Es war eine dunkle und stürmische Nacht. Ein Sonntag, zumindest der Anbruch desselben. Ich saß im grellweißen Kegel meiner Schreibtischlampe und brütete über Unterlagen, deren Herkunft ich nach zerflossenen Stunden des Hockens selbst kaum noch kannte. Zahlen kreisten mir unkontrolliert vor den Augen herum, waren nicht mehr in ihrer ursprünglichen Reihenfolge und drohten, in divergentem Durcheinander den letzten Zipfel Konzentration von mir zu sprengen.
Dann auf einmal passierte es: Jemand klopfte ans Fenster! Ich zuckte zusammen, warf mit spitzem Schrei den Kugelschreiber von mir, hämmerte auf den Schalter der Schreibtischleuchte und zog den Kopf ein. Dann horchte ich, versuchte, das Wummern meines Herzens zu überhören und in die Stille hineinzusinnen, ja, wartete eigentlich nur darauf, dass sich das Geräusch als fiese Sinnestäuschung herausstellen würde. Sekundenschlaf. Sekundentraum. Eine Verirrung. Nichts weiter. Eine Minute verging, noch eine ... und wohl noch mehr davon ... die Zeit zog sich hin wie das letzte Bisschen Honig auf einem eiskalten Löffel.
Ich regte mich bereits wieder, ja, langte gar erhobenen Hauptes in Richtung der Lampe, als es plötzlich wieder geschah - es klopfte ans Fenster! Es wummerte geradezu! Es hörte gar nicht mehr auf: "Tacktacktacktack!"
Das Herz in einer Stahlkralle, fuhr ich wie vom Blitz getroffen hoch und fing am ganzen Leibe zu zittern an. Wer konnte das nur sein? Um diese Uhrzeit? Hier? Bei mir?
Schüttelfrost. Ich schlotterte wie eine Totkranke. Ich bekam mich nicht wieder ein. Ich wollte es, nichts wollte ich lieber, wollte mein Herz befreien aus der Klaue der Angst, wollte es nehmen und streicheln, es forttragen aus dieser Bedrohung. Doch je mehr ich das wollte, umso mehr schlotterte ich. Und doch entfachte darunter, als würden in mir Steinchen schlottern, ein Funke Zorn in mir. Verdammt, warum hatte ich mich eigentlich so weit aufs Land zurückgezogen, so fernab jedweder Gesellschaft ... der nächste Nachbar wohnte kilometerweit entfernt ... wenn ich auch hier nicht alleine war? Warum nur fand ich keine Ruhe?
Irgendwas in mir ließ mich in Richtung Fenster losstapfen. Keine Rollläden, keine Jalousien, nichts hing davor, das die Sicht verstellte. Und sah ich direkt hinaus, in das Dunkel der Nacht, auf die weite wilde Wiese meines Gartens, den ich seit Monaten brachliegen ließ, einfach weil ich nicht dazu kam, mich ihm zu widmen - immer war irgendwas dazwischen gekommen - dann sah ich nichts. Dennoch klopfe es weiter, ja, es klopfte lauter und lauter, je näher ich dem Fenster kam.
Ich sammelte all meinen Mut und führte meine zitternden Hände zum Fenstergriff. Bei diesen alten Scharnieren würde ich wie immer beide brauchen, um Erfolg zu haben - ich zog und zog, ruckhaft, das Fenster öffnete sich und ich flog fast nach hinten, so ruppig hatte ich daran gerissen.
Gerade eben fing ich mich noch, wurde von der kühlen Brise der Nacht ins Gesicht geschlagen, und beugte mich nach vorn, sachte erst, dann stemmte ich die Hände auf die Fensterbank und lehnte mich weit hinaus. War da wer? Nein, nichts. Der Mond schien nur seicht hinter den wandelnden Wolken, doch er war erhellend genug, damit ich erkannte, dass da nichts und niemand vor meinem Fenster stand. Ich blickte zu Boden - und auch dort war kein nächtlicher Besucher zu sehen. Und doch ... irgendwas war da, inmitten der im Sturm rauschenden Grashalme, die da raschelnd vor mir auftanzten. Irgendeine Stimme kam aus ihnen hervor. Ein Murmeln erst, das bedrohlich schnell lauter und höher wurde und schließlich als spitzer Schrei direkt in mein Gesicht schoss. Meine Ohren klingelten, meine Nase lief, meine Augen tränten und mein Mund fühlte sich an wie aufgeschnitten, als mir das Gras in seiner mir plötzlich bewussten, bizarren Überlänge entgegenschrillte, dass ich es durchschauen sollte, es, die Materie an sich - das Leben als begrenztes Gut oder eben nicht Gut! Und weil ich dastand und nichts verstand, insistierte es mitsamt Geraschel, kühn und verwegen, verdammt, der Durchblick käme nicht, wenn ich weiter leere Zahlen aneinanderreihen und auf zeitbegrenzten Stoff kritzeln würde! Jetzt, jetzt, jetzt, und von jetztan für immer! Dieser wütende Windgesang klang gar nicht mehr ab und wurde schriller und schriller. Ich nickte nur, und nickte, und nickte, und überlegte indes, ob mir nicht der Kugelschreiber eintrocknen würde, wenn ich hier so lange das Gras eifern hörte. Den hatte ich nämlich schreckgestarrt offenstehen lassen, als ich so eingesunken und weggeduckt war - bestimmt war er schon trocken! Das Formular bekäme ich so nicht mehr ausgefüllt ... und einen Ersatzkugelschreiber hatte ich nicht ...
Da fing das Gras laut zu seufzen an, ja, es stöhnte gar, so dass ich gebannt hineinsah und die Quelle der Erregung suchte. Doch statt dass sich meine Augen an irgendetwas hängen konnten, stieß mich ein entsetzlich starker Windstoß nach hinten, so dass ich in einem Satz in mein Häuschen fiel.
Es wurde schwarz. Es wurde hell. Ich erwachte mit dem Kopf auf meinem Schreibtisch, über mir der weiße Kegel der Schreibtischlampe. Und fürwahr: Der Kugelschreiber schrieb nicht mehr.
Tag der Veröffentlichung: 27.09.2017
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