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Prolog




Wind kam auf. Man konnte das Heulen von ihm im ganzen Haus hören, es war das einzige Geräusch, zusammen mit dem Ticken einer Uhr.
Mandagöttin erhob sich. Die anderen starrten sie betreten an.
„So. Wir haben also ein Problem.“
Die anderen schwiegen.
Der Wind heulte weiter. Mandagöttin ergriff wieder das Wort.
„Es ist nur ein kleiner Fehltritt gewesen. Nur ein kleiner. Nichts zu befürchten. Wir können weitermachen. Keine Sorge.“
„Manda“, keuchte eine zierliche Frau am Fenster, „jemand ist tot! Ein Kind! Nennst du das einen, kleinen Fehltritt‘?!“
Mandagöttin lächelte. Ihre goldenen Zähne blitzten gefährlich.
„Artemis, Artemis, Artemis ...“, seufzte sie.
Die angesprochene Frau schluckte.
„Liegt dir das Leben dieses einzelnen Menschen wirklich so am Herzen, als das du die ganze Mission gefährden wolltest?
Artemis schüttelte langsam den Kopf.
„Was wollen wir noch gleich?“
„D-Die alten Rechte ...“, murmelte sie monoton.
„Ganz recht. Und wir lassen uns das von niemandem kaputtmachen“, flüsterte Mandagöttin nun ganz nah bei der jungen Frau.
„J-ja. Es tut mir leid ...“, stotterte Artemis.
„Schön. Also. Wir haben ein kleines Problem ...“, fuhr Mandagöttin fort.
„Können wir das nicht vertuschen? Vor den Schülern geheim halten? Einfach weitermachen?“, meinte ein muskelbepackter Mann mit einem langen, weißen Bart.
Mandagöttin nickte.
„Das wird das Beste sein. Vernichtet seine Akte. Doch es gibt ein weit schwerwiegendes Problem, und zwar seinen Lehrmeister. Vincent.“
Alle starrten sie an.
„Wenn er etwas davon mitbekommt, dann sind wir geliefert!“, murmelte ein großer, tätowierter Mann.
„Ach Hermes, so extrem wird es nicht sein. Niemand ist stärker als unsere Gemeinschaft, da kann uns auch Vincent nichts anhaben!“ Mandagöttin haute mit der Faust auf den Tisch.
„Wir machen weiter, als wäre nie etwas geschehen! Es gilt, weitere Bewerber und Adepten zu gewinnen!“
Alle murmelten Zustimmungen.
„Ja schon, aber was machen wir, wenn der Hüter der Geisterwelt uns gegenübersteht? Ich meine, seine Macht ist stärker als die unsere“, redete der große Mann weiter.
„Hast du mir nicht zugehört?! Wie kannst du es wagen meine Macht infrage zu stellen, Hermes! Du billiger Briefträger hast doch keine Ahnung, was für Macht in mir ist! Von den Urvätern vor Jahrtausenden verliehen, zu richten die Lebenden der Welt!“, giftete Mandagöttin zurück.
Hermes hob abwehrend die Hände. „Ist ja okay, ich sag ja nichts mehr.“
Alle schwiegen wieder. Der Wind heulte.
Und die Tür sprang auf.
Vincent stürmte hinein.
Sein Gesicht war wutverzerrt und eine einzelne Träne rann ihm über das Gesicht.
„Yldur ist tot!!“, schrie er.
„Was?!“, rief Mandagöttin entsetzt.
„Yldur! Mein Schüler! Er liegt dahinten in der Bibliothek! Blutüberströmt! Was ist nur geschehen?!“, rief Vincent.
Artemis schaute betreten zu Boden.

-I-


Lynn musste niesen. Diese uralte Bibliothek war aber auch staubig!
Vielleicht hätte hier mal einer putzen sollen, überlegte sie und fuhr mit dem Finger an einem Regal entlang. Er wurde grau.
Sie seufzte. Wie sollte sie hier nur das Buch finden, dass sie suchte?
Es standen hunderte Bücherregale an den Wänden und keines davon war in irgendeiner Weise beschriftet.
Sowieso sah es so aus, als wäre Lynn, die erste seit Jahrzehnten die diesen Ort betrat. Sie schauderte. Das war irgendwie gruselig. Doch Lynn mochte diesen Ort trotzdem. Sie liebte Bücher und Bibliotheken, sie hatte in den letzten Monaten ihre Freizeit nur in der öffentlichen Bücherei der naheliegenden Stadt verbracht.
Sie sah nach oben an die Decke. Zu ihrer Verblüffung war sie bemalt, in den verschiedensten Farben. Lynn erkannte die dargestellten Figuren sofort; es waren die Götter, die ihre Schule leiteten. Da war Mandagöttin, komplett aus Gold, mit einem großen Zepter und neben ihr war Vincent, der Gott der Geister- und Dämonenwelt. Dahinter standen Poseidon, Hades, Artemis, Apollon, Hermes und Athene.
Lynn kannte sie alle, schließlich hatte sie die meisten Bücher aus der öffentlichen Bücherei schon durchgeackert um mehr über sie zu erfahren. In der Mitte der Deckenmalerei prangte das Wappen der Schule, ein goldener Lorbeerkranz. Darüber waren die Buchstaben G.A.S. eingraviert, die für "Götter-Ausbildungs-Schule" standen.
Lynn konnte sich kaum sattsehen an der Malerei, sie war so unglaublich detailliert. Doch bald tat ihr der Nacken weh und sie wandte den Blick ab.
Sie beschloss wieder zu gehen, da anscheinend niemand in dieser Bibliothek war und sie keine Lust hatte alle Regale abzugrasen, auf der Suche nach einem weiteren Wälzer über die Götter.
Sie drehte sich in Richtung Tür, da fiel ihr etwas auf.
Ein Fleck, ein kleiner unscheinbarer Fleck, auf dem hellen Parkettboden. Er hatte die Form einer Tomate, aber irgendwas an ihm war seltsam.
Lynn betrachtete ihn genauer. Dunkel erinnerte sie sich an die Zeit, als sie in der öffentlichen Bücherei der Stadt ein Buch über das Spurenlesen gelesen hatte.
Sie kroch noch näher an ihn heran, berührte ihn fast mit der Nasenspitze.
Scharf zog sie die Luft ein, das war unverkennbar-
"Was in Hades' Namen hast du hier drin verloren?!"

, fuhr sie plötzlich eine laute Stimme an.
Lynn wirbelte herum. Ihr Herz sank in die Hose, niemand anderes als Mandagöttin, die Direktorin der Schule stand ihr gegenüber.
"I-ich..."
"Mach das du wegkommst! Dieser Teil ist nur für die Lehrkräfte!", sagte die komplett goldene Frau scharf.
Lynn rappelte sich schnell auf und lief aus der Bibliothek, nicht ohne einmal zu stolpern.
Mandagöttin sah ihr mit zusammengekniffenen Augen nach.

Lynn stocherte in ihrem Essen herum. Sie hatte keinen Hunger, sie musste die ganze Zeit an den seltsamen Fleck denken, den sie entdeckt hatte. Sie hatte ihn sofort deuten können, es war ein typischer Blutfleck gewesen. Was hatte ein Blutfleck in einer Bibliothek einer Schule zu suchen?, dachte sie.
Verstohlen blickte sie zur großen Empore, auf der die Götter speisten. Mandagöttin sah man selbst von unten ein bisschen schimmern.
"Hey Lynn, trinkst du das noch?", fragte eine Stimme sie.
Lynn sah auf. Ein Mädchen mit langen roten Haaren und zwei Narben im Gesicht stand ihr gegenüber. Sie zeigte auf den Protein-Shake, den eigentlich alle trinken sollten.
"Äh, den muss ich auch trinken", antwortete Lynn.
"Du doch bestimmt nicht, du hockst doch nur in irgendwelchen dunklen Ecken und liest Bücher!", sagte das Mädchen herablassend. Wie hieß sie noch gleich? Ach ja, Kate.
Lynn starrte auf ihren Teller und wurde rot.
Kate schnappte sich den Shake und verschwand.
Ständig wurde Lynn schlecht behandelt, nur weil sie als einzige noch keine göttlichen Veränderungen durchschritten hatte. Sie wurde vor zwei Monaten von ihren Eltern auf die G.A.S. geschickt, obwohl ihre Blutwerte nur minimal auf eine Göttlichkeit hinwiesen. Seitdem verging ein Tag nach dem anderen, ohne das etwas mit Lynn passierte. Eigentlich hätte sie schon längst mit einer Ausbildung zu einem Halbgott beginnen müssen, doch niemand konnte deuten was sie einmal werden würde- oder ob sie überhaupt etwas wurde.
Das war ziemlich hart, doch Lynn vertrieb sich die Zeit damit, alles über die Mythologie und spezielle Techniken der Götter zu erforschen.
Bestimmt wusste sie mehr als einige Schüler, die richtigen Unterricht hatten, aber das nützte ja nichts, wenn sie immer noch ein normaler Mensch blieb.
Sie legte ihre Gabel weg und stand auf. Keiner wollte in ihrer Nähe sitzen, weshalb sie es sich zur Gewohnheit machte ganz hinten in der dunkelsten Ecke des Speisesaals zu essen.
Wie immer wenn sie durch die Halle ging zeigten viele Finger auf sie und sie hörte einige Leute lachen.
Lynn biss sich auf die Unterlippe und lief hinaus.
Sie dachte wieder an den Blutfleck, den sie entdeckt hatte. Vielleicht war es ja einfach nur ein ganz normaler Tropfen, der heruntergetropft war, als sich jemand geschnitten hatte.
Oder es war nur ein Weinfleck.
Aber warum hatte Mandagöttin sie so komisch angesehen, als sie sie erwischt hatte? Und wo hatte gestanden, dass die Bibliothek nur für Lehrkräfte war? Lynn hatte am Eingang kein Schild gesehen, geschweige denn wurde sie darüber belehrt.
Andererseits, Lynn hatte auch noch nie Unterricht gehabt an dieser Schule, vielleicht zählte es normalerweise zur Eingangsbelehrung.
Plötzlich schreckte sie aus ihren Gedanken hoch, sie hatte gar nicht darauf geachtet wo sie hinlief. Sie stand wieder vor der Bibliothekstür.
Lynn schluckte. Sollte sie noch einmal hinein gehen?
Sich den Fleck noch einmal genauer ansehen?
Sie streckte gerade ihre Hand aus um die Tür zu öffnen, da kam Vincent um die Ecke und sah sie.
"Hey, Mädchen!", rief er.
Na toll, dachte sie, erst Mandagöttin und jetzt er!
Vor Vincent hatte sie immer schon mehr Respekt gehabt als vor Mandagöttin, obwohl sie die Direktorin war. Doch Vincent war... anders. Irgendwie wirkte er älter, weiser und ein bisschen mächtiger auf Lynn. Allein schon sein Aussehen ließ ihn wie einen Vampir wirken; er war leichenblass und trug ständig diesen blutroten Umhang. Seine Haare waren wie aus Seide und tintenschwarz, er hätte auf jeder Halloweenparty den Kostümpreis gewonnen. Außerdem verschönerte es ihn nicht unbedingt, dass er der Gott der Geister und Dämonen war, wie Lynn natürlich wusste.
"Warum bist du denn nicht beim Essen?", fragte er sie freundlich. Bei seiner Stimme bekam sie eine Gänsehaut.
"Ich hab keinen Hunger...", nuschelte sie.
Vincent musterte sie. "Was wolltest du in meiner Bibliothek?"
Lynn sah zu ihm hoch. Seine

Bibliothek?
"Äh..."
"Moment, warte. Dich hab ich schon mal gesehen... Ja, du bist schon länger an dieser Schule, oder?", bohrte er.
Lynn nickte.
Vincent tätschelte ihr die Schulter. "Bald wirst du es zu was bringen. Jeder schafft irgendwas!"
Lynn starrte ihn perplex an. Was sollte das denn jetzt?
"Aber, am besten du gehst jetzt. Meine Bibliothek wurde schon seit Jahrzehnten nicht mehr betreten..."
"Warum?", entfuhr es Lynn.
"Na ja... Belassen wir es lieber dabei. Selbst ich meide diesen Ort." Gedankenverloren betrachtete er die große Eichentür. Dann lächelte er sie freundlich an.
"Falls du ein Buch suchen solltest, suche es lieber woanders."
Er sah sie noch einmal abschätzend an, dann ging er an ihr vorbei.
Lynn sah ihm noch nach.
Sie schluckte. Jetzt war ihre Neugier geweckt.

-II-


Lynn bog in die Auffahrt zur Bücherei ein. Der Kies knirschte unter ihrem Fahrrad und sie atmete tief die morgendliche Luft ein. Sie liebte die Stadt Northern Creek, nicht nur weil sie bildhübsch war (sie lag wie die G.A.S. an den wunderschönen Klippen des westlichen Englands), es kam ihr auch immer so vor, als wäre sie der Hölle entflohen.
In der Stadt musste sie sich nicht für ihre Normalität schämen, man sah sie als Mensch an. Natürlich tummelten sich in dem Ort auch die verschiedensten Lebewesen, aber dort fiel Lynn einfach nicht so auf wie an der G.A.S..
Sie schloss ihr Fahrrad ab und öffnete die mittlerweile so vertraute Büchereitür.
Eine Frau an der Empfangstheke nickte ihr freundlich zu. Sie kannte Lynn jetzt schon als Dauergast. Lynn nickte höflich zurück und stieg die Stufen zu den Sachbüchern hoch.
Man konnte nicht sagen, dass die öffentliche Bücherei groß war, die Bibliothek von Vincent war definitiv größer, wie Lynn nun schon beurteilen konnte. Noch immer plagten sie Gewissensbisse, weil sie einfach in seine Bibliothek reingeplatzt war, ohne zu fragen oder sich um irgendwas zu kümmern, aber sie versuchte ihr Gewissen zu beruhigen, indem sie sich sagte, dass man einen verbotenen Ort gefälligst absperren sollte.
Lynn war oben angekommen und schlug nicht wie gewöhnlich den Weg zur Mythologie-Abteilung ein, sondern sie ging zu dem Bereich mit speziellen Berufsmethoden.
Irgendwo war doch noch dieses Buch über das Spurenlesen gewesen, überlegte sie und graste die Regale ab.
Da wo sie es vermutete stand es auch, wahrscheinlich hatte es keiner in den letzten zwei Monaten außer ihr ausgeliehen. Sie zog es aus dem Regal und sah hinten auf dem Stempel nach. Tatsächlich war sie die Letzte.
Lynn klappte das Buch wieder zu und ging nach unten zur Empfangsdame.
"Ich möchte dieses Buch ausleihen, bitte.", sagte sie.
Die Frau lächelte freundlich und sah sich das Buch genauer an. "Nein, tut mir leid Lynn, aber das steht nicht zum Ausleihen zur Verfügung."
"Aber ich hab es doch erst vor einem Monat noch einmal ausgeliehen!", sagte Lynn verdattert.
"Schon, aber der Zustand des Buches ist nicht der Beste und der Direktor hat angeordnet, dass wir Bücher mit Mängeln nicht mehr verleihen."
Ist doch egal dass es Mängel hat!, dachte Lynn ungeduldig und nahm das Buch wieder entgegen.
"Du musst die Informationen wohl daraus abschreiben!", tröstete die Frau sie.
Lynn seufzte und ging wieder nach oben.
Aber sie konnte ja wohl schlecht einen Blufleck deuten, wenn sie zwei Kilometer von ihm entfernt saß, oder?
Lynn biss sich auf die Unterlippe, wie immer wenn sie nachdachte. Ihr kam nur eine einzige Möglichkeit in den Sinn, und die gefiel ihr überhaupt nicht.
Sie musste das Buch wohl oder übel einfach so mitnehmen, es war ja gewissermaßen kein Stehlen. Sie öffnete ihre Umhängetasche und stopfte das Buch hinein. Dann schob sie die Bücher in dem Regal ein bisschen zusammen, damit die Lücke nicht allzu stark auffiel.
Sie ging wieder nach unten und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Im Lügen war sie eigentlich ganz gut, wie auch in dem Vertuschen von Dingen. Die Empfangsdame sah nur kurz auf, als Lynn wieder aus der Bücherei herausging.
Lynn hoffte inständig, dass nicht gerade heute jemand das Buch brauchte, denn dann hätte sie bestimmt Büchereiverbot und das konnte sie sich einfach nicht leisten.
Sie schwang sich wieder auf ihr Rad und fuhr zurück.

Vincent starrte auf die große Eingangstür seiner Bibliothek.
Seine unglaublich scharfen Götteraugen nahmen jedes einzelne Detail wahr, jede kleinste Unebenheit oder Furche.
Vincent hatte keinen Zweifel; jemand hatte diese Tür geöffnet.
So etwas wie Wut strömte in seinen Körper. Wer hatte es nur gewagt diesen Ort der Düsternis zu betreten?
Wer hatte sein Verbot einfach eiskalt ignoriert, sein Ego mit Füßen getreten?
Wer immer es war, Vincent hasste ihn.
Das war er Yldur schuldig. Schließlich hatte Vincent immer noch nicht seinen Mörder gefunden, auch wenn er schon eine gewisse Vorahnung hegte.
Er wandte den Blick ab. Er wollte jetzt nicht die alten Erinnerungen herauskramen, es hatte schon lange genug gedauert den Schmerz zu verkraften.
Irgendwann musste er mit Yldur reden. Er war noch immer nicht erlöst und wartete bestimmt schon auf ihn, aber Vincent gefiel die Vorstllung überhaupt nicht, wieder in das Reich der Geister einzutreten.
Außerdem müsste er dazu in die Bibliothek, und das war nun wirklich nicht drin.
Vincent drehte sich um und ging.

Lynn blickte sich verstohlen um. Anscheinend war sie allein auf dem Flur. Alle hatten Unterricht und waren noch zwei Stunden bis zum Mittagessen, also genügend Zeit.
Sie fasste an die goldene Klinke und öffnete die schwere Eichentür langsam. Sie knarzte ein wenig und Lynn huschte hinein. Sie überlegte ob sie die Tür schließen sollte und entschied sich dafür. Es wurde dunkel. Lynn bekam eine Gänsehaut und ihr war etwas mulmig zumute, besonders weil sie wusste, dass es verboten war sich in dieser Schulbibliothek aufzuhalten.
Wenn es irgendeiner herausfand, wäre sie geliefert.
Ihr kam das Bild von Vincent in den Kopf, als er sie so gequält angesehen hatte. Selbst er mied diesen Ort.
Mit einem Ruck riss sie sich zusammen.
Sie musste einfach wissen, was das für ein seltsamer Fleck war!
Ihre Hände tasteten nach einem Lichtschalter, doch es gab keinen.
Zu dumm!, dachte sie. Das letzte Mal hatte sie einfach die Tür sperrangelweit aufgelassen und das Licht aus dem Flur hatte den Raum erhellt.
Lynns Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit und sie entdeckte Fenster an der Seite. Es war zwar ziemlich riskant, aber sie schob trotzdem einen der dicken Vorhänge zur Seite. Tageslicht strömte in den Raum.
Jetzt konnte sie etwas sehen.
Ohne Zeit verlieren zu wollen lief sie sofort zu der Bücherwand, an der sie den Fleck entdeckt hatte. Er war immer noch da, tomatenförmig und unscheinbar.
Lynn kniete sich hin und schlug das gestohlene Buch auf. Hektisch blätterte sie bis zum Kapitel über Blutspuren.
Eine Blutspur ist eine kleinere oder größere Menge von Blut, die auf eine Verletzung, die zu einem Blutverlust führte hindeutet. Schon seit alter Zeit werden Blustpuren benutzt um damit Sachverhalte zu folgern

, las sie.
Ach was! Lynn rollte mit den Augen.
Sie übersprang den Teil über Tierblut und blätterte weiter zur Deutung von Blutspuren in der Kriminalistik. Dort wurde sie fündig.
Schon seit ältester Zeit werden Blutspuren benutzt, um den Ablauf eines Gewaltverbrechens zu klären. Durch Beurteilen der geometrischen Form, ob es sich um runde Tropfen handelt, mit oder ohne Spritzer herum, um langgestreckte Tropfen oder um Blutverschmierungen, erlaubt Rückschlüsse darauf, was geschehen ist.
Beispiel: Ein langgestreckter Tropfen deutet darauf hin dass ein blutbefleckter Gegenstand bewegt wurde, beispielsweise eine Axt geschwungen. Schlussfolgerung: Auf das Opfer wurde mehr als einmal eingeschlagen.


Lynn sah auf und betrachtete den Fleck genauer. Er sah einfach nur aus wie eine Tomate, ohne Spritzer drumherum. Er wurde auch nicht verschmiert, er war einfach nur da.
Lynn runzelte die Stirn und las weiter.
Manchmal hinterlässt das Opfer auch mit seinem Blut eine Todesnachricht, die auf den Täter schließen lässt.


Dann war das Kapitel zu Ende. Lynn seufzte und klappte das Buch zu. Sie glaubte nicht, dass es sich um eine Todesnachricht handelte, schließlich war der Fleck ganz klein.
Doch von wo kam er? Er konnte nicht hinuntergetropft sein, aber wie kam er dann auf den Boden?
Lynn konnte es sich nur so erklären: Etwas Blutendes hatte genau auf dem Boden gelegen oder an der Stelle gestanden.
Sie schluckte. Ihr kam nur eins in den Sinn, was das alles erklären würde, den Blutfleck, die Reaktionen der Götter und das Absperren der Bibliothek: Eine Leiche.

-III-


Lynn versuchte sich zu beruhigen. Bestimmt war ihre Vermutung überdramatisiert.
Warum sollte denn eine Leiche in einer Bibliothek gelegen haben? Und dazu noch an einer Götterschule! Das passte doch nicht zusammen.
Aber sie fand einfach keine andere Erklärung für den mysteriösen Fleck. Es musste so sein.
Sie schauderte. Zwar hatte sie schon immer ein Faible für Krimis gehabt, aber eine Leiche gehörte eher in einen Agatha-Christie-Roman, als in ihre Schule.
Sie schob ihr Essen weg und stand auf. Wie aus Gewohnheit nahm sie ihren Protein-Shake und brachte ihn zu Kate, dann musste die nicht aufstehen.
Kate sah sie verblüfft an. "Warum bringst du den zu mir?"
"Na, du brauchst ihn ja mehr als ich", antwortete Lynn und ging aus der Halle.
Sie beschloss, das gestohlene Buch in die öffnetliche Bücherei zurückzubringen. Bestimmt war niemandem aufgefallen, dass es fehlte.

Vincent starrte aus seinem Bürofenster. Sein Hals war trocken und seine Knöchel traten vor Wut weiß hervor.
Ein Vorhang in der Bibliothek war anders als sonst.
Er war einen Zentimeter weiter links als gestern. Er hatte die beste Sicht aus seinem Büro um die Bibliotheksfenster zu sehen und er wusste nun ganz genau, dass irgendjemand sich einfach in seine Bibliothek geschlichen hatte.
"Welche widerwärtige Kreatur war das?!", grummelte er zornig.
Er wusste, dass er das ein bisschen zu drastisch sah, aber er deutete diese Einbrüche als Beleidigung seiner Persönlichkeit.
Er kniff seine Augen zusammen und sah noch einmal ganz genau hin. Nein, da gab es überhaupt keinen Zweifel; jemand hatte den Vorhang verrückt.
Er drehte sich weg und beschloss Mandagöttin zu informieren.
Er wollte gerade aus seiner Tür herausgehen, als es klopfte.
"Herein", rief Vincent unwirsch.
Mandagöttin trat ein.
Wenn man vom Teufel spricht, dachte Vincent.
"Vincent", begann sie feierlich. Sie sprach immer so, als würde sie eine Rede halten.
"Was ist?", fragte er barsch.
"Ich wollte dir nur mitteilen, dass du eventuell einen neuen Schüler bekommst."
Vincent starrte sie an. Ein neuer Schüler?
"Ich kann verstehen, wenn du ihn nicht annehmen willst, schließlich war Yldur kurz vor dem Ende seiner Ausbildung und ihr hattet sehr viel durchgemacht ..."
Vincent machte eine wegwerfende Handbewegung. "Es ist vorbei, Manda."
Er wollte unter gar keinen Umständen zugeben, dass der Tod seines geliebten Schülers immer noch an ihm nagte. Sie hatten wirklich verdammt viel durchgemacht, Vincent hatte noch nie einen so talentierten Halbgott gesehen und er hatte eigentlich vorgehabt ihn als seinen Nachfolger zu bestimmen.
Mandagöttin musterte ihn misstrauisch. Vincent hielt diesem Blick ohne Mühe stand.
"Also bist du bereit, den potenziellen Anwärter aufzunehmen und zu unterrichten?"
"Ja."
"Nun denn, so sei es", sprach sie und lächelte ihm zu.
Konnte Vincent so etwas wie Spott darin erkennen?
"Der Junge heißt Aaron und sitzt im Moment noch bei mir im Büro, er besitzt eine düstere Aura, weshalb er wahrscheinlich zu dir passt. Ich habe das Gefühl, dass er talentiert ist und schon bald seine Veränderungen durchschreitet."
"Ja, ja, schon in Ordnung. Schick ihn rauf." Vincent bezweifelte stark, dass jemand besser sein konnte als Yldur.
Er hasste diese dramatische Art, mit der Mandagöttin redete, so als ob sie ihm das Leben rettete, wenn sie ihm irgendein pubertierendes Balg aufs Auge drückte.
Mandagöttin wollte sich gerade umdrehen, doch Vincent hielt sie zurück.
"Ach ja, jemand hat die Bibliothek betreten."
"Ich weiß", antwortete sie, "es war dieses talentlose Mädchen mit den roten Haaren, das hier ständig herumgeistert. Ich habe sie wieder rausbefördert, anscheinend wusste sie nur nicht, dass das Betreten verboten war."
Vincent atmete auf. Nur ein Fehler dieses dummen Kindes.
Doch dann fiel ihm etwas ein.
"Wann war denn das?"
"Ach, Vincent ... Das war gestern, so kurz vor Mittag."
Mandagöttin verabschiedete sich und ging hinaus.
Vincent starrte wieder auf den Vorhang.
Kurz vor Mittag, dachte er. Seltsam. Er hatte das Mädchen kurz nach dem Mittagessen vor der Bibliothek gesehen.
Hatte sie sich etwa noch einmal reingeschlichen? Sein Verbot einfach ignoriert?
Er beschloss ihr einen Besuch abzustatten, nachdem er sich um seinen potenziellen neuen Schüler gekümmert hatte.

-IV-


Als Lynn wieder zurück in die G.A.S. stolperte, mit zerzausten Haaren und geröteten Wangen vom Fahrradfahren, wurde sie schon erwartet. Vincent stand mit verschränkten Armen in der Eingangshalle und hatte eine ziemlich ungemütliche Miene aufgesetzt.
Lynn blieb stehen und sah ihn fragend an, auch ein bisschen schuldbewusst.
"Hallo Mädchen", begann Vincent höflich, aber hart.
Lynn schrumpfte in sich zusammen und wich autmatisch einen Schritt zurück, doch hinter ihr war schon die Eingangstür; sie saß in der Falle.
Scheiße, dachte sie, er weiß es.
"Ich frage dich nur ein einziges Mal und du wirst mir antworten, kapiert?"
Stumm blickte Lynn zu Boden und nickte. Sie fühlte sich wie ein verschrecktes Reh, Vincent hatte so eine Art die Menschen zu verschüchtern, das es schon beängstigend war.
"Du warst in meiner Bibliothek, nicht wahr?"
"J-ja ... Aber Mandagöttin hat mich sofort wieder rausgeworfen", stotterte Lynn.
"Und du bist dir absolut sicher, dass du nicht den dummen Fehler gemacht hast, noch einmal in dieser, für mich äußerst wichtigen, Stätte vorbei zu schauen?!"
Lynn schluckte. Sie war hin- und hergerissen. Sollte sie lügen? Oder die Wahrheit erzählen?
""Antworte!"


Vincent sah sie wütend an und Lynn entschied sich für die Wahrheit.
"Ja, okay, ich gebs zu! I-Ich bin nochmal reingegangen!", rief sie erschrocken. Sie musste sich zusammenreißen nicht zu Vincent zu laufen und heulend seine Füße zu küssen und um Vergebung zu winseln.
Das erschreckte sie noch mehr, offensichtlich wandte Vincent so einen komischen Zauber an, der bewirkte, dass man zu einer nutzlosen Puppe wurde und gehorchte.
Lynn erinnerte sich dunkel daran mal etwas darüber gelesen zu haben, doch ihre Gedanken kreisten in dem Moment nur darum, dass Vincent ihr verzieh.
"Du bist also nachdem ich es dir verboten hatte

noch einmal hineingegangen?! Warum das, wenn man fragen darf?!", er schrie sie mittlerweile an, völlig aufgebracht. Lynn war froh, dass niemand sah wie sie von einem Gott zusammengestaucht wurde.
"Es war so, ich hab in der Bibliothek einen Blutfleck gefunden", die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus, anscheinend ein Nebeneffekt des seltsamen Banns unter dem sie stand, "und ich wollte nur wissen, warum.. warum..." Sie verstummte.
Vincent seufzte. "Ach so. Und dann bist du einfach noch einmal hineinmarschiert in dem Glauben Detektivin spielen zu können, ja?"
Schuldbewusst schaute Lynn zu Boden.
Sie fröstelte, ihr war noch nie aufgefallen, dass es in der Schule keine Heizung gab.
"Mädchen, das war sehr leichtsinnig, dumm und... menschlich

gewesen!", fauchte er herablassend.
Das saß. Lynn fühlte einmal mehr, wie schwach sie eigentlich war. Dass sie eigentlich gar nicht dieser Schule würdig war, dass es eine ungeheure Ehre war unter Göttern zu hausen.
"Wenn das noch ein einziges Mal vorkommen sollte, dass du dich in Dinge einmischst, die dich überhaupt nichts angehen, dann werfe ich dich hochkant aus der Schule und du kannst gucken wie du dein Gedächtnis wieder erlangst!" Mit diesen Worten endete die Standpauke von Vincent und er rauschte davon.
Lynn blieb noch ein paar Minuten mit hochrotem Kopf mitten in der Eingangshalle stehen, dann trottete sie in ihr Zimmer.

Vincent ging wutschnaubend zurück in sein Büro.
"Diese dumme Göre! Was hat so jemand an dieser Schule zu suchen?! Es ist doch unglaublich, dass man denkt sich über Verbote von Göttern hinwegzusetzen!"
"Äh, bitte was, Sir?", fragte eine Stimme.
Vincent wirbelte herum und blickte auf einen schlaksigen Jungen um die 15 mit verstrubbelten schwarzen Haaren und einer äußerst düsteren Aura.
Das musste dieser Bengel sein, den er jetzt an den Hacken hatte.
"Man sagt 'Guten Tag, Meister Vincent' Junge! Was machst du denn schon hier?!", fauchte Vincent.
"I-ich... Sie haben mich doch schon reingelassen, S... äh, Meister Vincent. Vor ungefähr ´ner halben Stunde."
"Hab ich das?! Na ja, auch egal."
Der Junge sah ihn erwartungsvoll an und Vincent seufzte.
"Tut mir leid Junge, aber komm am besten morgen wieder. Ich bin im Moment zu aufgebracht." Er machte eine wedelnde Handbewegung und der Junge sprang wie vom Affen gebissen auf und stürmte aus dem Zimmer.
Während Vincent sich auf seinem Chintz-Sessel setzte wurde ihm bewusst, dass er Kinder eigentlich hasste.

-V-


Leider war der Tag für Lynn noch nicht vorbei.
Auf dem Weg zu ihrem Zimmer kam sie am Lehrerzimmer vorbei und bekam aus den Augenwinkeln mit, dass die Tür nicht ganz verschlossen war.
Sie spähte kurz hinein, nur um einmal zu sehen wie es in einem göttlichen Lehrerzimmer aussah (nebenbei bemerkt: Genauso wie in einem ganz normalen), dann wollte sie eigentlich wieder gehen. Doch sie wurde unbeabsichtigt Zeuge einer äußerst interessanten Unterhaltung zwischen Mandagöttin und Artemis.
Mandagöttin lief im Zimmer auf und ab.
"Was soll das Mandagöttin? Warum willst du denn die Bibliothek hochjagen?!", fragte Artemis belustigt.
"Artemis, das ist mein voller Ernst. Das Ding macht nur Ärger."
"Warum? Sie wurde seit 10 Jahren nicht mehr betreten."
"Bis gestern."
"Wie meinst du das?"
"So ein dummes Menschengör hat sich reingeschlichen."
Lynn wurde hellhörig, es ging um sie. Wurde die Geschichte jetzt in der ganzen Schule erzählt? Das war ja grausam.
"Wie, einfach reingegangen? Das ist ja 'n Ding! Wer denn?" Artemis klang eher neugierig als entsetzt, so als ob es nicht schlimm wäre.
Irgendwie mochte Lynn sie viel mehr als Mandagöttin oder generell als die anderen Götter.
"Na, dieses rothaarige Ding das ständig in der Bücherei von Northern Creek rumhängt und immer in der dunkelsten Ecke vom Speisesaal sitzt."
"Ach die

!"
Lynn sah sich verstohlen um, niemand lief auf dem Gang entlang. Anscheinend konnte sie noch ein bisschen weiter horchen. Es interessierte sie unheimlich, was so über sie gesagt wurde.
"Ich hab sowieso keine Ahnung was sie noch hier zu suchen hat. Ich will keine Menschen an meiner Schule!", sagte Mandagöttin aufgebracht.
"Ach komm, vielleicht entwickeln sich ihre Kräfte ja noch."
"Wollen wir es nicht hoffen! Sonst werden wir die nie los!"
Lynn konnte erkennen, dass Artemis Mandagöttin verwirrt ansah. "Wie meinst du das denn jetzt?"
"Artemis, sie hat die Bibliothek betreten. Vielleicht..."
"Vielleicht was?"
Lynn bemerkte, wie Artemis sich auf ihrem Stuhl versteifte.
"Vielleicht hat sie was gesehen! Vincent hat mir auch eben erzählt, dass sie noch einmal drin war, obwohl ich sie rausgeworfen habe!"
"A-Aber... Vielleicht hat sie ein Buch gesucht?"
"Sei nicht albern, Artemis!"
Mandagöttin raufte sich ihre goldenen Haare. "Vielleicht waren wir beim Vertuschen nicht gut genug! Selbst nach 10 Jahren lassen sich bestimmt noch Spuren nachweisen!"
Artemis sank in sich zusammen. "Ich wollte die Geschichte vergessen... Das war schrecklich", flüsterte sie.
"Reiß dich zusammen, Frau! Wir müssen sofort in die Bibliothek und gucken ob wir damals beim Saubermachen irgendwas vergessen haben!" Mandagöttin blieb vor Artemis stehen und riss sie vom Stuhl.
"Aua, lass mich gefälligst los!", keifte die und entwand sich dem starken Griff, "Du bist dir doch nicht einmal sicher, ob sie etwas gesehen oder gefunden hat! Die Chancen sind doch total gering! Und jetzt lass mich damit in Ruhe, ich will nichts mehr davon hören!"
"Pass auf was du sagst, du billiges Flittchen!", höhnte Mandagöttin.
Lynn zog scharf die Luft ein.
Das ging ja richtig zur Sache!
Artemis drehte sich wie in Zeitlupe zu der goldenen Frau um. Ihr Blick sprühte beinahe Funken.
"Was hast du gerade gesagt?!

"
"Glaub ja nicht, dass ich eure kleine Beziehung nicht mitbekommen habe!"
"Bitte?! Was für eine Beziehung?"
"Obwohl du wusstest, dass es verboten ist hast du dich doch mit ihm getroffen, nicht wahr?" Mandagöttin lächelte gehässig und entblößte eine Reihe voller spitzer Goldzähne.
"Ich weiß nicht wovon du sprichst und ich will mir das auch gar nicht länger anhören!", fauchte Artemis, doch sie blieb trotzdem da wo sie stand.
"Glaub nicht, dass ich es nicht mitbekam wie ihr euch heimlich getroffen habt. Ich bitte dich Artemis, hattest du gar keine Schuldgefühle? Ich meine, er war doch noch ein Schüler

!"
Artemis wurde ein bisschen blass um die Nase, doch sie kochte vor Wut. "Noch ein Wort ...!"
Mandagöttin setzte sich elegant auf den Tisch und legte Artemis freundschaftlich einen Arm um die Schulter.
"Ich kann es für mich behalten, wenn du magst...", säuselte sie.
Artemis riss den goldenen Arm von ihrer Schulter.
"... doch das kostet dich ein bisschen was, wenn du verstehst, Süße."
"Als ob ich auf dich eingehen würde. Du hältst dich für ganz groß, weil du die Schule regierst. Doch ich erinnere dich noch einmal daran, dass ich

die größte Waffensammlung der Welt besitze und dass ich

es auch bin, die die Göttin der Jagd ist!"
"Aber Schätzchen, wer redet denn hier gleich von Krieg und Waffen? Ich verlange doch nur, dass du mir hilfst..."
"Ich hab dir schon vor Ewigekiten gesagt, dass ich aussteige! Und jetzt kannst du es erst recht vergessen! Wenn du dir schon Feinde machst, dann achte das nächste Mal darauf, dass sie nicht essenziell für dein Vorhaben sind!"
Mit diesen Worten drehte sie sich auf dem Absatz um und stürmte zur Tür, Lynn löste sich gerade rechtzeitig aus ihrer Erstarrung und spurtete davon.


In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken.
Sie lag auf ihrem Bett und starrte an die Decke, versuchte alles irgendwie in eine Reihenfolge zu bekommen.
Sie fand einen Blutfleck und löste eine regelrechte Lawine an Ereignissen aus.
Lynn schluckte. Im Moment deutete alles darauf hin, dass ihre erste Vermutung richtig gewesen war: Eine Leiche hatte in der Bibliothek gelegen.
Und wenn sie die Reaktionen von Mandagöttin und den anderen Göttern sah, wurde ihr bewusst, dass sie alles vertuschen wollten.
Doch wer war das Opfer? Was hatte Vincent damit zu tun? Warum in dieser Bibliothek? Was meinte Mandagöttin damit, als sie sagte, dass die Bibliothek vernichtet werden müsste?
Was hatte Artemis zu verbergen?
Und vor allen Dingen: Wer war der Mörder?
Lynn wollte nicht länger darüber nachdenken, sie wollte alles nur vergessen.
Wäre ich doch nur nicht in diese dämliche Bibliothek gegangen, dachte sie bedrückt.
Doch jetzt war es zu spät.
Jetzt wusste sie davon.
Und das Schlimmste war: Mandagöttin wusste, dass sie es wusste.
Lynn bekam plötzlich eine Gänsehaut. Sie hatte selbst gesehen, wozu die angeblich nette Göttin fähig war.
Was, wenn sie sie auch bedrohen würde?
Lynn wurde ziemlich mulmig zumute.
In ihrem Geist erschien plötzlich ein Bild von ihr, wie sie blutüberströmt in der Bibliothek lag, doch sie versuchte es wegzuscheuchen.
Das konnte nicht wahr sein, das war bestimmt alles nur ein schreckliches Missverständnis!
... Oder?

-VI-


In den nächsten Tagen wurde Lynn das Gefühl nicht los beobachtet zu werden, was ihre Angst nur verstärkte. Überall wo sie war schien auch mindestens ein Gott zu sein (abgesehen von Artemis und Vincent).
Als sie plötzlich Mandagöttin auf dem Gang begegnete dachte sie nicht mehr an einen Zufall, umso weniger als die Direktorin auch noch stehen blieb und Lynn sanft an den Schultern packte.
"Lynn, kann ich mal kurz mit dir reden?"
Lynn sah Mandagöttin erschrocken an. Was hatte sie vor?
Doch ihr blieb keine Zeit zum Überlegen, denn sie wurde einfach kurzerhand ins Lehrerzimmer bugsiert.
"Setz dich doch", säuselte Mandagöttin übertrieben freundlich und deutete auf den Stuhl auf dem Artemis auch gesessen hatte.
Lynn setzte sich, ganz langsam, und überlegte sich schon allerhand Ausreden und Fluchtpläne, eine Möglichkeit schlechter als die andere.
Ihre Chancen waren hoffnungslos.
"Ich möchte mit dir reden. In letzter Zeit scheinst du... Etwas neugierig zu sein."
Lynn sah ihr nicht ins Gesicht, sondern starrte auf die Tischkante.
"Zuerst dieser äußerst, ähm, seltsamer Fall in dem du in die Bibliothek gegangen bist..."
Ja ja, den kannte ja mittlerweile jeder. Irgendwann wurde es langweilig, da das ja nun wirklich nicht besonders schlimm gewesen war (mal abgesehen davon, dass sie einen Blutfleck gefunden hatte).
Lynn würde es nicht wundern wenn Mandagöttin es sogar der Frau aus der öffentlichen Bücherei erzählt hätte!
"...doch ich finde das der letzte Vorfall definitiv Grenzen überschritten hat."
Lynn schreckte hoch. Der letzte Vorfall?
Meinte sie etwa als Lynn an der Tür gelauscht hatte und mitbekam, dass Mandagöttin und Artemis sich gestritten hatten?
Lynns Herz sank in die Hose.
Das konnte nicht gut ausgehen.
Es war vorbei, sie würde im schlimmsten Fall enden wie... Nein, daran wollte sie gar nicht denken.
"W-Was für ein Vorfall, Ma'am?", piepste sie.
Mandagöttin lachte kurz auf und sah sie hart an. "Ich meine den, dass du..." Sie machte eine Pause.
Lynn dachte zuerst, dass es so eine Art Pause war, die man immer kurz vor dem Ende einer Castingshow macht, so eine wo man den Moderator erschlagen wollte, doch dann fiel ihr auf, dass Mandagöttin erwartungsvoll die Tür anstarrte.
Und die ging auf. Es kamen alle Götter gleichzeitig hinein.
Lynn war baff. Warum jetzt? Warum?!
"Ah, meine Kollegen!", rief sie aus. Ihre Überraschung war ohne Zweifel gekünstelt. Lynn starrte sie an. Mandagöttin wollte sie vor allen Göttern bloßstellen!
"Ich hoffe es macht dir nichts aus, dass sie uns beiwohnen?", fragte Mandagöttin mit einem falschen Lächeln. Wieder blitzten ihre scharfen Zähne hervor und Lynn bekam eine Gänsehaut. Sie schüttelte langsam den Kopf.
Die anderen Götter sahen sie fragend an.
Vincent fragte: "Hey, was macht ihr denn hier? Sollen wir wieder gehen?"
"Nein nein, es ist okay. Lynn ist damit einverstanden, dass ihr hierbleibt", antwortete die goldene Frau lächelnd.
Lynn hatte auf einmal richtig Angst vor ihr.
Andererseits, wenn die anderen Götter zusahen konnte sie ihr nicht viel anhaben.
Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass sie da waren.
"Ich möchte, wie gesagt, über den letzten Vorfall reden. Bei der Bibliothek bin ich mir sicher, dass es ein Versehen war. Doch dieses Mal bist du zu weit gegangen, Schätzchen."
Lynn musste sich zusammenreißen um nicht "Nennen Sie mich nicht Schätzchen!" zu sagen.
Sie schluckte. Jetzt würde alles rauskommen.
"Wie konntest du nur die heiligen Juwelen von den Urvätern stehlen?!"
Badamm.
Stille.
Lynn hörte wie alle Götter gleichzeitig die Luft einzogen.
Sie starrte Mandagöttin an. "Wie bitte?", fragte sie sie verdattert.
"Jetzt tu doch nicht so scheinheilig, du dumme Göre! Du weißt ganz genau, dass diese Juwelen das Erbe der Urväter sind!", schrie Mandagöttin sie an.
"Aber ich hab die nicht geklaut! Ich weiß ja nicht einmal wie die aussehen!", verteidigte Lynn sich.
"Mandagöttin, ist das wahr?", fragte Hermes vorsichtig.
"Aber ja! Ich komme heute morgen in den heiligen Tempel und bemerke dass sie fehlen! Natürlich mache ich mich sofort auf die Suche und was finde ich bei diesem Mädchen im Zimmer?"
"Nein! Das ist nicht wahr! Ich hab überhaupt gar nichts gestohlen, ich weiß ja nicht einmal was die Juwelen der Urväter sind!", rief Lynn verzweifelt, während Mandagöttin aus einer Schreibtischschublade fünf riesige Rubinedelsteine hervorholte.
Die Menge schwieg.
Lynn drehte sich zu den anderen Göttern um, der Großteil musterte sie ungläubig. Etwas abseits stand Vincent und starrte nicht Lynn sondern Mandagöttin an.
Anscheinend hatte er gerade einen Geistesblitz, denn sein Blick verhärtete sich und er stürmte aus dem Zimmer.
Niemand außer Lynn bemerkte es.
"Also, wie erklärst du dir das?", fragte Mandagöttin barsch.
"Ich kann das nicht erklären! Ich hab nichts gestohlen, wirklich nicht! Ich weiß ja nicht einmal wo dieser Heilige Tempel ist!", rief Lynn zum wiederholten Male.
Warum wollte Mandagöttin ihr das anhängen? Das war wirklich bösartig, fies und vor allen Dingen... mehr als unglaubwürdig.
"Was haben dann diese Juwelen bei dir im Zimmer zu suchen?!"
"Ich bitte Sie Ma'am das ist doch... Moment mal, wann waren Sie denn in meinem Zimmer?"
Mandagöttin blieb stur wie ein kleines Kind und ging nicht weiter darauf ein. Stattdessen rief sie: "Poseidon, Hermes! Haltet Sie fest, wir werfen sie in den Kerker!"
"Bitte?!

In den Kerker?!", sagte Lynn verdutzt.
Auch die anderen Götter starrten Mandagöttin an.
"Nun macht schon ihr unnützen Kreaturen! Ich sagte in den Kerker mit ihr!"
Zögernd traten die beiden muskelbepackten Götter hervor und griffen nach Lynns Armen.
"Verräter und Diebe verdienen es nicht anders! Ich werde dafür sorgen, dass sie ihre gerechte Strafe erhält!", keifte Mandagöttin. Lynn bekam langsam das Gefühl, dass sie verrückt wurde.
"A-aber Manda... Sie ist ein Kind! Wie soll sie denn die Juwelen gestohlen haben?", meldete sich eine etwas beleibtere Göttin zu Wort, deren Name Lynn nicht einfallen wollte.
"Mir doch egal! Die Beweise sprechen gegen sie!"
"Aber ich sag doch, ich habe nichts gestohlen! Und ich kann mich auch nicht erinnern, dass Sie in meinem Zimmer waren, ich war dort den ganzen Tag!" Der Griff um Lynns rechten Arm, gehalten von Hermes, lockerte sich etwas.
Mandagöttin funkelte sie wütend an. "Na und? Dann war ich eben gestern da!"
"Ähm, aber gestern waren die Juwelen doch noch an ihrem eigentlichen Ort!", rief jemand aus der Menge.
"Jetzt haltet alle mal euer Maul!!", schrie Mandagöttin zornig.
Sofort verstummte alles.
"So, wie ich sehe glaubt ihr einem kleinen unwürdigem Menschenkind eher als mir, eurer treuen, gutmütigen", Lynn schnaubte, " ... und andächtigen Mandagöttin, ja? Ihr scheißt einfach auf Vertrauen, Freundschaft und auf den Pakt, den ihr geschlossen habt, als ihr Teil dieser Schule wurdet! All die Jahrhunderte, all die schwarzen Stunden, all das haben wir zusammen durchgestanden! Und jetzt, wo ich eure Hilfe brauche, da zweifelt ihr an mir?! Da wollt ihr mir weismachen, dass dieses Gör unschuldig ist, obwohl ich es auf frischer Tat ertappt habe?!"
Betreten schauten einige zu Boden.
Lynn kamen die Tränen, zum einen weil ihr linker Arm nach wie vor fast zerquetscht wurde, andererseits weil sie wahrscheinlich bald im Kerker sitzen würde, wie ein mittelalterlicher Gefangener.
Das konnte doch nur ein schrecklicher Albtraum sein!
Sowas gab es doch nur in Märchen, Horrorfilmen und Fantasyromanen!
Mandagöttin machte eine Handbewegung und Poseidon riss Lynn unsanft aus dem Stuhl um sie wegzuschaffen.
Plötzlich schwang die Tür auf und Vincent stürmte zusammen mit Artemis in den Raum. Langsam wurde es eng.
"Artemis, meine liebe! Wir haben dich schon vermisst! Und wo warst du denn Vincent?", begrüßte Mandagöttin sie.
"Lasst sie sofort los!", befahl Vincent scharf und Lynns Bewacher nahmen so schnell ihre Hände von ihren Armen, dass es wirkte als hätten sie einen elektrischen Schlag bekommen.
"Mandagöttin, was läuft hier?", fauchte Artemis.
"Nichts, gar nichts! Wir wollen nur diese junge Diebin verhaften und für ihre Taten bestrafen!", keifte Mandagöttin zurück.
"Du hast sie ja nicht mehr alle! Bist du komplett ausgeflippt?! Ein unschuldiges Kind einfach in den Kerker werfen zu wollen, das grenzt mittlerweile an Misshandlung!"
"Wie wagst du es mit mir zu sprechen?! Soll ich dein Geheimnis ausplaudern?! Bist du da scharf drauf? Außerdem, du hast mir gar nichts zu sagen! Ein Schlag meiner göttlichen Macht und du wirst pulverisiert!"
"Komm zurück auf den Boden Mandagöttin!", sagte Vincent hart.
Zu Lynns Erstaunen wich die Goldene Frau einen Schritt zurück, als Vincent auf sie zukam.
Ihr Blick wirkte auch irgendwie... Weicher.
Verhexte Vincent sie etwa?
"I-Ich glaube... ich bin etwas... Abgedreht", flüsterte sie plötzlich.
"Und was hast du jetzt vor?", antwortete Vincent sanft, während er sie in einen Sessel am Fenster bugsierte.
"Ich werde..."
"Gar nichts machen, denn ich nehme dieses Mädchen unter meine Fittiche! Sie wird meine zweite Schülerin!", rief Artemis triumphierend.
"Was?", entfuhr es einigen Göttern und Lynn gleichzeitig.
Sie starrte die Frau an, die Frau mit den langen schwarzen Haaren und dem wilden Blick. Die Göttin der Jagd.
Mandagöttin schlief ein.

-VII-


Es war mittlerweile Abend geworden und Lynn bekam Hunger, doch niemand schien sich darum zu kümmern, nicht einmal Lynn selbst.
Sie saß nun in einem anderen Zimmer, in dem Büro von Vincent. Artemis war auch dort und noch ein Junge den Lynn nicht kannte. Sie fragte sich was er hier zu suchen hatte, schließlich war er ja nicht an der sonderbaren Rede von Mandagöttin dabei gewesen.
Als hätte Artemis ihre Gedanken gelesen sagte sie: "Er ist der neue Schüler von Vincent. Aaron, oder?", sprach sie ihn an.
Der nickte. Er hatte schwarze strubbelige Haare und dunkle Augen, strahlte aber irgendwie etwas düsteres aus, was Lynn nicht zuordnen konnte.
Sie warteten auf Vincent, der noch damit beschäftigt war Mandagöttin zur Vernunft zu bringen.
"Artemis, ich...", fing Lynn an, doch die Göttin unterbrach sie.
"Fragen klären wir, wenn Vincent da ist. Es gibt viel zu bereden... Eigentlich schon seit 10 Jahren", fügte sie zähneknirschend hinzu.
Nach ein paar Minuten ging die Tür auf und Vincent kam in sein Büro. Er sah leicht erschöpft aus.
"Ich hab sie in den Kerker verfrachtet nachdem sie versucht hat mich zu erwürgen. Irgendwas stimmt nicht mit ihr."
Artemis schüttelte ungläubig den Kopf. "Nein, das stimmt. Was ist nur in sie gefahren?"
"Weißt du, das ist mir im Moment auch ziemlich egal. Wir müssen uns um Lynn kümmern."
"Vincent, wir sollten noch ein paar andere Sachen besprechen. Du weißt schon, Yldur betreffend." Offensichtlich hatte sie kleine Schwierigkeiten den letzten Satz auszusprechen. Vincent zuckte kurz zusammen. Dann nickte er. "Ja ja, aber alles nacheinander."
Er wandte sich Lynn zu. "Erzähl uns die ganze Geschichte, Lynn. Demnach kann ich einschätzen, wieviel wir dir erzählen können."
"Alles? Mit der Bibliothek?", fragte sie leise.
"Ja, seit dem Tag an dem du da drin warst. Ich muss alles wissen."
Lynn holte tief Luft und begann alles zu erzählen. Von dem seltsamen Blutfleck, dem Buch übers Spurenlesen, der Begegnung mit Vincent bis hin zu der Geschichte mit Mandagöttin.
Den Streit zwischen Artemis und Mandagöttin ließ sie aber aus. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es sehr unangenehm für Artemis wäre.
Vincent war ein sehr guter Zuhörer, er lauschte ihr ohne jede Regung mit angestrengter Miene.
Als Lynn geendet hatte, seufzte er.
"Aha. Das erklärt so gut wie alles."
Artemis sah ihn verstohlen an. "Also? Was ist deine Schlussfolgerung?"
"Lynn ist auf die äußerst bedauernswerte Geschichte mit Yldur gestoßen ohne es zu wissen. Mandagöttin dachte, dass Lynn sich dadurch in Gefahr begibt und wollte ihr etwas anhängen, damit die Bibliothekssache vergessen wird. Ganz einfach."
Lynn starrte ihn an. "Ähm, also Sie sagen, dass Mandagöttin mich schützen wollte?"
Auch Artemis sah Vincent verdattert an, ungläubig.
"Vince, bist du dir sicher?"
"Bestimmt. Ich meine, hast du eine andere Sichtweise?"
"Na ja... Ähm, könnte es nicht sein, dass Mandagöttin damals...?"
Vincent lachte auf. "Na aber ich bitte dich, Artemis! Das ist ja wohl albern. Mandagöttin würde doch nie einen Schüler umbringen! Wozu denn?"
"Das muss gerade der sagen, der fast von ihr erwürgt wurde! Du hast doch gesehen, dass sie eine unschuldige Schülerin in den Kerker werfen wollte!"
"Ja schon, aber sie war ja nicht mehr richtig beieinander."
"Vielleicht war sie es damals auch nicht! Mensch Vince...!" Artemis wirkte verzweifelt.
"Artemis, das ist doch die einzig logische Erklärung. Die Mörder von Yldur sind noch irgendwo und wenn sie herausbekommen, dass Lynn den Tatort inspiziert hat wollen sie sie töten! Mandagöttin hat nun dafür gesorgt, dass die Geschichte von einer noch schlimmeren überschattet wird."
"Aber Vincent, die Sache mit den Juwelen ist mehr als unglaubwürdig. Das hast du doch selbst gesagt! Warum bist du denn sonst zu mir gerannt und hast gesagt, dass ich Lynn aufnehmen sollte?"
"Na damit sie nicht von der Schule fliegt!"
"Hey, das ist aber unlogisch irgendwie. Wäre sie nicht sicherer, wenn sie von der Schule weg wäre?", meldete sich der Junge zu Wort. Lynn hatte ihn schon fast vergessen, so vertieft war sie in dem Wortgefecht von Artemis und Vincent.
"Ach Quatsch, hier hat sie göttlichen Schutz. Hier passiert ihr nichts!", wimmelte Vincent ihn ab.
"Aber was, wenn die Götter die Bösen sind?", rief Artemis verzweifelt.
Erneut fing Vincent an zu lachen. "Das ist Blödsinn. Komm Aaron, wir gehen trainieren. Lynn, du unzerhältst dich am Besten noch ein wenig mit Artemis um die letzten Einzelheiten zu klären."
Und mit diesen Worten ließ er sie stehen.
Aaron folgte ihm sofort wie ein Hündchen.
Lynn und Artemis starrten die Tür an, durch die sie gerade durchgegangen waren.
"Ähm, Artemis...? Sie glauben auch nicht daran, dass Mandagöttin mich schützen wollte, oder?", fragte Lynn vorsichtig.
"Nein... Aber was mir noch mehr Angst macht... Ich glaube Vincent hat ebenfalls den Verstand verloren!"
Und zu Lynns großer Überraschung brach die Göttin weinend auf dem Boden zusammen.

-VIII-


Die G.A.S. war ein Palast, ein göttlicher Sitz an der Küste von Südwestengland. Drei Kilometer von der malerischen Kleinstadt Northern Creek entfernt, die aber nur von einem kleinen Teil Menschen bewohnt wurde.
Die Schule hatte 257 Räume, 15 Badezimmer, eine riesige Dachterrasse, eine Bibliothek (die ja bekanntermaßen nicht benutzt wurde), Kerker und 4000 m² Grünfläche mit anschließendem Wald. Außerdem gab es einen Bogenschießstand, ein großes Hallenbecken und einen Reitplatz.
Alles was man so braucht, wenn man Götter ausbilden will, dabei ist die G.A.S. in England noch eine der kleineren Exemplare.
Doch der absolute Lieblingsplatz von Lynn war an keinem der exquisiten Plätze. Es war ihr Balkon.
An Lynns erstem Tag an der G.A.S. hatte sie von Mandagöttin ihr Zimmer zugeteilt bekommen. Es war im obersten Stockwerk und hatte einen super Ausblick auf Northern Creek und die nahegelegenen Klippen. Lynn war sofort begeistert gewesen, noch mehr als sie sah, dass jedes Zimmer einen Balkon besaß.
So etwas feines hatte sie sich schon immer gewünscht.
In der kleinen Mietswohnung, die sie früher mit ihren Eltern bewohnte hatten sie nicht sehr viel Platz gehabt, geschweige denn einen großen Balkon.
Auch war sie froh, dass sie ihr Zimmer mit niemandem teilen musste.
Ein eigenes Zimmer mit super Aussicht und Balkon, das war auch ein Grund gewesen, weshalb sie die G.A.S. vor ein paar Tagen noch nicht verlassen wollte.
Doch heute sah alles trostlos aus.
Es regnete aus Eimern und Lynn saß an ihrem altem Stammplatz, froh, dass ihr Platz im freien ein Dach hatte.
Sie hatte sich einen Tee gemacht, doch er wollte ihr nicht so recht schmecken.
Das ganze Gerede über Vincent, Mandagöttin, die Bibliothek und Yldur hatte sie ganz wuschig gemacht.
Artemis bestand darauf, dass Lynn versuchen sollte alles darüber herauszufinden, alles zu analysieren, der Sache nachzugehen.
Lynn fragte sich immer wieder, was genau sie herausfinden sollte, doch Artemis ließ sie nie zu Wort kommen.
"Es war Schicksal, dass du in dieser Bibliothek den Blutfleck gefunden hast. Wahrscheinlich sollst du den Fall aufklären!", hatte sie gesagt.
"Aber Artemis, ich weiß doch gar nichts. Ich hab keine Ahnung! Ich will die Sache vergessen und ..." Lynn hatte wirklich keine Lust auf den ganzen Mist.
"Lynn, verstehst du nicht? Das ist wichtig! Es ist... kompliziert... Und dass Vincent jetzt irgendwie auch so seltsam ist bereitet mir noch mehr Sorgen!"
Lynn seufzte und stellte die Teetasse auf den Balkonvorsprung.
Se wollte abschalten, vergessen, entspannen. Aber immer kam irgendjemand und erinnerte sie an diese Ereignisse und wollte sie unbedingt dazu bringen es zu lösen... Aber verdammt! Alle waren Götter, nur Lynn nicht! Warum lösten sie nicht das Problem?!
"Hey Lynn."
Sie schreckte hoch und wirbelte herum.
Der schweigsame Junge mit den schwarzen Haaren stand in der Tür.
"Äh, hallo?" Sie stand auf und hob die Tasse hoch.
"Man sagte mir schon, dass ich dich hier finde. Ich soll dich zu Artemis holen, sie will nochmal mit dir reden."
"Verdammt", fluchte Lynn.
Der Junge lächelte. "Willst du nicht?"
"Na ja, es ist nur so... Alle erwarten von mir, dass ich sofort anfange munter mitzuraten, mitzudiskutieren, die Sache zu lösen. Doch seit dem Ausbruch von Mandagöttin sind mittlerweile 4 Wochen vergangen und wir haben immer noch keine Lösung!", sie seufzte und ließ sich wieder auf ihrem Stuhl nieder, "Ich komm mir richtig dämlich vor, bei Artemis zu sitzen und dieselben Fragen immer wieder gestellt zu bekommen. Und immer wieder muss ich mir ein mögliches Szenario ausdenken! Warum hilft sie mir nicht? Warum kann das nicht jemand anderes? Warum nicht die anderen Götter? Warum nicht ihre Schülerin? Es ist ein Dilemma, eine endlose Schleife! Hat der ganze Scheiß denn kein Ende?! Und der achsotolle Vincent tut nichts! Er ist auch bescheuert geworden, sagt Artemis. Doch ich kenne keinen Unterschied zwischen bescheuert und normal! Nicht mehr..."
Sie schwieg und sah auf.
Aaron sah sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an.
Lynn wurde rot.
"Sorry. Ich komm dir bestimmt bekloppt vor", nuschelte sie,
"Och, ich erkenne mittlerweile auch keinen Unterschied mehr", antwortete er und lächelte erneut.
Irgendwie mochte Lynn dieses Lächeln, es war so warm und herzlich. Automatisch lächelte sie auch.
"Danke", sagte sie und stand auf.
"Wofür?"
"Ach, keine Ahnung."

Wie erwartet hatte Artemis sie wieder einmal bestellt um mit ihr über die seltsamen Vorfälle zu reden.
"Also Lynn, noch mal von vorne. Du findest in der Bibliothek von Vincent einen Blutfleck..."
"Halt", unterbrach Lynn sie, "Muss das sein? Es bringt doch nichts wenn wir das Tag für Tag immer wieder durchkauen!"
"Aber Lynn, wir brauchen eine Lösung! Vincent ist in Gefahr!"
"Artemis, das ist doch hirnrissig. Was bringt es denn Vincent, wenn wir dieselben Sachen immer wieder erläutern? Außerdem bin ich gerade mal 14, was hab ich denn damit zu tun?!"
Artemis starrte sie an. Offensichtlich hatte noch nie jemand mit ihr so geredet, sie wirkte leicht verärgert. Doch Lynn war das egal, schließlich musste doch endlich mal irgendwas gemacht werden, oder?
"Artemis, was verschweigen Sie mir?", fragte Lynn abschließend.
Die Göttin seufzte und ließ sich auf ihrem Schreibtischstuhl fallen. "Du hast recht, es ist albern was wir hier veranstalten."
Lynn schaute sie verdutzt an. Sie hatte nicht mit Zustimmung gerechnet.
"Weißt du Lynn, hier geht im Moment alles drunter und drüber. Ich dachte... Ich dachte du würdest von alleine darauf kommen, da du ziemlich schlau bist. Ich dachte, wenn wir immer wieder dasselbe besprechen kommst du auf die Lösung..."
"Aber was sollte mir das bringen? Ich meine, dass ich alleine darauf komme", fragte Lynn.
"Verstehst du nicht? Ich... Kann es einfach nicht!" Sie wirkte gequält als sie es aussprach.
Lynn sah Artemis erschrocken an. "S-Sie können nicht? Stehen Sie unter einer Art Bann oder was?"
Artemis nickte. "Ich ... Mandagöttin hat uns Götter einmal zum Essen eingeladen und uns ein so fesselndes Gedicht aufgesagt, dass ich einfach nicht mehr von loskomme!"
Lynn sah sie einen Moment kurz verdattert an, dann fiel der Groschen. Alles klar. Mandagöttin steckte dahinter. Sie hatte alle Götter unter einen Bann gestellt, damit die nichts über eine bestimmte Sache erzählten. Lynn war natürlich klar welche Sache verschwiegen wurde: Der Mord an dem Schüler Yldur.
"Sagen Sie Artemis... War Vincent denn auch eingeladen?"
Die Göttin lächelte verschmitzt und schüttelte den Kopf. "Nein. An dem Abend war sein Hund gestorben... An dem Ort, wo die Bücher stehen."
Yldurs Todestag.
"Das heißt, Mandagöttin hat alle Götter unter einen Bann gestellt, außer Vincent, damit sie nichts über den Mord an Yldur verraten? Bedeutet das, dass Mandagöttin und die Götter dahinter stecken?!"
Artemis sah zu Boden. "Nun ja, es begann vor ca. 12 Jahren, als Mandagöttin fand, dass man einen... Club einrichten sollte, der monatlich ein Essen ausrichtete. Bei diesen Essen wurde immer viel erzählt. Meistens über Schulpolitik. Niemand dachte sich etwas dabei, bis sie begann über", sie überlegte kurz, "Eroberungen zu sprechen. Die Pläne klangen ganz gut, wir berieten darüber, wie man mehr Macht in der Schule bekommen könnte. Eines Tages dann... Starb Vincents Hund. An dem Tag fand auch ein extra Essen statt. Uns Göttern war klar, dass Mandagöttin offensichtlich dem Hund kein gutes Futter hingestellt hatte und ihn somit ... ungefährlich machte. Wir waren geschockt. Ich wollte aus dem Club austreten, schließlich war ein Hund gestorben! Wegen der Pläne! Aber Mandagöttin trug dieses Gedicht auf... Wir waren wie gebannt."
Lynn starrte Artemis mit offenem Mund an. "Was?!"
"Oh Lynn, hast du es nicht verstanden?"
"Doch, doch... Nur, ich kann es nicht fassen! Ein ominöser Verein von Göttern hat Yldur umgebracht? Wegen Politik?"
"Gut erkannt, Kleine", sagte plötzlich eine fremde Stimme hinter ihr. Lynn wirbelte herum.
Sie blickte einer unbekannten Frau mit langen blauen Haaren und eisigem Blick mitten ins Gesicht.


-IIX-


Lynn spürte einen pochenden Schmerz in ihrem Hinterkopf.
Sie schlug langsam ihre Augen auf, konnte aber nichts erkennen.
"Verdammt", fluchte sie leise und wollte ihre Beule am Kopf betasten, doch sie konnte ihre Hände nicht bewegen. Etwas schupperte an ihrem Handgelenk.
Erst da fiel ihr auf, dass sie gefesselt war.
Mühsam versuchte sie sich aufzurichten und blickte sich erneut um.
Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und sie konnte eine Tür erkennen. Aber keine normale... Dafür war sie zu klein.
Außerdem saß sie auf etwas weichem... Sie nahm einen leichten Ledergeruch war.
Ein Auto?
"Na, wach geworden?", fragte sie eine Stimme von vorne.
"Wo bin ich?", fragte Lynn verwirrt.
"In einem Auto, auf dem Weg nach Paris."
Lynn blinzelte und lehnte sich ein bisschen vor um das Gesicht der Person zu erkennen, die mit ihr sprach.
Es war eine Frau mit sehr blasser Haut und langen, bläulich schimmernden Haaren.
Mehr konnte Lynn nicht sehen.
"Wie, Paris?", fragte sie schließlich.
"Paris. Wir waren bis vor einer halben Stunde noch auf der Fähre. Glaub mir, es war nicht leicht dich im Auto zu verstecken. Ich dachte, es ist schlauer euch im Auto zu lassen und hab euch mit einer Decke bedeckt, doch du hast so einen so unruhigen Schlaf, Kind, ich hab dich förmlich einpacken müssen, damit die Decke nicht verrutscht."
"Hä?", machte Lynn.
"Am Besten du schläfst weiter. Du scheinst nicht allzu auf der Höhe zu sein..."
"Ja... Nein! Halt, ich will wissen..."
Doch da sackte sie wieder zurück in ihren Traum.

Als sie erneut aufschreckte, war es schon hell geworden.
Sie saß auf der Rückbank eines ziemlich heruntergekommenden Autos. Am Fenster flogen Felder, Bäume und einige Häuschen vorbei, sie fuhren auf der Autobahn.
Lynn rappelte sich hoch und bemerkte, dass sie von einer schwarzen Decke verhüllt war. Ihre Hände waren gefesselt.
Panik stieg in ihr auf, als sie sich an das kurze Gespräch in der Nacht erinnerte.
Das war doch nur ein Traum gewesen.
Ganz bestimmt.
Langsam beugte sie sich nach vorne um das Gesicht des Fahrers zu sehen, es war nach wie vor die Frau mit den langen, blauen Haaren.
"Wieder wach?"
Kein Traum.
Verdammt.
"Wer sind Sie?! Was haben Sie vor?", fragte Lynn sie geschockt.
Die Frau lachte.
"Ich erklärs dir später, okay? Wie wärs wenn wir schnell an der Tankstelle ranfahren und uns was zu essen besorgen? Ihr müsst doch Hunger haben."
"Was? Was meinen Sie mit 'ihr'?"
"Na du und dein schwarzhaariger Freund. Er liegt im Kofferraum."
Die Frau zeigte mit dem Daumen nach hinten. Lynn drehte sich um und richtete sich soweit auf, dass sie in den Kofferraum gucken konnte.
Zusammengekauert lag Aaron da, mit einem bösartigen Schnitt auf der Stirn. Die Wunde hatte stark geblutet und seine ganze Stirn war dunkelrot.
"Oh Gott, was haben Sie mit ihm gemacht?!"
"Er hat sich gewehrt. Da blieb mir nichts anderes übrig.", meinte die Stimme von vorne.
Lynn begann zu zittern.
Sie waren von einer mysteriösen Unbekannten entführt worden, die Aaron eventuell umgebracht hätte ohne mit der Wimper zu zucken!
"W-Wo fahren wir hin?", fragte Lynn erneut.
"Paris. Hab ich doch schon vor vier Stunden gesagt."
Lynn sank zurück in die weichen Ledersitze und starrte nach draußen.
In ihrem Kopf kreisten die Gedanken. Was würde diese Frau mit ihnen machen? Was wollten sie in Paris? War Aaron schwer verletzt? Was war mit Artemis?
Lynn seufzte. Sie hatte Kopfschmerzen und ihre Handgelenke waren aufgescheuert. Außerdem hatte sie unglaublichen Hunger und das dringliche Bedürfnis auf Toilette zu gehen.
Als hätte die Frau ihre Gedanken gelesen, fuhr sie an einer Tankstelle ran.
"So. Jetzt frühstücken wir erstmal. Kannst du französisch?", fragte sie Lynn.
Lynn schüttelte den Kopf. "Nicht wirklich..."
"Na gut. Dann werde ich es mal versuchen. Die mögen es nämlich überhaupt nicht, wenn einer Englisch spricht."
Sie stieg aus.
Lynn starrte sie an. Wie sollte sie denn aus dem Auto herauskommen? Außerdem traute sie dem ganz und gar nicht.
"Oh ja, hab ich ganz vergessen. Ich bind dich mal los."
Die Frau öffnete die Autotür an Lynns Seite und schnitt mit einem Messer das Seil durch, das Lynn um ihre Handgelenke hatte.
"Wenn du irgendeinen Scheiß machst, dann fackel ich nicht lange. Kapiert? Ich beobachte dich!", schärfte die Frau Lynn ein.
Lynn stieg mit schweren Gliedern mühsam und umständlich aus dem Auto und blinzelte in die Morgensonne. Es war ziemlich kalt.
Sie waren an einer französischen Tankstelle gelandet, ein paar müde LKW-Fahrer holten sich gerade einen Kaffee und eine deutsche Familie kaufte sich gerade eine riesige Süßigkeitenration.
Nichts deutete darauf hin, dass eine gruselige Frau zwei Jugendliche in ihrem Auto entführt hatte.
Lynn fand allein den Gedanken verrückt.
Die Frau tauchte wieder neben ihr auf.
"Sollen wir deinen Freund wecken? Oder schlafen lassen?"
Lynn überlegte nicht lange. "Bitte wecken Sie ihn."
"Nee, das kannst du machen!" Lachend öffnete sie die Kofferraumtür.
Lynn spähte hinein. Aaron lag mit offenen Augen dort und starrte die Frau böse an.
"Oh, er ist ja schon wach! Na Kleiner, tuts weh?"
Aaron schüttelte den Kopf und sagte: "Nicht mal ansatzweise."
Die Frau begann erneut zu lachen. "Na guck sich das einmal einer an! Er markiert den starken Mann hier. Ist ja regelrecht süß. Wie auch immer. Ich darf euch nicht verhungern lassen, also lass ich dich auch raus. Wehe du machst irgendeinen Quatsch, ich kann noch sehr viel stärker zuhauen, das war ja gerade mal ein Kratzer meines Fingernagels." Sie zeigte auf die Wunde an Aarons Stirn und zerschnitt seine Fesseln.
Aaron sprang sofort aus dem Kofferraum. Als er Lynn sah, wirkte er verwirrt.
"Wie, du auch hier?"
Lynn nickte. Sie konnte den Blick nicht von der Stirnverletzung abwenden. Hatte die Frau das wirklich mit ihrem Fingernagel gemacht?!
"Hopp hopp Kiddies, ab in die Tanke!", scheuchte die Frau und schloss den Kofferraum.
Lynn tappte etwas unbeholfen mit eingeschlafenen Beinen in den Eingang und steuerte die Toiletten an.
"In 10 Minuten beim Auto!", rief die Frau ihr noch gespielt freundlich hinterher.
Klar, in der Öffentlichkeit musste sie den Schein bewahren eine nette junge Frau zu sein.
Aaron ging mit Lynn mit.
"Was zum Teufel ist hier los?", fragte er Lynn leise.
"Ich glaube wir wurden von ihr entführt. Sie sagte, wir fahren nach Paris!", flüsterte sie zurück.
"Aber wer ist sie denn? Warum wir?"
"Ich hab keine Ahnung! Das ist so komisch..."
"Hoffentlich finden wir es noch heraus!"
Lynn bemerkte, dass sie von allen Seiten begafft wurden.
"Aaron... Am besten du machst dir deine Haare vor die Stirn, sonst fallen wir unangenehm auf... Wer weiß was dann passiert."
Aaron senkte den Kopf und versuchte seine Haare irgendwie über die Stirn zu ziehen, was nicht funktionierte.
"Das muss doch höllisch wehtun! Wir brauchen irgendein Verbanszeug!", flüsterte Lynn besorgt.
"Geht schon. Ich kann mir auf dem Klo ja erstmal das ganze Blut abwaschen."
"Wenn du meinst..."
Lynn bog zu den Mädchentoiletten ab.

Die restliche Fahrt nach Paris verlief schweigsam. Lynn und Aaron saßen mit versteinerten Mienen auf dem Rücksitz, während ihre Entführerin wie eine Beserkerin über die Autobahn jagte.
Schließlich kamen sie in den ersten Verkehrsstau, also konnte es nicht mehr weit sein.
"Hey Junge, kannst du französisch?", fragte die Frau von vorne.
Aaron nickte. "Ja, ein bisschen. Hatte ich in der Schule."
"Dann kannst du mir gleich helfen. Ich hab nämlich bedauernswerter Weise den Aufenthalt meines Privatjets vergessen... "
Privatjet? Wer zum Teufel war diese Frau bloß, dachte Lynn überrascht.
Lynn war schon einmal in Paris gewesen, zusammen mit ihren Eltern. Ihr Vater hatte immer gesagt: Wissen ist wichtiger als Geld! Deswegen hatten sie auch zu dritt in einer Zwei-Zimmer-Wohnung gewohnt, machten aber jedes Jahr Urlaub in anderen Ländern.
Lynn vermisste ihre Eltern unglaublich, sie hatte sie seit Ostern nicht mehr gesehen. Und das war mittlerweile schon ein paar Monate her.
Der Stau setzte sich in Bewegung und nach einer weiteren Stunde erreichten sie Paris.
Der Verkehr war grauenhaft, weshalb die Entführerin an einem LIDL-Parkplatz parkte und sie alle herausscheuchte.
"So meine Lieben, ich gehe mir erstmal Euro ziehen. Ihr bleibt hier. Ich warne euch nochmal, kein Scheiß!"
Mit den Worten ging sie zu einem nahegelegenen Geldautomaten.
Lynn fiel auf, dass die Frau angezogen war wie eine Gothic-Queen. In Verbindung mit ihrem blassen Gesicht und den blauen Haaren stand es ihr ganz gut, aber trotzdem war Lynn sich nicht sicher ob sie es hier mit einem Menschen zu tun hatten.
In Paris war es stickig heiß, zu heiß für Lynns Geschmack.
"Warst du schonmal hier?", fragte Aaron sie.
"Ja, einmal mit meinen Eltern. Wieso?"
"Na ja, dahinten ist die nächste Metrostation. Wir könnten jetzt abhauen und-"
"Hast du Euro mit dabei?", unterbrach Lynn ihn.
"Verdammt", murmelte Aaron und lehnte sich an das Auto.
Lynn stellte sich neben ihn und musste feststellen, dass es da viel kälter war.
Aber Aaron war ja schon fast ein richtiger Halbgott, bestimmt lag das daran.
Da fiel ihr ein, dass es Aaron gar nichts auszumachen schien, dass sie nur ein Mensch war.
Ein komisches Gefühl...
"Sag mal Aaron...", fing sie an.
"Hm?"
"Macht es dir gar nichts aus, dass ich nur ein Mensch bin?"
Verdutzt sah er sie an. "Hä? Warum sollte es?"
"Na ja, ähm, ...", Lynn merkte, dass die Frage irgendwie albern war. Am liebsten hätte sie gar nichts gesagt. "Äh, nicht so wichtig. Vergiss es."
Aaron zuckte nur mit den Schultern. "Warum sollte es mir etwas ausmachen? Ich war doch selbst einer, 14 Jahre lang. Ehrlich gesagt spüre ich auch keine große Veränderung zu damals."
"Okay..." Lynn hatte keine Ahnung was sie noch erwidern sollte, also hielt sie den Mund.
Nach einer halben Ewigkeit kam die Frau mit den blauen Haaren wieder zurück.
"Na denn ihr Süßen, rein ins Auto! Ich hab mit meinem Kontaktmann ausgemacht, dass wir uns vor dem Louvre treffen. Dort gehen wir dann zum Privatjet. Also musst du deine Französisch-Künste nicht unter Beweis stellen."
"Gott sei Dank", murmelte Aaron.

-IX-


"Lyra! Lyra! Bonjour ma belle, ça va?" Ein Mann mit Glatze und schrillen Klamotten kam auf das Trio zugehechtet.
"Oh, ça va bien Marcel", antwortete die Blauhaarige freundlich und ließ sich von dem Mann beide Wangen abküssen.
"Isch 'abe schon Aussch'au nach eusch ge'alten, ist alles gutt gegangen?"
"Ja ja, keine Probleme. Wir sind ungefähr 10 Stunden gefahren."
"Oh ja, das ist ja noch ok. Wer sind denn die zwei Hübschen?", fragte er und zeigte auf Lynn und Aaron, die offensichtlich total fertig aussahen, da der sogenannte Marcel eine besorgte Miene aufsetzte.
"Oh, das sind Bekannte von mir. Kinder einer Nachbarin. Lynn und Aaron", log die Frau.
"Freut misch ser!" Er ging auf die beiden zu und küsste auch ihre Wangen.
Lynn mochte diesen Brauch überhaupt nicht, dieser Marcel war ihr sowieso suspekt.
"Seid ihr 'ier für Ferien?"
"Nein Marcel, ich brauche den Jet."
"Oh, den Jet", sein Lächeln wirkte plötzlich etwas eisig. "Na klar, er steht da, wo er immer steht. 'ier, die Schlüssel. Nischt kaputtmachen, ja? Carlos fliegt morgen zu eusch um ihn abzu'olen."
Er überreichte der Entführerin einen Schlüssel.
"Danke Marcel, ich bin dir was schuldig!"
"Oh, non non, wir sind nun... wie sagt man? Quitt?"
Und mit diesen Worten machte sich Marcel aus dem Staub.
"Das war ja ein komischer Auftritt!", entfuhr es Lynn.
"Ach, Marcel hatte bei mir noch eine alte Rechnung offen. Offen gestanden, er hat Angst vor mir."
Lynn und Aaron schwiegen entsetzt.
"Wie auch immer, auf gehts Kiddies, wir fahren zum Schwarzmarkt-Flughafen!"

Dieser düstere Ort roch förmlich nach Kriminalität. Überall standen dunkel angestrichene Hütten mit fahlen Verkäufern, die ihre Waren ein paar Kunden auf französich anpriesen. Lynn fühlte sich unwohl, alles um sie herum kam ihr so fremd vor, es war definitiv eine Szene, in die sie nicht reinrutschen wollte.
Lyra schien sich in der dunklen Gasse auszukennen, denn sie führte sie streng hindurch und bog ab und zu ab.
Aaron sah sich mit Interesse um. "Interessant, ich muss meinem Vater mal davon berichten."
"Ist der Polizist?", fragte Lynn leise.
"Nein, Schriftsteller. Hier würde er unglaubliche Inspiration finden. Er ist so krank und setzt sich hier mitten auf den Boden, glaub mir."
"Okay..."
Sie kamen in einen heruntergekommenden Hinterhof. Unter einer feuchten Plane in einer Ecke stand ein grauer Jet, wahrscheinlich aus dem Jahr 1930, so wie er aussah.
Schließlich saßen die drei in dem winzigen Flugzeug, dass irgendwas in Kisten transportierte... (Drogen?)
Entweder war Lyra keine allzu fähige Pilotin, oder die Technik war nicht mehr das was sie einmal war, denn der Flug verlief holpernd und unruhig, Lynn ging es gar nicht gut. Sie hatte unglaublichen Hunger, das Laufen durch Paris hatte sie geschlaucht. Verbunden mit der Sorge um die G.A.S. und der Tatsache, dass sie große Angst vor dem hatte, was Lyra ihnen sagen wollte, oder wohin sie flogen...
All das machte Lynn zu einem kleinen Nervenbündel.
Aaron schien ruhiger, aber angespannt.
Und so holperten sie langsam vorwärts... Kilometer für Kilometer, die stinkenden Kisten im Rücken, das unbekannte Ziel vor Augen.

Irgendwann wachte Lynn auf, ein wenig verwirrt. Anscheinend war sie weggenickt.
Sie richtete sich etwas unbeholfen auf, ihr tat alles weh und ihren Nacken hatte sie sich auch verrenkt.
Sie gähnte einmal ausgiebig und sah sich um, es hatte sich nichts an ihrem Standort geändert. Immer noch feuchte Kisten und dunkelgrüner Metallboden. Neben ihr saß Aaron, offensichtlich etwas unwohl.
"Was ist los?", fragte sie ihn.
"Ach nee geht schon. Es ist nichts..."
Er wandte den Blick ab, Lynn konnte sehen wie seine Ohren rot anliefen.
"Habe ich irgendwas verpasst?", fragte sie.
"Nein, nein. Du hast nur eine halbe Stunde geschlafen."
Lynn fiel auf, dass er schon die ganze Zeit an seiner Schulter herumnestelte. Das T-Shirt war an genau dieser Stelle zerknittert. Lynn erkannte ein rotes Haar darauf.
"Oh gott, nein...!"
Offensichtlich hatte sie die ganze Zeit auf seiner Schulter gelegen!
Lynn rief total rot an, so etwas peinliches war ihr noch nie passiert. "Tut mir schrecklich leid, du hättest mich doch auch wecken können!"
"Ich weiß nicht wovon du redest", antwortete Aaron starr, doch mit einem kleinen Lächeln.
"Mann, ist das peinlich. Am besten wir vergessen das wieder, okay? Bitte?"
Er sah sie an, Lynn fiel auf dass seine Augen tintenschwarz waren. So wie die von Vincent.
"Ich glaube wir sind gleich da."

-X-


Sie landeten auf einem kleinen Flughafen, umgeben von Bäumen und Feldern.
"'Neubrandenburg'...", entzifferte Lynn auf einem verwitterten Schild.
"Wo sind wir? Ist das nicht mehr Frankreich?" Sie hatte irgendwie komplett die Orientierung verloren.
Lyra öffnete die Zwischentür zum "Passagierraum" und bedeutete ihnen mit einer Handbewegung auszusteigen.
Lynn musste husten als sie nach draußen kamen, es roch stark nach Abgasen und Ölresten.
"Wir sind da", sagte Lyra hinter ihnen.
Lynn sah sich erneut um, es war hässlich und kahl überall, keine Menschenseele weit und breit.
"Komischer Flughafen...", murmelte Aaron.
"Von hier aus werden wir ... na ja, wir werden erstmal auf meinen Boss warten." Lyra knallte die Flugzeugtür zu und ließ den Jet auf der Landebahn stehen. Mit leichten Schritten ging sie in Richtung Feld.
"Wo sollen wir hin?", fragte Lynn nervös.
"Kommt einfach mit ihr Luschen!", rief Lyra ihnen zu.
Wortlos folgten sie ihr.

Er sah sie schon von weitem.
Drei Personen, mitten auf einem Feld.
Lyra war unverkennbar in der Mitte, ihre leuchtenden Haare waren selbst aus so großer Höhe sichtbar.
Mein Gott, diese Frau ging ihm auf die Nerven.
So stümperhaftes Vorgehen, keine Skrupel und immer so aufdringlich, sie war definitiv von Dämonen besessen.
Doch war sie essenziell für sein Vorhaben, schließlich hatte nur sie diesen unglaublichen Hass auf Vincent, den Hass der Verlassenden.
Der Hass einer ehemaligen Freundin.
Bald würde sie ihren Auftritt bekommen, doch erst musste sie beschäftigt werden.
Sie war erst für das Finale bestimmt.
Er breitete seine Flügel aus, zum Landen bestimmt. Er warf einen Schatten auf die kleine Gruppe unter ihm und der Junge mit den schwarzen Haaren blickte zu ihm hoch.
Wie er da so stand, Entgeisterung im Gesicht, eine Platzwunde auf der Stirn, kam er ihm ziemlich schwach vor.
Schwach. Kein potenzieller Gegner.
Auch das Mädchen neben ihm sah nicht besonders stark aus.
Sie hatten keine Taktik, keinen Schutz, keine Kraft.
Sein Auftrag war, sie mithilfe einer List in die Fänge seiner Chefin zu bekommen, doch was wenn man den Auftrag kurzfristig änderte?
Seine Chefin würde die beiden sowieso umbringen, also warum nicht einfach jetzt?
Sofort?
SIE würde ihn dafür lieben. SIE würde ihm helfen seine Macht auszuweiten. SIE würde ihn unterstützen.
Obscaelon merkte, wie die Gier ihn erfasste.
Er bremste in der Luft ab und flog wieder nach oben. Dort zog er sein Schwert langsam aus der Scheide und gluckste leise.
"Scheiße, warum nicht einfach jetzt?!"
Mit hysterischem Lachen raste er auf die drei Personen zu.
Lyra blickte mit bleichem Gesicht zu ihm nach oben, sie merkte, dass etwas nicht stimmte.
"Ich liebe Spontanität!", schrie Obscaelon und hob sein Schwert.
Lyra stürzte vor die beiden Jugendlichen, um sie zu beschützen, doch Obscaelon stieß sie weg.
Das darauffolgende Krachen war kilometerweit vernehmbar.

-XI-


Blut.
So viel Blut.
Rasend schnell breitete es sich aus, es bildete einen fächerförmigen Teppich um seinen schweratmenden Körper.
Lynn stand da wie betäubt.
Nichts rührte sich.
Sie konnte den Atem des Hünen mit dem Schwert im Nacken spüren. War das ein Pferfferminzgeruch?
Kaum dass sie es sich versah, kniete sie neben Aaron nieder und fing an zusammenhanglose Sätze zu brabbeln, geschockt von der Wucht des Aufschlags.
Sie begann sich umständlich ihre Jacke auszuziehen, versuchte ihn irgendwie darin einzuwickeln um die Wunde notdürftig zu verschließen, doch sie wollte ihm nicht wehtun.
"Warum... Warum bist du nicht tot?!", keuchte der Mann hinter ihr.
Lynn antwortete nicht, sie konnte nur auf den schweratmenden Körper vor ihr starren.
Auf und nieder. Auf und nieder. Auf... Aaron verharrte, dann hustete er röchelnd.
"Du solltest tot sein! Verdammt, warum lebst du noch?!"
Der Hüne hob erneut sein Schwert und zielte genau auf Lynn, doch anstatt ihr den Kopf abzutrennen ging das Schwert einfach durch sie hindurch, wie durch Rauch.
Lynn bekam davon gar nichts mit, sie war schon am Ende ihrer Grenzen angelangt.

-XII-


Artemis tappte nachts durch die Gänge.
Kein Schüler war zu sehen und auch kein Gott.
Sie hatte schon mehrmals darüber nachgedacht die G.A.S. Zu verlassen, doch das konnte sie Lynn nicht antun. Und was sollte aus ihrer Schülerin Kate werden?
Die Göttin bog in den Kerker ein, dort saß Mandagöttin gefangen.
Sie war immer noch wunderschön, golden vom Haaransatz bis zum Fußnagel, doch ihr Blick war wild, böse und dunkel geworden.
Nachdem sie damals im Lehrerzimmer diese unglaublichen Behauptungen ausgesprochen hatte und beinahe auch ihren Verstand verloren, saß sie im Verlies, alleine und eingeschränkt.
Artemis setzte sich ihr gegenüber vor die Gitterstäbe.
"Hallo Mandagöttin."
Die schaute auf. Ihre goldenen Augen schimmerten um Schein der kleinen Kerze, die Artemis vor sich hingestellt hatte.
"Artemis, was willst du?"
"Ganz gern mit dir reden."
"Reden?", die Göttin schnaubte. "Dazu hättest du mich nicht in ein Verlies sperren müssen. Ich weiß immer noch nicht, was ich hier soll."
"Manda, du hast versucht eine Schülerin zu misshandeln. Du hattest vollkommen den Verstand verloren! Und außerdem wissen wir beide ganz genau, was du vor Jahren getan hast"
Mandagöttin lachte. "Artemis, du bist mit Abstand das hinterlistigste Biest, das mir je untergekommen ist, das muss ich schon sagen! Was habe ich denn groß verbrochen? Ich gebe es ja zu, in der einen Sache mit der Göre hätte ich nicht so sein dürfen. Doch früher? Also wirklich, das war einfache, simple Politik!"
"Das war Größenwahnsinn! Niemanden ist geholfen, wenn allein Götter regieren!"
"Wenn allein Götter regieren!", äffte Mandagöttin Artemis nach. "Du hast doch mitgemacht, oder etwa nicht?"
"Bis zu einem bestimmten Punkt war es ja auch noch okay."
"Na aber alles klar. Süße, wenn du nur mal eins und eins zusammenzählen würdest, wäre dir klar, dass du in deinen Einstellungen einfach nur veraltet bist. Du musst dich mal ein bisschen der Zeit anpassen...!"
"Du hast einen 17 - jährigen Jungen umgebracht, weil du ihn nervig fandest! Nennst du das: 'Der Zeit anpassen'?", rief Artemis aufgebracht.
"Willst du mir jetzt meine früheren kleinpolitischen Ereignisse erzählen und mich dazu musikalisch anschreien?! Das fänd ich aber Super von dir, dann wäre das gar nicht mehr so kalt und langweilig hier!", konterte Mandagöttin.
"Ich habe so lange darauf gewartet, dich endlich mal dingfest zu machen, dieses magieabsorbierende Verlies hatte ich schon fast vergessen. Doch als du es nochmal erwähnt hast, ist es Vincent und mir wieder eingefallen! Oh glaub mir, du wirst nicht ungeschoren davon kommen! Deine Taten müssen endlich bereinigt werden!"
Mandagöttin starrte Artemis hasserfüllt an, dann wandte sie den Blick ab. "Scheint aber nicht so gut zu laufen, oder?"
"Wie meinst du das?", fragte Artemis eisig.
"Na ja, zwei deiner kleinen, süßen Mitstreiter sind hops gegangen... Entführt, ja? Also nein, wer tut denn sowas?" Mandagöttin legte ihren Kopf schräg und lächelte Artemis gehässig an.
"Von wegen, Lynn und Aaron sind viel stärker, als du denkst!"
"Ja ja, natürlich. Ein Mensch und ein kleiner Idiot. Super, Artemis. Da kann ich dich nur fragen: Ist das alles, was du zu bieten hast?"
"Ich habe dich hinter Gitter gebracht und Vincent unterstützt mich...!", verteidigte sich Artemis hart.
"Ach, wirklich? Und warum sieht Vincent von Tag zu Tag schlimmer aus und besucht mich jeden Tag? Warum versorgt er mich mit Informationen? Hmm?" Mandagöttin warf ihren Kopf zurück und begann laut zu lachen. Sie lachte, dass es an den Wänden klirrte und es durch die Gänge hallte.
Artemis schnappte sich ihre Kerze und sprang auf.
"Du hast ihn verhext! Du hast ihn vergiftet! Infiziert!!

"
Mit diesen Worten stürmte sie aus dem Kerker, Tränen in den Augen.

-XIII-


Ein warmer Windhauch wehte ihr ins Gesicht, doch er verflog so schnell, wie er gekommen war.
Es roch nach Gras, aber irgendwie auch nicht.
Ein Vogel zwitscherte in der Ferne, doch er klang merkwürdig dumpf.
Lynn fühlte sich leicht, erschöpft und glücklich, so wie nach einem Badeausflug im Sommer. Wenn man nach jeder Menge Spaß sich in die Sonne legt und tief durchatmet; genauso fühlte sie sich.
Sie erinnerte sich an den letzten Ausflug dieser Art, den sie mit ihren Eltern gemacht hatte. Bestimmt war das auch schon Jahre her... Es war im Freibad gewesen, Lynn war damals noch ziemlich schüchtern. Hatte sie sich nicht in Grund und Boden geschämt, weil sie sich nicht getraut hatte vom Turm zu springen?
Lynn musste lächeln. Solche Sorgen hatte sie jetzt nicht mehr.
Sie schlug ihre Augen auf. Doch statt in ein tiefes Blau des Himmels blickte sie in ein verwaschenes Türkis.
Sie richtete sich auf, sie lag auf einer Wiese, die ihr merkwürdig bekannt vorkam... Doch es war alles irgendwie blass, verschwommen und ein bisschen surreal. Das Gras war hässlich kotzgrün, die Wärme des Junis nicht wirklich echt und der dumpfe Vogelgesang machte sie wahnsinnig.
Lynn schaute an sich hinunter. Sie trug ein gepunktetes Kleid mit einer Schleife, dass sie in der Grundschule einmal getragen hatte. Oh, wie hatte sie dieses Kleid geliebt! Doch warum hatte sie es an? Und wo kam es her?
Ihre Sneaker waren an ihren Füßen geblieben, sie empfand das als tröstend. Wenigstens etwas, dass sie kannte in der fremden Umgebung.
Langsam stand sie auf und blickte sich um.
Sie stand auf einer Art Feld, aber statt Getreide wuchs eine Wiese. Ringsherum waren ein paar Bäume zu sehen, ganz in der Ferne erkannte sie so etwas wie ein Schild.
Woher kannte sie nur diesen Ort? Alles war ein bisschen vertraut, so als ob sie schon einmal hier gewesen wäre.
Sie ging ein paar Schritte. Kein Geräusch begleitete ihre Füße.
Der Vogel verstummte.
Lynn war froh darüber.
Sie machte sich auf zu dem Schild, vielleicht konnte ihr ein Ortsname auf die Sprünge helfen...
Alles war still.
Nichts war zu hören, nur Lynns Atem.
Jetzt wünschte sie sich doch den dumpfen Vogel zurück.
Als sie vor dem Schild stand, hatte sie einige Probleme es zu entziffern, da es ziemlich verschwommen und blass war.
"'Neubrandenburg'?", flüsterte sie verwirrt.
Wo war das denn?
Der Name sagte ihr irgendetwas, doch sie konnte es nicht ganz zuordnen.
Sie wollte sich gerade umdrehen und wieder zurückgehen, als ihr etwas auf die Schulter tippte.
Vor Schreck fuhr sie zusammen.
"Ganz ruhig. Ich bin es nur."
Die Stimme gehörte einem noch recht jungem Mann mit Sommersprossen und längerem Haar. Er war recht groß, ein bisschen schlaksig und hatte eine ziemlich raue, kratzige Stimme.
Doch Lynn starrte ihn aus einem anderen Grund entgeistert an; er war schwarz-weiß.

-XIV-


"Wer bist du?", fragte Lynn den merkwürdig farblosen Jungen.
Der blinzelte. "Na, du müsstest mich doch kennen. Du kennst mich bestimmt. Wegen mir bist du hier", erklärte er verwirrt.
Lynn schüttelte den Kopf. Wen sollte sie denn kennen? Ihr fiel niemand ein, der so aussah wie dieser Junge.
"Wirklich nicht? Aber ich bin's doch! Yldur!"
Lynns Augen wurden groß.
Yldur.
Mit dem Namen kamen ihre Erinnerungen. Die Bibliothek, der Blutfleck, die Verschwörung, Mandagöttin, die Entführung,...
Artemis.
Aaron!


"Oh Gott, Aaron!", flüsterte sie.
Hektisch sah sie sich um, doch nichts war zu sehen. Nur blasse Farben und dieser farblose Junge, der behauptete Yldur zu sein.
"Ist alles in Ordnung?", fragte er.
"Nein... Ich, wo bin ich hier?"
"Du bist in der Geisterwelt gelandet. Du hast da auf der Wiese gelegen, da bin ich mal gucken gegangen. Farbe sieht man hier nicht so oft, weißt du..."
"B-Bin ich etwa... tot?"
Der Junge schüttelte den Kopf. "Nee, das würdest du wissen. Außerdem, du wärst so blass wie ich. Nein, du bist nicht tot. Du bist ein Wanderer."
"Was?"
"Jemand, der von der Menschenwelt in die Geisterwelt gelangen kann ohne dabei zu sterben. Ich war auch mal einer", er lachte kurz auf.
Lynn atmete auf. Wanderer. Nicht tot.
Trotzdem, diese Erkenntnis traf sie plötzlich.
War das etwa... Ihre Göttlichkeit?
Wandern?
Durch die Menschenwelt in die Geisterwelt gehen können?
Sie dachte nach. Das war doch eigentlich Vincents Fähigkeit, oder?
Sie starrte Yldur an.
"Bist du es wirklich?"
"Ja, ich schätze schon. Ich habe dich beobachtet, ich hab gesehen wie du meinen letzten Überrest Blut gefunden hast. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie dankbar ich dir dafür bin, Lynn." Er sah sie eindringlich an und umarmte sie kurz.
Lynn war völlig perplex, der Geist Yldurs fühlte sich merkwürdig kalt an,
"Ich hab Jahre gewartet. Es ist schrecklich hier, ich hasse es. Ich warte immer noch... "
"Stimmt es, dass du umgebracht wurdest? Von Mandagöttin?", fragte Lynn.
Yldur nickte. "Schlimme Sache. Ich war in der Bibliothek. Habe gelernt für meine Abschlussprüfung, da ging auf einmal eine Tür auf und Mandagöttin kam rein. Sie hat mich nicht gesehen und ist direkt an mir vorbeigegangen. Sie hatte so einen komischen schwarzen Kasten dabei, keine Ahnung was das war. Ich hab sie angesprochen, sie gefragt was sie hier zu suchen hat. Da hat sie sich umgedreht und mich angeguckt, als ob ich der Teufel auf Erden wäre. Ohne eine Sekunde zu zögern hat sie mich mit einem Dolch abgestochen." Yldur schüttelte den Kopf. "Ich war sofort tot. Jede Hilfe wäre zu spät gekommen."
Lynn klappte der Mund auf.
Es war wahr.
Mandagöttin hatte jemanden getötet.
In der Bibliothek.
Alle ihre Schlussfolgerungen waren richtig gewesen.
"Was soll das heißen, du wartest immer noch?"
"Ich warte auf meine Erlösung. Ich warte auf den Himmel, ich warte auf das Ende. Ich warte aber vor allen Dingen auf Vincent."
Lynn hatte unendlich viele Fragen. Alle lagen sie ihr auf der Zunge, doch der Junge legte ihr eine Hand auf den Mund.
"Nicht hier, Lynn. Wenn du glaubst, dass die Geisterwelt friedlich ist, irrst du. Lass uns doch woanders hingehen."

-XV-


Er führte sie zu einem kleinem Teich in der Nähe. Auch er machte keine Geräusche beim Gehen. Lynn musterte ihn immer noch ein wenig skeptisch. Er war so blass und grau, aber doch kam er ihr merkwürdig bekannt vor. Trotzdem konnte sie ihn nirgendwo einordnen.
Der dumpfe Vogel hatte wieder angefangen zu singen und ein ekliger Windhauch strich ihr über das Gesicht. Er war wie ein letzter Ächzer einer Klimaanlage, abgestanden und verbraucht.
Lynn beschloss sich weiter keine Gedanken um ihren Standort zu machen, manchmal war es besser, Dinge einfach geschehen zu lassen, anstatt ihnen immer auf den Grund gehen zu wollen.
"Wir sind da", sagte Yldur von vorne. Lynn zuckte zusammen, seine Stimme empfand sie als ein wenig unangenehm, außerdem war sie in der leisen Umgebung merkwürdig laut.
Sie standen vor einem ebenso blassen Mann, der einmal lange schwarze Rastalocken gehabt haben musste. Er trug eine von diesen bunten Mützen, die Lynn so cool fand und eine Sonnenbrille. Auch sie waren weiß.
"Ja was seh ich denn da...?", fragte er leise und langgezogen. Durch seine blassen Sonnenbrillengläser musterte er Lynn von oben bis unten.
"Lynn, das ist Dewie. Er wohnt hier."
"Ach komm, Yldur. Ich wohne hier nicht, ich warte nur auf den Zug, der mich", er machte eine ausladene Armbewegung gen Himmel, "endlich aus diesem Laden herausholen wird."
"Ähm, hi", sagte Lynn.
"Selber Fisch!", rief Dewie und kicherte.
Er lachte, dass ihm bestimmt die Tränen gekommen wären und wälzte sich auf dem Boden.
Lynn blickte etwas unsicher zu Yldur, der dem Mann reglos beim Lachen zusah.
"Dewie hat schon lange nicht mehr so gelacht", sagte der Mann schließlich und richtete sich auf. Er streckte seine Beine lang aus und betrachtete Lynn aus dieser Perspektive äußerst interessiert. "Was ist sie?"
"Sie ist ein Wanderer", antwortete Yldur.
"Nee, oder? Nee, kann gar nicht sein. Ich dachte der alte Vincent hat gar keine Schüler mehr?" Dewie sah Yldur fragend an.
"Hat er auch nicht. Dachte ich auch."
"Ich bin aber gar kein Schüler von Vincent", sagte Lynn, "Ich bin ein Mensch."
"Ja ja, deswegen stehst du hier, ne?", rief Dewie und begann wieder zu lachen.
"Dewie, reiß dich mal zusammen", herrschte Yldur den Geist an.
"Ist ja gut, Kollege... Aber wie geht das denn? Dass sie einfach hier so rumsteht, aber nicht durch die Tür gekommen ist?"
"Es gibt noch weitere Wege, Dewie. Auf jedem Kontinent gibt es eine und soweit ich weiß kann man auch mit Magie hierher gelangen, wenn man denn die nötige Göttlichkeit hat", erklärte Yldur.
"Ist ja stark. Und wo biste nun her, Püppi?", fragte Dewie Lynn.
"Ähm... Ich bin aus England", sagte Lynn unsicher.
Dewie war nicht mehr zu halten. Er lachte so laut, dass es Lynn schon in den Ohren dröhnte und sie eine Gänsehaut bekam. Yldur wollte etwas sagen, doch Lynn konnte ihn nicht hören.
Hatte sie etwas Falsches gesagt?
Yldur führte Lynn wieder weg.
"Er wird von Tag zu Tag verrückter. Gestern war er noch normal und hat über die Entstehung der Welt philosophiert. Heute bekommt er einen Lachanfall nach dem nächsten. Die Geisterwelt verwirrt die Leute."
"Ehrlich gesagt, ich bin auch etwas verwirrt", gab Lynn zu.


Impressum

Texte: Eli Na
Bildmaterialien: Cover: tropical.
Tag der Veröffentlichung: 10.02.2012

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