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Brich für mich!

Während zäher Herbstwind den Bäumen der Felifoer-Allee den letzten Schliff verlieh, herrschte in der Mitte der Straße, direkt hinter der violettfarbenen Oktopus-Tanne, heimeliges Treiben im Jugendzentrum Milchstraß-Schein.

Das große Spielezimmer war an diesem Morgen besonders gut besucht. Das laute Jauchzen der Besucher vermischte sich mit dem Klackern von aufeinander schnellenden Kugeln und Bällen. In der angrenzenden Ruhestube räkelte sich Tipsi Schwipsi vor dunkelblau gestrichenen Wänden laut schnarchend auf einem ausrangierten Schlafsofa.

Plötzlich kam eine Drohne mit gewichtigem Anhang in den Raum geschwebt und positionierte sich direkt über Tipsis Gesicht. Die Drohne blinkte, wechselte den Modus. Als ein gewaltiger Schwall von Wasser auf Tipsis Kopf klatschte, schreckte die Schlafende wie vom Blitz getroffen hoch und schüttelte sich schwankend. 'Wasser? Hier? Woher? Loch in der Decke? Hääh?' Tipsi kratzte sich den nassen Kopf, sah die Drohne nicht, die wieder lautlos von dannen schwebte, und machte sich auf, einen neuen, trockeneren Platz zu suchen.

Sie wankte gerade feucht und lallend um die Ecke, als ihr Beaubone begegnete. Na ja, eigentlich rauschte sie direkt in den stattlichen Schnauzbartträger hinein, prallte an ihm ab wie an einer hochgestellten Sportmatte und klatschte auf den Allerwertesten. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis sich Tipsi gesammelt und wieder aufgerappelt hatte. Anschließend humpelte sie vor Beaubone, setzte eine leidige Miene auf und begann, sich den geschrammten Hintern zu reiben. Ihn schien das nicht zu jucken – er schubste Tipsi aus dem Weg, so dass sie gleich nochmal auf die geschundenen Backen knallte und knurrte:

„Heut schon wieder Sonder-Bar, du selten blödes Dromedar? - Jetzt fort aus meinen Sichten – ich werd dich sonst zernichten!“

Tipsi sah ihn mit großen Augen an, legte den Kopf schief, rubbelte abermals ihren Allerwertesten und robbte schließlich schwerfällig aus dem Weg, so dass Beaubone an ihr vorbeischreiten konnte. Eine Zeitlang blieb sie noch liegen und beweinte ihre Wunden. Dann rappelte sie sich auf, rettete sich ins nahe Wohnzimmer, das so früh am Morgen noch völlig leer war, warf die Tür hinter sich zu und lallte wilde Beleidigungen in den Raum hinein.

Sie pöbelte solange, bis sie plötzlich ein wilder Drehschwindel, gefolgt von einer brachialen Schwäche, überkam … ja, ihr war richtig kodderig … nicht einfach nur bräsig blümerant, sondern schlichtweg kotzschlecht! Aber Moment mal: Sie war doch lediglich auf ihren gut gepufferten Allerwertesten geplumpst – warum dann jetzt diese heftige Körperreaktion?

Keine zwei Sekunden später wusste sie es; da flog nämlich die Tür auf, und hinein rannte das genüsslich kichernde Hutzelmännlein, welches sie erst vor ein paar Stunden nach einem aus dem Ruder gelaufenen Saufgelage ins Bett geschleppt hatte, und wollte jauchzend wissen:

„Na, Tipsi! Merkst du's schon?“

Und ein grollgefüllter Grunzer entwich Tipsis Kehle, denn, oh ja, nun wusste sie wieder, warum ihr mit einem Mal so elendig zumute war. Dieser garstige Gnom hatte mit ihr gewettet – perfide gewettet! Sein Einsatz waren all die Kopfbedeckungen gewesen, die er seinen „Kunden“ über die Jahre abgekungelt hatte. Tipsi hatte die Käppchen allesamt so chic gefunden, dass sie gar nicht anders gekonnt hatte als einzuschlagen, ach und überhaupt: sie war sich sicher gewesen, dass sie gewinnen würde, denn diese eine Lächerlichkeit, die ihr die Wette für einen Tag abverlangen sollte, die würde sie ohne Murren bewerkstelligen, so hatte sie gedacht … im Eifer des Gefechts, nach vier Gläsern Sekt, drei Humpen Schaumbräu und einem kleinen Irgendwas hatte sie das tatsächlich angenommen … und hatte dann mal eben um ihr Wohlbefinden gewettet … ja, ihr eigenes Körper- und Seelenwohl … verdammt, dieser Wicht, er hatte ihr diese Wette im fiesen Schmeichelstil aufgequatscht!

Keine zwei Sekunden geschah es: Tipsi blies die Backen auf, immer wieder, ihr Magen pumpte, ihre Kehle machte mit – und dann erbrach sie einen dicken Brocken Kohle auf den Teppichboden. Sie stand da, erst keuchend, schließlich wieder würgend, und starrte den ersten Haufen auch da noch entgeistert an, als sie bereits den nächsten hervorbrachte. Der Gnom indes verharrte interessiert neben dem Produkt, inspizierte es erst still und brach dann in Gekicher aus.

DAS war zu viel! Mordlüstern schritt Tipsi auf das Hutzelmännlein zu und scheuerte ihm eine. Oder zumindest versuchte sie, ihm eine zu schmieren. So richtig derbe wollte sie seine rechte Wange verdreschen. Aber dummerweise feuerte ihre Pranke ins Leere, was sie dermaßen aus der Bahn warf, dass sie direkt nochmal würgte und sich wünschte, sie führe in einem Autobus – da hätte sie irgendwann aussteigen und den Gnom hinter sich lassen können …

Der Besagte bewies derweil keinerlei Erbarmen, sondern kramte ein Lexikon aus dem Nichts hervor, in welchem er sogleich zu blättern begann. Dabei sprach er:

„Hmm … hmm … diese Haufen … sind zwar steinhart, erinnern mich ansonsten aber an die Überreste jener Kreaturen, die ich jüngst in einem Streichelzoo sah …“

Wieder wollte Tipsi ausschlagen, jedoch hielt sie ein spontan einsetzender Krampf von dieser – sowieso sinnlosen – Anstrengung ab. Stattdessen kramte sie in Gedanken nach einer harschen Worthülse, mit der sie dieses unsägliche Geschöpf kräftig verletzen konnte. Doch ihr fiel rein gar nichts ein. Entgeistert starrte sie auf ihren eigenen Auswurf und machte darauf eine Hülsenfrucht aus – eine Erbse? Eine einzige? Wo kam die denn her? Hatte der Gnom ihr die gestern Nacht etwa ins Gebräu gemischt? Ach was, sie sah schon Gespenster …

Hoffentlich verschwand er bald und überließ sie einer stillen, halbwegs würdevollen Pein … Was hatten sie bloß genau ausgemacht, als sie nach über drei Stunden der Flüssigvöllerei zu diesem Unsinn übereingekommen waren? Einen Tag kräftig kotzen? Nur das? Oder war da noch irgendetwas anderes, etwas weitaus Perfideres, dabei gewesen? Tipsi erinnerte sich nicht genau. Sie wusste aber, dass sie fortan in Dauerschleife zu würgen hatte … genau alle zwei Minuten … oh je, sie sah sich schon jetzt mit ganz neuen Falten konfrontiert … und tiefen Linien rund um den Mund … Verdammt, der Wicht sollte endlich gehen!

Doch das Hutzelmännlein ging nicht. Es schien festgewachsen zu sein und starrte abwechselnd mit großen Augen auf die Haufen, die sie nun kontinuierlich ausspie, und anschließend in ihr verkrampftes Gesicht. Dann plötzlich fing er zu tänzeln an, ja er turnte in einem offensiven Ringelreih um sie herum, sah aus wie eine zu klein geratene Fruchtbarkeitsgöttin, lachte lauthals die Melodie eines bekannten Kinderliedes und fühlte sich anscheinend pudelwohl.

Tipsi wollte etwas tun, ihr wurde es zu bunt … und kunterbunt waren mittlerweile auch die ausgewürgten Produkte, die sie wie Heuballen übereinander gestapelt hatte. Innerlich fühlte sie sich mittlerweile wie ausrangiert – als wären irgendwelche Wikinger durch die Wohnung getobt, hätten sie verschleppt und auf einem ihrer Boote festgekettet, auf ewig schwankend. Alles drehte sich!

Der Gnom ging ihr immer mehr auf die Nerven – er fühlte sich offenbar wie in einem Hotel, hatte es sich bereits in einem Sessel gemütlich gemacht, in jenem, der allen Besuchern stets besonders kleinlich kariert ins Auge stach. Tipsi sah es mit Argwohn, konnte diesen aber nicht kundtun, da gerade eine neue Woge unterwegs war. Doch in Gedanken zurrte sie den Wicht gerade an einem Maschendrahtzaun fest und …

Dann flog plötzlich die Wohnzimmertür auf und der Königspudel der Familie trottete erhabenen Hauptes hinein. Tipsy nahm es reihernd zur Kenntnis, während das Hutzelmännlein heftig zusammenzuckte, zum Wandschrank rannte und sich mit einer Portion Silberbesteck bewaffnete. Diese fragwürdige Aktion war Tipsy dann doch zu viel. Ein Kommentar musste her:

Ganz ehrlich, Hutz – mit diesen lächerlichen Häpen kommst du nicht gegen Wuff-a-Wauz an! Damit kannst du ihn höchstens frisieren! Probie-“ Doch zu mehr stichhaltigen Worten kam sie gar nicht, denn die nächste Welle der Entleerung lenkte sie abrupt ab.

Der schwarz gelockte Königspudel schnupperte derweil am schlotternden Wicht, der sich mit einer Kuchengabel bewaffnet hatte und diese nun wie eine grandiose Entdeckung gen Himmel streckte … innerlich stand das Männlein dabei in regem Disput mit sich selbst – unverzeihlich, dass er seinen Schreck-Weg-Stab daheim gelassen hatte! Wobei, wenn er sich das adrett toupierte Tier näher besah … so richtig mörderisch sah es nicht aus … auch jetzt nicht, da es sein Maul auftat und zu etwas ansetzte … ja, wozu eigentlich? Das Hutzelmännlein sah sich schon furchtbar feucht abgeleckt, wenn nicht gar ein wenig angeknabbert … doch stattdessen meinte der Königspudel plötzlich mit bierernster Stimme:

„Heyyo, ich bin Wuff-a! Bin pro-passionate YouTuber und suche immer nach fresh Followern. Wenn du meiner Dackelbraut und mir bei einem tough Tango mit crazy Chill-Out watchen willst, dann check diesen Link hier out!“ Mit einem Augenzwinkern überreichte er dem Wicht eine Visitenkarte in Pfotenform, auf der kaum mehr als eine wirre Zeichenfolge abgedruckt war. Das Hutzelmännlein drehte das Kärtchen um und las vor, was dort in roter Schrift geschrieben stand:

B&B mit dir war wieder 'ne Wucht, King – von hinten wie von vorne, und seitlich sowieso! Freu mich auf nächste Woche! Deine Dogge Styler“

Breit lächelnd nahm Wuff-a-Wauz dem Hutzelmännlein diese Karte wieder ab und kramte nach einer anderen. Anschließend klemmte er dem Wicht ein unbeschriebenes Blatt direkt in den Ausschnitt, beflötete den Kohlehaufen und trottete von dannen.

Der Wicht sah dem Pudel noch lange nach. Er vergaß darüber sogar Tipsi, die währenddessen vier neue Portionen auf den Haufen geschichtet und nun wirklich keine Lust mehr auf die Fortführung dieses Spektakels hatte. Unwirsch schüttelte sie am Gnom herum. Das Gerüttel, allerdings, tat ihr gar nicht gut, was dazu führte, dass der Platz in diesem eigentlich so geräumigen Zimmer langsam knapp wurde. Als Tipsi ausgekrampft hatte, wandte sie sich dem immer noch sehnsüchtig dreinschauenden Wicht mit tragischer Miene zu und kreischte:

„Hutz, gib mir was! Wenigstens ein Placebo!“

Dies riss das Hutzelmännlein endlich aus seiner statuengleichen Pose. Er sah Tipsi schief - wenn nicht gar schräg - an, als er sprach:

„Was willst du denn mit einem Placebo? Hast du deinen Verstand in Galle ausgeschüttet?“

Die Vorstellung nahm Tipsi so sehr mit, dass sie direkt den nächsten Auswurf produzierte. Diesmal würgte sie das verkohlte Häufchen dem Gnom direkt auf die Füße. Danach schüttelte sie zaghaft den Kopf und meinte:

„Nein. Aber ich bin überzeugt, dass der durch ein Placebo ausgelöste Schmetterlingseffekt Großes bewirken kann! Danach kann ich lachen, zwitschern, tanzen, schweben, schwimmen – fliegen, Hutz, fliiiiegen! Denn der Glaube allein verleiht Flüüügel!“

Die so grausam überdehnten Silben schienen den Wicht bis ins Mark zu treffen. Betreten - ja, geradezu beklommen - sah er das leidende Geschöpf an und nickte schließlich, um kurz darauf mit mildem Blick zu verkünden:

„So denn: Hiermit befreie ich dich hochoffiziell vom „klein-feinen Leidenszauber Nummer Zweieinviertel“, der neben dem eintägigen Übergeben in Zweiminutenspanne auch eine vierwöchige Anti-Fäkalwort-Sperre beinhaltet hätte!“ Er vollführte eine ominöse Handbewegung, bei der wie aus dem Nichts ein „Plopp!“ ertönte. Dann flüsterte das Hutzelmännlein mit fast bedauernder Stimme: „Anscheinend gehörst du zu der Spezies, bei der das Hirn ankerlos im Magen sitzt …“

Mit hängenden Schultern schlich der Gnom zur Türe, blickte sich im Rahmen stehend nochmal zu Tipsi um, die schwer atmend neben ihren aufgereihten Auswürfen stand - oder vielmehr: wankte! - und ihn mittlerweile gar nicht mehr wahrzunehmen schien. Er schüttelte den Kopf, murmelte, „Und das, weil du wieder mal dein Maul nicht halten konntest ...“, und löst sich dann in Luft auf.

Als Tipsi spürte, dass er weg war, atmete sie erleichtert auf, kickte den Großteil der Haufen in den Kamin und kehrte den Rest unter den flauschigen Teppich. Anschließend sprang sie auf die Fensterbank, schaute durch die Fensterscheibe gebannt dabei zu, wie Beaubone auf der Wiese fangen spielte und döste dann schnurrend ein.

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Tag der Veröffentlichung: 23.02.2017

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