Einzig und allein die wechselnden Jahreszeiten, welche einem deutlich machten, dass die Zeit schneller verging, als es manchem lieb war, gestalteten das Geschehen in Roschfield. Auch Isabell Lankfords Leben bildete da keine Ausnahme. Dennoch gab es diesen einen Tag der Woche, an dem sie jener gewissen Eintönigkeit, wenn auch nur für ein paar Stunden, entfliehen konnte.
Mrs. Fielding, welche ein vornehmes Herrenhaus, außerhalb von Roschfield bewohnte, war das Ziel eines viertel-stündigen Fußmarsches, den sie jeden Donnerstag voller Enthusiasmus zurücklegte.
Entlang der Jeffersonstreet glaubte das Fräulein einen Duft von Frühling wahrzunehmen, den sie tief in sich hinein sog, so als sei es ein liebliches Parfüm, das bereit war, die eiskalte Luft, welche uneingeschränkt vorherrschte, endgültig zu vertreiben.
Pünktlich, mit dem ersten Schlag der Kirchenglocke, öffnete Beth Morris ihren kleinen Laden mit allerlei Stoffen und Garnen. In den Zeiten, als Mr. Morris noch lebte, florierte das Geschäft recht erträglich. Nach seinem Tode hinterließ er seiner Gattin ein ausreichendes Vermögen, welches es Mrs. Morris ermöglichte, das Geschäft alleine weiterzuführen. Letztendlich war es auch ihren geschickten Händen und ihrem vortrefflichen Geschmack für edle Stoffe zu verdanken, dass ihr die Kundschaft stets die Treue hielt. Vielleicht lag es auch daran, dass sie für alles und jeden stets ein offenes Ohr besaß.
Wenn man eine Neuigkeit über wichtige oder unwichtige Dinge des Lebens in die Welt setzen wollte, so war man bei Mrs. Morris immer an der richtigen Adresse. Die Damen gingen ein und aus, um irgendwelchen Nichtigkeiten nachzugehen, die in ihren Köpfen verwirrende Ausmaße entwickelten. Dabei ließ sich die eine oder andere des Öfteren dazu hinreißen, unnütze Dinge zu kaufen, nur um auf dem neusten Stand des Geschehens zu sein.
„Guten Morgen, Miss Lankford!“, ertönte eine wohlbekannte Stimme.
Sie kam von der anderen Straßenseite und gehörte Mr. Jenkins, dem Besitzer des Gemischtwarenladens von Roschfield. Obwohl die Leute meinten, dass das zunehmende Alter ihn mürrisch werden ließ, mochte Isabell den alten Kauz. Es war seine Art, die Mundwinkel nach unten hängen zu lassen, sodass man vielleicht der Meinung war, dass ihm die Freundlichkeit abhanden gekommen sein musste. Jedoch lag es nicht in Isabells Interesse, etwas schlechtes über Mr. Jenkins zu äußern. Es gab auch keinen Grund für sie, sich über ihn zu beschweren. Zu ihr war er stets freundlich, auch wenn sein grimmig wirkendes Gesicht oft etwas anderes zuließ. Er war eben so, wie Gott ihn geschaffen hatte.
In einem kurzem, unaufmerksamen Moment entging Isabell fast die vorbei eilende Kutsche, welche ihr den Zugang zu Adam Jenkins versperrte. Der Kutscher wetterte, was das Zeug hielt, um dem Fräulein seine Meinung kundzugeben. Dann war die Sache vergessen. Seine Pferde bedurften unausweichlich seiner Führung.
Die, mit Dreck überzogenen Räder, hinterließen tiefe Spuren in dem aufgeweichten Boden, was dazu führte, dass die Straße beinahe unpassierbar erschien.
„Passen Sie auf, Miss!“, lauteten Mr. Jenkins warnende Worte, welche Isabell jedoch nicht davon abhielten, die Straßenseite zu wechseln.
„Diese elenden Winter kommen und gehen und hinterlassen jedes Mal nichts als Ärger“, schimpfte Adam Jenkins.
Mit besorgter Miene begann er damit, den äußeren Zustand seines Gegenüber zu prüfen.
Nun, wie eine feine Dame sah die Besagte heute wahrlich nicht aus. Sie ärgerte sich zutiefst, wusste sie doch, dass Mrs. Fielding besonders auf saubere Kleidung achtete. Der alten Dame war es bereits in die Wiege gelegt, immer korrekt und anständig auszusehen.
Auch wenn Isabell stets darum bemüht war, ihr den Gefallen zu tun, wie ein junges, wohlerzogenes Fräulein in ihrem Hause zu erscheinen, so gab es doch ständig Dinge, welche Mrs. Fielding an ihr zu bemängeln wusste. Wenn es nicht die Kleidung war, so war es eben ihre Verspätung, durch welche sie an den Donnerstagen glänzte. So wie dieses Mal.
Hastig bog sie schließlich in die Highstreet ein. Ihre Augen richteten sich unausweichlich auf ein großes Schild, welches oberhalb der Tür des örtlichen Schuhmachers angebracht war.
-WINSTON UND SOHN-, stand mit großen Buchstaben darauf. Der Wind hielt es in seinem Bann gefangen und schaukelte es fröhlich hin und her.
Seit Ewigkeiten verfolgte Isabell den Wunsch, dass Bradley endlich die Einsicht gewinnen möge, bei seinem Vater zu bleiben. Denn einst wollte er aus Roschfield weg. Sein Glück, so dachte er, läge in fernen Welten. Es war schwer, sich einzugestehen, dass dem Besagten nicht nur ein Herz zu Füßen lag. Aber Isabells Hoffnungen waren groß. Ja, sie glaubte sogar, die Einzige zu sein, welche einer Zukunft mit Bradley Winston entgegenblicke. Zumindest redete sie sich ein, dass keine andere dafür in Frage käme. Sie kannten sich doch schon so lange. Ihre Kindheit hatte sie zusammengeschweißt. Ewige Verbundenheit, so lautete damals der Schwur. Die Zeit war allerdings nicht stehen geblieben.
Die Unbeschwertheit aus Kindertagen entwich, als jeder sein eigenes Leben für sich entdeckte. Dennoch glaubte Isabell an das unsichtbare Band, was zwei Herzen für die Ewigkeit miteinander vereinigte.
Jeden Donnerstag, wenn Miss Lankford an der Schuhmacherwerkstatt vorbeikam, versuchte sie, von der gegenüberliegenden Straßenseite aus, einen Blick durchs Schaufenster zu werfen. Hinübergehen? Nein, das traute sie sich nicht, denn das wäre ganz und gar nicht schicklich.
Der Tag würde kommen, an dem Bradley sich seines Mutes bemächtigen würde, um ihr einen Antrag zu machen. Die Zeit war jedenfalls reif dafür.
So sehr Isabell sich auch den Hals verrenkte, von ihrem jetzigen Standpunkt aus, konnte sie nicht das Geringste erkennen, was sich innerhalb das Ladens abspielte. Dieser Zustand war einfach nicht auszuhalten, deshalb entschloss sie sich dazu, auf die andere Seite überzusetzen.
Gerade, als sie für ihr Vorhaben den nötigen Mut aufgebracht hatte, vernahm sie unerwartet ein leichtes Räuspern, welches ihre Gestalt augenblicklich zu Stein erstarren ließ.
Mr. Mulligan, der Besitzer des örtlichen Gasthofes, welcher seinen Hut galant zum Gruß in die Höhe hob, schritt an ihr vorbei. Verunsicherung überkam das Innere Isabells. Es wäre wirklich äußerst töricht von ihr, jenen Fehler zu begehen, den Anschein zu erwecken, Bradley Winston nachstellen zu wollen. So entschloss sie sich dafür, auf der Stelle zu verschwinden.
Ganz in der Nähe, gleich hinter dem großen Hügel, erstreckte sich das Anwesen Rose Fieldings, welches das schönste und einflussreichste Herrenhaus der Gegend beherbergte. Schon dutzende Male war dieses Haus bereits Isabells Ziel gewesen, doch wenn sie es besuchte, so übte es auf sie eine Faszination aus, die unbeschreiblich war.
Als das Fräulein gerade im Begriff war, ihren Rock zu raffen, welcher bereits erheblich in Mitleidenschaft gezogen war, hörte sie hinter sich, nicht weit entfernt, das Schlagen von Pferdehufen. Eine Kutsche rollte heran. Sie gehörte Bridget Thompson, welche sich ebenfalls auf dem Weg zu Mrs. Fielding befand. Schon seit etlichen Jahren nahm die Besagte, aus dem benachbartem Livingston, mindestens zwei Mal die Woche, den Weg nach Roschfield auf sich, um ihre engste Freundin Rose Fielding zu besuchen.
Um wenigstens etwas von ihrer Kleidung, vor dem umher spritzendem Schlamm, welchen die Kutsche aufwirbelte, zu schützen, sprang Isabell mit einem gewaltigen Satz zur Seite.
Das Gefährt fuhr an ihr vorbei, bis es endlich, nur wenige Meter von ihr entfernt, zum Stillstand kam. Die Reisende steckte ihren Kopf zum Fenster heraus. Ihr großer Hut mit den stattlichen Federn dran, schien ihr dabei im Wege zu sein. Die Trägerin war sichtlich bemüht, sich gegen jene Schwierigkeit zu behaupten. Sie tat es nicht gern, ihrer Kopfbedeckung etwas anzutun, doch da Isabell ihren Weg kreuzte, schien das vorerst zweitrangig zu sein.
Miss Lankford hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, im Visier von Bridget Thompson zu stehen, sobald sie sich begegneten. Das Fräulein nahm es ihr nicht übel, dass jene stets und ständig irgendeine Sache zu bemängeln hatte. Was Isabell daraus machte, war schließlich ihre Angelegenheit. Sie räumte Mrs. Thompson ein, dass sie mehr an Lebenserfahrung besaß und ihre Kritikpunkte einzig und allein ihrer Fürsorge zuzuschreiben seien. Es lohnte nicht, zu widersprechen, da sie schnell begriffen hatte, dass Widerstand zu nichts führte. Endlose Diskussionen waren oft das Resultat, welche sogar nach Tagen stets von neuem erwachten.
„Isabell, was für eine Freude, Sie hier zu treffen. Möchten Sie mich nicht ein Stück begleiten? Sie sind doch sicher auf dem Weg zu Mrs. Fielding?“, lauteten prompt die einladenden Worte.Verzweiflung zeichnete sich auf Miss Lankfords Gesicht ab. Die breiige Masse, welche sich zu allem Unglück, heimtückisch um ihre Schuhe wand, gab allen Grund zur Sorge.
Mrs. Thompson riss vor Entsetzen ihre Augen auf. Sie kam nicht drumherum, ihre Meinung kundzugeben: „Wie Sie aussehen, mein Kind. Nicht mal die Farbe Ihrer Schuhe kann man mehr erkennen. Bitte nehmen Sie sich beim Einsteigen in acht!“, wurde sie ermahnt.
Jener Anblick, welcher sich der Besitzerin des feinen Fortbewegungsmittels offenbarte, ließ in ihr erhebliche Zweifel aufkommen, das Richtige, bezüglich des Zwischenstopps, unternommen zu haben. Auch Isabells gutgemeinte Bemühungen änderten nichts daran, dass Mrs. Thompsons strenger Blick, von nun ab, auch weiterhin auf ihrer Gestalt ruhte.
Mit einem heftigen Ruck ging die Fahrt schließlich weiter.
„Zum Donnerwetter!“, schimpfte Bridget Thompson, welche unsanft zurück wippte und deren Hinterkopf ungewollt mit der Rückenlehne Bekanntschaft machte. „Unglaublich, was man als feine Frau der Gesellschaft ertragen muss“, wetterte sie. „Wenn wir nicht von dieser elenden Dienerschaft abhängig wären, so würde ich sie alle zum Teufel jagen.“
Solche derben Worte schickten sich wirklich nicht für eine Frau im besten Alter, dachte Isabell. Aber Mrs. Thompson war wohl die einzige Dame, weit und breit, der man dies nicht übel nahm, da man sie nicht anders kannte.
Die weitere Fahrt entpuppte sich, durch die miserablen, aufgeweichten Wege, als äußerst unkomfortabel. Mehrmals unternahm Bridget Thompson den Versuch, eine vornehme Haltung einzunehmen, die ihr jedoch nur schwer gelang. Um von sich abzulenken, suchte sie nach einem geeigneten Gesprächsstoff, der sich alsbald einfand.
„Wie geht es Alison? Ihr Schicksal ergreift mich immer wieder aufs Neue. Wenn ich nur daran denke, überkommt mich stets ein eiskalter Schauer“, meinte sie sichtlich betroffen.
Isabell hielt für einen Moment inne. Ach Alison, dieses bemitleidenswerte Geschöpf. Sie hatte es besonders schwer getroffen. Beide Eltern waren bei einem Brand ums Leben gekommen. Völlig allein und mittellos stand sie einst da. Zum Glück gab es das Haus der Lankfords, indem sie eine Zuflucht fand.
Obwohl die Unterschiede, zueinander, erheblich waren, bauten Alison und Isabell eine schwesterliche Beziehung auf, welche sehr innig wurde.
„Sie verbringt den ganzen Tag im Haus. Wenn sie einmal hinausgeht, dann verlässt sie niemals den Garten. Jeden Donnerstag bitte ich sie, mich zu Mrs. Fielding zu begleiten. Aber ich sage Ihnen, so sehr ich mich auch bemühe, jedes Mal weigert sie sich aufs Heftigste.“
Bridget Thompson schüttelte verständnislos ihren Kopf. „Was soll nur aus dem armen Ding werden, frage ich mich. Sicherlich wird die Einsamkeit sie irgendwann dahinraffen.“
Isabell wusste genau, auf was ihre Begleiterin hinaus wollte. Sie kam nicht drumherum, zu protestierten: „Jetzt übertreiben Sie aber! Alison ist doch erst dreiundzwanzig Jahre alt. Sie hat noch alle Zeit der Welt, sich nach einem geeigneten Ehemann umzusehen.“
Mrs. Thompson lachte auf. Ihre Worte waren eindeutig: „Können Sie mir bitte verraten, wie das zustande kommen soll?“
Für den Augenblick gab sich Miss Lankford geschlagen, denn im Grunde genommen hatte ihr Gegenüber sogar recht, mit ihrer Befürchtung, denn Alison führte wahrlich ein abgeschiedenes Leben.
Währenddessen Isabell damit begann, über ihr eigenes Dasein nachzudenken, ließ es sich Bridget Thompson nicht nehmen, jene Konversation weiterzuführen. Sie spitzte ein wenig den Mund und meinte, nicht ohne Hintergedanken: „Wie steht es mit Ihnen, Miss Lankford? Sicher liegen Ihnen bereits alle Männerherzen Roschfields zu Füßen. Wann gedenken Sie, in den Stand der Ehe zu treten?“
Ein Abwinken, seitens Isabells, hätte wohl genügt, jedoch kam die Angesprochene nicht drumherum, ihre eigene Meinung kundzugeben, die da lautete: „Oh, das wird sicher noch eine ganze Weile dauern, bis ich einen geeigneten Kandidaten gefunden habe, welcher es auf Dauer mit mir aushalten würde.“
Diese ironisch gemeinten Worte verfehlten ihren eigentlichen Sinn. Mrs. Thompson wirkte plötzlich ziemlich abweisend.
„Man sagt oft, Bescheidenheit sei der Dame Zier“, gab sie von sich. „Aber“, fuhr sie fort, „nicht immer kommt man im Leben damit sehr weit. Natürlich müssen gewisse Regeln eingehalten werden, jedoch wage ich zu behaupten, wenn ich nicht manchmal, als junge Dame, meinen Kopf durchgesetzt hätte, so säße ich heute nicht hier.“
In der besseren Gesellschaft, von Livingston, genossen Bridget Thompson und der ehrenwerte Mr. William Thompson wahrhaftig ein überaus hohes Ansehen, was nicht selbstverständlich war, denn wie in den meisten Fällen spielten die finanziellen Verhältnisse bei der Eheschließung eine wichtige Rolle. Mr. Thompson nannte immerhin schon zwei, von der Familie erworbenen Baumwollfabriken, die außerhalb von Livingston geradezu aus dem Boden schossen, sein Eigen. Dagegen war Bridget, in ihrer Jugend, als einfaches Mädchen aufgewachsen, welches immer vor dem einzigen Modegeschäft, was es in Roschfield gab, stehen blieb. Stundenlang starrte sie auf die Kleider der Auslage, bis sie diese, in Gedanken versunken, auf ihrem Leib spürte. Und jetzt, ja jetzt, war Bridget tatsächlich dort angekommen, wo sie immer hin wollte, in der Welt des Reichtums.
Endlich neigte sich die kurze, aber anstrengende Fahrt ihrem Ende entgegen. Die Pferde stoppten.
„Diese Reise wird für mich von mal zu mal beschwerlicher. Vielleicht liegt es ja auch an der Tatsache, dass ich nicht jünger werde“, versuchte Bridget Thompson mit ziemlich verzerrtem Gesicht zu scherzen.
Charles, der Diener, öffnete die Tür. Sein Kopf reichte fast bis zum Boden, als er den Damen seine Ehrfurcht kundgab.
„Wo steckt nur dieses flatterhafte Frauenzimmer von Dienstmädchen, wenn man es mal brauch?“, rief Bridget, mit lauter Stimme, die die Eingangshalle einnahm und in sich vibrieren ließ.
Kurze Zeit später fand sich die Gesuchte ein. Mit einer energischen Geste wies Mrs. Thompson auf Isabells Schuhwerk. „So können wir auf keinen Fall Mrs. Fielding unter die Augen treten!“, betonte sie
unmissverständlich.
Fanny verstand sofort, was zu tun war. Sie lief, wie vom Blitz gejagt, mit den schmutzigen Schuhen davon.
Einige lange Minuten des Wartens vergingen. Eine gewisse Unruhe breitete sich aus. Isabell schien ihrer Begleiterin auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein, denn diese, welche im Augenblick nichts besseres zu tun hatte, als sie genauestens ins Visier zu nehmen, ließ nicht mehr von ihr ab. Irgendetwas schien ihr auf der Seele zu liegen. Natürlich brauchte es auch nicht lange, um aus dem Munde jener Besitzerin
hervorzukriechen: „Roschfield ist ja bei weitem nicht mit Livingston zu vergleichen, das liegt wohl auf der Hand. Das Sie, meine liebe Isabell, mit den Männern kein Glück haben, sei Ihnen nicht als Vorwurf anzulasten. Die Kultiviertheit der jungen Herren, die es wertschätzen, eine anständige Frau ihr Eigen zu nennen, ist in Roschfield auf der Strecke geblieben. Würden Sie in Livington wohnen, so hätte man sicher längst ein Eheversprechen arrangiert.“
Genau im richtigen Moment tauchte Fanny wieder auf. In ihren Händen hielt sie die blank geputzten Schuhe. Sogleich bemühte sie sich, um deren Besitzerin, als wäre jene ihre Herrin höchstpersönlich. Isabell gab ihr zu verstehen, dass so ein Aufwand, um ihre Person, nicht nötig sei.
„Aber Isabell!“, tadelte Mrs. Thompson. „Immerhin wird Fanny dafür bezahlt, dass sie uns zur Hand geht.“
Was blieb der Gescholtenen anderes übrig, als das Dienstmädchen gewähren zu lassen, ihr die sauberen Schuhe über die, mit getrocknetem Schlamm durchzogenen Strümpfe zu ziehen. Zuhause besaß Miss Lankford niemanden, der diese, eher komisch wirkende Tätigkeit, für sie erledigte, denn dort war es selbstverständlich, sich selbst anzukleiden.
Wenn auch ihre Füße jetzt äußerlich mit Reinheit umgeben waren, täuschte dies nicht über die Tatsache hinweg, dass das verschmutzte Kleid immer noch das ausstrahlte, was Mrs. Thompson glaubte, mit ihrer fülligen Gestalt, vertuschen zu müssen.
Die beiden Damen nahmen die große, erhabene Treppe, die hinauf, in das obere Stockwerk führte. Ihnen voran Charles, welcher im Eiltempo hinauf hüpfte.
„Hopp, hopp, wir haben keine Zeit zu verschenken“, spöttelte Bridget.
Etwas außer Atem kündigte Charles den eingetroffenen Besuch bei Mrs. Fielding an, welche sich gerade in einem hohen Sessel vor dem Kamin befand. Interessiert betrachtete sie ein paar Zeichnungen, welche allesamt Alison Stewart zuzuschreiben waren. Isabell hatte sie, bei ihrem letzten Besuch mitgebracht.
„Sie kommen reichlich spät, meine Liebe. Hatten Sie mir nicht beim letzten Mal Besserung gelobt?“, bekam das Fräulein prompt zu hören.
Noch ehe sich Miss Lankford in der Lage sah, eine von den passenden Ausreden, welche sie immer für solche Fälle parat hielt, auszusprechen, ergriff ihre Begleiterin das Wort: „Es ist verblüffend, was dieses bemitleidenswerte Mädchen zustande bringt. Vielleicht sollte ich sie bitten, gegen Bezahlung versteht sich, ein Gemälde von unserm Haus in Livingston anzufertigen. Aber die Gute zieht es ja vor, der Öffentlichkeit den Rücken zu kehren.“
Jene Worte brachten Rose Fielding auf eine absonderliche Idee. „Liebe Isabell, vielleicht wären Sie sogar im Stande, ein solches Kunstwerk anzufertigen, wenn Sie vielleicht den nötigen Unterricht bekämen? Ich könnte einen Maler aus London kommen lassen.“
„Aber, meine Beste!“, protestierte Mrs. Thompson sogleich. „Du willst doch nicht allen ernstes, einen fremden Gentleman in dein Haus einladen, den du noch nie zuvor gesehen hast? In London gibt es genug Schurken, welche sich des öfteren, als feine Gesellschaft ausgeben, aber nur eines im Sinn haben, alleinstehende, ältere Damen um ihr Geld zu bringen. Du musst deinen Stand bedenken, welchen du in Roschfield ausübst“, fügte sie empört hinzu.
„So ein Unsinn. Auf das Gerede der Leute habe ich noch nie gehört. Niemand kann und wird mir vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe. Sollen die sich doch ihre Mäuler zerreißen.“
Mit diesem Satz war das Thema für Rose Fielding abgeschlossen. Sie wollte nichts mehr davon hören.
Isabell hatte sich unterdessen jener kleinen Auseinandersetzung, die die Damen doch lieber unter sich ausmachen sollten, entzogen. Sie liebte den Ausblick, aus den überaus mächtig wirkenden Fenstern, welcher immer etwas anderes für sie bereithielt, was es in der Ferne zu entdecken gab.
Isabells Augen folgten dem schmalen Weg entlang, bis hin zu dem kleinen Wäldchen. Ein sanfter Hauch durchfuhr zärtlich dessen Wipfel und wiegte sie, wie von leiser Musik getragen, hin und her. Die Sonne lugte ein wenig hindurch. Und plötzlich stieg in ihr ein Gedanke auf, den sie sogleich in Worte fasste: „Vielleicht sollten wir einen Spaziergang machen. Sicher blühen hinten, am Wäldchen, schon die ersten
Schneeglöckchen.“
„Das ist eine hervorragende Idee“, platzte es sogleich aus Mrs. Thompson heraus.
„Es ist sicher von Vorteil, gleich aufzubrechen“, riet Rose Fielding, um die herrlichen Sonnenstrahlen des Tages auszukosten, welche, wie es sich herausstellte, recht trügerisch waren. Ein kalter Wind suchte seinen Weg über Roschfields Wiesen.
Am Wäldchen angekommen, erblickte Miss Lankford, nicht weit entfernt, tatsächlich die ersten
Schneeglöckchen. Ihr Triumph war außerordentlich.
„Sehen Sie nur!“, rief sie voller Tatendrang und begann damit, ihren zu Rock raffen. „Ich werde
hinübergehen, um jeder von Ihnen ein Sträußchen zu pflücken.“
Mrs. Fieldings Begeisterung hielt sich in Grenzen. Sie traute dem Frieden nicht. Ihre mahnenden Worte: „Passen Sie auf, meine Liebe, die Wiesen sind um diese Jahreszeit sehr heimtückisch!“, hielten die Dahineilende in keinster Weise von der Idee ab, sich der Herausforderung zu stellen.
„Besonders für junge Damen in langen Röcken“, fügte Bridget Thompson hinzu.
Alle guten Ratschläge halfen nichts, denn Isabell befand sich bereits mitten im Schlamassel. Ziemlich unbeholfen stampfte sie über die feuchte Wiese, bis sie endlich das Ziel ihrer Begierde erreicht hatte. Die beiden wartenden Damen beobachteten das Drama lieber aus sicherer Entfernung. Ihre Mienen wirkten angespannt und etwas verbissen.
Wohlbehalten fand Miss Lankford endlich wieder auf den Weg zurück und überreichte voller Stolz, je ein kleines Bündel mit den herrlichsten Schneeglöckchen.
Der Wind frischte auf, sodass die kleine Gruppe beschloss, den Rückweg anzutreten. Schöner hätte der Tag nicht sein können, so glaubte Isabell, bis zu jenem Zeitpunkt, als Bridget Thompsons wiedergefundene Neugier ins Spiel kam.
„Ich habe gehört, dass George Winston sein Geschäft nicht mehr allein weiterführt. Sein Sohn soll ihm jetzt helfen. Wie war doch gleich sein Name?“
„Bradley!“, schoss es ungewollt über Miss Lankfords Lippen. Ein leuchtendes rot übernahm heimtückisch die Farbe ihres Gesichtes.
„Wie interessant. Sind Sie mit dem jungen Mann in irgendeiner Weise verbunden?“, entgegnete Bridget Thompson hellhörig.
Mit kritischem Blick beäugte sie ihre Begleitung. Jene aufkommende Situation machte Isabell zutiefst nervös, dass sie heftig nach Luft zu schnappen begann.
„Wie kannst du nur!“, empörte sich Mrs. Fielding. „Du weißt doch, dass sich Isabell und Bradley schon von Kindheitstagen her kennen und früher viel Zeit miteinander verbracht haben. Da ist es doch nicht verwunderlich, wenn sie sich für ihn freut, dass er hier, in der Stadt bleibt.“
Bridget Thompson zog ihre Stirn in Falten. „Du hast natürlich recht, liebe Freundin, aber bedenke, dass Miss Lankford immerhin schon ein Alter von achtzehn Jahren erreicht hat. Da liegt der Gedanke nahe, sich in nächster Zukunft nach einem geeignetem Ehegatten umzusehen.“
„Da muss ich dir leider widersprechen. Ich finde nicht, dass sie schon bereit ist, für die Ehe. Dieser Schritt will wohl überlegt sein.“
Da sich Isabell nicht mehr im Auge des Geschehens befand, sondern die Damen die Sache lieber unter sich ausmachten, begann sich ihre Unsicherheit langsam zu legen. Natürlich empfand sie etwas für Bradley Winston. Ob es nun Liebe war, das wusste sie selbst nicht. Dieses Gefühl, welches jedes Mal in ihr aufstieg, wenn sie ihm begegnete, ließ ihr das Herz stets bis zum Halse schlagen. War das vielleicht Liebe oder doch nur Schwärmerei? All das waren Dinge, die sie verwirrten, mit denen sie noch nicht umgehen konnte.
„Miss Lankford!“, holte sie die Stimme Bridget Thompsons in die Normalität des Lebens zurück. „Sehen Sie nur, wie trostlos und traurig uns dieses große Haus entgegen starrt“, merkte sie an.
Isabells Augen glitten entlang der Fassade, die an Glanz sicher eingebüßt hatte, jedoch immer noch eine gewisse Erhabenheit ausstrahlte. Damals, als Mr. Fielding noch lebte, war das imposante Gebäude an Beliebtheit kaum zu übertreffen. Nach seinem Tode blieben die Empfänge aus. Nur noch wenige, aus der feinen Gesellschaft, zog es noch in jenes Haus, das mit der Zeit immer mehr in Vergessenheit geriet.
Bilder der Vergangenheit suchten Miss Lankford heim. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, dass sich ihre Eltern, mit ihr, als sie noch klein war, an den Samstagen, hinauf über den großen Hügel aufmachten, um Rose Fielding ein Stück von ihrer Trauer zu nehmen. Während Isabell auf dem Fußboden mit dem Spielen beschäftigt war, ließ der Rest der Anwesenden sich von der Vergangenheit tragen. Diese gelegentlichen Treffen waren es letztendlich, welche Isabell dazu verhalfen, das Piano forte kennenzulernen, um sich dann, jeden Donnerstag, darauf zu probieren, was ihr eher schlecht als recht gelang. Wenn die Verbindung, zu Rose Fielding, nicht so eng gewesen wäre, hätte es Vincent Lankford niemals geduldet, dass seine Tochter ganz allein, sprich ohne jegliche Begleitung, den wöchentlichen Fußmarsch auf sich nahm.
Die Lankfords lebten, wie die meisten Einwohner Roschfields, in ausreichend finanziellen Verhältnissen. Niemand Geringerem hatten sie dies zu verdanken, als Mr. Fielding, der seinerzeit Isabells Vater dazu riet, Anteile an einer Miene zu erwerben. Dieser glückliche Umstand veränderte so einiges. Leider verstarb der Herr dann vor reichlich zehn Jahren.
Eines Morgens fand man den leblosen Körper in seinem Lieblingssessel, vor dem Kamin. Auf seinen Knien befand sich noch immer das Tagesblatt. Im ersten Moment lag die Vermutung nahe, dass ihn die vorherrschende Ruhe überwältigt haben musste. Allerdings wachte er aus diesem ewigen Schlaf nicht mehr auf.
Ihres Ehemannes Ableben war nicht das Einzige, was Rose Fieldings Herz gebrochen hatte. Schon viele Jahre zurück, vor dem Tod ihres Gatten, verwies der Besagte, seinen einzigen Sohn Aiden, nach einer heftigen Auseinandersetzung, des Hauses. Seit diesem Zeitpunkt hörte man nie wieder etwas über dessen Verbleib. Er galt als verschollen. In Roschfield ging das Gerücht um, er sei nach Übersee ausgewandert. Aber das war noch nicht alles. Hinter vorgehaltener Hand zog mancher sogar seinen Tod in Betracht. Vielleicht war er mit einem Schiff untergegangen oder gar an einer ansteckenden Krankheit gestorben. Jedoch verloren sich die Gedanken im Laufe der Zeit und kaum einer in Roschfield sprach noch ein einziges Wort darüber. Rose Fielding dagegen, verblieb immer in der Hoffnung, auf eine Rückkehr ihres geliebten Sohnes.
Die Tage vergingen. Das Wetter wurde schlechter. Die Wolken brachten kräftige Stürme mit sich. Dann folgte ewiger Regen, der kein Ende nehmen wollte. Die Wege, welche nun unpassierbar waren, engten Roschfield ein. Dieses triste grau, ließ Isabell in einen gewisse Trübsinn verfallen. Denn im Gegensatz zu Alison, welche sowieso das Haus bevorzugte, drängte es sie hinaus, in die Natur. Das Gemälde, welches Miss Lankford versuchte anzufertigen, glich ihrer Stimmung. In ihrer Verzweiflung legte sie den Pinsel beiseite. Ihr Blick fiel auf Alison. „Diese Malerei scheint mir einfach nicht zu liegen. Du dagegen, bist eine wahre Künstlerin. Mein Talent liegt wohl eher im Verborgenem. Irgendwie habe ich das Gefühl, ich kann von allem etwas, aber nie genug.“
Auch wenn Alison Stewart ein Lächeln auf ihre Lippen zauberte, so blieben ihre Augen dennoch voller Traurigkeit. Die Narben, welche sie für immer daran erinnerten, anders zu sein, waren selbst in ihrer Seele eingebrannt.
Sie trug ihre Kleider stets hochgeschlossen. Ihre Angst, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, überschattete ihr Dasein wie ein grauer Schleier, welcher sich unbarmherzig über sie gelegt hatte und den sie einfach nicht abschütteln konnte.
Ein einziges Mal nur hatte Isabell, jene in sich verzogene Haut wahrgenommen. Alison, welche sich in dem Glauben befand, unbeobachtet zu sein, bemerkte nicht, dass ihre Stiefschwester drauf und dran war, in diesem bestimmten Moment, das Zimmer zu betreten. Erschrocken, über den unerwarteten Anblick, verkroch sich Miss Lankford in ihrem Zimmer und weinte bittere Tränen.
Als die Wolken die Sonne endlich wieder freigaben, begann die Natur aufzuatmen. Das frische grün der Wiesen kehrte zurück und breitete sich in Windeseile um Roschfield aus.
Beth Morris bekam tatkräftige Unterstützung, in ihrem Geschäft. Ihre Schwester, mit dem Namen Abigal Graves, zog bei ihr ein.
Miss Graves hatte nie geheiratet. Ihre imposante Erscheinung verlieh ihr etwas edles und herrschaftliches. Außerdem besaß sie, im Gegensatz zu Mrs. Morris, feinere Gesichtszüge, welche sie viel jünger erscheinen ließen. Den Damen, aus Livingston, gefiel es, von Miss Graves bedient zu werden. Sie lobten ihr Geschick und ihre Umgänglichkeit.
Auch Adam Jenkins, dem die Schönheit nicht verborgen blieb, plagte plötzlich kein einziges Zipperlein mehr. Wie ein Jungbrunnen sortierte er, vor seinem Geschäft, wieder und wieder die Auslagen und warf dabei verstohlene Blicke in Richtung des Stoffladens. So ging es Tag für Tag.
Endlich war es wieder Donnerstag. Isabells Mutter bat ihre Tochter, bei -WINSTON UND SOHN- hinein zu schauen, um ein paar Stiefel zum Flicken abzugeben. Was nicht unbedingt auf Gegenliebe stieß. Was, wenn sie Bradley dort begegnete? Vielleicht war er ja gerade außer Haus, um Besorgungen zu tätigen, versuchte sich Isabell einzureden. Ihr blieb nichts anderes übrig, als es selbst herauszufinden.
Ein unbehagliches Gefühl stieg in ihr auf, als sie sich schließlich direkt vor dem Geschäft befand. Vorsichtig drückte sie die Klinke herunter. Die Türglocke schellte unbarmherzig. Miss Lankfords Körper zuckte zusammen, so als wäre sie dem Teufel höchstpersönlich begegnet. Von Peinlichkeit gepackt, blickte sie sich um, aber niemand der Anwesenden schien etwas bemerkt zu haben.
„Oh, Miss Lankford!“ Mit diesen Worten eilte Mr. Winston herbei. „Welche Ehre, so treten Sie doch näher. Wie können wir Ihnen behilflich sein?“
Bradley, welcher etwas abseits saß und mit einem Schuhmodell beschäftigt war, sprang sofort auf, als er jene gewissen Worte vernahm, stand stramm wie ein Soldat und schien etwas irritiert. Isabell warf ihm einen flüchtigen Blick entgegen, um nicht unhöflich zu wirken. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie glaubte, es würde jeden Moment aus ihrer Brust herausspringen. Zu allem Übel war ihr sogar entfallen, weshalb sie eigentlich gekommen war.
„Miss Lankford, ist alles in Ordnung?“, fragte George Winston besorgt.
„Was?“, stammelte die Angesprochene. „Oh ja“, fuhr sie sichtlich irritiert fort. „Meine Mutter schickt mich, ich soll die Stiefel zu Ihnen bringen. Sie möchten sie doch bitte flicken.“
Diese Worte kamen Isabell nur schwer über die Lippen, denn Bradley stand immer noch, ohne jegliche Regung, am selben Platz. Sein pausenloses Angestarre machte das Fräulein nervös.
Zum Vorteile war es, dass George Winston sich genau zwischen das vermeintliche Pärchen stellte, um die Stiefel näher zu betrachten.
„Na, da wollen wir mal sehen“, meinte er und drehte die Besagten prüfend in jede noch so erdenkliche Richtung.
„Da gibt es aber eine Menge Arbeit dran“, gab Mr. Winston schließlich von sich. „Vielleicht möchte sich Ihre werte Frau Mutter, bei Gelegenheit, ein paar neue Stiefel anfertigen lassen, die würden wahrscheinlich nur halb so viel kosten, als die Reparatur“, fügte er noch hinzu.
Plötzlich wendete Mr. Winston seinen Blick von Isabell ab. „Bradley, was stehst du da herum, komm her und schau dir die Stiefel von Miss Lankford an!“
Es mussten wohl zwei, drei Minuten gewesen sein, bis sich der Angesprochene endlich besann. Unbeholfen trat er heran. Isabells Gesichtsfarbe veränderte sich schlagartig, in ein erfrischendes rot, als Bradleys unsicherer Blick sie traf. Eine Ohnmacht schien sich in Miss Lankfords Innersten anzukündigen, welche ihr die ganze Gesichtsfarbe wieder entzog. Offensichtlich ahnte Bradley, was gerade in seinem Gegenüber vor sich ging. Hastig riss er die Stiefel an sich und verschwand, nach einer kurzen, angedeuteten Verneigung im Hinterzimmer.
Sein Vater blickte ihm misstrauisch nach. An Isabell gerichtet, meinte er: „Wir werden sehen, was sich da machen lässt. Nächste Woche, wenn Sie hier vorbeikommen, können Sie die Stiefel wieder mitnehmen.“
Bei der nachfolgenden Verabschiedung, seinerseits, glaubte das Fräulein ein trügerisches Lächeln in seinem Gesicht wahrzunehmen. „Meine Empfehlung, an Mrs. Lankford.“
Als Isabell ein paar Schritte gegangen war, schloss sie für einen Moment die Augen. Erst jetzt spürte sie, wie ihr Herz den normalen Rhythmus wiederfand. In ihren Gedanken sah sie immer noch Bradleys Gesicht. War er überhaupt erfreut darüber, ihr zu begegnen? So, wie er sich benommen hatte, kamen ihr doch gewisse Zweifel. Sollte es wirklich nur einseitige Zuneigung sein? Freude, über das Erscheinen ihrerseits, hatte sie in Bradleys Gesicht jedenfalls nicht wahrnehmen können. Vielleicht war es aber auch ganz anders und er mochte sie genauso, wie sie ihn. Nächste Woche, wenn die Stiefel zur Abholung bereit stünden, würde er zumindest auf sie vorbereitet sein.
Der restliche Vormittag, bei Rose Fielding, gestaltete sich als äußerst schwierig. Miss Lankford konnte ihre Gedanken nicht ordnen und wirkte oft recht abwesend.
Rose Fielding nahm einen strengen Gesichtsausdruck an. „Sie gefallen mir heute gar nicht, mein liebes Kind. Falls Sie etwas bedrückt, stehe ich Ihnen gern zur Seite. Ist es wegen Alison? Wie schrecklich es doch sein muss, mitzuerleben, wie die eigenen Eltern verbrennen. Gott sei Dank, war das Hausmädchen Herr ihrer Sinne und hielt das junge Ding davon ab, selbst ins Feuer zu gehen.“
Plötzlich durchbrach ein leichtes Klopfen, an der Tür, das Gespräch. Fanny trat ein. In ihrer Hand hielt sie ein kleines Fläschchen.
„Ich sehe schon, es ist wieder einmal Zeit, für meine Medizin“, stellte Mrs. Fielding fest.
„Ihnen fehlt doch nichts ernstes?“, fragte Isabell besorgt.
„Aber nein, meine Liebe. Es ist nur ein leichter Husten, welcher mich jedes Mal um diese Jahreszeit einholt. Der Doktor hat mir ein gutes Mittel verschrieben, das sicher bald helfen wird.“
Miss Lankfords Blick wanderte über das fahle Gesicht Rose Fieldings. Sicher wurde sie ab und an von einer leichten, heimtückischen Erkältung heimgesucht, aber dieses Mal machte sie sich ernsthafte Sorgen.
Um von ihrer angeschlagenen Gesundheit abzulenken, merkte Mrs. Fielding an, dass Bridget Thompson ihren Besuch für den Vormittag angekündigt hätte. Gerade, als Isabell im Begriff war, den Heimweg anzutreten, traf die Besagte ein.
„Sie wollen uns doch nicht schon verlassen, verehrte Miss Lankford?“, kam es Mrs. Thompson über die Lippen.
„Leider kann ich nicht länger bleiben. Mein Vater wünscht, dass ich pünktlich zum Essen erscheine“, entgegnete die, sich Verabschiedende.
„Wie schade. So muss ich Ihnen, bei Ihrem nächsten Besuch von meinem Vorhaben erzählen. Zumindest werden wir uns bald öfter sehen, denn mein Gatte und meine Person werden demnächst, eine Woche in Roschfield verweilen“, tat die Dame, aus Livingston, ziemlich geheimnisvoll.
Ihr Plan, das verschlafene kleine Örtchen zu neuem Leben zu erwecken, war noch nicht ganz ausgereift. Dennoch verfolgte sie eine Idee, welche sie vorhatte, in die Tat umzusetzen.
Miss Lankford horchte auf. Eine ganze Woche? Das kam ihr rätselhaft vor. Ihr war allerdings auch bekannt, dass die Thompsons die Ruhe in Roschfield sehr schätzten. Sie liebten ausgiebige Spaziergänge, über die langgestreckten Wiesen, welche in Bridget alte Erinnerungen wachriefen. Es konnte nur dieser Grund sein, weshalb sie anreisen wollten.
Irgendwie freute sich Isabell auf den Aufenthalt der Thompsons. Sie kannten so herrliche Geschichten aus London, wo sie selbst ein kleines Haus in der besten Gegend besaßen, das erzählten sie zumindest.
Pünktlich, wenn auch völlig außer Atem, traf Miss Lankford schließlich zu Hause ein. Alle hatten sich bereits um den Tisch versammelt. Emma trug gerade das Mittagessen auf.
Jane Lankford wartete, wie an jedem Donnerstag, auf irgendwelche Neuigkeiten, die es zu berichten galt. Da es sich aber meistens um belanglose Dinge handelte, nahm sie die frohe Kunde, dass die Thompsons eine ganze Woche bei Mrs. Fielding verbringen wollten, als Sensation entgegen. Etwas aufregendes musste dahinter stecken, da war sie sich ganz sicher.
Mr. Lankford ging auf die Angelegenheit in keinster Weise ein. Er hielt nichts auf dieses Geschwätz.
„Alles nur Weiberkram“, schimpfte er abwertend.
Am Mittwoch beschloss Miss Lankford, die Stiefel ihrer Mutter bei -WINSTON UND SOHN- abzuholen, denn keinen Tag länger, hätte sie dies hinaus zögern können.
Das flaue Gefühl, in der Magengegend, verfolgte sie bereits eine ganze Woche lang und war nicht gewillt, eher Ruhe zu geben, bis sie endlich ihre Pflicht als erfüllt ansah.
Die dunklen Wolken, welche sich am Himmel bildeten, trugen auch nicht gerade dazu bei, dass sie sich in ihrer Haut besser fühlte. Je näher sie dem Geschäft kam, desto übler wurde ihr.
Sie beschloss, noch ein, zwei Minuten vor der Eingangstür zu verharren, um ihre wirren Gedanken zu ordnen, was ihr irgendwie nicht gelingen wollte. Aber nun war sie einmal da und musste sich zusammenreißen, so gut es eben ging. Ihr blieb nichts weiter, als all ihren Mut zusammenzunehmen, den sie tief aus ihrem Innersten heraufbeschwor.
So leise, wie möglich, öffnete sie die Tür des Geschäftes. Die Glocke schellte aufs Neue, ohne jegliches Erbarmen und wieder zuckte Isabell zusammen.
Zwei Damen, aus Roschfield, waren gerade damit beschäftigt, ihre neuen Schuhe anzuprobieren. Nachdem sie das erschrockene Gesicht von Miss Lankford wahrnahmen, hatten jene nichts besseres zu tun, als sich über den eigenartigen Anblick, der sich ihnen offenbarte, ausgiebig zu amüsieren.
Mr. Winston, der sich emsig um die Damen bemühte, wendete seinen Blick von ihnen ab, um das Fräulein zu begrüßen: „Ah, Miss Lankford, wie schön, Sie zu sehen. Bradley wird sich gleich um Sie kümmern. Nur noch einen Augenblick. Ich werde ihn sofort rufen.“
Auf diese Worte war Isabell keineswegs vorbereitet. Ihr Gesicht nahm ungewollt eine leichenblasse Farbe an. Hatte sie richtig gehört? Bradley sollte sich um sie kümmern? Vielleicht hätte sie doch lieber Emma vorbeischicken sollen, aber dafür war es jetzt zu spät.
Wie in Trance vernahm sie die Stimme Mr. Winstons: „Bradley, bring doch bitte die Stiefel von Miss Lankford vor!“
Aus dem Hinterzimmer vernahmen die Anwesenden ein dumpfes Geräusch. Etwas musste zu Boden gefallen sein. Die zwei Damen neigten sofort ihre Köpfe zu Boden und amüsierten sich aufs Köstlichste. Isabell dagegen, war in diesem Augenblick, überhaupt nicht nach lachen zumute. Am liebsten hätte sie sofort die Flucht ergriffen, aber dann wäre sie morgen in ganz Roschfield das Gesprächsthema Nummer eins gewesen. Dieser Peinlichkeit wollte sie auf jeden Fall entgehen, deshalb nahm sie erneut ihren ganzen Mut zusammen, um diese Sache durchzustehen.
Plötzlich tauchte Bradley auf. Die Stiefel hatte er fest im Griff, aber sich offensichtlich nicht. Miss Lankford versuchte krampfhaft, eine gewisse innere Stärke heraufzubeschwören, bis sich ihre Blicke auf eine unsichere Weise trafen. Dieser Zustand währte jedoch nicht lange, denn im nächsten Moment öffnete sich die Eingangstür des Geschäftes. Mrs. Thompson polterte herein und sprach: „Ach hier stecken Sie, Kindchen! Ich habe Sie schon überall gesucht.“
Die Lage, für Isabell, hätte nicht schlimmer sein können, denn Mrs. Thompson, welcher es sonst nie die Sprache verschlug, zog es vor, die Anwesenden einer ausgiebigen Musterung zu unterziehen.
„Ist denn etwas mit Mrs. Fielding?“, warf Isabell ein, um diesem erbärmlichen Zustand ein Ende zu setzen.
Die gute Bridget sprang sofort darauf an. „Aber nein“, versuchte sie die Dinge abzumildern. „Ich bin gekommen, um Ihnen etwas zu verkünden, was wir allerdings nicht hier besprechen sollten. Wir erwarten Sie heute Nachmittag, bei Mrs. Fielding zum Tee. Ich habe mir von Ihrem Vater bereits die Erlaubnis eingeholt, dass Sie uns besuchen dürfen.“
Was für ein außerordentlicher Auftritt, seitens Mrs. Thompsons. Sie kam nicht drumherum, den beiden Damen, aus Roschfield, einen erhabenen Blick zuzuwerfen, welche sich nun, wie vermutet, mit weit aufgerissenen Mündern, nicht mehr von der Stelle rühren konnten. Das Wort Neuigkeit durchbohrte ihre Köpfe. Es dauerte auch nicht lange, da verließen sie eilig das Geschäft. Brigdet Thompson, sichtlich amüsiert, hatte ihr Ziel erreicht, nämlich für reichlich Gesprächsstoff in Roschfield zu sorgen.
An Miss Lankford gerichtet, meinte sie: „Jetzt muss ich aber schleunigst gehen. Mein Gatte wartet draußen schon voller Ungeduld auf mich.“
Mit einem letzten, flüchtigen Blick auf Bradley gerichtet, ward sie schließlich verschwunden.. Kurz darauf setzte sich die Kutsche in Bewegung. Isabell nutzte die Gunst der Stunde, bezahlte eilig die Reparatur der Stiefel, wünschte noch einen schönen Tag und eilte blitzschnell nach draußen.
George Winston blickte seinem Sohn mit ernster Miene entgegen. „Du hast Miss Lankford doch nicht etwa verärgert, oder?“
Bradley zuckte mit den Schultern und zog es vor, das Hinterzimmer aufzusuchen.
„Verflucht!“, schimpfte Isabell, denn sie ärgerte sich zutiefst, über die Situation, welche sich gerade im Laden abgespielt hatte. Immerhin kannte sie Mrs. Thompsons scharfes Auge, für solche zweideutigen Angelegenheiten.
Wahrscheinlich würde diese, bei ihrem nächsten Zusammentreffen, sie mit unangenehmen Fragen konfrontieren.
Edward Jenkins war gerade damit beschäftigt, Ware von seinem Karren herunterzuladen. Isabell fiel auf, dass er sich heute besonders zurecht gemacht hatte. Es dauerte auch nicht lange, da erfuhr sie den Grund für diese Wandlung.
Mr. Jenkins meinte: „Sehen Sie, Miss Lankford, welch herrlicher Anblick sich da einem auftut, wenn man dieses anmutige Wesen dort erblickt.“
Die Rede war von keiner Geringeren, als Miss Abigel Graves. Adam Jenkins Augen bekamen plötzlich einen seltsamen Glanz, als die Besagte, ihm ein zartes Lächeln zuwarf.
„Sie haben vollkommen recht. Ich habe selten eine Dame gesehen, welche so eine gerade Haltung aufweist und sich so geschmackvoll kleidet“, entgegnete Isabell.
Mit ihrem Satz traf sie allerdings ins Leere, denn Mr. Jenkins Ohren schienen sich gegen alle äußeren Einflüsse verschlossen zu haben. Liebe scheint nicht blind zu machen, sondern taub, kam es Miss Lankford in den Sinn.
Den schönen Anblick, den Miss Graves ausstrahlte, unterbrach plötzlich eine derbe Gestalt, die aus dem Inneren des Ladens heraustrat. Adam Jenkins durchfuhr ein heftiges Zucken. Seine Miene verfinsterte sich zusehends.
„Na, da wollen wir uns mal wieder an die Arbeit machen“, sprach er missgestimmt und drehte sich in Richtung seiner Auslagen.
„Was dieser Einfaltspinsel nur den ganzen Tag vor seinem Laden zu schaffen hat“, schimpfte Mrs. Morris kopfschüttelnd.
Sie blickte ungläubig auf ihre Schwester, welche schon seit einer vollen Stunde damit beschäftigt war, die Fensterscheiben des Geschäftes blitzblank zu putzen.
„Wenn du so weiter machst, meine liebe Schwester, müssen wir bald den Glaser bestellen, dass er uns die durch-geputzten Fenster ersetzt.“
Als Beth Morris, Isabell Lankford in der Ferne erblickte, rief sie nach ihr: „Miss, kommen Sie doch bitte für einen Moment herüber!“
Es gab da wohl nur eine Sache, die Mrs. Morris brennend interessierte.
„Es wird mir nichts anders übrigbleiben, als der netten Aufforderung zu folgen“, sprach Miss Lankford und verabschiedete sich von Mr. Jenkins. Der winkte enttäuscht ab, denn nur ungern hatte er seinen Blick von Abigel Graves gelöst.
„Es geht mich ja nichts an, aber wissen Sie schon, was das für Neuigkeiten sind, über die alle sprechen?“
Mrs. Morris abwartender Blick verlangte nach einer Antwort.
„Leider muss ich sagen, dass ich darüber nichts genaueres weiß. Erst heute Nachmittag treffe ich die Thompsons, bei Rose Fielding zum Tee.“
Auf Beth Morris Gesicht zeichnete sich bittere Enttäuschung ab. Sie wirkte sogar ein wenig beleidigt. Sie meinte: „Erst heute früh, sagte ich zu meiner Schwester: Abigel, da liegt was in der Luft, ich spüre es ganz deutlich.“
Mit andächtigem Blick sah Mrs. Morris zum Himmel empor, so als suche sie die Antwort in den Wolken. Dann besann sie sich und sprach: „Und Sie haben nicht die leiseste Ahnung, was es sein könnte?“
Ein abermaliges verneinen, seitens Miss Lankfords, musste sie notgedrungen hinnehmen.
Mr. Lankfords Freude, dass sie am Nachmittag Rose Fielding einen Besuch abstatten wollte, hielt sich in Grenzen. „Nimm dir an deiner Cousine Amy ein Beispiel. Sie geht nie ohne Begleitung außer Haus und in ganz Roschfield hört man nicht ein schlechtes Wort über sie oder den Rest der Familie. Gewisse Dinge gehören sich einfach nicht, für junge Damen.“
Immer wieder hörte Isabell diese Worte. Ihr Vater hielt noch immer an den alten Tugenden fest und blieb jenen altmodischen Grundsätzen bis auf Gedeih und Verderb treu. Vincent Lankford konnte dennoch nicht verhindern, dass sich seine Tochter zu einer jungen Frau mit eigenem Willen heran entwickelte. Eine Heirat kam, laut seiner Meinung, noch nicht in Betracht. Er betonte stets und ständig, seine Tochter sei noch viel zu jung für so ein Vorhaben. Isabells Mutter vertrat, in dieser Angelegenheit, eine ganz andere Meinung, die sie aber vor ihrem Gatten nur selten preisgab. Sie beugte sich seinen Ansichten, wie es eine gute Ehefrau eben tat.
Am Nachmittag machte sich Isabell auf den Weg zu Mrs. Fielding. Rechtzeitig, zum Tee, wollte sie da sein. Beth Morris stand hinter der Auslage im Schaufenster und verfolgte jeden ihrer Schritte, als sie am Geschäft vorbei eilte. Ihre Schwester Abigel ermahnte sie, doch ihre begonnene Arbeit weiterzuführen. Ein leichter Seufzer entfuhr Mrs. Morris, als sie schweren Herzens ihren Beobachtungsposten aufgeben musste.
Je näher Isabell dem Anwesen von Mrs. Fielding kam, desto mehr wuchs ihr Interesse daran, zu erfahren, was nun der eigentliche Anlass für den Besuch der Thompsons sei. Selbst die Schuhmacherwerkstatt ließ sie an diesem Tag links liegen.
Charles, der Diener, öffnete dem Fräulein die Tür. Ohne auf ihn zu warten, hastete die Besucherin die Treppe hinauf. Die Neugier war doch stärker ausgeprägt, als es ihre gute Erziehung zuließ.
„Oh, da sind Sie ja, meine liebe Isabell. Wir haben Sie schon sehnsüchtig erwartet“, meldete sich Bridget zu Wort, als sich die Tür öffnete.
Mr. Thompson sprang sofort von seinem Stuhl auf, um Isabell den selbigen, welcher sich in der Nähe des wärmenden Kamins befand, anzubieten.
Auch wenn draußen der Frühling schon längst Einzug gehalten hatte, herrschte in den Räumen immer noch eine gewisse Kälte vor, welche Dank des großen Waldstückes, das zum Anwesen gehörte, unerheblich erschien.
Wie Miss Lankford doch diesen Anblick der lodernden Flammen liebte. Oftmals blickte sie, fernab von allen Welten, in das Feuer hinein, um dem Treiben zuzusehen, wie jene knisternden Gesellen verspielt auf und absprangen und niemals müde wurden. Dann versank sie ganz und gar in ihren Gedanken, so wie auch dieses Mal. Kein Geringerer, als Bradley beflügelte ihre Sinne.
Um nicht gefunden zu werden, verkrochen sie sich in den Hecken, hinter dem Haus. Isabell spürte seine Finger, wie sie versuchten nach ihr zu greifen. Sie lachte und verfing sich in den Zweigen der Büsche. Jetzt hatte er leichtes Spiel, sie zu packen, um ihr einen Kuss auf die Lippen zu drücken. Doch dazu kam es nicht, denn eine eindringliche Stimme holte Isabell, aus ihren Träumen, in die Realität zurück.
„Lassen Sie uns doch bitte an Ihren Gedanken teilhaben“, meinte Bridget Thompson amüsiert.
„Sie sind ja gar nicht bei der Sache, meine liebe Miss Lankford. Haben Sie vielleicht Fieber? Ihre Wangen sind so rot“, merkte nun auch Rose Fielding an.
Isabell spürte die Blicke, die fragend auf sie gerichtet waren. Nervös wendete sie sich den beiden Damen entgegen. „Ich fühle mich wohl. Mir fehlt wirklich nichts“, versuchte sie die Situation zu entschärfen.
Mrs. Thompson schien dem Frieden keineswegs zu trauen. Unmissverständlich rückte sie ihren Stuhl ein wenig näher, an ihr Opfer heran, so als wolle sie der Sache auf den Grund gehen.
„Ich will nicht indiskret sein, aber dieser junge, gutaussehende Mann, Sie wissen schon, der Sohn von Mr. Winston, mit dem ich Sie heute morgen sah, scheint mir eine gute Partie zu sein. An Ihrer Stelle wäre ich auf der Hut“, betonte sie eindringlich.
Mrs. Fielding, die es überhaupt nicht mochte, wenn Bridget Thompson von irgendwelchen Ehestiftungen anfing, wechselte schnell das Thema. „Du hast Miss Lankford noch gar nichts von deiner Neuigkeit erzählt“, meinte sie eilig.
Die Angesprochene ließ es sich nicht zweimal sagen, von ihrem Vorhaben zu berichten: „Da wir uns entschieden haben, eine Woche hier, in Roschfield, zu verweilen, möchten wir....“
Mrs. Thompsons Worte verstummten für einen kurzen Augenblick. Andächtig richteten sich ihre Augen auf ihren Gatten, welcher nur kurz aus seiner Lektüre aufsah. „Also wir“, betonte sie noch einmal, „haben uns entschlossen, im alten Gemeindesaal einen Tanzabend zu geben.“
Isabell stockte der Atem. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Bridget Thompson entgegen, die sich gerade sehr wichtig vorkam. „Was meinen Sie dazu, Miss Lankford?“
Da die Angesprochene kein einziges Wort über die Lippen brachte, übernahm Mrs. Thompson abermals die weitere Konversation. „Du weißt, meine liebe Rose, dass ich Roschfield stets die Treue hielt. Auch wenn ich jetzt in Livingston wohne, bleibt dieses verschlafene Fleckchen Erde immer meine Heimat. Die alten Zeiten sollen wieder aufleben.“
Das Bridget Thompsons Miene sich schlagartig verfinsterte, lag wohl an dem Umstand, dass Miss Lankford ihre Freude, über das bevorstehende Ereignis, nicht teilen konnte, was sie sehr persönlich nahm.
„Die meisten Väter können ihre Töchter nur schweren Herzens ziehen lassen. Wenn einmal der Tag gekommen ist, an dem sie sich von ihnen trennen müssen, bricht für sie eine Welt zusammen. Manche versuchen es mit allen Mitteln, dass ihr eigen Fleisch und Blut niemals in eine Situation gerät, in welcher sie einen geeigneten Ehemann finden könnten. Deshalb werden aus einigen, alte Jungfern und ehe sie sich besinnen, will sie keiner mehr haben. Wenn ich noch an meine Jugend zurück denke“, geriet sie zusehends ins schwärmen, „da gab es in Roschfield noch viele Tanzabende. Dabei wurden immer die besten Ehen arrangiert und so manches gute Geschäft abgeschlossen. Oh, ich sehe sie schon vor mir, die jungen Herren, aus Livingston, wie sie zahlreich angereist kommen und davon, kann ich Ihnen sagen, gibt es eine stolze Anzahl und das Schönste daran, die meisten sind weder verlobt noch verheiratet.“
„Nun übertreibst du wohl ein wenig, meine Beste“, holte Rose Fielding, Mrs. Thompson auf den Boden der Tatsachen zurück.
Aber jene wehrte sich gegen diesen Vorwurf und dementierte aufs Heftigste: „Keineswegs liege ich mit dieser Behauptung falsch. In Livingston ist der Fortschritt nicht mehr aufzuhalten. Natürlich kennt sich in solchen Dingen, mein Gatte besser aus, aber ich habe ja Augen im Kopf und diese können mir nichts vormachen.“
Mr. Thompson, welcher sich immer noch diskret im Hintergrund aufhielt und in seinem Buch blätterte, blickte, nach diesen einschlägigen Worten seiner Gattin, durch die Damenrunde und blieb an Isabell Lankfords starrem Gesichtsausdruck hängen, den jene nun versuchte, in ein Lächeln umzuwandeln. Der stille Beobachter kniff angestrengt seine Lippen zusammen, um nicht in ein schallendes Gelächter zu verfallen. Seine Gattin wusste die Situation wohl zu deuten. „Jetzt sagen Sie schon etwas, Miss Lankford. Die Freude springt Ihnen ja förmlich aus dem Gesicht!“
Die Ertappte fing an zu stammeln: „Natürlich freue ich mich. Es kommt nur so überraschend, dass es mir, für den ersten Moment, die Sprache verschlagen hat.“
„Das ist uns nicht entgangen“, betonte Mrs. Thompson schroff.
Was werden wohl die Leute in Roschfield dazu sagen? kam es Isabell in den Sinn. Jeder Einzelne liebte doch seine Macht der Gewohnheit und hatte auch nicht vor, dies zu ändern. Ausgerechnet eine Tanzveranstaltung. Schwer vorzustellen, dass tatsächlich jemand auf die Idee kommen würde, das Tanzbein zu schwingen. Sie versuchte sich krampfhaft ihren Vater ins Gedächtnis zu rufen, wie er vor ihrem geistigen Auge ein Bein vor das andere setzte, um seine steife Haltung zu überwinden.
„Gleich morgen werden wir mit den Vorbereitungen beginnen“, verkündete Bridget Thompson, voller Enthusiasmus. „Es müssen Plakate angefertigt werden, welche die Dienerschaft bis nach Livingston bringen muss. Stattfinden könnte es am Samstag. Was meinen Sie, meine Damen?“
Erwartungsvoll blickte sie in die Runde. Niemand schien dagegen irgendeinen Einwand zu haben. Warum auch? Hatte die Veranstalterin doch alles unter Kontrolle.
Der Nachmittag verging, wie so oft, rasend schnell. Am Himmel hielten langsam die dunklen Abendwolken Einzug. Man verabredete sich für den nächsten Tag, um den Gemeindesaal einer Begutachtung zu unterziehen.
Eilig lief Isabell durch die Straßen. Die umliegenden Geschäfte hatten längst geschlossen. Die Dunkelheit schlich durch Roschfields Gassen und verfolgte sie, bis sie endlich ihr Elternhaus erreicht hatte.
Vincent Lankford behandelte seine Tochter wie eine Fremde und würdigte sie keines Blickes, da sie wiedereinmal die Zeit vergessen hatte.
Nur Alison schien noch auf ihrer Seite zu sein. Aufmunternd nickte sie ihr zu, als sie sich an den Tisch begab. Eine gewisse Spannung baute sich auf, in der kein einziges Wort fiel.
Doch dann platzte es aus Mr. Lankford heraus: „Willst du uns zum Gespött der Leute machen? Keine unverheiratete junge Frau läuft abends allein durch die Straßen Roschfields.“
Isabells Mutter fiel vor Schreck der Löffel aus der Hand. Mit viel Lärm knallte er auf den Boden.
Ihr Gatte wetterte unterdessen unbeirrt weiter: „Isabell, sprich, was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen? Aber überlege nicht lange, denn meine Wut reicht schon ins Unermessliche. Ich hoffe, dass du dich mit einer guten Entschuldigung, für dein spätes Eintreffen, rechtfertigen kannst.“
Ohne darauf zu achten, was seine Frau im Hintergrund veranstaltete, wich Mr. Lankfords Blick nicht von der Gestalt seiner Tochter ab, was jene völlig verunsicherte. Hilfesuchend blickte sie zu ihre Mutter, die ihre Lippen fest zusammenkniff, so als wären sie versiegelt.
„Die Thompsons haben vor, im Gemeindesaal, einen Tanzabend zu geben“, sprach Isabell schließlich.
Nun war es raus und sie fühlte plötzlich eine innere Erlösung.
Jane Lankford horchte auf. Ein Anflug der Begeisterung übermannte sie, welchen sie aber lieber für sich behielt. Sie senkte ihren Blick, auf ihren Teller und ein heimliches Grinsen zog über ihr Gesicht. Ihr Gatte dagegen, reagierte auf die ausgesprochene Tatsache sehr verärgert. Er schlug mit der Faust auf den Tisch. Das Geschirr bebte vor Angst und als er aufsprang, fiel polternd sein Stuhl nach hinten um. Wutentbrannt lief er auf und ab. Die Drei, noch am Tisch Verbliebenen, verfolgten jeden seiner einzelnen Schritte mit angespannter Miene.
„Ich wusste schon immer, dass dich diese Treffen, bei Rose Fielding, vergiften würden“, zischte der Hausherr. „Ein Fest! Ha, wer brauch schon ein Fest. Das unsere Kinder völlig in den Sud der Verdorbenheit geraten? Mrs. Fielding selbst, wäre wohl nie auf so eine absurde Idee gekommen. Nein, ich glaube, das ist einzig und allein das Werk dieser Bridget Thompson.“
Es schien, als wäre Mr. Lankford nicht mehr in der Lage, sich zu beruhigen. Missmutig verließ er den Raum, um sich in sein Arbeitszimmer zurückzuziehen.
Isabells Mutter blinzelte ihre Tochter erheitert von der Seite an. Wenn es nach ihr ginge, hätte das Ereignis schon morgen stattfinden können. Die vergangenen Zeiten holten sie ein. „Dein Vater war nie ein großer Tänzer. Wahrscheinlich tat er es nur aus Anstand oder weil seine Eltern ihn dazu drängten. Aber eins kann ich mit Stolz behaupten, wenn er einmal tanzte, dann geschah es meistens mit meiner Wenigkeit.“
Ein tiefer Seufzer löste sich aus der Brust Jane Lankfords. Die Begeisterung, für die wieder erwachten Ereignisse, welche ihr Leben einst prägten, verflüchtigten sich in einem nichts aus bitterer Enttäuschung. Was für ein Irrsinn, damals zu glauben, dass die Zukunft etwas für sie beinhaltete, indem sie der Verblendung des schönen Scheins erlag.
Dieser Zustand, jene Rückblende, die lediglich ein paar Sekunden anhielt, fühlte sich unbehaglich an, denn so hatte Isabell ihre Mutter noch nie gesehen. Doch plötzlich schien alles vergessen zu sein. Die zuvor, von Trübsinn Geplagte, sprang in die Höhe und begann damit, sich im Kreise zu drehen, fast so, als wolle sie alle Tänze durchgehen, die ihr gerade einfielen.
„Ein neues Kleid wäre schön oder doch eins, was ich lange nicht getragen habe?“, fing Jane Lankford an, sich hochzuschaukeln.
Sicherlich würde es Vincent nicht erlauben, dass sich seine Gattin, extra wegen des Festes, ein neues Kleid nähen ließe. Also musste sie notgedrungen, mit einem schon vorhandenem vorlieb nehmen.
„Morgen Nachmittag werden wir deine Cousine Amy aufsuchen, um ihr die freudige Mitteilung zu überbringen“, meinte Jane bestimmend.
Auf die Anfrage hin, ob Alison nicht ebenfalls dazu bereit wäre, die Lankfords zu begleiten, folgte ein entschiedenes: „Nein“, was auch nicht revidiert wurde.
Der nächste Morgen gestaltete sich als recht harmonisch. Vincent Lankford schien sich beruhigt zu haben, denn seine Gesichtszüge besaßen nicht mehr diesen derben, grimmigen Ausdruck. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, ganz zur Freude seiner aufgedrehten Gattin.
Zum Glück trat Isabell, an diesem Vormittag, ihren wöchentlichen Besuch zu Mrs. Fielding an, sonst hätte ihre Mutter, sie wohl um den Verstand gebracht. Die Freiheit zu genießen, war an diesem Morgen enorm und ihr noch nie so bewusst gewesen.
Mr. Mulligan trat zur Tür seines Gasthofes heraus. Er kam nicht drumherum, sich über die Dinge zu äußern: „Sehen Sie sich die Leute an. Seitdem das Gerücht umgeht, dass im alten Gemeindesaal eine Tanzveranstaltung stattfinden soll, scheinen plötzlich alle verrückt zu spielen.“
Er schüttelte verständnislos den Kopf. „Sie wissen gar nicht, was bei uns zu Hause los ist. Die drei Mädchen schwirren im Haus herum, wie aufgescheuchte Hühner. Zu Eliza habe ich gesagt, du bist zu jung, um tanzen zu gehen. Was soll ich Ihnen sagen, sie fing bitterlich an zu weinen und alle redeten so auf mich ein, dass ich nicht anders konnte, als mein Einverständnis zu geben. Meine Frau meinte, besser die Jüngste an den Mann bringen, als gar keine. Ist das nicht verrückt?“
Tatsächlich herrschte in Roschfield ein gewisser Mangel an unverheirateten jungen Männern vor, welcher es erschwerte, eine Verbindung fürs Leben zu knüpfen.
In der Ferne erblickte Isabell ein ihr wohlbekanntes Gesicht. Es handelte sich um Bridget Thompson, welche wild gestikulierend in Richtung des Gemeindesaals zeigte.
Mr. Mulligan, der nun ebenfalls in diese Richtung blickte, murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und ging wieder ins Haus zurück.
Als Isabell endlich Mrs. Thompson erreicht hatte, wirkte diese, völlig aufgelöst. „Kommen Sie, meine Liebe, gehen wir hinein. Zu meiner Freude war ich sehr überrascht, dass der Saal, im Laufe der Zeit, nicht sonderlich an Eleganz eingebüßt hat. Es hätte durchaus schlimmer sein können.“
Einige handwerklich geschickte Männer waren gerade dabei, den Fußboden auszubessern. Mrs. Thompson, so gewann Isabell den Eindruck, führte hier das Regiment. Sie gab stets und ständig Anweisungen.
„Sehen Sie sich nur um!“, betonte Rose Fielding, welche sich zu den zwei Damen gesellte. Augenblicklich hielt sie sich ihr Taschentuch vor den Mund, denn ein Hustenanfall überkam sie.
„Geht es dir gut, meine liebe Rose? Du musst unbedingt noch einmal mit dem Doktor reden. Er muss dir eine andere Medizin verschreiben“, sprach Mrs. Thompson, mit Nachdruck.
„Ach was! Es ist nur der herumfliegende Staub, der meine Lunge zusammenschnürt“, wiegelte die Angesprochene ab. Anstatt auf sie zu achten, sollten sich ihre Begleiterinnen lieber den Fortschritten der Renovierungsarbeiten widmen, meinte sie.
Isabell Lankfords Augen wanderten entlang der hohen Decke, weiter zu den kunstvoll gefertigten Wandmalereien, bis hin zu dem glänzenden Fußboden. Dort blieb ihr Blick, wie gebannt, an einer gewissen Person hängen. Zum Glück hatte Bradley sie noch nicht entdeckt.
Sofort versteckte sich Miss Lankford hinter Bridget Thompson, um ihn, aus sicherer Entfernung, besser beobachten zu können.
Die Männer lachten, währenddessen sie damit beschäftigt waren, die Dielen des Bodens abzuschleifen. Isabell senkte für einen Moment ihre Lider und sah in ihren Gedanken Bradley, wie er sich nach ihr umdrehte, um ihr sein schönstes Lächeln zu schenken. Ihr Herzschlag verdoppelte sich.
Plötzlich knallte neben ihr etwas zu Boden. Sie erschrak dabei so heftig, dass sie ungewollt an die Gestalt von Mrs. Thompson eckte, die einen gewaltigen Satz nach vorne machte.
„Ist Ihnen vielleicht unwohl?“, fragte diese verwirrt. „Sicher liegt es an der schlechten Luft im Saal. Aber Sie werden sehen, wenn die Arbeiten abgeschlossen sind, dann kann man hier auch wieder atmen.“
Isabell nickte, ohne Wiederworte.
Die weitere Begutachtung des Saals führte unausweichlich auch an Bradley Winston vorbei. Im Augenwinkel bemerkte das Fräulein, dass sie von der Seite gemustert wurde. Sie traute sich nicht, seinen Blick zu erwidern und tat deshalb so, als hätte sie rein gar nichts bemerkt.
Der aufmerksamen Mrs. Thompson entging dieser Zustand allerdings keineswegs. Sie kam nicht drumherum, Isabell zur Seite zu nehmen, um ihre Feststellung kundzugeben: „Ich muss mir um Ihr Glück, keine Gedanken machen.“
„Wie meinen Sie das?“, fragte Miss Lankford erstaunt.
„Die verliebten Blicke, welche Mr. Winston Ihnen zuwarf, waren doch eindeutig genug.“
Isabells verblüfftes Gesicht verfehlte seine Wirkung nicht.
„Hat er Ihren Eltern vielleicht schon einen Besuch abgestattet, ohne Sie selbst, davon in Kenntnis gesetzt zu haben? Sie müssen wissen, dass es in meiner Jugendzeit kaum junge Damen gab, welche sich ihren Ehemann selbst aussuchen durften. Von mir kann ich allerdings behaupten, dass meine Ehe, mit Mr. Thompson, nicht arrangiert wurde. Meine Eltern schätzen ihn sehr und so gaben sie ihr Einverständnis.“
Isabell stutzte. „Hat sich meine Mutter ihren Ehemann auch selbst ausgesucht?“, fragte sie etwas irritiert.
„Ihre Mutter, mein liebes Kind, war damals das schönste Mädchen in Roschfield. Jeden hätte sie haben können, wirklich jeden. Aber sie liebte nur einen, dessen Namen ich Ihnen nicht nennen will. Sie müssen mich verstehen. Am Ende fiel die Wahl auf Vincent Lankford und ich wage zu behaupten, dass jene Entscheidung einen gewissen Vorteil beinhaltete. Immerhin genoss er in Roschfield ein hohes Ansehen und nannte ein kleines Vermögen sein Eigen, was wohl für sich sprach.“
Bridget Thompson hatte unwillkürlich Isabells Interesse geweckt.
„Die Ehe wurde nicht aus Liebe geschlossen?“, fragte sie noch einmal nach, um die ganze Angelegenheit zu verstehen.
„Was Sie, mit Ihren jungen Jahren, unter Liebe verstehen, ist ein Trugbild, was uns mit seinem schönen Schein blenden will. Es ist eher ein gegenseitiges Geben und Nehmen, mehr nicht.“
Miss Lankford schossen hunderte Gedanken durch den Kopf. Niemals würde sie einen Mann heiraten, den sie nicht liebte.
Ihre ganze Hoffnung lag auf dem kommenden Samstag, dann würde Bradley ihr endlich einen Antrag machen, da war sie sich ziemlich sicher, denn immerhin, gab es keine bessere Gelegenheit.
Am Nachmittag machten Jane Lankford und ihre Tochter sich auf, Cousine Amy und deren Vater aufzusuchen.
Richard Lankford zog stets ein griesgrämiges Gesicht. Er lebte, nach dem Tod seiner Gattin, welche an Tuberkulose verstarb, eher zurückgezogen. Amys Bruder, Thomas, arbeitete beim ansässigen Pfarrer Mr. Sheffield. Die Predigten von Tugend und Enthaltsamkeit nahm er gern mit nach Hause. Oft vergeblich, versuchte er diese seiner Schwester einzubläuen, welche aber nichts davon hören wollte. Amy litt sehr unter der Stränge ihres Elternhauses. So war es auch nicht verwunderlich, dass ihr Vater nicht gewillt war, sein Einverständnis für den geplanten Tanzabend zu erteilen. Nicht einen einzigen Fuß sollte Amy in diesen sündigen Saal setzen. Es bedurfte großer Überzeugungskraft, seitens Jane Lankfords, nach einer Lösung zu suchen, den beiden Parteien gerecht wurde.
„Er hat seine Einwilligung gegeben“, waren ihre Worte, als sie schließlich die Mädchen aufsuchte.
„Aber nur unter einer Bedingung“, betonte sie äußerst ernst. „Ich soll ein Auge auf seine geliebte Tochter werfen, um sie vor allen heiratswilligen Männern zu beschützen.“
Nach dem Tee traten Isabell und ihre Mutter gutgelaunt den Heimweg an. Plötzlich durchbohrten die Worte Mrs. Thompsons, die Gedankengänge Isabells. Wieso besaß ihre Mutter so viel Einfluss auf den Onkel? War er etwa der mysteriöse Unbekannte aus ihrer Vergangenheit?
Früher soll Richard ein rechter Taugenichts gewesen sein, so hatte es Mrs. Thompson des öfteren betont. Musste ihre Mutter deshalb vielleicht, mit dessen Bruder vorlieb nehmen?
Selbst beim Abendessen war es nicht möglich, sich irgendetwas anderes ins Gedächtnis zu rufen. Wie schwarzes Pech klebte diese Tatsache, dass ihre Eltern nicht aus Liebe geheiratet hatten, an ihrer Person. Misstrauisch beobachtete sie jede einzelne Geste ihrer schweigsamen Eltern. Wahrscheinlich war es nur ihre eigene Phantasie, die wie sooft, mit ihr durchging, um sie in den Glauben zu führen, dass Richard tatsächlich der Besagte sein könnte, der seinerzeit um ihre Mutter geworben hatte.
Der Samstag kam schneller, als es manchem lieb war. Nur schwerlich konnte Jane Lankford ihre Aufregung verbergen. Mit zwei Kleidern, auf dem Arm, suchte sie bei ihrer Tochter Rat. „Welches, meinst du, soll ich heute Abend tragen? Das dunkelblaue vielleicht? Was ich aber zu gewagt finde oder das beige, was eher schlicht wirkt.“
Noch ehe Isabell irgendetwas dazu sagen konnte, verschwand ihre Mutter wieder aus dem Zimmer.
„Da siehst du es, Alison, was so ein Fest auslösen kann. Für heute Abend befürchte ich das Schlimmste“, meinte sie und warf ihrer Stiefschwester einen ironischen Blick entgegen.
Miss Stewart überkam die Versuchung, selbst an dem bevorstehenden Ereignis teilzunehmen, jedoch nicht so wie sie war. Unsichtbar vielleicht oder im Körper einer anderen Person, wäre das sicherlich möglich gewesen. Aber da diese Wunschvorstellungen jenseits der Realität lagen, verwarf sie den Gedanken wieder.
Am Mittag traf Amy, in Begleitung ihres Vaters ein. Ihr Bruder, Thomas Lankford, konnte das bevorstehende Spektakel, sowie er es nannte, nicht billigen. Er vertrat die Ansicht, dass Roschfield unweigerlich dem Verfall geweiht sei, sobald man nur einen Fuß in diesen Saal setze.
Man kannte Thomas auch von einer ganz anderen Seite. Im Kindesalter neigte er stets zu allerlei Dummheiten.
Wenn Isabell so darüber nachdachte, war Thomas wohl der größte Lausbub, den es je in Roschfield gegeben hatte.
Mit den Jahren hatte sich alles verändert. Aber nur die Menschen waren es, Roschfield blieb immer gleich.
„Ich bin so aufgeregt“, meinte Amy völlig aufgelöst. „Heute Abend möchte ich besonders hübsch aussehen, denn vielleicht finde ich ja einen geeigneten Ehemann für mich“, scherzte sie.
Ihre Cousine verzog das Gesicht. „Vergiss nicht, dass meine Mutter auf dich aufpasst. So eine Gelegenheit wird sich dir wohl nicht bieten.“
„Was meinst du, ob Bradley Winston auch erscheinen wird?“
Wie kam Amy jetzt ausgerechnet auf Bradley, dachte Isabell. Hoffentlich hatte sie sich nicht ihn, als zukünftigen Ehemann auserkoren. Dieser Gedanke schien Miss Lankford absurd, schließlich verbrachte ihre Cousine fast den ganzen Tag zu Hause und dort konnte sie Bradley wohl schlecht begegnet sein. Zugegeben, als Kinder spielten sie fast täglich zusammen, doch das gehörte der Vergangenheit an. Die Zukunft konnte nur Isabell selbst und Bradley gehören, da war sie sich ganz sicher.
Am Abend war es dann soweit. Die beiden Mädchen gingen Arm in Arm die Treppe hinunter, wo sie schon sehnlichst erwartet wurden. Jane Lankford stockte der Atem, bei jenem Anblick.
„Du kannst von Glück reden, Amy, dass dich dein Vater nicht so sieht, denn dann hätte er dich sicher gleich wieder mit nach Hause genommen“, kam es ihr über die Lippen.
Draußen, vor der Tür, wartete bereits Vincent Lankford, der einen gewissen Stolz empfand, als er seine wunderschöne Tochter erblickte. Dieser Zustand wurde jedoch von einem schleichenden Gefühl der Angst überschattet, denn Isabell sah an diesem Abend so verdammt erwachsen aus und das behagte ihm überhaupt nicht.
Gemeinsam brachen sie auf. Obwohl sich alle nicht sonderlich beeilten und einen gemütlichen Gang eingelegt hatten, konnte Jane Lankford, mit ihren Begleitern, kaum Schritt halten.
Das dunkelblaue Kleid, was sie trug, besaß so seine Tücken. Es erschien ihr heute ungewöhnlich eng. Im Laufe der Zeit musste sie wohl ein wenig an Fülle zugelegt haben. Viele Jahre hing das edle Stück, so gut wie ungenutzt, im Schrank. Es wartete stets geduldig auf eine passende Gelegenheit, welche nun gekommen war. Emma musste ihr das Mieder so straff ziehen, bis sie fast keine Luft mehr bekam und das machte sich nun bemerkbar.
Vor dem Gemeindesaal hatten sich bereits die ersten Gäste versammelt. Diejenigen,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Bildmaterialien: pixabay
Tag der Veröffentlichung: 20.05.2015
ISBN: 978-3-7396-3003-8
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