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Die Zeit der Reise

„Mimi, wo ist denn meine Schwimmkrake?“

Jeffs Stimme hallte verzweifelt durch die halbgefüllten Reihen des Vorratsraums. Mimi eilte herbei und lugte besorgt hinein.

„Spatz, alles gut bei dir?“

Er fuhr sich durch die Haare, so dass ein paar wilde Strähnen in die Lüfte standen. Mimi konnte sich das Grinsen nicht verkneifen.

„Ach Mimi, die Schwimmkrake! Du weißt schon: Die, die ich im letzten Urlaub gekauft habe, in Italien, bei diesem verwegenen Samurai-Stand. Der, wo sie meinten, sie kämen aus China und das sei eine große Innovation, weil-“

Sie unterbrach ihn und winkte ab:

„Oweia, die! Die hab ich weggeschmissen. Das war übrigens eine Schwimmspinne, Spatz.“

Jeffs Mundwinkel sackten wie in Zeitlupe eine Etage nach unten. Dann zuckte es zartgrollend über seine Stirn. Er wollte ansetzen, etwas zu erwidern. Doch er ließ es. Denn das Ding, diese Krakenspinne, hatte schon kurz nach dem Kauf ein fettes Loch gehabt. Sie hatte recht – es war Mist gewesen. Er hatte es nur vergessen.

Mimi brachte ihn schnell auf andere Gedanken:

„Möchtest du für die morgige Zugfahrt lieber Käse oder Wurst auf deine Stullen? Oder warte, ich mache halb-halb. Dann kannst du je nach Tagesform auswählen.“

Sie lächelte ihn an. Er lächelte zurück. Ein zarter Kuss besiegelte den stillen Pakt.

 

Als sie am nächsten Morgen am Bahnsteig standen, war es ungewöhnlich frisch für Juni. Mimi und Jeff schüttelten sich im Gleichtakt, während sie sich gegenseitig noch einmal versicherten, alle Geräte vom Strom genommen zu haben. Jeff war zudem in Sorge wegen der Blumen:

„Mimi, meinst du, der durstige Gummibaum macht es wirklich die ganze Woche lang ohne nachbarliche Intervention?“

Seine Frau nahm ihn in die Arme, denn die Angst um seine Prachtpflanze ließ ihn noch mehr beben. In ihrer vertrauten Nähe trat seine Nervosität zurück. Er wurde ruhiger. Sie brauchte gar nicht mehr antworten.

Dann rollte der Zug in den Bahnhof ein und kam laut quietschend zum Stehen.

Mimi und Jeff wuchteten ihre Koffer in den Zug und gingen auf die Suche nach ihren reservierten Sitzplätzen. Mimi übernahm die Führung. Jeff schlurfte hinterher, während er mit dem Gewicht seines Koffers zu kämpfen hatte.

Nach anstrengenden Minuten saßen die Beiden keuchend auf ihren Plätzen und sahen einander zufrieden in die Augen. Als das Keuchen bei Mimi nicht vergehen wollte, meinte Jeff zärtlich:

„Nächstes Mal doch mit vorheriger Gepäckaufgabe? Wegen der paar Taler wäre es doch egal gewesen.“

Doch Mimi schüttelte energisch den Kopf und beseitigte sich damit offenbar auch der Überreste ihrer Luftnot:

„Nein, Spatz! Es geht mir nicht mal nur ums Geld. Ich will die Sachen einfach BEI UNS haben!“

Jeff nickte und musste dann sachte schmunzeln. Wie schnell sie sich in Rage reden konnte. Wie am ersten Tag. Und der war schon verdammt lange her.

Der Zug machte an dieser Station noch ein paar Minuten Halt. Sie hatten Zeit sich zu sortieren. Mimi packte schon jetzt die Lunchbox mit den Stullen aus und stellte sie auf das Klappbrettchen vor sich. Ein Schaffner kam, grüßte und verlangte die Tickets. Mimi wühlte in ihrer Handtasche, die sie noch immer quer um ihre Brustpartie gespannt hatte. Sicher ist sicher, würde sie entgegnen, wenn man sie darauf ansprechen würde. Zielsicher griff sie nach dem Kuvert mit den Fahrkarten und streckte sie in die Höhe. Der Schaffner beäugte sie kurz, nickte und trat wieder ab.

Fast unbemerkt begann die Landschaft an ihnen vorbeizuziehen. Erst ganz langsam, dann immer schneller. Schließlich war es nur noch ein grüner Teppich, der sauste. Beide sahen ihm eine Zeitlang fasziniert zu. Dann wandte sich Jeff an seine Frau und meinte:

„Rate mal, was ich möchte!“

Mimi schmunzelte. Es war früh morgens. Er hatte sich körperlich schon ziemlich verausgabt. Also:

„Ich denke, erst den Käse, hm?“

Jeff nickte. Mimi reichte ihm die Käsestulle rüber und nahm sich selbst auch eine. Dann aßen beide genüsslich ihre Brote und schauten stumm der vorbeirauschenden Kulisse zu.

Jeff brach das Schweigen:

„Köstlich. Du bist die Beste!“

Sie stuppste ihn zart an und meinte belustigt:

„Wegen eines Käsebrotes? Du bist nur wegen der dicken Butterlage begeistert! Aber nach der kalten Frostperiode brauchen wir eh etwas Polster, Spatz.“

Dann kam der Zug zum Stehen. Die Landschaft wurde wieder sichtbar. Mittlerweile war es wohl schon fast Mittag. Die Zeit war wie im Fluge vergangen. Die Sonne flutete die Landschaft, brauchte nur wenige Wolken durchdrängen. Das Grün der flachen Wiesen um sie herum war voll und satt. Eifrig arbeitende Windräder in der Ferne kündeten davon, dass es nicht windstill war.

Langsam fuhr der Zug dann wieder an, während eine Guppe von Mitreisenden schräg gegenüber von Mimi und Jeff Platz nahm. Die Neuen grüßten freundlich. Das Paar nickte lächelnd zurück. Mimi wollte noch wissen:

„Na, wo geht es denn hin?“

Einer der neuen Mitreisenden übernahm das Antworten:

„Bis zur Endstation, Madame. Und Sie?“

Jeff schaltete sich nun ein:

„Zwei Stationen früher. Wir wollen nicht ganz so weit rausfahren.“

Der Gruppensprecher nickte, wünschte den Beiden noch eine geruhsame Weiterfahrt und vertiefte sich anschließend in ein Gespräch mit seinen Begleitern.

Jeff zog die Nase hoch, machte aber keine Anstalten, ein Taschentuch zu fordern. Mimi wusste, was das bedeutete. Energisch sog sie einen Batzen Luft ein, um das aufsteigende Seufzen zu unterdrücken.

Der Zug raste nun wieder. Diesmal fühlte sich die Strecke hakeliger an. Auch flog die Landschaft nun nicht mehr so schnell an ihnen vorbei wie zuvor.

Jeff kramte eine Zeitung aus den Sitztaschen und begann zu lesen. Mimi blickte aus dem Fenster. Dunkle Wolken verdüsterten die Szenerie. Man mochte kaum glauben, dass eben noch sonnenumfluteter Mittag gewesen war.

Sie passierten Büsche, Tannen, Felder, karge Städte, die wie ausgestorben aussahen, alles wirkte so grau in Grau. Und dann begann es auch noch zu regnen. Ein Stoßregen, dem gleich ein Gewitter folgen würde.

Nun meldete sich wieder der Gruppensprecher von schräg gegenüber zu Wort:

„Oh, Madame, da haben Sie aber wahrlich keine schöne Aussicht. Möchten Sie mit uns spielen? Einen Mitspieler könnten wir noch brauchen.“

Mimi spürte deutlich, wie die Zeitung neben ihr plötzlich vermehrt raschelte.

Sie zögerte zu antworten, blickte zu Jeff, doch der saß da wie versteinert und starrte teilnahmslos auf seine Zeitung.

Draußen war es nun fast schwarz. Das Gewitter hatte begonnen. Es würde eine unbehagliche Szene werden, wenn sie hier sitzen bliebe. Also wechselte sie wortlos nach schräg gegenüber, wo die vergnügte Gruppe Figuren für ein Brettspiel aufstellte.

„Juhuu, nun sind wir komplett!“, jubelte eine der Mitreisenden.

Mimi stieg Röte auf die Wangen.

Als sie zu spielen anfingen, warf Jeff die Zeitung lautstark knisternd auf den Sitz und verließ kommentarlos das Abteil. Mimi sah ihm noch lange nach. Erst als der Gruppensprecher sie aufforderte, einen Zug zu machen, vergaß sie ihren Mann und tauchte in den Sog des Spiels ab.

Doch als einige Zeit vergangen war und Jeff noch immer nicht zurückgekommen war, spähte Mimi wieder und wieder in den Zuggang hinein, um zu sehen, wann er denn endlich wiederkäme. Ihre Anspannung war so groß, dass sie ständig vergaß, ihre Spielzüge zu machen. Der Gruppensprecher fragte schließlich:

„Sind Sie denn schon lange verheiratet?“

Mimi blickte ihn nicht an, sondern sah noch immer verkrampft in den Gang, wo aber nichts außer Schwärze war:

„Dieses Jahr genau zwanzig Jahre – deshalb dieser Urlaub. Aber wir kennen uns schon viel, viel länger. Es war seit jeher so, als seien wir füreinander geschaffen.“

Und mit einem Mal fühlte sich Mimi hier in der Gruppe der Spielenden so unsagbar deplatziert. Ein Impuls veranlasste sie aufzustehen und loszugehen.

Draußen tobte noch immer das Unwetter. Die Landschaft dahinter nahm jedoch schon wieder ihre Konturen an. Der Regen prasselte nun laut auf das Dach des Zuges. Es war wie ein Trommeln, das Mimi in hartem Rhythmus durch die Gänge zu treiben schien.

Was wenn ihr Mann irgendwo ausgerutscht wäre und hilflos darbte, während sie die Gesellschaft der Gruppe genossen hatte? Wäre es nicht besser gewesen mitzugehen? War sie nicht langsam alt genug, um den Spieltrieb zu unterdrücken? Wäre sie jemals alt genug, um das zu tun?

Sie durchquerte Abteil um Abteil, doch von Jeff war keine Spur. Als sie rausblickte, sah sie die Sonne lächeln. Leichter Zorn erfasste sie – was gab es denn nun so helllicht zu lächeln? Nie war ihr eine Szenerie unpassender als diese erschienen!

Doch dann geschah es: Sie erreichte ein Abteil, das seltsam anders illuminiert war:

Die Vorhänge vor den Fenstern waren allesamt hinuntergelassen. Auch standen hier die Sitze anders, viel weiter auseinander. Es roch nach Essen. Der Speisewagen!

Sie ging schneller, instinktiv.

Sie spürte ihn hier.

Und tatsächlich: Da saß er. Jeff! In bester Gesundheit strahlte er sie an, vor ihm eine funkelnd eingedeckte Tafel mit zwei Gloschen und zwei langstieligen, roten Kerzen mit zart flackernden Spitzen.

Er stand auf, kam zu Mimi herüber und führte sie an den Tisch.

Sie nahm Platz, er nahm Platz, sie saßen einander gegenüber. Dann erhoben sie gleichzeitig die Gläser und Jeff prostete ihr zu:

„Auf unsere Reise! Lass uns den Weg bis zur Endstation noch gehörigst genießen!“

Sie stimmte ein und fügte hinzu:

„Und zwar gemeinsam, mein Spatz.“

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Tag der Veröffentlichung: 19.07.2018

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