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I. Im Abstellraum

Draußen war die Welt nicht mehr in Ordnung; der Niederschlag war gewaltig. Es regnete in Strömen, Bindfäden aus metallisch anmutendem Wasser durchschnitten die verwelkte Luft. Wogen von Wind, die in Etappen immer wieder aufwirbelten, brachten Schirme zum Überschlagen.

Hätte Nancy aus irgendeinem Fenster schauen können, wäre sie Zeugin dieses herbstlichen Spektakels geworden. So aber hockte sie mit verkrampfter Miene in einem fensterlosen Raum auf einem nicht höhenverstellbaren, harten Drehstuhl und führte - den Kopf auf einen Arm gestützt, damit das lange Sitzen überhaupt auszuhalten war - immer wieder dieselbe Bewegung aus: Häkchen hier, Häkchen da. Nirgends ein „x“. Wirklich nirgends ein „x“? Sie wusste nicht, ob sie heute tatsächlich kein „x“ gesetzt hatte. Sie wusste nicht einmal, ob sie das überhaupt je getan hatte, seit sie hier arbeitete. Dann fing ihre rechte Hand zu zittern an; es folgte ein ekliger, stechender Schmerz im rechten Zeigefinger, der nicht mehr wegging und immer tiefer zog. Einen Moment lang kämpfte Nancy gegen den Krampf an und versuchte tapfer, weiter Häkchen zu malen. Doch der Schmerz wurde immer schlimmer, immer lähmender. Schließlich ließ sie den Kuli auf den Tisch fallen und fluchte:

„Aua! Verdammt nochmal! - Mann, wie viele Akten sind das denn noch? Gibt es wirklich so viele Nulpen, die diesen verfluchten Steuerberater brauchen?“

Dann warf sie sich ächzend zurück und presste die Augen zu. Die Adern in ihren Lidern trommelten einen wilden Rhythmus auf ihre Augäpfel. Sie versuchte herauszufinden, um welchen Song es sich handelte, schaffte es aber nicht rechtzeitig, weil das vergleichsweise wohlige Wummern plötzlich von schmerzhaften Stichen abgelöst wurde. Ach, verdammt - seit sie diesen Job hier machte, bekam sie ständig übelste Augenschmerzen! Und schlechte Laune. Anscheinend war die Arbeit bei einem Steuerberater nicht das Richtige für sie – viel zu viele Zahlen, noch mehr Formulare und kein bisschen Tageslicht!

In der Hoffnung, die Probleme mit dem Job dadurch von sich zu stoßen, atmete Nancy kräftig durch. Einmal, zweimal, nochmal … Letztendlich saugte sie dabei aber nur noch mehr vom Staub des fensterlosen Kabuffs in sich ein. Nein, Atmen brachte nichts!

Seufzend öffnete sie die Augen und starrte auf die beigefarbene Zimmerdecke, die in glanzloser Täfelung über ihr zu schweben schien. Noch war sie nicht bereit weiterzuarbeiten. Vielleicht brächte das gedankliche Beschimpfen der schmucklosen Decke ihr Erleichterung:

 

'Wie im Altersheim! Typisch dieser seltsame Kerl, der stets wie ein Bestatter rumschleicht. War die früher mal weiß und wurde einfach von dem Mief der Zeit angesifft? Ach nee, nun denke ich schon über modrige Decken nach …'

 

Eigentlich war sie auch jetzt noch nicht bereit weiterzuarbeiten. Aber allzu lange würde sie die Pause nicht mehr hinauszögern können. Ihr Chef war einer von der ganz strengen Sorte, einer, der seine „Untertanen“ gerne unangekündigt „besuchen“ kam, um ihnen in ihrem Kabuff prüfend über die Schulter (und in den Ausschnitt) zu schauen. Und wie Nancy herausbekommen hatte, war ihrer Vorgängerin gekündigt worden, weil die zu oft und zu gerne eine kleine Verschnaufpause eingelegt hatte …

Ach Menno, das Leben konnte echt hart sein! Mit zusammengebissenen Lippen warf sich Nancy wieder an die abzuarbeitenden Akten, klemmte sich tapfer den Stift zwischen die noch immer schmerzenden Finger und verteilte Häkchen um Häkchen.

Sie wunderte sich, dass man für diesen stupiden Quatsch nicht schon längst einen Roboter erfunden hatte. Und wieso schrieb man in einer Zeit wie der heutigen überhaupt noch auf Papier? Papier! Wussten die Kinder von heute eigentlich noch, was das war? Wusste sie selbst überhaupt, woraus genau es bestand? Vor ihrem inneren Auge breitete sich das verführerische Bild eines saftigen Waldes aus, alles schön grün, zusammen mit freundlichem Vogelgezwitscher und charakteristischem Chlorophyllduft – der perfekte Ort zum Entspannen!

Doch die Wut auf die trostlose Kabuff-Misere katapultierte ihre Gedanken umgehend ins Hier und Jetzt zurück: Sonst waren die Wissenschaftler doch immer soo erfinderisch! Das änderte sich natürlich sofort, wenn es darum ging, monotone Sklavenarbeit aufrechtzuerhalten. Kein Wunder, Menschen konnte man notfalls entlassen, Maschinen nicht. Nancy wusste, wie der Hase lief. Und wahrscheinlich hatten all die Firmen trotz der omnipräsenten Technik-Geilheit in den Tiefen ihrer Gewissen doch noch einen Heiden-Respekt vor der absoluten Computerisierung! Sie ließ den Stift auf den Tisch fallen und starrte mit großen Augen auf den ausgeschalteten Monitor. Ja, sie hatten Angst, dass die Maschinen irgendwann das Ruder an sich rissen! So ganz und gar – wie in einem dieser schrecklichen Horror-Romane, die vor zwanzig Jahren noch wie lächerliche Utopien gewirkt hatten!

Ihre Armbanduhr lenkte sie ab; das Ding quälte sie, saß zu fest am Handgelenk. Nancy erschrak, als sie draufsah und erkannte, wie wenig Zeit heute erst vergangen war. In diesem Kabuff stand die Zeit still. Fast. Allzu gern wäre sie einfach aufgestanden und gegangen, am besten auf Nimmerwiedersehen. Wären da nur nicht all die Löcher, die sie zu stopfen hatte: Schulden bei der Familie … offene Schuldscheine bei diversen Freunden … na ja, und dann ihre drei, vier Kredite. Das kam davon, wenn man das Leben in vollen Zügen genießen wollte und sich dazu ständig mit neuen Kleidern, Uhren, Parfums, Smartphones und Delikatessen eindecken musste. Von den ganzen Fernreisen und der Safari im letzten Jahr mal ganz abgesehen.

Wie auch immer: Nun galt es, den Schuldenberg wieder abzuarbeiten. Behutsam. Aber kontinuierlich. Die ersten Banken hatten ihr schon gedroht und selbst ein paar Freunde (oder wie man solche Arschlöcher nennen sollte) waren sie in vulgärem Ton angegangen. Diesen Job konnte sie jedenfalls nicht auch schon wieder hinschmeißen, nicht nachdem sie noch kürzlich die Stelle in der Bücherei in die Tonne gedonnert hatte. Die anderen Mitarbeiter dort waren aber auch bescheuert gewesen! Ach ja – und davor hatte sie bei der Lokalzeitung Kaffee gekocht. Das war aber auch nichts gewesen – zu viel Arbeit! Außerdem hatte sich der leitende Redakteur (der Kaffee wie ein Pferd soff) als geiler Bock entpuppt, dessen Augen ein Dauerabo auf ihren Arsch gehabt hatten.

Normalerweise hatte sie nichts gegen schnell zu beeindruckende Männer, die ihr Äußeres zu schätzen wussten. Sie hatten aber verdammt nochmal gut auszusehen! Und bei diesem Zeitungstypen war das garantiert nicht der Fall gewesen. Bäh, so ein hässlicher Molch! Vor lauter Ekel nahm sie den Stift wieder in die Hand und hakte wild drauflos. Zwei von drei Häkchen landeten daneben. Kopfschüttelnd sortierte sie das ruinierte Blatt in den Stapel und machte weiter.

Der Punkt war: Sie musste es noch einige Zeit hier bei Dr. Albert Hedstone aushalten! Glücklicherweise war er keiner von diesen Arschgrapsch-Typen - das hatte sie schon ausloten können. Sie fand ihn nicht einmal unattraktiv. Er verhielt sich nur so eigenartig. So unemotional, wirkte immer steif und sachlich, fast so, als habe sein Hinterteil irgendwann einmal zu intensive Bekanntschaft mit einem Stock gemacht … Und seine Aura erst! Die war so … dunkel. Nancy konnte ihre Gedanken zu Hedstone nur schwer sortieren. Sie fand den Kerl unbeschreiblich eigenartig.

Letztlich war das aber unwichtig. Sie war nicht hier, um mit ihm zu sympathisieren. Sie wollte, sie sollte, sie musste arbeiten! Und außerdem konnte sie froh sein, dass dieser Mann sie nach all den abgebrochenen Arbeitsversuchen überhaupt noch eingestellt hatte. Wobei: Sie hatte ihren Lebenslauf ein wenig „verschönert“. Manche allzu kurzzeitigen Beschäftigungen hatte sie einfach „vergessen“ und Leerzeiten mit praller Phantasie aufgefüllt. Wen interessierte das letztendlich schon? Die Hauptsache war, dass sie Häkchen malen konnte – das war doch das Entscheidende.

Das alles war ja auch gut und schön. Dummerweise hatte Nancy aber immer so ein komisches Gefühl, wenn sie morgens das Gebäude betrat. Und wenn sie dann die entsprechende Etage enterte, fuhr ihr erst recht ein kalter Schauer den Rücken hinab. Das kam ganz automatisch. Nancy konnte nichts dagegen tun. Wieso musste dieser seltsame Hedstone mit seiner Kanzlei aber auch in der 77. Etage eines für Nancys Begriffe viel zu hohen Hochhauses angesiedelt sein? Sie litt unter Höhenangst. Vielleicht war es unter diesen Umständen ganz gut, dass ihre Kammer kein Fenster hatte, Luft hin, Luft her; sie würde schon nicht ersticken.

Hedstones zweiteiliges Beratungszimmer, das direkt neben ihrem Kabuff lag, war ihr allerdings überhaupt nicht geheuer: Alles was sie bis jetzt davon erhaschen hatte können, war schrecklich farblos, kein einziges Bild hing an den Wänden. Stattdessen prangten schwarze Masken - Affenköpfe, aus denen Hörner ragten - an den grauen Wänden. Die Tür des Beratungszimmers war tiefschwarz, und es hätte Nancy nicht verwundert, wenn das Teil mindestens einmal im Monat nachlackiert wurde, damit die intensive Tönung nicht verschwand. Der Teppichboden war ebenfalls schwarz. Der ganze Raum war ein einziges schwarzes Loch! Der zweite Teil des Hedstoneschen Büros, den Nancy noch nie zu Gesicht bekommen hatte, war wahrscheinlich der direkte Eintritt zur Hölle!

Sogar Nancys Schreibtisch war schwarz lackiert. Während ihrer bislang dreiwöchigen Anstellung in der Kanzlei hatte sie schon öfters überlegt, ob ihr Chef vielleicht einer dieser durchgeknallten ‚Wir beißen Hamstern den Kopf ab!’-Sekten angehörte. Sie hielt das durchaus für möglich, und zwar nicht nur wegen der Dominanz von Schwarz, sondern auch weil Hedstone niemals „Guten Morgen“, „Tschüss“ oder überhaupt irgendeine Grußformel verwendete. Die Mitglieder dieser Düster-Sekten mussten sich doch allein von ihrem Kodex her so unhöflich verhalten. Zumindest meinte Nancy, etwas in der Art gelesen zu haben.

Sie fasste also zusammen, während sie auf ihrem Stuhl aufgeregt hin und her schaukelte: In der Kanzlei war alles schwarz, eigenartige Fratzen zierten die Wände, ihr Chef war rotzunfreundlich und trug stets schwarze Anzüge. Es konnte gar nicht anders sein, die Sache war glasklar – der Typ war ein fieser Satansanbeter! Sie legte die Stirn in Falten und kaute auf der Unterlippe herum. Ob sie aus diesem Wissen Kapital schlagen konnte?

Außerdem war da ja noch etwas! Seine Augen! Die kamen ihr so unglaublich leer und kühl vor. Obwohl sie blau waren. Das kräftige Blau von Hedstones Augen war ihr schon beim ersten Blickkontakt aufgefallen. Eigentlich handelte es sich um sehr schöne Augen - zumindest wenn man sie nach ästhetischen Gesichtspunkten betrachtete. Doch die Art und Weise, wie Hedstone seine Augen gebrauchte, jagte Nancy immer wieder einen Schrecken ein. Sein Blick war so seltsam starr und ausdauernd. Bevor er ein Objekt wieder aus seiner optischen Umklammerung entließ, sezierte er es, Stück für Stück, Zentimeter für Zentimeter, Pore für Pore - nur mit seinen Augen.

Vielleicht waren Nancys permanentes Unwohlsein und ihre Vermutung, dass Hedstone Mitglied eines kruden Kults war, nur deshalb aufgekommen, weil sie generell nicht viel Sympathie für unfreundliche Typen übrig hatte. Oder aber sie suchte insgeheim nach einem Grund, auch diesen Job hinzuschmeißen … sie traute sich selbst so manches zu, wenn es ums Arbeiten ging.

Aber manchmal träumte sie sogar von Hedstone und seinen Augen. An sich war das nichts Ungewöhnliches, da Nancy ständig von irgendwelchen Männern träumte. Aber trotzdem war die Träumerei ungewöhnlich; Hedstone hatte nichts mit den Typen gemein, die sie üblicherweise in ihr Leben ließ.

 

Ach ja, ihre Männer! Die waren echt eine Geschichte für sich … Sie hielt inne, lehnte sich mit verträumtem Blick zurück und verschränkte die Hände hinter ihrer Lockenmähne. Wollte man die komplette "Nancy-und-ihre-Lover”-Story rekapitulieren, brauchte man eine ganze Woche. In Sachen Männer hatte sie jedenfalls schon viele Erfahrungen gesammelt. Vielleicht sogar zu viele. Ein einziges Rein und Raus – in die eine Beziehung rein, ein paar Tage später wieder hinaus und ab in die nächste. Imponiergehabe mit teuren Kleidern, angesagten Möbeln und coolen Karren. Immer wieder die gleichen Fehler. Immer wieder die gleichen Typen: Außen knackige Karrieremänner, innen verkommenes Chaos – gut getarnte Drogenabhängige, die zugleich auch noch Muttersöhnchen waren. Wenn Nancy mit ihnen in die Tiefe ging, entpuppten sich die meisten Hätschel-Säufer als brutale Teilzeit-Machos, wenn nicht gar als sadistische Voll-Fetischisten.

 

Sie seufzte und beugte sich wieder über die Akten. Doch noch bevor sie den ersten Haken setzen konnte, wanderten ihre Gedanken zu ihrem letzten Ex Mitchell. Noch heute spürte, noch heute vermisste sie sein zärtliches Streicheln, das er ihrem Körper jeden Morgen zugedacht hatte. Stets hatte er an ihrem Scheitel begonnen, sich langsam vom Nacken über den Rücken hinuntergearbeitet, um anschließend behutsam tiefer zu gleiten. Sanft hatte er ihren Po mit seinen muskulösen Händen massiert, die nach wenigen Momenten wie selbstverständlich zwischen ihre Beine gehuscht waren, dort in ausreichender Tiefe gewirkt und anschließend Nancys Körpervorderseite knetend verabschiedet hatten. Endstation waren ihre Brüste gewesen, die er stets wie besonders niedliche Hundeköpfe zu tätscheln gepflegt hatte. Jeden Morgen. Sie nickte bitter vor sich hin. Abends hätte er das auch gar nicht mehr gekonnt; da war er schon so betrunken, dass-

 

„Miss Horgotch!“

 

Die schnarrende Stimme riss Nancy barsch aus ihren Erinnerungen und ließ sie heftig zusammenzucken. Dann schallte es geradezu durchs Kabuff:

 

„Ich habe Sie zum Arbeiten eingestellt! Nicht damit sie auf meinem Stuhl herumsitzen und träumen!“

 

Hedstone. Wie er leibte und lebte. Wobei … lebte er tatsächlich? Auch wenn seine Stimme massig Zorn transportiert hatte - seine Augen waren seltsam ruhig und fingen schon wieder das Fixieren an. Und seine Haut … war … so hell … fast fahl. Müsste er nach so einem Anschiss nicht leicht errötet sein? Sie sah nichts. Ob er sich denn wenigstens ein bisschen erhitzt anfühlte? Jedoch war es jetzt sicherlich nicht Nancys Aufgabe, an Hedstones fahle Haut ranzulangen – leider. Stattdessen versuchte sie, eine möglichst gefällige Erklärung für das Päuschen hervorzupressen:

 

„Ähm, Dr. Hedstone … es tut mir leid, dass ich mich hier der Träumerei hingebe. Aber wissen Sie: Als ich eben einen Namen in dieser Akte gelesen hab, hab ich den mit einer traumatischen Begegnung aus meiner Vergangenheit verbunden und bin … ähm … in Gedanken abgerutscht …“

 

Schnell ausgedachter Quatsch. Sie trug ihn vor wie ein schlecht auswendiggelerntes Schulgedicht. Hedstones gezischelte Erwiderung folgte prompt:

 

„Entweder Sie arbeiten oder Sie träumen! Ersteres können Sie hier tun, letzteres auf der Straße. Zudem rate ich Ihnen, sich die Namen aus den Akten nicht allzu genau anzuschauen. Wenn Sie damit hausieren gehen, sind Sie nicht nur Ihren Job los, sondern haben auch eine Anzeige wegen Verstoßes gegen das Datenschutzgesetz am Hals! Und nun machen Sie bitte mit Ihrer Arbeit weiter.“

 

Nancy schluckte schwer und heftete umgehend den Blick auf die Akten. Dann verteilte sie Häkchen um Häkchen - und zwar so rasant, dass die fliegenden Blätter Staub aufwirbelten. Hedstone blieb einen Moment neben Nancy stehen, entfernte sich nach einer kurzen Weile aber wieder.

Kaum war er fort, fing Nancys Geist schon wieder damit an, auf Abwege zu wandern. Diesmal bewegte er sich aber nicht allzu weit fort, sondern blieb direkt bei Hedstone hängen. Nancy hatte ihren Chef während seiner „Datenschutz-Schelte“ sehr genau inspiziert: Seine Miene hatte sich kein bisschen verändert. Seine Augen hatten die ihren die ganze Zeit ohne Lidschlag fixiert. Ohne einen einzigen! Seine Stimme hatte gewohnt gleichgültig und kalt geklungen, ohne eine Nuance von Ärger. Fast wie ein Roboter.

Aber inwiefern half Nancy die Analyse von Hedstones tiefliegender Seltsamkeit weiter? Leidlich wenig – außer dass es sie irgendwie anmachte, wie er war. Was die Sache nicht gerade leichter machte. Doch jetzt hatte sie zu arbeiten. Eigentlich. Die Häkchen konnten ihre Gedanken nicht zügeln.

 

Noch vor zwei Wochen hatte Nancy es nicht für möglich gehalten, dass es Arbeitgeber gab, die ihren Angestellten waschechte Zehn-Stunden-Tage aufdrückten. Hedstone hatte sie eines Besseren belehrt. War das überhaupt erlaubt? Um sieben Uhr in der Früh ging der Stress los, zwölf Uhr mittags gab es eine kurze Pause, um etwas Essbares reinzuschaufeln, eine Stunde später ging es weiter, Häkchen setzen, nichts anderes, und das dann bis sechs Uhr abends.

Dr. Hedstone beschäftigte bis auf sie nur einen anderen Angestellten. Der war Nancy vorgesetzt und konnte ihr auch (noch mehr) Arbeit zuweisen. Von dieser Befugnis hatte Jerry Deemone bislang glücklicherweise keinen Gebrauch gemacht. Deemone hatte – wie sein Boss – eine unübersehbare Vorliebe für Schwarz (Anzug, Socken, Tasse, Taschentücher – alles schwarz!), jedoch flößte er Nancy keine Angst ein.

Nancy mochte Jerry. In den (karg bemessenen) offiziellen Pausen saßen sich die Beiden im Kaffeeraum gegenüber. Stets brach Nancy dabei in prustendes Gelächter aus. Und zwar nicht, weil der tolpatschige Jerry immer wieder seinen Kaffee quer über dem Tisch verplemperte, sondern dies im Zuge wilder Erzählungen über seine geliebten Fantasy-Filme tat. Ja, der kleine, schmächtige Kerl war ein Genie darin, ihr die Welt der Vampire und Zombies schmackhaft zu machen.

Schade, dass Jerry ihr nicht auch den heutigen Tag versüßen konnte. Zwei Tage war er schon nicht mehr in der Kanzlei gewesen. Er schien Urlaub zu haben. Eigentlich saß er mit im großen Doppel-Büro von Hedstone. Irgendwie seltsam, dass ihr Jerry seinen Urlaub vorher nicht unter die Nase gerieben und beispielsweise etwas von staubigen Sarg-Kreuzfahrten erzählt hatte. Vielleicht hatte er es vergessen? Oder er machte nicht gerne so viel Wirbel um so anti-morbide Dinge wie ein paar Tage Erholung?

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Cover: (c) Nane Neer
Tag der Veröffentlichung: 15.05.2020
ISBN: 978-3-7487-4116-9

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