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... und dann war es passiert

Wie eine riesige Welle baute er sich auf und umspülte sie hart, während sie wie angewurzelt in ihrem Loch festhakte und ertrinkend hinterhersah – Unialltag. Dynamik war wohl das, was ihr fehlte. Spritzigkeit. Jugend? Anders als die meisten Studenten war sie einige Jahre älter und körperlich bescheiden aufgestellt. Allein die elendig lange Anfahrt brachte sie an ihre Grenzen. Nie entspannt, immer in Eile, weil die Züge nur in weiten Taktspannen eingesetzt wurden und die wenigen Busse merkwürdigerweise stets überfüllt waren. Alt, fett und mit inneren Dauerkonflikten besetzt, konnte sie weder Sprünge noch Sprints bewältigen. Wenn sie sich umsah, merkte sie allerdings recht schnell, dass das nicht alleinige Erklärung für ihre Unbeweglichkeit war. Meist schaute sie aber nicht so genau hin.

Ihr liebster Ort auf dem Campus war die Cafeteria, wo sie bei einem Baguette über ihrem Studienmaterial hängend aus den Panoramafenster blicken konnte. Das dunkle Grün der üppigen Waldumgebung entspannte sie, während die hellen Wiesenflächen, auf denen sonnenliebende Studenten Frischluft schnupperten, Wehmut entflammten.

 

An einem wolkenfreien Tag im August spürte sie nach ihrem Cafeteriabesuch wie immer ein dringendes Bedürfnis und verschwand im Waschraum. Hier war kein Betrieb. Das fiel ihr auf, weil sie oft lange warten musste, bis eine Toilettenkabine frei wurde. Sie verrichtete die Dinge gewohnt langsam. Nachdem sie den Waschraum wieder verlassen hatte, bemerkte sie, dass etwas anders war als vorher: Der Gang war menschenleer.

Sie überlegte, ob es sich um einen Zufall handelte und alle Studenten bereits in ihren Vorlesungsräumen verschwunden waren. Ein Blick auf die Uhr zeigte jedoch: Das akademische Viertel lief noch. Sie trat ans Fenster und blickte hinaus auf die Grünflächen – keiner zu sehen.

Sie beschloss, den Seminarraum des anstehenden Kurses aufzusuchen. Vielleicht war alles nur ein Zufall, möglicherweise waren alle Studenten zu irgendeiner Versammlung abgewandert; von studentischen Angelegenheiten hatte sie keine Ahnung, da sie sich seit ihrer Einschreibung hier für nichts anderes als ihren Studienplan interessiert hatte.

Sie hastete zum Kursraum. Für gewöhnlich verirrten sich irgendwelche Kommilitonen während der kleinen Pausen immer hierher. Die Tür war offen, das Zimmer leer. Ihr Herz begann zu rasen. Sie blickte auf die Uhr und wurde noch unruhiger: Der Kurs fing genau jetzt an. Eigentlich.

Ihre Augen schweiften umher. Niemand kam. Minuten vergingen. Die Zeiger in ihrem Kopf tickerten vor sich hin, ihr Herzschlag überschallte alles mit einem lauten „Wumm-wumm-wumm!“ Weil sie ihren Pressluftpuls nicht länger ertragen konnte, verließ sie den nach Kalk, Chlor und Nichts stinkenden Raum.

Auf dem Gang war noch immer keiner zu sehen, weder Schüler noch Dozent, auch sonst niemand. Selbst die Luft stand still. Sie rannte hindurch. Das erste Mal in ihrem Leben fühlte sie sich dynamisch.

Wie ein Pfeil schoss sie die irre steilen Treppen des Gebäudekomplexes hinunter, kam ins Stolpern und malte sich aus, dass sie im Notfall erbärmlich ausbluten oder verhungern müsste. Letztendlich fing sie sich aber noch und sprintete weiter. Durch die Tür, ins Freie. Frischluft! Frische Luft? Sie atmete tief ein, doch die stehende Schwüle nahm ihr die Freude am Sog. Sie wollte verweilen, durchatmen und so tun, als wäre nichts. Aber die Luft hier oben auf dem höchsten Gipfel der Stadt bekam ihr nicht.

Mit ihrer Aktentasche versuchte sie, sich Luft zuzufächern. Vergebens. Die schweren Bücher, die sie mitführte, ließen das Ganze zu einer Kraftübung ausarten, die ihr mehr Luft nahm als gab. Also machte sie sich auf, den Hügel in Richtung Bushaltestelle hinabzusteigen. Rennen konnte sie nicht. Ein falscher Tritt und sie wäre wie eine Walze den Berg hinuntergerollt, schneller, immer schneller, und hätte das Haltestellenhaus mit sich gerissen. Während sie Bilder von fallenden Kegeln vorm geistigen Auge hatte, trottete sie keuchend auf die überdachte Wartebank zu. Niemand hier. Ein Blick auf die Uhr – gleich mussten drei Busse einfahren. Eigentlich.

Alle paar Minuten sah sie auf ihre Funkuhr. Mittlerweile hatten die Busse geschlagene sieben Minuten Verspätung.

Nachdem sie eine Viertelstunde vor dem auf Haltestellenhaus auf und ab gewandert war, ging sie los. Der Weg würde lang werden; einmal hatte sie ihn mit ein paar Kommilitonen bewältigt und war fast an Luftnot krepiert.

Während sie lief, kam ihr die Idee, jemanden anzurufen. Sie grabbelte nach ihrem Handy und suchte in der Anrufliste die Nummer, unter der ihre Mutter auf der Arbeit zu erreichen war. Freizeichen. Der Ruf ging durch. Hoffnung flammte auf, verebbte jedoch, als das Rufzeichen nach zwei Minuten erstarb und sie automatisch aus der Leitung befördert wurde.

Sie steckte das Telefon wieder ein und ging weiter. Vielleicht war es Zufall, dass keiner ranging. Pause, kopieren, Publikum oder so. Was wusste sie schon von der Arbeit ihrer Mutter? Es war nicht das erste Mal, dass sie nicht sofort erreichbar war.

Doch während sie weitermarschierte, begann es in ihr zu sickern. Tropfen für Tropfen. Und nicht erst, als sie den kleinen Laden für Bürobedarf passierte und sah, dass dieser dicht war, hatte sich in ihr etwas gebildet. Sie blickte sich um: Kein Auto, kein Motorrad. Leere Fenster, niemand davor, niemand dahinter.

Es war nicht zu verstehen. Hätte sie versucht, es zu verstehen, wäre sie durchgedreht. Also lief sie einfach weiter, bewusst unbewusst. Sie stapfte, hart und schnell, immer schneller, bis zum Krampf. Musste stehenbleiben, atmen. Messer in den Bronchien. Blindes Umsehen im Nichts. Kein Auto, nichts bewegte sich, nicht hier, nicht auf der angrenzenden Autobahn.

Ein paar Minuten stand sie still, wie erstarrt so kurz vorm Fuße des Hügels. Dann rannte sie, weil sie glaubte, in ein schwarzes Loch gesaugt zu werden. Nach wenigen Metern ein Krampf. Schmerz. Wieder Stillstand. Für einen Moment. Danach Gehumple.

Als die Pein zur Gewohnheit wurde, sah sie sich um und merkte, dass sie sich über die große Brücke schleppte. Unter ihr die Schienen, auf denen ihre Bahn sie sonst nach Hause trug. Zärtlich lächelte sie das Metall an. Dann aber begriff sie und alles in ihr erschlaffte.

Aschfahl schleppte sie sich weiter, wollte zum Bahnhof. Nach wenigen Schritten hielt sie an und sah mit flackerndem Blick die Brücke hinab. Was wollte sie? Zum Bahnhof? Wozu? Sie schloss die Augen. Für einen Moment. Dann blickte sie wieder auf die Schienen und fing zu weinen an.

Eine Zeitlang stand sie schluchzend da. Dann zog sie das Handy aus ihrer Tasche und drückte die Wahlwiederholung. Während das Freizeichen erklang, stieg sie über das Brückengeländer und fixierte die Gleise. In der Ahnung, dass es nicht mehr lange dauerte, bis sie wieder aus der Leitung geworfen würde, presste sie das Telefon ans Ohr und schloss die Augen.

Sie war bereit.

Dann knackte es und eine vertraute Stimme schrie: „Wach doch endlich auf!“

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Tag der Veröffentlichung: 19.05.2017

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