Liebe, Rache, schöne Weisheit
Ich atmete noch einmal tief durch und betrat dann den Gruppenraum. Einige Wochen waren jetzt schon vergangen und die Gemüter hatten sich noch nicht wirklich beruhigt. Poseidon wollte erstmal nicht wieder kommen. Thor war auf Reisen. Er machte für seine neue Pflegeserie Werbung („Thor Real – Du bist es dir wert!“). Ja, er ist selbst auf diese Idee gekommen!
Loki ließ sich nur unter Zwang hier blicken und die anderen machten sowieso immer was sie wollten. Das ist das Problem an Göttern, keine Konsequenzen. Wie soll man da vernünftig arbeiten?
Die heutige Gruppe versprach allerdings interessant zu werden.
Die Zusammenstellung wäre bestimmt auch als Talkshow ganz passend.
Ich ging weiter in den Raum hinein und sah mich neugierig um. Auf der rechten Seite standen die drei Furien Alekto, Dira und Ultio. Sie standen alle mit einem Kaffee in der Hand an einem Tisch und unterhielten sich leise. Auf der linken Seite standen Hel und Medusa. In der Mitte stritten sich vier Göttinnen um ihre Plätze. Es waren Liebesgöttinnen: Freya, Hathor, Aphrodite und Venus.
Das konnte doch nur spannend werden.
Ich stellte mich an einen Stuhl, krallte mich an der Lehne fest und atmete noch einmal tief durch, bevor ich anfing zu sprechen: „Guten Tag! Ich freue mich, dass ihr heute so zahlreich erschienen seid!“ Ich glaube, dass die Stühle mir tatsächlich zugehört haben. Um etwas mehr Lautstärke bemüht, meinte ich: „Meine Damen! Ich begrüße euch herzlich zur heutigen Gruppenstunde!“ Hathor warf mir nur kurz einen giftigen Blick zu. Als ich zum dritten Mal, wieder etwas lauter, anfangen wollte, fiel mein Blick auf Hel. Sie nickte nur kurz und pfiff dann in die Runde. Alle drehten sich zu ihr um und begaben sich doch tatsächlich zu den Plätzen. Einzig in der Mitte hatte sich die Lage immer noch nicht beruhigt. Die Liebesgöttinnen weigerten sich auf den Stühlen Platz zu nehmen. Jede hatte ihre eigene Sitzgelegenheit mitgebracht. Leider sind Sänften recht groß und der Raum ist begrenzt.
„Dite, bitte, was soll das? Das ist mein Platz!“ Venus hatte sich erhoben und stand nun mit den Händen an den Hüften vor ihrer Kollegin.
„Venus, wenn du dich auf diesen Dreck setzen willst, dann machs doch. Ich bleibe hier!“
Mit diesen Worten verschränkte sie die Arme vor der Brust. Hathor stand nun ebenfalls auf, nahm eine wunderschön bestickte Decke von ihrer Sänfte und breitete diese über einen Stuhl.
„So geht es auch, wisst ihr? Wolltet ihr euch nicht hier helfen lassen?“ Die Göttinnen nickten und setzten sich nun alle auf die Stühle.
„Gut, wenn es sein muss. Das ist überhaupt nicht gut für meine Haare! Ich sollte sie vorsichtshalber bürsten!“ Freya nahm eine goldene Bürste und strich liebevoll über ihre lange blonde Mähne.
„Sehr schön. Da nun alle sitzen. Wer möchte heute anfangen etwas über sich zu erzählen?“ Motiviert und lächelnd sah ich in die Runde. Medusa meldete sich. Ich nickte ihr zu und war gespannt, was sie bedrückte.
Medusa war in ein enges Lederoutfit gekleidet (dafür muss man erstmal die Figur haben, dachte ich neidisch) und ihre Schlangenköpfe zischten um die Wette.
„Hallo, mein Name ist Medusa. Wie ihr seht bin ich nicht so furchtbar hässlich, wie einige Autoren mich hinstellen wollen. Seid ich diese neuen Kontaktlinsen habe, erstarrt auch fast niemand mehr zu Stein, wenn er mich sieht. Ich bin hier, weil ich mit meinem Image absolut unzufrieden bin. Ich finde es unfair und gemein. Ich habe auch Gefühle!“ Alle nickten mitfühlend. Mit dem Image haben viele mythologischen Wesen und Götter Schwierigkeiten. Zum einen liegt es an der ungenauen Quellenlage, beleidigten Autoren und zum anderen auch an diversen Medien, die viele dieser Personen als böse, raffgierig oder hässlich darstellen.
„Hi, ich bin Hel, Herrscherin der nordischen Unterwelt. Wie ihr ja alle wisst, bin ich Halbriesin und das belastet mich. Es ist wirklich nicht leicht einen Mann zu finden, der nicht sofort schreiend vor mir wegläuft. Genau wie Medusa leide ich unter diesem Image. Gibt es irgendeine Möglichkeit etwas dagegen zu tun?“ Darüber habe ich nie nachgedacht, wenn ich ehrlich sein soll. Mythologische Wesen wünschen sich auch eine Beziehung und damit ist nicht die Beziehung zu ihren Feinden oder dem Essen gemeint. Fälschlicherweise werden sie oft als Monster bezeichnet und das nur, weil sie sich um den Abschaum der Sterblichen kümmern.
„Die Judikative des Schicksals zu sein ist ein wirklich harter Job!“ meinte Dira. Als Furie wusste sie nur zu gut, was es hieß, wenn die Dates schreiend davonliefen. Dabei sehen Furien, wenn sie nicht gerade arbeiten, ganz nett aus. Sie tragen normale Klamotten, haben normale Frisuren und keine Klauen, Reisszähne oder irgendetwas in der Richtung. In vielen Berufen gibt es vorgeschriebene Arbeitskleidung, das war in ihrem Fall nicht anders.
„Was ist mit euch Liebesgöttinnen? Habt ihr vielleicht einen Vorschlag?“ Sie waren irgendwie nicht ganz bei der Sache, aber das war nicht mal persönlich gemeint. Liebesgöttinnen leiden, zumindest ist das mein Eindruck, an ADS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom). Bisher war das auch noch nie ein Problem, aber heutzutage ist es wichtig, dass wir konzentriert einer sinnvollen Beschäftigung nachgehen! Das habe ich zumindest gehört!
Hathor feilte ihre Fingernägel, Aphrodite cremte sich die Arme ein und Freya bürstete immer noch ihre Haare und sah verträumt aus dem Fenster. Einzig Venus sah gequält lächelnd in meine Richtung.
„Als ob es so einfach wäre. Aber natürlich glaubt ihr jetzt wieder, dass eine Liebesgöttin alles über die Liebe weiß!“ Die Furien nickten und auch Hel und Medusa sahen hoffnungsvoll zu ihr.
„Selbstverständlich haben wir viele Dates und die Zahl unserer Anhänger ist,“ sie errötete etwas,
„recht groß, aber ein Geheimrezept für die Liebe gibt es nicht. So leid es mir auch tut!“
Venus stupste Aphrodite kurz an. Diese unterbrach das Eincremen, verdrehte die Augen und sah dann noch mal auf Venus. „Dite, komm schon! Es gibt zwar kein Geheimrezept, aber ein paar Ratschläge haben wir schon.“
Aphrodite nickte. „Ist ja gut. Eins müsst ihr euch von Anfang an fragen: Will ich nur Spass oder eine ernsthafte Beziehung, die gegen Schwefel, Feuer und Blut gewappnet ist? Ein bisschen Spass ist schnell gefunden und als ganzkörperliches Ausdauertraining ist es vollkommen in Ordnung.
Die andere Sache wird da schon schwieriger. Nehmt Hephaistos und mich. Mein werter Gatte ist wundervoll. Als wir uns kennenlernten stellten wir sofort Regeln auf und diese bewähren sich seit Jahrtausenden!“ Hathor hatte aufgehört ihre Nägel zu feilen und wandte ihre Aufmerksamkeit der Unterhaltung zu. Freya bürstete immer noch. Medusa riet ihren Schlangenköpfen leiser zu zischen, damit sie Aphrodites Tipps besser verstehen konnte.
„Und was sind das für Regeln?“ Venus musste bei dieser Frage laut lachen. „Sie haben eigentlich nur eine Regel. Er bleibt in seinem Teil der Residenz und bastelt an seinen Projekten herum. Sie sehen sich nur, wenn Dite es auch will.“ Die Liebesgöttin nickte lächelnd.
„Ich würde auf jeden Fall die Finger von Liebestränken lassen. Im Verkaufsgespräch unschlagbar, aber ansonsten Schwachsinn.“ Hathor beteiligte sich nun auch am Gespräch. Ich finde das ganz toll. Endlich reden sie miteinander und schauen nicht nur giftig in meine Richtung.
„Venus, du brauchst jetzt gar nicht so zu gucken. Ich kenne deine Marketingstrategie! Mädels, wenn ihr eine Beziehung wollt, dann sucht nicht danach. Potenzielle Partner werden dadurch eher abgeschreckt.“ Hathor war richtig in Fahrt und ich befürchtete fast eine Eskalation, aber Venus lächelte nur.
„Und wie sollen sie dann jemanden finden, Hatti? Wichtig ist nicht, dass man sucht, sondern wo!“
Venus liebte Spitznamen und sie gab jedem einen, ob diese es nun wollten oder nicht.
„Da hat sie recht! Ihr müsst darüber nachdenken, was ihr eigentlich sucht. Welche Eigenschaften muss euer potenzieller Partner haben?“ Aphrodite lächelte selbstzufrieden. Die Furien, Hel und Medusa wirkten nachdenklich. Ich wollte ihnen noch etwas Zeit geben über das Gesagte nachzudenken. Freya bürstete übrigens immer noch ihr Haar.
Medusa sah vorsichtig zu Venus. „Könntest du mir nicht zufällig die Nummer deines Sohnes geben?“ Verwirrt sah die Liebesgöttin auf. „Von Amor meinst du? Ähm, schon, aber warum?“
Amor war aus einer Verbindung mit Mars, dem römischen Kriegsgott, entstanden. Er ist der Gott des sich Verliebens und er sieht nicht wie ein pausbäckiger Barockengel aus.
„Naja, also, nach dieser Geschichte mit diesem Verräter, haben wir uns auf der Abschlussparty ganz nett unterhalten, aber als Bacchus (römischer Weingott) dann mit seiner Truppe auftauchte, habe ich ihn aus den Augen verloren.“
Aphrodite und Venus warfen sich vielsagende Blicke zu. „Frag doch Loki. Die Beiden haben doch dieses Reiseunternehmen für Seelen!“
Die Gorgonin seufzte frustriert: „Er will mir die Nummer aber nicht geben. Er sagte, dass es nicht sein Problem wäre.“
Hathor verdrehte genervt die Augen. „Venus, gib ihr doch die endlich die Nummer! Was kann schon passieren?“ Tja, was wohl? Es könnte einiges schief laufen, aber ich schwieg mich darüber lieber aus. Medusa und Amor? Ich weiß nicht. Bisher konnte man nicht sagen, dass die Stunde allzu gewinnbringend verlief. Ich sollte besser einschreiten.
„Meine Damen! Meiner bescheidenen Meinung nach, wäre es nicht abwegig, wenn ihr euch zusammenschließt. Wer könnte bessere potenzielle Partner ausfindig machen, als ihr Liebesgöttinnen, für die da!“ Nachdem ich es ausgesprochen hatte, fiel mir erst auf, dass meine Formulierung nicht gut gewählt war. Hel erhob sich langsam von ihrem Platz und blickte mich aus funkelnden Augen an. Medusas Schlangenköpfe zischten wütend. Von Seiten der Furien kam mir dunkler Rauch entgegen, der mir in den Augen brannte.
Ich stand nun auch auf und schmiss dabei meinen Stuhl um. Gequält lächelte ich in die Runde. Hel und Medusa kamen langsam näher und die Furien glühten regelrecht vor Wut.
Mir blieb nichts anderes übrig als wegzurennen. Panisch lief ich aus dem Raum. Ich musste mich irgendwo verstecken bis die Gemüter sich beruhigt hatten. Das konnte mitunter auch Wochen dauern. Das letzte was ich mitbekam, bevor ich das Zimmer verließ, war: „Dite, sollten wir ihr nicht helfen?“
„Warum? Sie ist selbst schuld! Da muss sie jetzt alleine durch! Oh, ist das die neue Haarkur von der du erzählst hast?“ Ich hetzte durch die anderen Räume und versuchte so schnell wie möglich den Treppenaufgang zu erreichen. Die Jagd würde sich noch eine Weile hinziehen, das war mir klar. Die Liebesgöttinnen würden einfach verschwinden, außer Freya wahrscheinlich. Sie bürstet bestimmt immer noch ihr Haar und sieht verträumt aus dem Fenster.
Was mich erwarten würde, wenn die Furien mich fanden, wollte ich mir nicht ausmalen. An dieser Stelle unterbreche ich meine Ausführungen und verbleibe hoffnungsvoll in meinem Versteck.
Tag der Veröffentlichung: 02.12.2011
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