kam mir eine Idee.
Ich habe unsere Schätze ausgegraben und schicke sie dir mit diesem Brief. Es soll dich an zu Hause erinnern und dir vielleicht helfen, damit du endlich aufhörst deine ständigen Reisen zu bedauern.
Die letzten Fotos waren einfach toll! Schick ruhig mehr!
Dein Freund Itchy
Ob sie wohl auch jemanden gefunden hat? Ich holte mir eine weitere Tasse Kaffee und las weiter.
Liebe Nostalgia,
Der Brief war etwas gewellt. Hast du geweint? Du hast erzählt, dass Kanada sehr schön ist und du dich dort wohl fühlst, warum dann die Tränen?
Ich hoffe, dass ich dich etwas aufmuntern kann. Ich habe extra ein Foto mitgeschickt. Das sind meine Zwillinge, Konrad und Kati, nach dir. Ich bin überglücklich und möchte, dass du es auch bist. Deinem Mann geht es doch hoffentlich gut oder macht ihm immer noch sein Beinbruch zu schaffen? Vielleicht könnt ihr uns mal besuchen. Wir würden uns wirklich freuen!
Dein Freund Itchy
Also ist sie zumindest nicht mehr allein und scheinbar hat sie auch einen Ort gefunden, der ihr gefällt. Vielleicht überwindet sie ja ihr Heimweh bald.
Liebe Nostalgia,
Ein weiterer Sohn, Kilian. Meine Frau mag nunmal den Buchstaben K. Was soll ich da noch sagen?
Wie geht es deiner Familie? Kommt deine Tochter nicht bald in die Schule?
Dein Sommerhaus in Italien ist wunderschön. Ich mochte die Amalfi-Küste immer schon. Ich würde dich so gern dort besuchen, aber wir müssen leider unser Haus abbezahlen.
Hat dir das Geschenk meiner Tochter gefallen? Das sind abgefallene Blätter deines Rosenbusches. Kati hat sie selbst gesammelt.
Dein Freund Itchy
Die nächsten Briefe verschlang ich regelrecht. Es war schön über das Leben dieser beiden Menschen etwas zu erfahren. Zwei Personen, die eigentlich sehr unterschiedlich waren. Beide verband einzig die Sehnsucht. Bekanntes und Neues im Wechsel der Zeit. Es kam mir bekannt vor. Manchmal fühlte ich mich genauso.
Die letzten beiden Briefe lagen nun vor mir. Einer war noch von Itchy, der andere von Nostalgia selbst. Warum sie einen ihrer eigenen Briefe aufbewahrt hatte, wusste ich nicht, aber vielleicht würde ich ja beim Lesen den Grund erfahren.
Liebe Nostalgia,
Die ganzen Jahre über habe ich mich beschwert, dass ich hier weg will. Das ich reisen möchte an unbekannte und weit entfernte Orte. All das, was du getan hast, aber ich habe es nie. Warum, dass ist schnell beantwortet. Ich hatte keine Angst, aber ich befürchtete, dass wenn ich meine Sehnsucht gestillt hätte, ich vielleicht gar nicht glücklich darüber gewesen wäre.
Nun bin ich alt und blicke auf mein Leben zurück. Ich habe ein wundervolles Leben gehabt, dass ich nicht schätzen konnte. Zu sehr war ich von dieser anhänglichen Sucht befallen, denn nichts anderes ist es doch, die Sehnsucht. Sie lässt uns schwelgen und träumen und am Ende verschwindet sie einfach und lässt einen allein zurück.
Meine liebe Freundin, Fernweh ist nicht viel besser als Heimweh, denn es ist ein schmerzhafter Wunsch, der einen die Augen verschließen lässt vor der Lösung.
Wir sind da zu Hause, wo wir uns wohl fühlen. Wir erleben ständig neues, wenn wir glücklich sind. Das ist was ich dir sagen wollte. Auch wenn ich dafür einige Jahre gebraucht habe.
Dein Freund Itchy
Warum muss man für solche Lösungen immer erst alt werden? Weil nur mit dem Alter die Weisheit kommt oder weil wir tatsächlich, wie Itchy sagte, unsere Augen verschließen, weshalb wir in Wahrheit süchtig sind?
Ich nahm den letzten Brief zur Hand. Kurz zögerte ich, da ich mir nicht sicher war, ob ich wirklich auch Nostalgias Gedanken lesen wollte.
Ein neuer Kaffee und ich legte los.
Lieber Itchy,
Ich war so dumm! Viele Jahre habe auch ich mich beschwert und ständig nach der Heimat gerufen. Dabei habe ich all die Jahre alles bei mir gehabt, was ich brauchte.
Auch ich hatte ein schönes Leben. Durch meine Reisen habe ich viele Menschen und Orte gesehen und keine Bekanntschaft möchte ich missen. Und trotzdem war ich immer unzufrieden. Ständig dachte ich, dass etwas fehlen würde und das es mein zu Hause wäre.
Das war falsch! Mein Heimweh war nichts weiter, als der selbstsüchtige Wunsch nach etwas, dass es nie gegeben hat. Eine Zeit, die so gar nicht passiert war.
Einzig meine Vorstellung ließ Erlebnisse in einem wunderschönen Licht erscheinen. Nur meine Phantasie wollte mir vorgaukeln, dass mir etwas abhanden gekommen wäre.
Auch ich bin alt geworden und habe verstanden. Mein Heimweh wird wohl niemals ganz verschwinden, aber vermissen werde ich nur dich.
Deine Briefe, deine Geschichten und die Verbundenheit im Geiste! Das war mein Heimweh! Das war meine Sehnsucht!
Ich wollte dir diesen Brief eigentlich ins Grab legen, aber ich konnte es nicht. Ich sah deine trauernde Familie und dachte an meine eigene.
Ich fuhr nach Hause und sammelte alle Briefe von dir. Das war mein neuer Schatz!
Deine Briefe stillten mein Heimweh und ich bin nie dazu gekommen es dir zu sagen.
Jedes Mal, wenn mich die Sehnsucht wieder packt und das Heimweh riesig erscheint, dann nehme ich dich an die Hand.
Deine Freundin Nostalgia
Ich hatte nie sonderlich darüber nachgedacht. Sehnsüchte sind nicht böse oder schlecht, aber sie können schmerzhaft sein. Sie können einen vergessen lassen, sie können einen betäuben.
Das ist auch in Ordnung, solange man sich dabei nicht selbst vergisst.
Heimweh kann auch hilfreich sein, wenn man nach einer langen Reise einen Ort hat an den man zurückkehren kann.
Nostalgia war heimgekehrt und Itchy Feet hatte sich auf eine Reise begeben.
Ich brachte am nächsten Tag die Briefe zurück und versteckte sie in einem der vielen Kartons. Vielleicht würde sie jemand anderes entdecken und über Ferne und Nähe nachdenken, über die Sehnsucht hier zu sein und nicht dort und gleichzeitig dort und nicht hier.
So endet nun auch diese Geschichte von Itchy und Nostalgia.
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2011
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