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Stieg und der Egoist

In den letzten Jahren war sie ihm abhanden gekommen. Er konnte nicht greifen, was genau es ausgelöst hatte. Vielleicht war es zu viel von nichts gewesen. Und das was weg war, nannte man wohl Begeisterung. Für Menschen. Aufgaben. Das Leben. Die Geister waren aus ihm rausgefahren, als es in ihm zu leise geworden war.

Man existierte auch ohne. Aber nie so vollständig, wie es hätte sein können, wenn er das Loch zu stopfen gewusst hätte. Jetzt, ohne Esprit, war es ihm nicht mehr möglich, sich vollends zu spüren. Was er wollte, wusste er nicht, denn er glaubte gar nichts zu wollen. Nur sterben wollte er nicht, also dümpelte er angestrengt durch die Tage.

Aber „Begeisterung“ - traf es das? Musste nicht ein anderes Wort her, um es zu greifen? Sein Kopf ratterte, wie so oft in den vergangenen Monaten. Immer wieder kreisten die Gedanken unaufhörlich in derselben Spur. Manchmal kam er sich vor wie auf der Umlaufbahn eines fernen Planeten, gefangen in einer fremdgesteuerten Sog-Spirale. Nicht mehr rückholbar.

 

Schon wenn er mittags aufstand, war er ohne Gefühl. Nur die Kopfschmerzen, die dann pünktlich einsetzten, spürte er, zu gut mitunter. Ja, er existierte noch.

Er wuchtete sich aus dem Bett, und es knackte und krachte, keineswegs aber im Möbel. Dann schlurfte er zur Toilette. Pinkeln musste sein, leider, neuerdings immer öfter. Das Alter zollte seinen Tribut. Überhaupt war in diesem Bereich– aber ach, er hatte keine Lust, über triste Themen zu sinnieren und urinierte aus dem Stand in die verdreckte Toilettenschüssel. Es spritzte kaum noch. Dann verfrachtete er das bräunliche Gemisch krachrauschend Richtung Kanalisation, schrubbte seine Hände am rauen Frottee weich und schritt - nun schon erheblich beschwingter - zum Kühlschrank, um darin zu forschen. Doch der kalte Kasten war leer.

 

Frischelos angezogen trat er in den matten Dauerfrost des späten Nachmittages und schaffte es nur mühsam, in eine Richtung zu gehen. Gegenwind schnitt ihm scharf und unablässig in die Nase, so dass er das Gefühl hatte, sie gleich auf der weißlichen Straße liegen zu sehen. Weißlich? Oh nein, es war doch hoffentlich nicht glatt? Noch konnte er zurück. Doch er war zu faul es zu überprüfen und ging einfach los.

 

Der Laden war leer. So gut wie. Nur wenige ältliche Frauen schlurften durch die Gänge. Er suchte nach seiner Liste und erschrak, als er sich bewusst wurde, dass er gar keine gemacht hatte. Wie sollte er nun an alles denken?

Frustriert schritt er los und musterte die Regale. Gemüse? Nein. Mochte er nicht. Da musste man soviel auf einzelnen Fasern herumkauen. Und das konnte er seit Jahren nicht mehr. Höchstens eine Banane … aber nein, übersüß, manchmal fast muffig. Alles was übermäßig viel Geschmack hatte, mochte er nicht. Und so schritt er mit hoher Nase an der Käseabteilung vorbei und strandete beim Fleisch.

Dort stand das schöne Fräulein Montserrat V. hinter der Theke und sah ihn mit großen Augen an. „Na, Herr M., was möchten Sie denn?“, wollte sie lieblächelnd wissen. Er wusste einiges, was er von ihr gewollt hätte, beschränkte sich aber aufs Wesentliche: „Fleisch, Verehrteste. Wie immer nur das beste, frischeste und magerste Fleisch. Was können Sie mir denn anbieten?“ Sie kannte ihn und grinste fleckversiegelt, während sie in Richtung Kalbsfondue wogte und darauf zeigte: „Das hier zum Beispiel. Können Sie ratzfatz ein leckeres Gulasch draus kochen!“ Er wusste einiges, was ratzfatz ging. Deshalb dauerte es einen Moment, bis er antworten konnte: „Hm … ja gut, dann geben Sie mir mal eine Handvoll. Oder zwei … Ist dann alles.“ Sie schaufelte ihm das gewünschte Fleisch in einen Beutel und beugte sich dabei so vorteilhaft nach vorn, dass er auf ihr gesättigtes Dekolletee schauen konnte. Mehr brauchte er eigentlich nicht.

 

Die Kasse war leer – das hatte er schon aus der Ferne gesehen. Wäre er etwas jünger gewesen, hätte er einen Sprint hingelegt. So musste strammes Schreiten genügen. Aber es war ja nicht mehr weit … da dürfte sich eigentlich keiner mehr zwischenmo–

 

Auf einmal stubbste ihn ein Junge von der Seite an und weinte ihm aufdringlich ins Gesicht. Er traute seinen Augen kaum, blickte schnell weg und dann zögerlich wieder hin, doch der Knabe war immer noch da – was zum Henker machte der heulende Zehnjährige hier?

Das Kind weinte und weinte, lauter und lauter. Richtig schrill. Herr M. glaubte, einen Schall zu vernehmen und drehte sich hilfesuchend im Kreis – doch da war niemand. Nicht einmal die Kassiererin saß an ihrem Platz. Was sollte er bloß tun? Kinder. Waren nicht sein Spezialgebiet … Und wie zum Teufel sollte er nun das Fleisch bezahlen?

 

Er versuchte, den Jungen zu beruhigen, klopfte ihm auf den Kopf. In Panik riss das Kind erst die Augen und dann den Mund auf, heraus kam ein spitzer Schrei. Herrn M. fuhr es kalt den Rücken hinunter. Wenn er nicht bald eine Strategie entwickelte, mit der er das Schreien des Jungen abstellen konnte, würde die Sache ausarten …

 

Herr M. überlegte kurz und hastete zur Süßwarenauslage an der Kasse. Er kam mit einem Schokoriegel zurück und wedelte dem Kind damit vorm Gesicht herum. „Magst du das? Den kriegst du, wenn du zu weinen aufhörst!“ Tatsächlich: Stille. Herr M. staunte. Der Junge hatte was von ihm selbst.

 

Auf dem Heimweg fing das Geheule aber doch wieder an. Ja … Herr M. hatte beschlossen, den Jungen erst einmal mit nach Hause zu nehmen und war mitsamt des Kindes, des Fleisches und des Riegels durch den leeren Kassenbereich getürmt. Nicht weil er den Jungen behalten wollte. Ihm war in dieser Situation aber einfach nichts Besseres eingefallen, denn über neumodisches Zeug wie Handys oder Smartphones verfügte er nicht. Außerdem gab es in der Gemeinde keine Polizeiwache. Ihm konnte wohl niemand zumuten, am dunklen Abend kilometerweit mit dem Bus zu fahren, ohne vorher etwas gegessen zu haben. Und dem Jungen auch nicht. Herr M. hatte zwar nach wie vor keine Ahnung von Kindern, war sich aber sicher, dass das Quengeln des Jungen Gründe haben musste … bestimmt war er hungrig. Und vielleicht war er auch müde. Spätestens nach dem Essen. Hoffentlich.

 

Gut gebettet lag der Junge, der sich Herrn M. zwischendurch als Stieg vorgestellt und nach dem Genuss des kurzgebratenen Gulaschs das Heulen eingestellt hatte, auf der eisgrauen Polyester-Couch und schnarchte verschnupft vor sich hin. Erst jetzt fiel Herrn M. auf, dass das Kind reichlich ungepflegt aussah – seine Kleidung musste dringend gewaschen werden. Allerdings überlegte Herr M., sie direkt in den Müll zu werfen und dem Jungen morgen schnell etwas Neues zu kaufen. Aber morgen? Ging das denn? Konnte Herr M. den Aufenthalt Stiegs so ausdehnen? Ohne Meldung? Was war eigentlich mit seinen Eltern? Was waren das für seltsame Erziehungsberechtigte, die ihr Kind SO umherziehen ließen? Hatte Stieg überhaupt noch Eltern?

Herr M. geriet ins Grübeln und fühlte, wie ein bombastischer Kopfschmerz in seine Stirn kroch. Es war der gleiche Druck wie nach dem Aufstehen. Nur schlimmer. Herr M. kam es jedes Mal so vor, als würden sich die Beschwerden noch verschlimmern. Eigentlich musste er zum Arzt. Da Herr M. alles andere als ein Freund von Medizinern war, hatte er den Gang dorthin bisher aufgeschoben und den Schmerz mit Auflagen, Minztropfen, anderen Hausmitteln und konventionellen Tabletten zurückzudrängen versucht. Doch es half alles nichts.

Den Jungen im Blick behaltend, legte sich Herr M. auf die freie Couch schräg gegenüber und hielt sich den Kopf. Das war alles nichts Wahres, dachte er sich, als seine Sicht verschwamm.

 

„Hey Onkel, aufwachen! Hunger!“ Ein kraftvolles Rütteln an seinem Arm schreckte Herrn M. auf. Was? Wo? Mitten im Wohnzimmer – auf seiner Couch – draußen war es stockfinster. Mist! Er war eingeschlafen. Herr M. rieb sich die Stirn. Die Kopfschmerzen waren immer noch da. Hatte sich ja gelohnt, die Zeit zu verquasen …

Dann ein innerer Paukenschlag: Die lange Bahn war noch länger geworden! Er stakste zum Lichtschalter und sah, dass es bereits 0:05 Uhr war. Rein theoretisch konnte er jetzt noch bei der Polizei anrufen. Doch was sollte er sagen, warum er erst jetzt mit so etwas ankam. Nicht dass sie ihn für einen Entführer hielten, einen der ganz bekloppten Sorte, einen der seine Pläne in letzter Sekunde doch noch verworfen hatte …

 

Das Grübeln verging M. schlagartig, als Stieg wieder an ihm herumzerrte: „Huuunger!“ Das sagte er so vehement, dass der alte Mann über das ausgeschmachtete Kerlchen schmunzeln musste – was wehtat, denn M.s Miene bewegte sich eigentlich nie.

Und so machte sich der alte Mann auf, dem Jungen ein ordentliches Butterbrot zu schmieren. Alles andere würde er später regeln. Irgendwie.

 

Vier Monate später war Stieg immer noch da.

 

Die Routine der Beiden war so straff, dass nicht viel mehr in einen Tag hineinpasste als das, was getan werden musste.

 

Es war feste Gewohnheit, dass die Beiden - M. schlief auf der Couch, während Stieg im Bett übernachtete - gegen 11 Uhr morgens aufstanden. Stieg bekam dann einen Kakao, M. versuchte, seinen Kopfschmerz mit der üblichen Dosis Stark-Kaffee zu betäuben. Am zweiten Tag hatte M. zudem damit begonnen, dem Jungen Wissen zu vermitteln. Dazu wählte er täglich einige wichtige Bücher aus seiner Bibliothek aus und markierte lesenswerte Textstellen mit jenen Neon-Klebefahnen, die er früher so geliebt hatte.

Natürlich hätte er es gerne gesehen, wenn Stieg sich alle Bücher ganz einverleibt hätte. Doch Stieg konnte nicht lesen. Zumindest machte er keine Anstalten es zu tun. Und Herr M. war kein geduldiger Mensch. Da war es schon einfacher, ihm zumindest die wichtigsten Passagen aus den Büchern vorzulesen. Stieg schien es zu gefallen. Ohne Nörgeln und mit der zweiten Kakaotasse in der Hand saß er da und lauschte mit allessagendem Gesicht.

 

M. wusste nie so genau, ob Stieg wirklich die tiefere Ebene von dem verstand, was er ihm vortrug. Denn wenn M. nach den Lesestunden versuchte, den Stoff abzufragen, wandte sich Stieg stets von ihm ab und verlangte nach neuem Essen. Oder nach einer Spielstunde. Die war nämlich die zweite große Aufgabe eines jeden Tages. Hierfür hatte M. eine Autorennbahn, zwei Gesellschaftsspiele und vier Bauklötzchen-Technik-Sets vom Dachboden geholt. Er hatte in seiner Kindheit mit kaum etwas anderem gespielt.

 

Mittlerweile hatte M. beschlossen, Stieg nicht mehr herzugeben. Wem denn auch? M. hatte Stieg immer wieder auf seine Familie angesprochen. Dabei war dem Jungen nicht viel entwichen, aber M. war schnell klargeworden: Stieg musste es hier gefallen.

 

Und so verging Jahr um Jahr. Die Blätter wechselten, Schneestürme tobten, Knospen sprossen und die Hitze sengte, damit das Gleiche wieder und wieder von vorne begann. Und nie kam jemand, der nach Stieg fragte.

 

Mit M. gingen die Jahre milde um. Fast schien der Aufenthalt von Stieg ihn jünger zu machen. Aus dem Jungen wurde ein Mann, der irgendwann an die Grenzen seines Wachstums stieß. Und noch immer las M. ihm jeden Tag seine liebsten Buchpassagen vor.

 

Es hätte alles so schön sein können, wenn Stieg nicht plötzlich damit angefangen hätte, ungewöhnliche Fragen zu stellen ... übers Essen, zum Tagesablauf, ja sogar M.s geliebte Bücher mussten Stiegs kritische Fragerei über sich ergehen lassen. M. versuchte, das Gebohre wegzuprotestieren und drohte schon längst mit Kakao-Entzug, doch Stieg pfiff auf den süßen Trunk, bohrte weiter und schürfte irgendwann so tief, dass M. begriff, wo seine ewigen Kopfschmerzen schon immer hergerührt hatten.

 

An einem eiskalten Sonntagabend passierte es dann. Stieg war gerade in der Küche und erledigte den Abwasch. Die Geräuschkulisse von klirrendem Geschirr genügte M., um sich aus seinem Sessel zu erheben, auf die Knie zu sinken und hinter den Bücherschrank zu kriechen. In der untersten Schublade einer verstaubten Kommode fand M. seine Armbanduhr. Als er sie anlegte, durchfuhr ihn eine längst vergessen geglaubte Hochstimmung.

Er trat in den Flur, zog sich einen dicken Mantel über, riss sich eine Kette vom Hals, schloss die Tür auf und ging.

Den Generalschlüssel ließ er auf dem Garderobentisch liegen.

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Tag der Veröffentlichung: 07.11.2016

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