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Eine ganz normale Nacht

Es war eine jener Nächte, in denen man das Gefühl hatte, dass noch etwas ganz Ungeheuerliches passieren würde.

Tina stand im Schwesternzimmer und hielt sich an einem Becher Automatenkaffee fest. Die Brühe brannte höllisch, erfüllte aber ihren Zweck – der Hitzeschmerz verlieh ihr für einen Moment das Bewusstsein hellwach zu sein, ein Augenblick, den sie ganz für sich auskosten und dabei einen Blick in die klare und doch so seltsam nebelverhangene Sternennacht werfen konnte.

Immerhin war heute Nacht noch keiner verstorben … Trotzdem irgendwas war bedrück–

„Tini, der Verband! Er will gehen!“

Das war Moni. Sie sah aus, als hätte sie den Leibhaftigen gesehen. Zwar handelte es sich bei dem besagten „Verband“ durchaus um keinen leichten Fall, doch als besonderen Schrecken der Krankenstation hatte Tina ihn nicht eingestuft.

„Tini, schnell! Der Typ will gehen! Alleine kann ich ihn nicht aufhalten! Und … na ja … er hat doch keine Krankenkassenkarte dabei. Wir brauchen seine Daten, seinen Ausweis.“

Tina seufzte und blickte tief in die Kaffeetasse. Kein Satz da. Trotzdem konnte sie darin lesen.

„Mensch Moni! Dann betäub, fixier und durchsuch ihn halt!“

Monis Augen weiteten sich in Terror. Tina hatte noch nie so große, runde Äpfel gesehen. Rollos! Sie wünschte sich, Augenlid für Augenlid einfach runterziehen zu können – und danach auf immer von hier abzuhauen.

Aber es nützte alles nichts. Das Sinnieren nicht, das Abwarten noch weniger. Sie zerdrückte den Kaffeebecher, knirschendes Plastik noch, und warf ihn in den überfüllten Mülleimer.

Monis Augäpfel waren glücklicherweise noch drin, lugten aber weiterhin bedenklich hervor. Innerlich war sie wohl in ihrem Schrecken verharrt. Niemand konnte es ihr verdenken.

„Ach Moni. Scherz! Wobei ich auch nicht so recht weiß, wie wir den Typen zwingen sollen dazubleiben. Polizei rufen?“

In einer Geschwindigkeit, die jene einer Zeitlupe noch unterbot, bewirkten Tinas Worte eine Lockerung auf Monis Gesicht. Welcome back. Nun sah sie totmüde aus, während sie fast flüsterte:

„Komm einfach mal mit.“

Und so gingen die beiden aus dem Schwesternzimmer hinaus und betraten den stets so steril riechenden Flur mit seinen kargen Wänden und den zerwienerten Böden. Weit brauchten sie allerdings nicht gehen. Der Problempatient kam ihnen schon bölkend entgegen:

„Wer von euch Weibern hat mein Weihnachtspaket geklaut?“

Tina hörte Moni schnauben. Hatte sie es ihm weggenommen? Als Pfand? Was sollte da denn wohl Wertvolles drin sein?

Dann versuchte Tina, die Wogen zu glätten:

„Herr Osekose! Nun beruhigen Sie sich doch bitte. Und lassen Sie mich Ihren Verband richten. In Ihrem Zorn ist er komplett verrutscht.“

Das stimmte zwar nicht. Aber der Zweck heiligte bekanntlich die Mittel.

Der Wütende sah auf seinen bandagierten Schenkel und schien sich erst jetzt bewusst zu werden, dass er ohne Hose hier herumtobte, denn sein Blick wurde mit einem Mal sehr weich-verlegen. Dann erwiderte er mit belegter Stimme:

„Die Hose habt ihr mir also auch geklaut. Was soll mein Nachbar denken, wenn ich nur mit Shorts bekleidet nach Hause komme? Das geht doch sofort reihum, durch das Haus, durch die Straße, durch die ganze Stadt!“

Er hielt sich wohl für besonders wichtig, dachte Tina, während sie ihm halb-erleichtert, halb-angestrengt ins Behandlungszimmer folgte. Nun also nochmal bandagieren. Für nichts und wieder nichts. Einfach weil dieser cholerische Typ keine Krankenkassenkarte bei sich hatte. Hoffentlich rief Moni in der Zwischenzeit die Polizei. Der Typ würde auch nach einem Verbandswechsel nicht plötzlich mit einem Kärtchen aufwarten können. Wobei, Wunder gab es ja immer wieder.

Noch bevor sie den Behandlungsraum erreichten, stürmten drei Maskierte auf die Krankenstation und brüllten:

„Überfall! Geld her!“

Tina stand da wie paralysiert, der Mund weit offen. Ihr Verstand schaffte es nicht, das Gesehene zu verarbeiten. Ihre Birne drohte zu platzen. Noch mal tönte einer der Angreifer:

„Geld her!!!“

Diesmal sah Tina es blitzen. Eine polierte Waffe, ein schicker Revolver. Fast schön, wenn er ihr doch bloß nicht hier, sondern irgendwo im Museum gezeigt worden wäre. Im nächsten Moment überlegte sie, woher sie einen Batzen Geld nehmen sollte.

Dann kam Herr Osekose aus dem Behandlungsraum gestürmt. Noch immer ohne Hose.

Er schrie:

„Hah! Revanche! Ihr Bastarde habt diesen lästigen Aufenthalt verursacht! Nun werde ich euch dermaßen zurichten, dass ihr auf lange Zeit an mich denken werdet!“

Die Maskierten standen wie erstarrt. Die Waffe, und es war nur eine, hielt der Mittige schlaff nach unten. Das wusste Herr Osekose zu nutzen. Er stürmte heran, schlug ein Rad und machte einen Flickflack. Es brauchte nur einen Kick und schon flog die schöne Waffe durch die Gegend und landete laut scheppernd auf dem Boden. Dann setzte es Schläge. Herr Osekose brauchte nicht viele, um die Combo schachmatt zu setzen. Die Fallzeit war beachtlich. Schließlich keuchte er:

„Wo ist denn nun das verdammte Paket? Her damit! Darin ist meine gesamte Polizeiausrüstung! Das hier ist ein geplanter Einsatz!“

Das veranlasste Moni, die Beine in die Hand zu nehmen und in Windeseile mit dem Verlangten vor dem zersausten, verschwitzten Herrn Osekose zum Halt zu kommen.

Handschellen blitzten. Ein Funkgerät kam zum Einsatz. Wenig später preschte ein Trupp von Uniformierten auf die Krankenstation.

Eine Stunde später stand Tina wieder im Schwesternzimmer, behagte sich an der Hitze des Bechers in ihren Händen und schaute hinaus. Der Nebel hatte sich gelichtet. Doch der Kaffee war immer noch die reinste Plörre.

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Tag der Veröffentlichung: 12.07.2018

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