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Mein ungelebtes Leben

Nun bin ich alt, genau 99 Jahre. Ich sitze in meinem Rollstuhl und starre hinaus, aus dem Fenster, wie ich es jeden Tag tue. Meine letzte Station ist ein Pflegeheim in bester Lage.

Was ich hier zu suchen habe, weiß ich auch nicht. Ich bin eben hier, um die letzten Stunden meines Lebens zu verbringen.

Weshalb ich so alt geworden bin, das weiß ich auch nicht. Habe nichts wertvolles geleistet im Leben, dass mir diese Ehre gebührt. Sterben wollte ich schon immer, an jedem gottverdammten Tag meines Lebens. Doch ich habe den richtigen Schalter bis heute nicht gefunden.

Als Kind war ich unbeliebt. War immer einsam und hatte keine Freunde. Ich litt an Epilepsie, hatte Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht. Währenddessen die anderen mit dem Fahrrad losgesaust sind, lief ich hinterher. Keiner scherte sich um mich. Unwichtig, war meine Person. Es gab ja noch so viele andere. Ich war oft verzweifelt, konnte aber gut meine Gefühle verstecken. Niemand merkte etwas. Warum nicht, weiß ich bis heute nicht. Womöglich, weil sich keiner um den anderen kümmern wollte. Man hat seine Freunde und der Rest ist egal.

 

 

 

Manchmal, wenn ich allein war, dann weinte ich bittere Tränen, weil ich nicht mehr weiter wusste. Ich flehte Gott an, mich zu sich zu nehmen. Doch der reagierte nicht, ließ mich weiter leiden. Warum?, fragte ich ihn. Nie gab er mir eine Antwort. Nicht mal im Himmel wollte man mich.

Die Schule ließ ich hinter mir. Ging nie mehr auf ein Schultreffen. Wollte mit alledem nichts mehr zu tun haben. Dachte, alles würde nun besser werden. Ein bisschen war es das vielleicht. Aber bis zum heutigen Tage war ich nicht in der Lage, mein Leben tatsächlich zu leben.

Das Gefühl der Einsamkeit ist ein Zustand, den man nicht so leicht los wird. Ich versuchte jeden Tag dagegen anzukämpfen, mal mehr mal weniger. Mich mit irgendwelchen Dingen abgelenkt, um nur nicht über den Sinn des Lebens nachdenken zu müssen. Und wenn diese quälenden Momente sich einschlichen, überkam mich eine gewisse Todessehnsucht. Niemand würde mich vermissen. Ich wäre irgendwann vergessen. Im Niemandsland der verlorenen Seelen. Jeder kann weiterleben, ohne den anderen, oder musste es.

Als meine Frau vor genau zwanzig Jahren und fünfzehn Tagen verstarb, ging der einzige Mensch in meinem Leben, der mir wirklich etwas bedeutet hatte. Ein leichtes Magengeschwür, was sie nie sonderlich beachtet hatte, wurde ihr zum Verhängnis. Eines Nachts spuckte sie plötzlich Blut. Der Rettungsdienst kam zu spät. Versuchte alles, um sie am Leben zu erhalten, doch vergebens. Meine Lissi ist dann mit den Engeln gereist. Irgendwie habe ich es gespürt. Ein Moment der Stille kehrte ein. Kein Vogel war zu hören und kein Luftzug war zu spüren. Ein Augenblick von Stillstand.

Lissi hatte es geschafft. Sie musste nicht lange leiden.

Im Gegensatz zu mir, war sie ein fröhlicher, selbstbewusster Mensch gewesen. Liebte das Leben. Ich beneidete sie oft um diesen Zustand und erfreute mich daran, wenn sie so voller Enthusiasmus war. Ich kannte jene Freude, was das Leben an betraf nicht, hatte das nie gelernt.

Meine Arbeit machte ich gern. Ging allerdings unter, in der Menge. Zog mich lieber zurück, als voranzuschreiten. Traute mich irgendwie nicht. Blieb immer auf der Strecke. Es gab ja so viele, die wichtiger und beliebter waren als ich. Währenddessen ich jeden Tag mit meinem Leben kämpfte, glänzten die anderen durch Witz und Energie. Es ist nicht so, dass ich es nicht probiert hätte, ihnen gleichzukommen. Ja, ich wollte doch nur einer von ihnen sein. Aber irgendwie gelang mir das nie.

War mal ein Tag etwas besser, so war der andere wieder daneben. Es ist schlimm, wenn man das Seil des Lebens immer wieder verliert. Vor allen Dingen ist es auch anstrengend, nervenaufreibend.

Wer kann sich stets und ständig immer auf eine Sache konzentrieren? Irgendwann hat man keine Kraft mehr. Nach Tagen, Wochen, Jahren ist man müde, einfach nur müde. Ich ließ es schließlich bleiben, mich beliebt machen zu wollen. Verkroch mich lieber in meinem Schneckenhaus oder baute schnell eine unsichtbare Mauer um mich, um mich selbst zu schützen. Das war falsch, total falsch, denn dann wurde mein miserabler Zustand noch schlimmer. Aber es ist wie eine fremde Macht, welche über einen hereinbricht. Man kann sie einfach nicht aufhalten, auch man den Willen dazu hat.

Obwohl ich schon innerlich kaputt war, legte ich mir zu meinem Schutze eine gewisse Monotonie an. Blieb nach außen hin standhaft, wie ein Fels in der Brandung. Durchwanderte die Tage ohne jegliches Gefühl für die Zeit.

Jetzt sitze ich hier, mit dem Bild meiner Lissi in meiner Hand. Irgendwann, da sehen wir uns im Himmel wieder und dann werde ich anfangen zu leben.

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 29.06.2015

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