Kapitel 1:
Transzendenz
Ich wache auf und das unendlich starke Gefühl, das mich fast zerreißt, ist noch da. Es ist so intensiv: ein belebendes Kribbeln, wie Schmetterlinge im Bauch, eine aufregendes Gedankengefühlsschwirren, das im Glanz etlicher Sonnenaufgänge längst Gold geworden ist.
Die Stunden vergehen, ungenutzt. Das Kribbeln brennt, das Schwirren reizt. Der Tag neigt sich dem Ende zu, und es war alles da. Nur er nicht.
Kein Tag vergeht ohne einen Gedanken an ihn. Immer wieder sehe ich, wie er vor mir steht. Dann blicke ich ihm tief in seine traurigen Augen, höre seine kratzige Stimme und zerberste vor Sehnsucht. Und dem Wissen, dass alles nur eine schmerzhafte Illusion in Endlos-Schleife ist, die Hingabe an ewige visuell festgehaltene Erinnerung. Er selbst ist lange tot. Gestorben an einem Zuviel von sich selbst und einem Zuwenig von allem anderen. Beerdigt vor fast drei Jahren.
Ich habe ihn nie persönlich kennengelernt, ihn nie berührt. Er war Schauspieler, für alle zu sehen, für niemanden greifbar. Er ist die Liebe meines Lebens.
Er hieß Jacques. Jacques fiel mir zum ersten Mal auf, als er schon längst tot war. Während er lebte, erblickte ich ihn nur in einem einzigen Film, einem schwülstigen Drama, das ich kaum zu würdigen wusste. Damals fand ich ihn uninteressant, unpassend, unattraktiv, fast ein wenig hässlich. Das blasse Gesicht wirkte rundlich, die blonden Haare trug er meist lang und strähnig, die großen blauen Augen blickten flimmernd-glasig-sehnsuchtsvoll in die Weite des Nichts. Mittlerweile weiß man, dass dieser so spezielle und einnehmende Gesichtsausdruck die Folge seines jahrzehntelangen Alkoholexzesses gewesen sein könnte. Das radikale Trinken stand ihm ebenso ins Gesicht geschrieben wie die Freude an schmackhaften Speisen. In seinem letzten Lebensjahr schlug er dann einen anderen Weg ein und nahm etliche Kilos ab. Aufs Essen verzichtete er fast völlig, aufs Trinken nicht.
Ob dick oder dünn, trunken oder trocken, tot oder lebendig – mein Denken, mein Herz und meine Seele sind stets bei ihm. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Es ist, als sei er in mich gefahren und ein Teil von mir geworden. Dieses Gefühl ist erfüllend. Und doch so unendlich schmerzhaft.
Wie soll ich je akzeptieren, dass er nicht mehr da ist, dass er für mich nie 'greifbar' sein wird? Herrgott, ich will ihn! Und zwar in echt. Als Person aus Fleisch und Blut! Nicht als Wunschvorstellung oder Erinnerung. Nicht als Kopfbild und auch nicht als wandelnde Abbildung im Fernseher. Ich will ihn anfassen, küssen, ihm eine knallen, ihn verwöhnen, halten und mit ihm streiten. Das ganze Programm.
Immerhin, trotz der Tatsache, dass er keine 40 geworden ist, hat sich genügend Material angesammelt. Jacques, dieser schüchterne Mensch, hat immer wieder harte Männer gespielt, solche die anderen Leuten Leid zufügen. Und abends, nach den Dreharbeiten, zog er sich scheu zurück und versuchte, die Einsamkeit fernab des Sets zu ertragen.
Ich könnte schreien, wenn ich daran denke, dass Jacques noch leben könnte, wenn manche Dinge anders gelaufen wären. Wenn er nichts mehr getrunken hätte. Wenn er nicht so viel abgenommen hätte. Wenn seine Seele ummantelt worden wäre.
Ich dusche, arbeite, esse und denke nur an ihn. Ich leide. Dann schlafe ich, meist traumlos. Falls sich Bilder in meinen Schlaf mischen, sind sie blass und unkenntlich. Morgens verfluche ich mein Unterbewusstsein, weil es mich so lang von ihm ferngehalten hat. Vergeudete Zeit.
Es ist März 2020, ein nass-kalter Mittwochabend und wieder kündigt sich so ein verhasster Traumlos-Schlaf an. Ich kämpfe dagegen an, will wach bleiben und sein Bild klar und deutlich vor meinem geistigen Auge halten. Wenn ich nur ausreichend lang an ihn denke, mich stark genug nach ihm sehne, dann muss er doch irgendwann in meinen Träumen erscheinen. Entkräftet gleite ich schließlich aus der bewussten Welt.
Um mich herum Ruinen. Restlos alles kaputt. Panik ergreift mich. Ich will erstarren. Der Fluchtinstinkt ist zu groß – ich renne los, rase atemlos durch staubigen Zerfall und spüre, dass da keine Decke ist. Keine Sonne über mir, nur der Schein eines Vollmonds skizziert, wohin ich trete. Ich habe Mühe, die Balance zu halten.
Es stinkt nach Siechtum. Eitriger Kleister hält die letzten Fetzen Fassade an der zerschossenen Farblosmauer. Nur eine Wand ist noch ganz. Ich kann sie sehen. Sie liegt direkt vor mir, keine zehn Schritte entfernt. Hoch und breit türmt sie sich mir entgegen und ist mit einem Tuch verhüllt. Vielleicht verbirgt sich dahinter der Ausgang aus diesem Wrack?
Ich reiße das Laken weg und erschrecke. Da steht jemand! Eine massige Gestalt, doppelt so breit wie ich. Ich weiche zurück – die Gestalt tut es mir gleich. Nervös fahre ich mit einer Hand durch mein Gesicht – wie ein Nachäffer verfährt der Mensch vor mir genauso, nur verkehrt herum. Mir schwant Schreckliches. Mein Herz rast. Ich kann den Anblick nicht mehr ertragen, drehe mich um und renne in eine stockfinstere Leere, renne und renne, habe plötzlich das Gefühl zu fallen ...
... und wache auf.
Durchgeschwitzt schrecke ich hoch und sehe vor lauter Dunkelheit die Hand vor Augen nicht. Ist es noch Nacht? Nach vielen Wochen des traumlosen Schlafens habe ich erstmals wieder geträumt. Ein einziger Albtraum. Was war das bloß? Habe ich mich im Traum selbst gesehen? Aber nicht so, wie ich jetzt aussehe, sondern so, wie ich vor drei Jahren aussah – fett und unförmig, mit 40 Kilo mehr.
Nach diesem Schreckensschlaf drückt meine Blase. Während ich im Stockdunkeln aufzustehen versuche, fühle ich mich ungewohnt schwer, überlege, ob ich es gestern mit dem Sport übertrieben habe und taste nach dem Nachtlicht. Da das Suchen kein Ende nimmt, schätze ich ab, ob ich die paar Meter bis zur Toilette auch ohne Licht schaffen könnte. Es wäre vielleicht möglich – ach, wenn es doch nur ein wenig heller wäre ...
Überhaupt wundere ich mich, dass der Raum dermaßen schwarz ist. Für gewöhnlich lasse ich die Rollläden doch immer ein Stück weit geöffnet, weil ich das gedimmte Licht der Straßenbeleuchtung mag und eine Orientierungshilfe in der Nacht habe. Nun aber scheint alles wie in Tinte getaucht. Wie kann das sein? Ist der Strom ausgefallen? Das erklärt aber nicht, warum ich nicht imstande bin, die Nachttischlampe zu ertasten.
Verkehrslärm kann ich gedämpft hören. Sollte ich dann nicht auch ein paar Autoscheinwerfer an meinem Fenster vorbeiblitzen sehen? Ach, wahrscheinlich habe ich die Rollläden gestern ausnahmsweise doch komplett geschlossen. Es war recht windig und sicher wollte ich die undichten Fenster mit Hilfe der Rollläden verstärken. So langsam weiß ich kaum noch, was ich tue und was nicht. Verdammt, wo zum Teufel ist nur diese blöde Nachttischlampe?
Ich fuchtle unbeholfen in die Finsternis hinein – und werde endlich fündig. Während ich das Etwas betaste, überlege ich, was genau das sein könnte. Meine Bettkonsole? Die Form fühlt sich so anders an, viel glatter und weniger kantig. Mein Herzschlag erhöht sich. Ich stecke doch wohl nicht schon im nächsten Albtraum fest?
Dann auf einmal erreichen meine Hände eine Form ... so etwas wie eine Lampe ... ist das meine Lampe? Ich brauche noch einmal einen Moment, bis ich einen Knopf ertaste, durchdrücke und sich der Raum endlich mit schummerigem Licht füllt. Ich schaue mich um und bin anscheinend wirklich noch am Träumen. Denn ich liege in einem Zimmer, das mir völlig unbekannt ist: karge Bebilderung an cremefarbenen Wänden, pechschwarze Verdunklungsrollos mit Schienenführung vor winzigen Fenstern, in einer Ecke ein kleines Sitzmöbel, daneben ein ranziger Kleiderschrank. Unter mir ein schmales Bett, an das zu meiner Linken ein Tisch aus Plastik grenzt. Ich liege offensichtlich in einem billigen Hotel- oder Pensionszimmer.
Seltsamer Traum. Noch immer drückt meine Blase, sogar richtig heftig. Kein Aufwachen in Sicht. Also schlage ich die Decke weg und stehe auf. Meine Beine wirken wie kurz vorm Platzen, so als hätte ich über Nacht Unmengen Wasser eingelagert. Überhaupt komme ich mir aufgedunsen vor. Sehr plastischer Traum, widerlich. Fast fühle ich mich so wie damals, in der fetten Zeit. Dementsprechend schwer fallen mir meine Schritte. Ätzend, und das im Traum. Die Sehnsucht nach Jacques bringt mich noch um meinen Verstand ...
Während ich in Richtung jener Tür schlurfe, hinter der eigentlich nur das Bad sein kann, fühle ich mich wie ein Wrack. Immerhin, bei dem Raum handelt es sich tatsächlich um ein Badezimmer, zumindest so etwas in der Art, nicht einmal Uniklo-Niveau, aber was soll's, es ist ja nur ein Traum. An diesem Gedanken muss ich unbedingt festhalten, denn ohne ihn bekämen mich wohl keine zehn Pferde auf das deckellose Klo rechts neben der schwärzlichen Dusche.
Der Weg zur Erleichterung führt an einem Spiegel vorbei. Während ich an ihm vorbeigehe, spüre ich, dass etwas nicht stimmt. Ich bleibe stehen, blicke hinein und erkenne mich nicht. Wildes Gestikulieren macht es auch nicht besser. Ja ja, das bin ich. Aber nicht das Ich, für das ich in den letzten drei Jahren hart gekämpft und gehungert habe, sondern die verhasste Form, die jahrzehntelang mein Leben bestimmt hat. Aufgedunsene Wangen und ein Doppelkinn sind das, worauf mein Blick als erstes fällt. In tiefen Höhlen liegen glänzende Kugelaugen. Das Bild ist klar und deutlich. Während in diesem Albtraum-Bad ansonsten alles vermodert ist, hat irgendwer den Spiegel blitzblank gewienert. Ich sehe jede einzelne Pore. Und die Poren sind alles andere als rein. In mir schießt der Ekel hoch, ich muss mich übergeben.
Während ich unter Spannung über der stinkenden Schüssel hänge, schmerzt mein Rücken wie von zig Nadeln zerstochen. Und in die sauren Brocken, die ich unter zerreißenden Gesichtskrämpfen hervorwürge, mischen sich heiße Tränen.
Kapitel 2:
Retrospektive
Es ist kein Traum, es ist die Realität.
Alles tut mir weh, während ich die letzten Bröckchen aus mir rauspresse und den Haufen anschließend mit Rotz und Wasser wegspüle. Als der Würgereiz fort ist, taumle ich zurück zum Spiegel und starre in ein verheultes Gesicht, in dem zig Äderchen zerplatzt sind.
Dann will ich das ganze Elend sehen und ziehe mich aus.
Der Spiegelschrank ist nicht imstande, alles abzubilden. Unwichtig. Ich brauche nur an mir hinunterblicken, um zu sehen, was nicht da sein sollte:
Fett! Überall quillt es hervor, an Bauch, Hüfte, Taille, Händen, Armen, Beinen. Nichts ist verschont geblieben. Am Schlimmsten sieht die Bauch- und Hüftregion aus. Als hätte jemand über Nacht zig Gelkissen unter meine Haut implantiert. Selbst nach der Reduktion hatte ich mit diesem Bereich noch Probleme – viel Speck war verblieben, und da wo er weg war, machten sich hängende Hautpartien breit. Na wunderbar, nun hängt also nichts mehr. Auch mein Magen nicht. Der steht sogar ungeheuerlich hoch. So hoch, dass ich mich noch einmal über die Toilettenschüssel hängen muss.
Ich brauche eine Zeitlang, um mich mit der Realität der Neuverfettung abzufinden. Eigentlich gelingt es mir nicht. Das „Wie“ ist mir ein noch größeres Rätsel als das „Warum“. Je länger ich darüber nachdenke, umso mehr steigert sich meine Nervosität. Bin ich etwa am Durchdrehen? Ich brauche Fakten, benötige dringend etwas, woran ich mich festhalten und womit ich mich ablenken kann – meinen Aufenthaltsort zum Beispiel. Also: Wo zum Teufel bin ich? In was für einer schäbigen Pension? In welcher vermaledeiten Stadt?
Allzu lange muss ich nicht nach der Antwort suchen: Ein Werbeflyer auf der Nachtkonsole kündet von den vermeintlichen Vorzügen der Pension, die mir schon so tiefe Einblicke in die Toilettenschüssel gewährt hat – und die steht offenbar mitten in Berlin.
Normalerweise wäre das ein Grund zum Jubeln. Nicht aber SO. Nicht mit dem Körper, den ich vor DREI JAHREN hatte!
Moment mal, gibt es so etwas wie Zeitreisen? Bin ich gerade womöglich ein Teil von einer?
Mein Herz fängt wild zu wummern an.
Dann wäre Jacques noch am Leben, dann könnte ich ihn sehen, anfassen, retten.
Auch wenn ich mir kaum vorstellen kann, all das in diesem Körper zu tun.
* * *
Kapitel 3:
Ich finde Dich!
Wie ich es mir gedacht habe: Unten an der Rezeption hat mir der verdutzt dreinschauende Pensionswirt bestätigt, dass ich mich im Berlin des Jahres 2017 befinde. Es ist März. Das fette Spiegelbild ist mein altes Ich – es ist wieder Ich – ich bin es wieder! Ein hoher Preis für eine Zeitreise. Immerhin sehr nah bei Jacques …
Doch was soll ich jetzt bloß tun? Wie kann ich mich mit diesem Aussehen in so einer Mega-Metropole behaupten? Mir schwirren die Gedanken – ich sehe kaum etwas anderes als lachende Jugendliche, ich höre Gejohle, während Finger auf mich zeigen und aus Mündern Fäkalsprache sprüht.
Stopp, Stopp, Stopp! Ruhe bewahren! Also … wie würde ich denn vorgehen, wenn ich leichter wäre? Hm … keine Ahnung, ich bin eh kein geselliger Mensch, egal ob gestern oder heute, und ich habe immer schon Probleme mit Socialising gehabt. Aber Jacques ist es natürlich wert, dass ich mich überwinde … oh, Jacques …
Mein Herz rast und dennoch dämpft da irgendwas. Es ist, als ob ich gleich einen seiner Film ansehen würde … allerdings durch irgendeine milchige Glasscheibe … Nur viel, viel stärker! Das Gefühl macht mich wahnsinnig. Ich kann es kaum ertragen, dass ich nun offenbar die Chance habe, ihn zu sehen. Ich kann damit nicht umgehen! Verdammt, ich will ihn retten – ich MUSS ihn retten, mit dem Wissen von heute … gestern … später, oder wie auch immer man diese vertrackte Sache nennen soll. Aber je länger ich darüber nachdenke, umso abstruser erscheint mir diese Idee. Ich, ausgerechnet ich, will jemanden retten. Haha. Verdammt, wie kann ich dieses „Projekt“ hier bloß abbrechen? WIE? Muss ich flehen, beten, schreien? Bringt das was?
Kein Ansprechpartner.
Ich bin allein.
Ich weiß, dass ich irgendetwas tun muss, um jetzt nicht völlig durchzudrehen. Also mache ich das Naheliegendste: Ich werde Jacques suchen! Was soll ich auch sonst tun? Nach Hause gehen?
Bevor meine Gedanken noch wirrer werden, will ich den Fokus einzig und allein auf Jacques‘ Rettung richten. Ich muss mich ihm nähern, all meinen Mut zusammennehmen und ihn ansprechen. Die Vorstellung macht mich allerdings fertig! Mein Herz spielt Boogie-Woogie. Jacques sehen! Allein der Gedanke verschafft mir beinahe einen Infarkt.
Wie genau kann ich die Sache angehen? Soll ich ihm einen Brief schreiben? Das dauert zu lange. Außerdem müsste ich dafür erst einmal wissen, wo er wohnt. Ich habe es mal irgendwo gelesen, aber wieder vergessen. In drei Jahren würde die Adresse groß und breit im Internet stehen. Jetzt auch schon?
Ich verfluche mein schlechtes Gedächtnis und komme zum Schluss, dass es wohl das Beste ist, mich in das nächste Internetcafé zu setzen und dort eine Recherche zu starten. Der Pensionswirt kann mir sicher sagen, wo das nächste Café ist. Und dann werde ich ihn bitten, mir zu erklären, wo genau in Berlin ich hier überhaupt bin.
Vorhin hat mir der Mann – so um die 50 und mit kurzgeschnittenem Haarkranz in Grau – mit unübersehbarem Erstaunen versichert, dass ich gestern hier eingecheckt und für eine ganze Woche im Voraus gezahlt hätte. Wahrscheinlich hält er mich für irre.
Nun noch schnell ein Blick in meine Geldbörse - vierhundert Euro und ein paar Zerquetschte. Das sollte bei karger Kost (denn ich will die Pfunde so schnell wie möglich wieder loswerden) ein paar Tage lang reichen.
Da ist aber noch mehr in meiner Geldbörse. Im hinteren Scheinfach. Ein Stück Papier, fein säuberlich zusammengefaltet. Meine Handschrift:
„Falls Worte nicht genügen“
Mit zittrigen Händen falte ich das Blatt auseinander und sehe zwei Zeitungsausschnitte: Beim oberen handelt es sich um Jacques' Todesanzeige. Der untere ist ein Bericht über seinen Tod. Beide offenbaren sein Todesdatum, das aus „heutiger Sicht“ erst in gut einem Jahr stattfinden würde.
Mein Herz ist Blei. Ich lege das Blatt beiseite, um es nicht mit Tränen zu besudeln. Als der Salzstrom versiegt ist, falte ich das Papier zusammen, stecke es wieder ein und mache mich auf den Weg.
* * *
Ich gehe los. Die Bürgersteige scheinen unnatürlich riesig, unquerbar weit. Der Weg bis zur nächsten S-Bahn-Station wirkt ungeheuerlich lang. Dabei sind es kaum mehr als dreihundert Meter, die mein neu-verfetteter Körper von der Pension bis zum nahegelegenen Bahnhofszentrum am Zoo zurücklegen muss.
Endlich angekommen, steh ich nun also da, durchgeschwitzt trotz frischer Temperaturen, mitten in der tobenden Großstadt, die mir damals vor zehn Jahren, als ich sie schon einmal bereist hatte, weitaus freundlicher und sicherer vorkam. Von hier aus – so der Tipp des Pensionswirts, der anscheinend noch nie selbst ein I-Net-Café aufgesucht hat - kann ich überall hin, egal ob in den Ostteil, nach Potsdam oder einfach an irgendeinen anderen der zahlreichen S-, U- oder sonstigen Bahnhöfe.
Doch während ich so dastehe und mir die mannigfachen Möglichkeiten der Beförderung anschaue, beginne ich daran zu zweifeln, ob es überhaupt Sinn macht, dieses recht umtriebige Viertel zu verlassen. Denn aus irgendeinem Grund bin ich ja HIER angekommen.
Wer hat mich hierher geschickt?
Welche Macht?
Wer oder was auch immer dahinter steckt: Wenn man mich schon aus meiner zermürbenden Sehnsucht heraus nach Berlin verfrachtet, dann bestimmt mit einer gewissen Zielgenauigkeit. Ich hoffe es zumindest.
Mein Blick überfliegt ein paar bibbernde Damen in karger Bekleidung und bleibt an einem Eiscafé hängen. Ich 'kenne' dieses Café, bin früher schon einmal dagewesen, um seinerzeit nach der langen, stressigen Zugfahrt eine süße Stärkung zu mir zu nehmen. Auch jetzt gelüstet es mir nach etwas Leckerem, wenngleich ich weiß, dass die Kalorien nicht sein müssen. Nicht sein dürfen. Aber ein ungesüßter Latte Macchiato? Der kann doch eigentlich nicht schaden. Und womöglich habe ich ja Glück und in irgendeinem Eckchen steht ein PC mit Internetanschluss.
Also rein ins Café, vorbei an ein paar schicken Gestalten, bei deren Anblick ich mich direkt wie ein Elefant neben Gazellen fühle, hin zu einem freien Einzeltisch.
Als ich mich in den engen Caféstuhl presse, ist das alte Gefühl wieder da: Nirgendwo reinpassen, überall rausragen, nie ein Teil des großen Ganzen sein. Peinlich berührt nehme ich die Bestellkarte aus dem edlen Metallständer und blättere beklommen darin herum.
Mein Magen knurrt gierig, als meine Augen Eiskreationen wie die „Schokoladen-Fantasie“ oder das „Caramel-Crispy-Wonder“ bestaunen. Schnell lege ich die Karte wieder zurück, sehe auf meinen Bauch, der wieder wie ein wulstiges Kissen auf meinen Schenkeln ruht und frage mich, ob es wirklich Sinn macht, irgendetwas mit Kalorien zu bestellen.
Dann plötzlich eine warme Stimme hinter mir: „Bella signorina, was darf ich Dir bringen?“ Ich drehe mich um, so gut es geht, lege ein scheues Lächeln auf und versuche kühn: „Un latte macchiato, per favore!“ Der junge Mann mit Dreitagebart nickt mir augenzwinkernd zu und saust wieder davon.
In Anbetracht dieser freundlichen Bestellaufnahme werde ich etwas lockerer und beginne mich umzuschauen. Da hinten in der Ecke stehen tatsächlich ein paar PCs. Sicher wäre es möglich, von dort aus kurz ins Netz zu gehen. Während ich noch darüber nachgrüble, wird mir schon ein fantastisch aussehender Latte unter die Nase gestellt. Ich nutze die Gelegenheit: „Ähm, nach dem Genuss des Drinks müsste ich mal kurz ins Internet. Was kostet denn die Stunde?“. Wieder dieses charmante Lächeln: „Für Dich, als Freundin unseres Caffès, ist die erste Stunde kostenfrei. Danach due Euro per ora.“ Wieder so ein charmantes Augenzwinkern, dann weht er hinfort. Ich seh ihm nach und überlege, wie alt er wohl ist. Vielleicht mein Alter. Mein eigentliches Alter – so Anfang 30. Wirklich gut aussehend.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: (c) Nane Neer
Tag der Veröffentlichung: 25.05.2021
ISBN: 978-3-7487-8399-2
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