Datum: beschissenster Tag meines Lebens
Ich hoffe echt, dass nie jemand liest, was ich gleich hierein schreiben werde.
Aber hey, was soll ich denn sonst machen?
Zum Pfarrer rennen kann ich nicht, weil ich dem vor vier Jahren ein Kaugummi an die Kutte geklebt habe und ich seither immer die Straßenseite wechsle, wenn ich ihn sehe.
Na ja, und sonst? Meine Eltern haben für sowas auch kein Ohr. Papa arbeitet den ganzen Tag. Und wenn er abends endlich heimkommt, wird kaum geredet. Er liegt dann nur müde auf der Couch. Auf seinem Bauch ein Teller. Auf der Tisch 'ne Flasche. Und neben ihm Mutti, die endlos auf ihn einlallt. Manchmal sitzt sie auch direkt auf ihm drauf. Meist artet das Ganze aus und Mutti kreischt rum. Dann fliegen Gegenstände. Und anschließend flippt Papa aus. Aber so richtig! Na ja, ist jetzt nicht das Thema hier …
Meine Eltern sind jedenfalls auch nicht die richtigen Ansprechpartner für diese Sache. Ja, und sonst? Zu wem gehst du mit fast 20, wenn auf deiner Seele etwas drückt?
Lehrer hab ich jetzt nicht mehr. Und außerdem hab ich denen auch nie so vertraut, dass ich denen SOWAS erzählt hätte. Nicht vorzustellen, wenn die danach einfach zu den Bullen rennen würden …
Also, wer bleibt? Ärzte? Die normalen Halsgucker und Brustabhörer? Psychodoc? Hab ich nicht. Kann mich ja schlecht erstmal bei einem bewerben, nur um das hier erzählen zu können.
Erzählen zu können – und dann bitte vergessen. Auf ewig.
Oh Mann, wenn einer von denen wüsste, dass ich's jetzt aufschreibe – die würden wahrscheinlich das Gleiche auch mit mir machen …
Ich muss so scheißegenau drauf aufpassen, dass diese Kladde nie einer findet. NIE! Außer mir natürlich. Damit ich mich irgendwann wieder dran erinnern kann. Aber hey – will ich das überhaupt? Wer will sich schon an sowas erinnern?
Also gut, raus damit, erstmal die Vorgeschichte:
Unser Abi war durch. Endlich!
Wir hatten alle so die Schnauze voll von den Klausuren und mündlichen Prüfungen. Viele mussten auch noch in Nachprüfungen. Ich auch. War das ätzend. Mein Kopf hängt immer noch voller Integrale.
Und der Ben erst, der musste sein ganzes Englisch-Spektrum rauf und runter beten, Tag und Nacht. Mann, war das nervig. Hatte dadurch kaum noch Zeit für mich. Aber für Lisa, denn die musste ebenfalls in Englisch in die Nachprüfungen.
Na ja, kurzum: Fast jeder aus der Clique musste nochmal ran. Das kommt davon, wenn man von den Schülern erwartet, in 12 Jahren Unmengen von Stoff reinzudreschen. Dann bleibt eben die Traumnote auf der Strecke. Da war für niemanden ein 1er-Durchschnitt drin!
Na jedenfalls mussten wir nach der letzten Nachprüfung erstmal alle durchchillen – und zwar inoffiziell! Der Abiball, der war ja gut und schön mit all seinem affektierten Getanze in Kleidern und Anzügen. Aber hey: Wenn deine Eltern daneben sitzen, fühlst du dich alles andere als frei. Wobei, an dem Tag war bei mir nur Mutti für ein paar Stündchen da – und tankte peinlich oft am Sektbuffet nach.
Alles musste jedenfalls nach Regeln verlaufen. Wir mussten uns noch einmal fügen und mitspielen. Nur gut, dass wir in der letzten Stufe eine Theatergruppe hatten. In Sachen Schauspielern waren wir dementsprechend geschult.
Die richtige Abschlussparty fand dann in Bens Bude statt. Der wohnt ja als einziger von uns nicht mehr zu Hause bei den Eltern. Da konnten wir dann echt machen, was wir wollten. Abhängen, chillen, endlich mal sorglos die überladene Seele baumeln lassen. Kein verkopftes Gequatsche über den Schulscheiß mehr! Und von irgendwelchen Uniperspektiven wollten wir auch erstmal nix mehr hören. Nun war Schluss. Wir brauchten echt den Break!
Aber der Flori hatte das wohl irgendwie nicht kapiert. Na ja, der war ja immer schon so ein nervöser Schüler gewesen, hatte sich nach jeder Prüfung buchstäblich eingeschissen, weil er befürchtete, hunderttausend Flüchtigkeitsfehler in die Klausur oder den Test reingesemmelt zu haben. Hatte er aber nie. Höchstens mal 'ne 2 +, weil er ein Komma vergessen hatte. Ooh, der Arme. Na ja, er war halt nie der Gesprächigste. Die Nervosität, die auch bei den Prüfungen zutage kam, hielt ihn während der gesamten Stunde so sehr in der Klaue, dass er sich nie melden konnte. Der schwitzte teilweise richtig, wenn der Blick des Lehrers seiner Person näher kam. Und wenn er dann doch mal was sagen musste, dann brach seine Stimme, er wurde richtig heiser und keuchte abgehackt etwas hervor. Wenn überhaupt. Manchmal konnte er auch gar nichts sagen. Dann hatte er wohl sowas wie einen Blackout.
Na jedenfalls: Der Flori konnte das Scheißabi nicht auf sich beruhen lassen!
Ewig faselte er während unserer Chill-Out-Party davon.
Ich weiß auch gar nicht, wieso Ben ihn eingeladen hatte – der wusste doch, wie Flori war, wenn's um Noten ging. Und er wusste auch, dass Florian nur mit Ach und Krach durch die Mündliche gekommen war.
Alles in allem war's bei Flori ein gutes 2er-Abi geworden. Viele andere von uns konnten sich danach nur die Pfoten lecken. Aber Florian – nur am Motzen! Ach, wie scheiße er die Klausuren schon verkackt habe, blablabla. Da hatte er wohl ein paar Ausdrucks- und Kommafehler reingepackt, so dass die Schriebe alle „nur“ auf 2 gelandet waren.
Wir verdrehten schon die Augen, so sehr ging er uns mit seinem Geheule auf die Nerven. Wir wollten doch unsere Ruhe von der Schule, wollten endlich nur noch SEIN. Die Leichtigkeit spüren.
Lisa drehte irgendwann die Musik voll laut. Aber das nützte auch nichts. Da ging Flori doch echt hin und drehte sie wieder leise – und erklärte uns, er wolle jetzt ausdiskutieren, wie wir das denn fänden, dass es so harsche Abzüge für ein paar Formalfehler gäbe.
Oh Mann, dachte ich mir, wenn der Knabe diesen Biss auch im mündlichen Unterricht gezeigt hätte, dann hätte er wahrscheinlich mit ein bisschen Extragelaber sogar ein 1,0er-Abi schaffen können.
Aus Frust soffen wir alle viel zu viel. Nur Florian blieb bei Cola.
Jeder gute Rat, es nun doch auf sich beruhen zu lassen, führte zu nix. Flori drohte, mit seinem Gejammer die ganze Party zu sprengen. So konnte Ben nicht in Ruhe seine geliebte Shisha kreisen lassen. Jennis selbstgepanschter Wodka stand zwar schon auf dem mit Knabberzeug zugepacktem Couchtisch, aber mit diesem leidigen Thema im Nacken hatte echt keiner von uns Bock auf irgendwas davon. Wir blieben erstmal bei Bier – solange noch welches da war. Sascha wurde vor lauter Notengequatsche nämlich ganz unruhig und pfiff sich eine Dose nach der anderen rein.
Irgendwann, das war so ein Moment, in dem Florian von seinem unermüdlichen Colagesaufe endlich mal aufs Klo musste, meinte Ben dann, dass wir ihn entweder rausschmeißen oder ruhigstellen mussten.
Alle sahen das ein.
Wir sind quasi übereingekommen, es gäbe bestimmt 'ne gechilltere Atmosphäre, wenn wir Flori mit etwas Alk beruhigen würde. Von selbst trank der sonst nur selten was. Ben musste ihm das auf früheren Kursfeten schon mitten in die Cola schütten, damit er überhaupt etwas auf den Geschmack kam. Immerhin wurde er dann immer viel ruhiger und lächelte für den Rest des Abends still vor sich hin. Manchmal tanzte er sogar ein bisschen. Kam auf die Dosis an.
Ben schüttete also halb Cola, halb Wodka ins Glas rein.
Als Flo wiederkam und sich hinsetzte, nippte er direkt am Glas – und verzog das Gesicht. Der Alk war ihm zu viel. Er meckerte rum: Nein, er wolle jetzt nicht saufen und vergessen, sondern über die Notenvergabe diskutieren!
Alle Hoffnung auf Ruhe war zerstört.
Da wurde es Ben und Jenni zu viel: Beide sprangen quasi synchron auf:
Ben schnappt sich im Losgehen die Wodkaflasche, drehte sie auf und gab sie an Jenni. Dann packte er Flori von hinten, riss ihm die Arme hinter den Rücken und schrie, er solle nun endlich die verdammte Schnauze halten und was trinken. Im nächsten Moment trat Jenni vor und goss die scharfe Brühe in Florians Mund. Der schluckte sie auch. Warum weiß ich nicht. Vielleicht hatte er Schiss vor den Beiden.
Aber irgendwie geriet das Ganze außer Kontrolle. Es kam mir vor, als würde die Schluckszene Stunden dauern.
Floris Hals schluckte wieder und wieder. Jennis setzte nicht ab. Ben hielt immer weiter fest.
Irgendwann schluckte Flo immer seltsamer, so verlangsamt.
Und dann war die Flasche leer.
Die verdammte Flasche – einfach leer! Bis auf das halbe Glas, das in der Cola gelandet war, hatte Jenni alles in Flo reingegossen! Innerhalb weniger Momente!
Wir anderen drumherum checkten das erst gar nicht richtig.
Was war da jetzt passiert?
Warum war das passiert?
Wieso hatte Jenni die verdammte Flasche nicht spätestens nach der Hälfte wieder abgesetzt? Aber statt sich das selbst zu fragen, fing die blöde Kuh zu kichern an. Wahrscheinlich hatte sie mal wieder nur Ben gefallen wollen. Wie immer.
Tja, und Ben. Der ließ jetzt endlich mal los und taumelte zum Sofa. Hatte ihn wohl verdammt Kraft gekostet, Flori die ganze Zeit so in der Klemme zu halten.
Das was wir gewollt hatten, war nun eingetreten: Florian war still. Er saß da, mit gläsrigem Blick, roten Wangen und schlaffen Mundwinkeln.
Keiner von uns sprach.
Irgendwie war das nicht die Zeit, große Reden zu schwingen.
Jenni schwankte zur Anlage und drehte die Musik auf Anschlag.
In der Zeit schnappte sich Lisa Ben und die Beiden tanzten wild drauflos, als ob es nun irgendeinen großartigen Grund zu feiern gäbe. Jenni kam dazu, reihte sich ein, Ringelreih. Ich schaute ihnen eine Zeitlang wie paralysiert zu, während in mir das Herz lauter als der dröhnende Technobeat trommelte.
Dann sah ich zu Sascha, der mich ansah. Und ich wusste, dass er sich ähnlich wie ich fühlte.
Daraufhin sahen wir beide zu Florian.
Und dann passierte es: Flori fing zu zucken an. Sein Kopf ruckte nach hinten, seine Augen verdrehten sich. Nur noch das Weiß seiner Augäpfel war zu sehen! Sein Kopf schwoll an! Riesig! Ich hab noch nie so einen riesigen Kopf gesehen! Der sah gar nicht mehr aus wie der von Flori!
Er röchelte, bekam keine Luft. Schaum floss aus seinem Mund, während sein Körper vom Sofa auf den Boden krachte und dort weiter zuckte.
Ich fühlte mich nicht mehr in mir selbst vorhanden. Saß schräg gegenüber. War aber kilometerwit weg. Wie ein Zuschauer. Vor einer Leinwand.
Sascha starrte wie gebannt auf Florians Mund, aus dem der Schaum nun richtig rausflutete. Das erinnerte mich an eine Filmszene, in der aus einem Zombie Badeschaum quoll. Literweise.
Dann rannte Sascha raus. Wenig später hörte ich ihn kotzen.
Erst jetzt fiel mir ein, dass ja auch noch Lisa, Jenni und Ben im Raum waren. Ich sah sie an: Kreidebleich standen sie da, dicht aneinander gedrängt, mit offenen Mündern, als wären sie am falschen Ort, so als wollten sie von ihren Eltern aus dem bösen Freizeitressort abgeholt werden. Doch es kam keiner.
Die Musik stampfte weiter. Ein Lied grausam lebensbejahender als das andere.
Irgendwann hörte Flori zu zucken auf.
Und mit ihm erstarb die Musik. Ben hatte sie abgedreht.
Er winkte uns raus. Raus aus diesem Zimmer, in dem Florian mit verdrehten Gliedern in seinem Schaum lag.
Draußen tischte Ben uns dann einen recht abenteuerlichen Plan für die Polizei auf:
Allesamt sollten wir behaupten, Flori hätte sich selbst so sehr die Kante gegeben.
Als Grund nannte Ben die Verzweiflung über sein 2er-Abi.
Jenni warf noch ein, ob das nicht albern klingen könnte. Lisa meinte aber, dass es wegen Floris Dauerjaulerei auf allen Feten innerhalb der letzten Wochen durchaus nachvollziehbar wäre. Saschas Einwand, dass Flori für gewöhnlich doch eigentlich kaum etwas getrunken habe, wurde von Ben mit diesen Worten weggewischt: „Weiß doch echt niemand, ob ein verklemmter Streber wie der Florian zu Hause nicht dauerbesoffen ist!“
Das war also Ben, wenn es darum ging, den eigenen Arsch zu retten.
Wir einigten uns also: Den später heranrauschenden Helfern würden wir berichten, dass Flo sich in Kamikazemanier selbst abgeschossen hatte.
Ben rief den Notarzt an. Wir standen da und hörten ihm dabei zu.
Ich bewunderte, dass er seinen Pegel im Griff hatte. Ben eben. Ben hatte immer alles im Griff.
Keiner wollte mehr reingehen.
Auch wenn es jetzt im April nachts arschkalt war, standen wir in unseren dünnen Shirts da und bibberten vor uns hin.
Aber irgendwie hielt ich es nur ganz schlecht aus, dort draußen, inmitten dieser Leute.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis der Notarzt kam. Mit ihm kam auch die Polizei. Das war bei Fällen wie diesem wahrscheinlich normal.
Sie befragten uns, einen nach dem anderen. Glücklicherweise draußen.
Und so machten wir alle aus dem biederen Florian posthum einen derben Säufer.
Niemand zweifelte an Bens Story.
Ich hab mich in mir drin aber echt in Grund und Boden geschämt und konnte es irgendwann nicht mehr aushalten. Dann hab ich meine Jacke geholt und bin gegangen. Einfach durch bis nach Hause gelatscht. Hatte nicht mehr den Nerv, mir ein Taxi zu bestellen. Ich glaub, Lisa ist dann auch weg. War ihr wohl auch nicht mehr so geheuer.
Seitdem hab ich von der Kombo nichts mehr gehört. Und von der Polizei auch nicht.
Hab aber eine Scheißangst, dass irgendwann das ganze Konstrukt wie eine Seifenblase zerplatzt und wir zur Rechenschaft gezogen werden.
Wird diese Angst je vergehen?
Und was ist mit der Schuld?
Was mache ich damit?
Ich sollte diese Zeilen eigentlich in Rauch aufgehen lassen.
Oder ganz tief vergraben.
Genauso wie ich versuchen muss, die Erinnerung an dieses schreckliche Ereignis tief in mir zu vergraben.
Tag der Veröffentlichung: 24.02.2019
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