Cover

Wie ich meinen Verstand verlor


Wie ich meinen Verstand verlor



Vor einiger Zeit war ich ernsthaft am Überlegen ob ich nicht einen kompetenten Arzt aufsuchen sollte. Einen Therapeuten, der sich mit solchen Fällen auskennt. Wahrscheinlich musste es so kommen. Irgendwann war es eben soweit. Ich verlor meinen Verstand. Zumindest war das die einzig logische Erklärung für mich. Was ist also passiert?
Ich war in der Stadt um irgendetwas einzukaufen, was weiß ich allerdings nicht mehr, das ist aber auch nicht wichtig. Meiner Wenigkeit fiel ein Schatten auf, der mich zu verfolgen schien. Wenn man den Medien Glauben schenken will, leben wir sowieso in ständiger Gefahr. Als ich mich umsah war da aber nichts. Ich ging also weiter und dachte mir nichts dabei. Dieser mysteriöse Schatten trat aber immer öfters auf. Und dann fing ich auf einmal an eine Stimme zu hören. Zuerst verstand ich nichts. Es war nur ein Wispern und Flüstern. Ich tat das mit einer Handbewegung ab und dachte nicht weiter darüber nach. Das Wispern wurde immer drängender. Immer noch verstand ich kein Wort. Dann einige Tage später hörte ich es ganz deutlich. Die Stimme flüsterte immer wieder: Kauf Gummibärchen!
Ich drehte mich um, vielleicht war es nur irgendein Idiot, der mich verarschen wollte, aber hinter mir stand niemand. Das Flüstern hörte ich immer öfter. Mittlerweile mehrmals am Tag. Irgendwann war ich so genervt, dass ich loszog und Gummibärchen kaufte. Ich hatte mir überlegt, dass es vielleicht mein Unterbewusstsein war, dass sich mir offenbarte, aber warum Gummibärchen? Warum nicht Kaugummi oder Bonbons?
Ich hatte eine Tüte gekauft und war zufrieden. Eine Weile, so ungefähr zwei Stunden, schwieg die Stimme. Dann begann sie von neuem: Kauf Gummibärchen! Ich sah zu meinem Drucker und meinte, dass ich doch welche gekauft hätte. Dann war wieder ein Wispern zu hören: Kauf mehr Gummibärchen!
Das ging wieder einige Tage lang. Also kaufte ich mehr. Mittlerweile hatte ich acht Tüten zu Hause stehen. Nachdem ich über Wochen hinweg Gummibärchen gekauft hatte schwieg die Stimme und ließ mich für kurze Zeit in Ruhe.
Ich hatte kein einziges Gummibärchen gegessen auch nicht nach zwei Monaten. Die Stimme kam wieder, trotz meines beachtlichen Vorrats. Diesmal flüsterte sie mir zu die Tüten zu öffnen. Ich fragte wieder meinen Drucker: Etwa alle? Mein Drucker gab ein Summen von sich, das ich als Zustimmung deutete. Ich öffnete also die Tüten. Die Stimme sagte mir, dass ich sie ausschütten solle, was ich auch tat. Danach sollte ich mir überlegen, was ich mit den Gummibärchen tun wollte. Ich überlegte und überlegte, aber mir fiel nichts Vernünftiges ein. Was sollte man auch mit einigen Kilo Gummibärchen anfangen? Sollte ich sie an arme hungernde Kinder verteilen? Sollte ich vielleicht ein gigantisches Kunstwerk aus Gummibärchen bauen? Nichts von alledem. Den wahren Grund sollte ich aber erst später erfahren.
Ich saß also vor einem Berg Gummibärchen. Weil mir langweilig wurde begann ich zunächst sie nach Farben zu sortieren. Die weißen schob ich etwas weiter weg, da mir diese Geschmacksrichtung nicht mundete. Als ich fertig war erschien der Schatten neben mir. Ich weiß, dass es nicht mein eigener sein konnte, da meiner an der Wand gegenüber klebte und genauso verdutzt herübersah. Ich versuchte zuerst ihn nicht zu beachten, aber er drängte sich immer in mein Blickfeld egal wohin ich auch sah. Ich sprach ihn also an: „Was?“ Der Schatten verschwand und die Stimme war wieder zu hören. „Was ist mit den Anderen?“ Fragend sah ich mich um. „Die Äußeren!“ Mein Gesicht zeigte nur eine einzige Reaktion darauf: HÄH????
Fortan war die Stimme mein ständiger Begleiter und solange ich die Gummibärchen in Ruhe ließ wurde ich auch nicht gezwungen neue zu kaufen. Was für eine absurde Geschichte, nicht wahr? Na ja, es kam aber noch viel schlimmer.
Nicht nur, dass mir dieser Schatten ständig folgte. Nein, die Stimme fing an mir Vorschriften zu machen. Was ich anziehen soll, was ich essen soll. Die Stimme mochte z.B. keine Röcke und wehe, wenn ich geplant hatte ein Kleid anzuziehen. Sie riet mir zu Jeans, T-Shirt und Boots. Ich ließ mich darauf ein, da ich nicht noch länger mit ihr darüber diskutieren wollte. Beim Essen machte sie mir am wenigsten Vorschriften. Eigentlich durfte ich so ziemlich alles essen nur keine Gummibärchen. Fragt lieber nicht, wie es bei mir zu Hause aussah. Überall nur Gummibärchen. Ahhhhhh! Schrecklich!
Mein ganzes Leben bestand nur noch aus diesen Dingern. Ich habe irgendwann angefangen sie farblich sortiert in Tüten zu verpacken, dann habe ich sie in den Keller verfrachtet. Keine Ahnung, was sie dort unten machen, mir ist es auch ehrlich gesagt vollkommen egal. Nur sollte es mir nicht egal sein, sagte zumindest die Stimme zu mir. Das Flüstern machte mir klar, dass ich eine Armee aufstellen solle. Eine Armee aus Gummibärchen. Klingt verrückt? Das ist es auch. Ehrlich, aber ich habe es trotzdem gemacht. Ich sollte mit meiner Armee all jene beschützen, die unterdrückt und vernachlässigt in ihrem Dasein resignieren. Ich sollte sie befreien. Bevor ich jedoch in diesen Krieg zog, wollte ich noch das Feindgebiet auskundschaften. Ich tarnte mich, indem ich eine Mütze und eine Sonnenbrille trug. Mit dunklen Klamotten fuhr ich ins Feindgebiet. Eine Straße vorher blieb ich allerdings stehen und parkte. Dann schlich ich vorsichtig näher. Ich hatte einen ungünstigen Moment erwischt. Der Feind brachte soeben viele Gefangene in ihr Hauptquartier. Langsam näherte ich mich und beobachtete alles. Ich sah wie verzweifelt diese Unschuldigen nach Freiheit lechzten. Ich wusste, was zu tun war.
Ich fuhr wieder nach Hause und besorgte mir übers Internet eine Kamera und was man sonst noch für eine Überwachung nützlich sein könnte. Die Sachen ließ ich an eine Nachbarin schicken, die sowieso gerade im Urlaub war.
Meine Wohnung wurde zur Kommandozentrale umfunktioniert. Ich hatte mir einen ganz tollen Plan zurechtgelegt. Die einzige Möglichkeit, die mir noch blieb, war in das feindliche Gebiet einzudringen und die Gefangenen zu befreien. Sollte mir ein Feind gefährlich werden, müsste ich ihn töten. Das war klar. Tagelang patrouillierte ich vor meiner Armee und trichterte ihnen meinen Plan ein.
Nur die Mission zählte. Wir mussten Erfolg haben und dafür war Teamstärke ausschlaggebend. Niemand durfte sich unterkriegen lassen. Besonders wichtig waren die Ablenkungsmänöver an den beiden Eingängen. Nur dadurch würde ich genügend Zeit bekommen, um mich hinein zu schleichen und die Gefangenen zu befreien. Wir durften uns durch nichts aufhalten lassen, damit diese Ungerechtigkeit ein für alle Mal aus der Welt geschafft werden konnte und zwar durch uns.
Ich ließ meine Armee Übungskämpfe absolvieren, um sie auf den Ernstfall vorzubereiten.
Das Training mag anstrengend gewesen sein, da viele am Ende eines Tages nur noch auf dem Rücken lagen und schwiegen. Das war nunmal nötig und sie verstanden es.
Ihre Unterstützung war grenzenlos. Die Begeisterungsrufe tönten zum Himmel und ich wusste, dass es gut war. Mit erhobenem Haupt bewegte ich mich durch die Stadt und erfreute mich der letzten Momente vor dem Angriff. Sie sollten zerschmettert werden. Sie sollten vernichtet werden, damit niemand mehr es wagen würde so eine grausame und unwürdige Behandlung durchzuführen.
Dann war es soweit.
Ich hatte meine Armee an strategisch günstigen Plätzen aufgestellt. Sie warteten nur auf mein Zeichen, dass sah ich ihnen ganz genau an. Ich schlich mich näher heran und beobachtete die Lage. Es war ruhig.Vielleicht zu ruhig, aber darüber wollte ich mir keine Gedanken machen. Niemand hielt sich draußen auf. Meine Feinde hatten sich im Inneren verschanzt. Feiglinge!
Ich schlich mich weiter und konnte letztendlich ins feindliche Gebiet vordringen. Zuerst wollte ich sehen, wo sie die Gefangenen eingekerkert hatten, aber was ich dann erblickte, überstieg jegliche Vorstellung. Endlos erscheinende Reihen mit dutzenden Gefangenen, die verzweifelt auf mich herunter sahen.
Als mich plötzlich jemand von der Seite her ansprach, dachte ich schon, dass wir aufgeflogen wären. „Kann ich ihnen irgendwie helfen?“ Geschockt sah ich zu ihm herüber. Mein Puls beschleunigte ins unermessliche. Meine Atmung wurde schneller. Schweiß bildete sich auf meiner Stirn. Ich konnte nur noch Verstärkung rufen. Ich zückte also mein Funkgerät und gab das Zeichen. Aber es kam niemand. Verzweifelt rannte ich durch die Gänge und versuchte meinen Verfolgern zu entkommen. Wo sollte ich hin? Was sollte ich tun? Ich war auf mich alleine gestellt. Auf einmal standen sogar zwei vor mir. Ich wusste was zu tun war. Lebend würden die mich nicht kriegen. „Ich werde mich niemals ergeben!“ Leider blieb meine erwartete Reaktion aus. Sie sahen mich nur ungläubig an. „Wie konntet ihr das nur tun? Wer hat euch das Recht gegeben all diese Gefangenen zu nehmen?“ Ein Mann kam auf mich zu und wollte mich berühren. Ich wich zurück. „Hier sind keine Gefangenen. Dies hier ist ein Lebensmittelgeschäft.“ Damit wollten sie mich nur hereinlegen. Das war mir klar. Ablenkungsmanöver. Das kann ich auch. Ich täuschte einen weiteren Rückzug vor, nur um dann vorzupreschen und an meinen Feinden vorbei zu rennen um wenigstens noch ein paar Gefangene befreien zu können. Als mein Blick kur zum Fenster hinausging, sah ich was sie meiner Armee angetan hatten. Sie hatten sie getötet, alle!
Ich sah noch, wie einer von ihnen auf meinen treuen Kriegskameraden herumtrat. Ich war am Boden zerstört. Ich hatte es versucht. Wirklich. Erschöpft ließ ich mich in einer Ecke nieder und ließ den Kopf hängen. Und dann vernahm ich ganz leise irgendwo im Hintergrund ein Kichern. Hektisch versuchten meine Augen herauszufinden, woher es kam. Anstatt die Quelle auszumachen, sah ich ein paar Männer, die mich gefangen nahmen und in ein Auto zerrten. Der Feind hatte gesiegt.
Resigniert schwieg ich die ganze Zeit über. Ich wurde in ein Gebäude geschafft, dass mir unbekannt war. Überall liefen sie in weißer Kleidung herum, aber sie waren sehr nett zu mir. Ich bekam ein Zimmer und dann spritzten sie mir irgendetwas und ich schlief ein. Als ich aufwachte, stand ein Mann neben mir, der ebenfalls weiß gekleidet war. „Wie geht es Ihnen?“ Ich zog die Decke über meinen Kopf. „Wissen Sie, wo sie hier sind?“ Ich schüttelte den Kopf unter der Decke. „Hier können wir Ihnen helfen! Wollen Sie nicht mitkommen?“ Vorsichtig lugte ich hervor. Ich gab mich geschlagen und folgte ihm einen Gang entlang. Wir hielten an einem Zimmer indem schon einige andere saßen. Ich setzte mich auf einen leeren Stuhl und starrte die anderen an.
„Wir haben jemand neues in unserer Gruppe. Sie wollte Gummibärchen befreien.“ Eine Frau neben mir sah mich dümmlich grinsend an. „Ich mag Gummibärchen. Die sind lecker.“ Geschockt sah ich sie an. Wie konnte sie nur? Wo bin ich hier nur gelandet?
Na ja, langer Rede kurzer Sinn, ich bin eingewiesen worden. Ich weiß nach wie vor nicht, warum ausgerechnet ich ausgewählt wurde. Die Stimme schwieg beharrlich. Vielleicht hatte ich sie beleidigt? Ich weiß es nicht. Eine Weile blieb ich dort, dann wurde ich wieder entlassen. Nach einigen Tagen in meinem gewohnten Leben bemerkte ich jedoch wieder den Schatten. Und kurz darauf kam wieder die Stimme: „Na?“ Ahhhhhh!
„Tut mir leid, ich war beschäftigt, sonst hätte ich mich früher gemeldet. Das mit den Gummibärchen lief nicht gut. Schade!“ Ich nahm das Telefon in die Hand um meinen Arzt zu kontaktieren. „Der wird dir auch nicht helfen können. Vertrau mir!“ Wie sollte ich einer Stimme vertrauen, die nur ich hören konnte? Einer Stimme, die mich zu solch abstrusen Dingen verleitet hat? „Ach komm schon, sei ehrlich. Das hat dir doch Spaß gemacht.“ Ich schüttelte den Kopf. „OK, was machen wir jetzt? Mir wird langweilig!“ Ungläubig sah ich mich um. „Warum quälst du mich?“ Die Stimme schwieg kurz. „Keine Ahnung. Wir haben so einen Zufallsgenerator und ich weiß auch nicht, warum er immer dich auswählt!“ Ich war der Verzweiflung sehr nahe. Tränen stiegen bereits in meinen Augen empor. Dann besann ich mich. „Wen meinst du eigentlich mit wir?“ Die Stimme kicherte. „Na, die anderen. Schätzchen, ich dachte, dass hättest du verstanden. Ach ja, check doch einfach mal deine E-Mails!“ Ich trat zu meinem Computer und sah in den Posteingang. Eine ungelesene Nachricht. Ich klickte darauf. Auf dem Bildschirm erschien folgender Text:
Willkommen! Endlich ist soweit. Du hast deinen Verstand verloren. Als Begrüßungsgeschenk hast du bereits deine eigene imaginäre Stimme erhalten. Wir wünschen dir weiterhin viel Spaß!
Hm. Äh. Ja. Hm. Was zum...? Warum ich?
„Na ja, könnte eine genetische Disposition sein. Wahrscheinlich kommt das soziale Umfeld noch hinzu und eventuell auch Umwelteinflüsse. Ernährung oder solche Sachen eben!“
Ich glaubte der Stimme kein Wort.
„Ok, du hast recht. Ich sag dir, warum immer du am Arsch bist. Shit Happens!“ Toll! Ich hasse diesen Spruch wirklich. Danke schön! So ein...
„Schätzchen wir müssen los!“ Wohin? „Wir müssen Tauben füttern!“ Du hast Recht. Die Drecksviecher nerven mich sowieso. Wie sie gurrend um einen herumlaufen und wie sie dann einfach losfliegen und man Gefahr läuft Fäkalien auf den Kopf zu bekommen. Wir müssen sie vernichten. Ja!
„Jetzt ist sie total durchgeknallt!“ Was hast du gesagt?
„Nichts!“ Na, dann ist ja gut...

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei mir
Tag der Veröffentlichung: 18.10.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /