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Unterm Schirm und darüber hinaus

Auf der sonnengefluteten Außenterrasse eines Cafés im Zentrum einer kleinen Stadt sitzt sie an einem Einzeltisch inmitten eines bunten Haufens brabbelnder Grüppchen und stöbert in der eindrucksvoll illustrierten Speisekarte. Die laminierten Seiten spiegeln den Glanz des Himmels und blenden sie für einen Augenblick. Sie blinzelt, hält sich einen entbehrlichen Zipfel ihres hellblauen Sommerkleids vors Gesicht und drückt die Augen zusammen; Tränen bleiben fern, das Make-Up ist gerettet. Sie legt die glanzvolle Liste beiseite und lächelt – besseres Wetter hätte sie für diesen Tag nicht einmal bei Petrus höchstpersönlich bestellen können!

Dann hallt ein fernes Läuten durch das klare Azurblau. Zwölfmal vernimmt sie den vollen Glockenschlag; jedes Mal geht er ihr durch und durch, zuletzt gefühlt bis in jeden Nukleus.

Der Cafébesitzer kommt, spannt einen senfgelben Sonnenschirm auf und platziert ihn so, dass sie vorerst sicher im Schatten ruht. Anschließend nimmt er lächelnd ihre Bestellung entgegen. Sie hat sich für ein kleines Zitroneneis mit viel Sahne entschieden.

Der gelbe Schirm beeindruckt sie so sehr, dass sie ihn ausgiebig mustert: Aus feinen Leinen gefertigt, lässt er etliche Sonneneindrücke durch und spendet doch komfortablen Schatten. Seine Offenheit erscheint ihr fast kühn – er hat keine wasserfest verschweißten Nähte und sieht nicht so aus, als sei er imprägniert. Minutenlang starrt sie in die Höhe, während ihr nicht auf dem Boden stehender Fuß aufgeregt auf und ab wippt; ihr Kopf neigt sich erst da wieder nach unten, als ihr eine flötende Frau ein strahlend gelbes Eis hinstellt: „Guten Appetit!“

Sie ergreift den Löffel und taucht ihn in die Sahne. Cremiges Knistern. Dann lässt sie sich ein Häubchen davon auf der Zunge zergehen, schließt die Augen, gibt sich dem vollen Geschmack hin und lehnt sich schnurrend zurück. „Zu früh bestellt. Aber die Versuchung …“

Einen Moment später, als ihre Knospen wieder frei und ihre Gedanken belegt sind, seufzt sie leise und sieht auf die Uhr. Fünf Minuten sind seit dem Glockenspiel vergangen. Ist sie zu früh, ist er zu spät? Oder ist das hier ganz und gar der falsche Tag … Ort … Planet? Sie muss lächeln, kostet das Zitroneneis und stöhnt auf: vollmundig, süß, gar nicht sauer – ein Tag für die Götter!

Sie legt den Löffel beiseite, lehnt sich im Sitz zurück, schließt die Augen und lässt die Seele baumeln. Dort, einst, zu zweit, in der zarten Ummantelung der rotschwarzen Dämmerung, einte sie bald der Augenblick, der ein ganzer Abend ward. Und dann nahm er ihre Haare im Bund in seine Hände und ließ sie einzeln durch die Finger gleiten, so voller Sinn im ungeteilten Blick, als wäre es das Nötigste, das einzig Wahre auf dieser Welt. Und was folgte, war---

Sie reißt die Augen auf und erschrickt – jemand hat gegen ihren Sessel getreten! Oder etwas. Da, der Übeltäter saust unbekümmert zum nächsten Tisch! Es ist ein Kunststoffball, bedruckt mit einer zwinkernden Sonne. Sie kann sich ein Grinsen nicht verkneifen, während sie den Ball fixiert und erwartet, dass gleich der Leibhaftige herausspringen wird. Als er zum Stehen kommt, blickt sie die Straße entlang und sieht, was sie zu sehen erwartet hat – spielende Kinder. Jauchzend rennt der kleine Trupp auf das Café zu. Und da überkommt es sie plötzlich, und sie kann nicht anders, als aufzuspringen und den Kindern den Ball kraftvoll zurückzuschießen. Das Ensemble johlt in Eintracht, dann schert einer aus, ein Junge. Er sprintet nach vorn, stoppt den Ball in gekonnter Manier und schenkt ihr ein scheues Lächeln. Obwohl sie etliche Meter von ihm entfernt sitzt, faszinieren sie seine strahlenden Augen.

„Ihr Eis schmilzt!“ Sie fährt herum. Ein Mann zu ihrer Rechten grinst sie derart offensiv an, dass sie ihn mit irritierter Stirn ansieht. Er sitzt direkt im Sonnenschein, ungeschützt im strahlenden Licht. Warum muss er denn nicht blinzeln? Dann erst versteht sie, was er meint – von ihrem gerade noch so stolzen Zitronenbauwerk ist kaum mehr als ein hügeliges Süppchen übrig. Sie nimmt den Eisbecher in die Hand, prostet ihm reumütig lächelnd zu und trinkt all das, was geschmolzen ist.

Dann erklingt wieder die Glocke, aber nur kurz, und sie schaut irritiert auf die Uhr. Jetzt schon? „Aber warum 'schon'? Wohl eher: 'immer noch nicht'?“ Sie zuckt mit den Schultern und beschließt, den Rest des Eises auf die gewöhliche Art zu essen. Dabei sieht sie sich den Mann von vorhin genauer an: Seine grasgrünen Augen schauen unter fein gesäumten Brauen neugierig vor sich hin, während seine dicht gewachsenen schwarzen Haare einen markanten Rahmen für seine leuchtenden Augen bieten. Als sie sieht, dass er sieht, wie sie ihn besieht, wendet sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem nunmehr kläglichen Eishöcker zu.

Zwei Löffel kann sie noch erhaschen. Der Rest ist aufgelöst. Sie schiebt ihn von sich. Die Sonne steht nun so, dass sie sich im metallenen Tablett spiegelt. Sie schaut weg, nach rechts, will noch einmal einen Blick auf den Mann von vorhin werfen. Doch er ist fort.

Sie seufzt ächzend und kramt gerade nach ihrer Uhr, als plötzlich einmal lang die Glocke läutet.

Den Blick auf der Eissuppe, massiert sie ihre Schläfen. Lohnt es, weiterhin zu warten? Ist es nicht schon längst zu spät? Ist es an der Zeit aufzubrechen?

Die Sonne kriecht an einer ihrer Schultern hoch. Sie setzt sich um, an einen anderen Tisch, der tiefer unter dem Schirm steht, und bestellt einen großen Kaffee ohne alles.

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Tag der Veröffentlichung: 23.06.2017

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