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Nacht X: Der Vorsatz

01.01.2015 – 00:33 Uhr

 

Wieder ein neues Jahr.

Und wieder knallen die Vollidioten von nebenan – NOCH IMMER! Genauso wie letztes Jahr. Diese Arschlöcher. Wenn sie noch miteinander knallen würden, dann ginge es ja noch. Aber nein, sie haben nichts Besseres zu tun, als einen fetten Kracher nach dem andern zu zünden. PÄNG! PÄNG!! PÄNG!!! Na immerhin: Sollte je Krieg ausbrechen, sind meine Ohren bestens gewappnet …

 

Ich habe nie verstanden, warum man an Silvester solch ein Gerölle veranstaltet. Außer früher vielleicht, in Kindertagen, als ich selbst noch Knallfrösche auf den Asphalt gedonnert habe. Das ist allerdings lange, lange her. Heutzutage mach ich das nicht mehr. Nicht, weil ich plötzlich zum Green-Freak mutiert wäre, sondern weil es mir einfach zu anstrengend ist, meinen Körper in die Kälte zu hieven, um eine Rakete zu starten. Und was ist denn schon so eine Rakete? Was sagt die aus? Stellt sie irgendwas dar? Und überhaupt: Was sind schon so läppische Symbole wert?

Ach, bei meinem Glück hätte so ein Ding womöglich einen Fehlstart … risse mir einen Finger ab oder ein Auge aus. Hat es alles schon gegeben! Was? Das sind nur Ausnahmen? So gesehen ist jeder zufällige Unfall eine Ausnahme von der ach so glücklichen Regel des sanften Durch-den-Alltag-Gleitens … Wir wohnen alle in unserer ganz eigenen Blase der Glückseligkeit – bis sie womöglich irgendwann zerplatzt. Manche tun so einiges, um das fragile Konstrukt besonders schnell zum Bersten zu bringen, andere tun gar nichts, hüllen sich in Samt und Watte, in ein bauschig-weiches Leichentuch. Wozu zähle ich mich? Natürlich zur letztgenannten Fraktion. Womöglich bin ich sogar eine Hardlinerin, wenn es darum geht. Denn: Ich habe nicht vor, meinen Korpus in das Silvester-Gefecht zu werfen und darauf zu hoffen, dass er dabei unversehrt bleibt. Und mal ehrlich: Mein Balg bietet eine viel zu große Zielfläche, als dass ich das Prinzip Hoffnung walten lassen könnte. Und wer weiß … ginge ich zu Silvester raus, käme womöglich irgendwer auf die Idee, mich als Detonationspuffer oder sonst was verwenden zu wollen …

 

Ja, der Körper – der ist bei mir in den letzten Jahrzehnten so unendlich in die Breite gewachsen, dass ich froh sein kann, wenn ich ihn überhaupt noch nach draußen gewuchtet bekomme … Zu fett. Einfach zu fett. Ich seh es selbst. Und wenn ich mal vergesse, was ich sehe, schaue ich in die Gesichter der anderen Menschen und sehe, was ich nicht sehen will … wenn ich denn mal andere Leute sehe … was ich eigentlich auch nicht will … aber manchmal nicht umgehen kann …

 

Der Sekt schmeckt dieses Jahr irgendwie schaler als sonst … ach, Silvester, wozu ist dieser Mist überhaupt gut? Ach ja: Die ganze Chose ist, wenn man das Geknalle und Gefeiere abzieht, auch eine Nacht, oder eigentlich nur ein Moment, in der man VORSÄTZE schmieden kann … Vorsätze fürs neue Jahr, ach – fürs ganze Leben!

 

Soll ich heute Nacht auch mal einen guten Vorsatz machen? Jetzt, während ich mir hier einen pikanten Erdnussflip nach dem anderen reinschiebe und dann mit süßem Sekt nachspüle?

 

Soll ich mir hier und jetzt vornehmen, endlich diese widerwärtigen Fettberge loszuwerden?

 

Ja, soll ich? Wird dann aus mir ein besserer Mensch werden? Wären dann - wenn es soweit wäre - alle zufrieden? Ich überlege ernsthaft, die Rollläden hochzureißen und die Welt da draußen lallend zu befragen, ob ich dann okay wäre … Ja, überlege ich ernsthaft. Kommt vom Alk.

Aber letztendlich ist die Überlegung doch nicht ernsthaft genug, damit ich meinen fetten Arsch vom Sofa hochstemme und zum Fenster torkle. Nee, da mach ich die Sache doch lieber mit mir selbst aus und stelle mir einfach nur vor, wie ich in meinem Bärchen-Pyjama auf die Straße wanke, auf die menschenleere, schwefelverseuchte Straße, vereist und arschkalt, und das einzige, was mir antwortet, ist das widerwärtige hallende Echo meiner verspeckten Stimme … Darauf trink ich einen!

 

Im Fernsehen läuft auch nur Scheiße. Wie jedes Jahr um diese Zeit. Nach den typischen Abendessen-Flicks (neuerdings sogar in diversen Dialekten nachgesäuselt), immer der gleiche Mist: Entweder wird gebumst, bis die LEDs glühen, oder es werden Uralt-Konzerte auf den Schirm geschmissen. Wenn man Glück hat, sind es nicht nur geleckte Schlager-Heinis, die ihre Stimmen in den Äther kippen, hin und wieder spielen auch ein paar coole Bands. Letztes Jahr, irgendwann um 2:30 Uhr, oder so, spielte eine echt knackige Combo … mit einem supersüßen Sänger … ach, wie heißen die nochmal …?

 

Mhm, der Sekt schmeckt doch echt gut, nicht so beschissen sauer wie letztes Jahr – da war der wohl nicht gescheit gezuckert oder überlagert, was weiß ich. Lecker, zusammen mit den Chips, echt klasse. Dumm nur, dass die Tüte gleich leer ist. Hab ich noch eine? Dann muss ich die aber erst mal suchen … Uff, der Sekt zieht aber ganz schön rein. Na ja, ich hab auch nen ganz schönen Zug … Hab ich halt bei allem, auch beim Essen. Wenn mir was schmeckt, ess ich gern schnell und viel. Nicht nur Chips, alles, Erdnüsse, Schokolade, Fleisch, ja, viel Fleisch, ich liebe Fleisch, aber auch Nudeln, Reis, Kartoffeln, gebratene Kartoffeln, ja, ich liebe gebratene Kartoffeln, oder frittierte. Lecker, ja. Ich hab eigentlich gar keine No-Gos, wenn es ums Essen geht. Ich schaufle mir alles rein, Hauptsache, einen Augenblick lang Befriedigung.

Boah, jetzt ist es fast zwei Uhr und irgendwelche Arschlöcher sind immer noch am Knallen! Wahrscheinlich haben die auch kein schönes Leben … ich hol mir jetzt doch noch ne Tüte Chips …

 

Scheiße, egal, welchen Fernsehkanal ich anstelle, ich seh nur Romantik, Rumgemache und Rumba-Rhythmen in Schlagersänger-Mündern! Kommt mir alles zu schnell vor.

Die neue Tüte Chips schmeckt irgendwie fad. Haben diese unfähigen Hersteller wieder so eine beschissene Änderung der Gewürzmischung verbrochen? Nicht ganz dicht. Nur von Bekloppten umgeben. Und diese ewigen Paarungen im Fernsehen will ich auch nicht sehen. Ah, da auf dem Sender laufen Comics. Oder sind das Animes? Gottes Willen, selbst da ziehen sie sich aus …

 

Ach, ich stell das jetzt ab und schreib hier gescheit was rein, schmiede mir nen soliden Vorsatz, einen einzigen – damit es endlich mal flutscht! Oder anders gesagt: Dass sich überhaupt mal irgendetwas in meinem lahmarschigen Leben ändert! Darauf noch ein Glas!

 

Ja, süß, aber lecker. Macht aber Hunger. Diese Chipstüte hab ich gleich auch schon wieder alle. Die Aromen von den Kartoffeldingern, diese scharfen, umarmen das prickelnde Süß des Sektes! Und mich füllt das auf, mich puffert das ab. Komme mir jetzt aber ein wenig wie eine gefüllte Weihnachtsgans vor, nur schon viel zu alt, um gut zu schmecken …

 

Ach ja, der Vorsatz. Nicht weiter verschieben. Raus damit.

 

Also:

 

Ich beschließe hiermit, verdammt offiziell, um exakt 2:13 Uhr am 01.01. des Jahres 2015, dass ich, verdammt nochmal, meine fetten 138 kg loswerden will!

 

Jawoll, es sind 138 schwabbelige Dreckskilos Fett (und was sonst noch in so einem Körper ist – was schert mich, was sonst noch in mir steckt?).

Das FETT muss weg!

Endlich weg!

 

Igitt, hab die Tastatur meines Laptops verschmiert. Rutsch jetzt drauf rum wie ein wildes Kind auf einem zugefrorenen Teich mit Huppeln. Mist. Ich bin ein übles Schwein! Und die zweite Chipstüte ist jetzt auch leer. Immerhin ist noch genug Sekt da. Den genieß ich jetzt ganz allein!

Klar ganz allein. Ist ja keiner da, der mit mir saufen will. Sauf ich halt für zwei. Oder drei. Oder vier. So wie sonst beim Brei und beim Bier … hahaaa – der Sekt halt. Macht einen voll lustig und erfinderisch. Oder so ähnlich.

 

Urgs, dreht sich nun alles. Ich trink jetzt meinen Sekt noch schön auf und mach dann ab morgen den Vorsatz wahr.

Abnehmen … Prosit!

Ab morgen fit!

Tag 1: Der Kater, die Zweifel und der Entschluss

01.01.2015 – 19:55 Uhr


Mir ist sauschlecht!

 

Nach 1¾ Flaschen Sekt, allein gebechert, kam mir die ganze Prickelsuppe samt Chips kurz vorm Morgen wieder hoch, und ich musste so heftig kotzen, dass mir alle Gesichtsadern platzten. Das hatte ich früher schon mal, als Kind – natürlich nicht vom Sektsaufen, sondern einfach, weil ich das Falsche gegessen hatte. Deshalb weiß ich auch, dass ich nun mindestens drei Tage wie eine Schwerkranke aussehen werde. Streuselkuchen, tiefrote Sprenkel. Wenn ich rausgehen wollte, müsste ich Camouflage auflegen. Hab aber keins hier. Also kann ich nicht rausgehen. Scheiße.

 

Immerhin ist mir heute noch immer dermaßen flau im Magen, dass ich ohne Probleme an der Einhaltung meines gestrig geschmiedeten Vorsatzes arbeiten kann – Abnehmen! Oh ja … Oder eher: Na ja … denn wenn ich ehrlich bin, hatte ich den „Plan“ schon wieder vergessen, nachdem ich gute zehn Minuten krampfend über der Schüssel gehangen und mich danach wankend ins Bett geschleppt hatte. Es ging mir nur noch um mattes Schlafen.

 

Nun geht es wieder einigermaßen. Ich habe allerdings auch ein Mittel eingeworfen, das sowohl die Übelkeit als auch den fiesen Schwindel, der mich ab und an noch überkommt, eindämmen soll. Und eine Kopfschmerztablette gegen das eklige Ziehen hinter der Stirn.

 

Als ich dann eben meinen Eintrag von heute Nacht checkte, dämmerte mir wieder, dass ich von meinem Fett runterkommen wollte. Oder will. Tja … will ich?

WILL ich wirklich aus mir selbst heraus abnehmen? Oder meine ich nur, es zu wollen, etwa, weil ich glaube, dass ich es muss, und sei es „einfach deshalb“, weil ich nicht damit umgehen kann, ständig überall anzuecken?

MUSS ich abnehmen, weil mir die Gesellschaft das so abverlangt? In Worten, aber auch in Taten, Untaten, Nicht-Taten, laut, leise und mitunter auch gänzlich stumm, nur durch Blicke transportiert. Manchmal sind es aber gerade diese Blicke, die besonders wehtun. Augen, die sich auf dich richten, nicht in deine Augen schauen, sondern deinen Körper abtasten und dabei den gleichen Ausdruck annehmen, als besähen sie eine schleimige Schnecke, einen krabbelnde Kakerlake oder eine fette Spinne. Manche sehen schnell wieder weg, manche schauen länger hin und scheinen die „besondere“ Körperform in ihr Gedächtnis einbrennen zu wollen, als sei das, was sie erblicken, alarmierend faszinierend – Abschreckungsmaterial.

Natürlich ist das eine subjektive Interpretation. Was weiß ich, was sich die Träger dieser abschätzigen Augen tatsächlich denken, wenn sie meinen Körper „scannen“. Vielleicht sind sie einfach allseits interessiert und brauchen für viel Masse auch viel Zeit – reine Datenverarbeitung? Vielleicht sind sie Künstler und wollen eine „besondere“ Skulptur modellieren? Weiß ich es denn? Ich sehe nur, dass den meisten Augen ein Schuss Angewidertsein innewohnt, ob sie es denn zeigen wollen oder nicht.

Muss mich interessieren, was andere Menschen über meinen Körper denken? Muss ich darauf reagieren? Oder einfach alles ignorieren? Oder sollte ich gar offensiv auf die „Scanner“ zugehen und entwarnen – „nein, nicht ansteckend, nein, nicht gefährlich, ich walze niemanden platt, ich stinke auch nicht, nicht mal das!“.

 

Der Mensch. Keiner ist wie der andere. Manche sind innerlich völlig „anders“ als das, was man als das „Normale“ wahrnimmt, wie auch immer man es nennt: verzerrt, verdreht, gänzlich eigen sortiert. Würde sich so eine innere Anders-Dimensionierung nach außen kehren, gäbe es dem betreffenden Menschen eine neue Form. Viele würden staunen, stieren und wahrscheinlich könnten etliche ihre Münder nicht geschlossen halten. Glücklicherweise kann aber niemand ins Innere schauen.

Äußerliche „Spezialformen“ fallen hingegen ins Auge. Sie fallen immer ins Auge, auch wenn du noch so viel Zeit in ihre Vertuschung investierst. Ich habe diesbezüglich schon so vieles versucht, wollte mich enger stauchen, indem ich mich in „Presskleidung“ geschnürt habe, erst in Miederunterwäsche, später dann in verstärkte Jeans. Irgendwann war kein positiver Effekt mehr zu sehen; das Geschnüre tat nur noch weh. Danach trug ich enge Leggins zu weiten Oberteilen. Aber wie konnte ich als Fettleibige eigentlich auf die Idee kommen, dass diese Kombination zu irgendetwas Gutem führen sollte? Ich sehe darin aus wie ein Schweinebraten auf Hähnchenhaxen. Die weiten Shirts ziehe ich immer noch an, dazu aber weite Hosen. Alles muss jetzt weit sein. Ich hasse es, wenn man das wahre Ausmaß meiner Verfettung erkennen kann!

Ein Dilemma, denn: Man wird gesehen, wenn man so fett ist wie ich. Ich will aber nicht, dass man mich sieht und ansieht. Mich widert an, dass ich körperlich dermaßen überdimensioniert bin, dass ich nicht einmal einkaufen gehen kann, ohne angestarrt zu werden! Jeder Blick, den ich auf mir spüre, ist wie ein Nadelstich. Jeder! Es ist völlig egal, ob es ein „normaler“ Blick ist, den man als „normaler Mensch“ auch anderen „normalen Menschen“ zuwirft. Mir tut alles weh. Alles!

 

Es ist nicht gut, so empfindlich zu sein. Das Wissen darum lindert die offenen Wunden aber nicht.

 

Also nochmal die Fragen von vorhin: WILL ich abnehmen, für mich, nur für mich? Oder will ich nicht nur abnehmen, weil ich mit dieser Körpermasse nicht in der Gesellschaft bestehen kann?

 

Ist es nicht völlig egal, was davon ich mit „ja“ beantworte? Ist es nicht so, dass ich in dem Moment, in dem ich nur eine Frage bejahe, schlichtweg abnehmen MUSS – um meinetwegen? Denn wenn ich es nicht tue, bin ich auf ewig verdammt, mich mit den besagten Ängsten herumzuquälen.

Was wäre die Alternative? Die inneren Dämonen bekämpfen? Sich ein „dickeres Fell“ zulegen? Woher bekommt man denn eine beständige Ignoranz-Schutzschicht, von der viele reden, als könnte man sie mal eben schnell im Laden um die Ecke kaufen?

Sicherlich kann ich so tun, als pralle alles von mir ab. Ich versuche es immer schon. Ich versuche, Blicke zu ignorieren, versuche, unverletzlich zu wirken – doch das ist ein riesiger, qualvoller Kraftakt, eine extreme Zumutung, die spätestens zu Hause wie ein zerfetzter Ledermantel von mir abbröckelt.

Die Vortäuschung bietet keinerlei nachhaltigen Schutz: Auch wenn ich mit noch so teilnahmsloser Miene durch die Gefahrenzone schreite, sogar einigermaßen schwungvoll, als hätte ich an meinem Fett gar nicht so schwer zu tragen – hören kann ich trotzdem alles, und sehen erst recht. Es scheint, als schärften sich mit jedem überflüssigen Gramm Fett meine Sinne. Ich höre die Stimmen, die Abfälliges tuscheln, lauter und klarer denn je. Und ich wundere mich über den Fortschritt der Zeit, über die Kreativität der Kinder, die vulgärste Begriffe mit Niedlichkeiten verquirlen und sie dir mit solch einem Honigkuchengrinsen entgegenfeuern, dass du aufpassen musst, nicht auch noch lieblich zurückzulächeln, einfach weil du beeindruckt von soviel Dreistigkeit und Sprachgewalt bist.

Überhaupt, was tust du, wenn sie dir Beleidigungen hinterherbölken? Schaust du dich um und guckst grimmig? Ist das nicht das, was sie wollen? Schaust du in eine andere Richtung und siehst dabei betroffen aus? Wollen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 20.07.2017
ISBN: 978-3-7438-2393-8

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