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Herr Beckmann schafft's nicht raus

Herr Beckmann war Anfang 40 und ein Mensch, der Ruhe und Gemütlichkeit in den eigenen vier Wänden liebte. Deshalb war es ihm auch gar nicht recht, dass man ihn zu einem Ausflug auf den Schneehügel überredet hatte. Rote Rosen und eine Schachtel Pralinen waren ihm überreicht worden, denn er war Jubilar und hatte trotz seines geringes Alters schon mehr als zwei Dutzend Dienstjahre hinter sich gebracht.

Heute sollte es also soweit sein. Gegen elf Uhr würden zwei Arbeitskollegen vor der Tür stehen und ihn mitnehmen. Wahrscheinlich wären die dann gedaunt, gesteppt und mit Schonern aufgemoppt – Skifahren war schließlich ein gefährlicher Sport.

Ganz unvorbereitet würde sich auch Beckmann nicht in dieses Abenteuer stürzen. Auf mehreren TV-Sendern studierte er den Videotext, um zu sehen, ob es Unwetterwarnungen gab. Und auch einige Sendungen sah er sich an. Vielleicht konnte man den Ausflug ja verschieben, wenn es allzu verheerende Aussichten gab …

Aber weder im Morgentalk noch im Nachrichtenfernsehen wurde vor heiklem Wetter gewarnt, nicht einmal das Privatfernsehen konnte mit katastrophalen Aussichten aufwarten.

Beckmann war sauer, denn mit Hilfe dieser Wetteraussichten konnte er dem Ausflug keinesfalls entkommen. Also begann er nach irgendwelchen Ausreden zu suchen, die ihn vor der riskanten Tour bewahrten.

„Mein Baby ist krank. Das muss ich dringend versorgen und kann deshalb nicht mitkommen.“

An sich war das DIE Ausrede! Das Problem war nur, dass Beckmann weder eine Frau oder Freundin geschweige denn ein Baby hatte. Mühsam überlegte er weiter und kam auf:

„Staatsanwalt Rüder-Zahn ermittelt gegen mich! Das Strafgericht hat mich für heute Mittag vorgeladen!“

Staatsanwalt? Gericht? Aber nein, was sollten denn die Kollegen denken!? Mit dieser Lüge würde er nicht nur der Tour, sondern auch gleich seiner gesamten weiteren Berufslaufbahn eine Absage erteilen …

Mit einem Gesichtsausdruck, als ob er in eine Zitrone gebissen hätte, schaltete sich Beckmann weiter durchs TV-Programm und las ein paar Vorschautafeln. Einen Moment hielt er inne, dann dachte er mundkräuselnd: "Ach, fahr doch zur Hölle, Hollywood! Ich brauche jetzt handfeste Ideen, keine seichten Schnulzen oder unglaubwürdigen Actionreißer!" Vielleicht würde die allseits beliebte Wetterschau „Schnall die Badehose ans gefütterte Hinterfach!“ doch noch eine Kehrtwendung bringen … möglicherweise war plötzlich ja noch ein Orkan im Kommen, oder zumindest ein kräftiger Schneesturm. Es müsste ja nicht gleich das Schlimmste sein …

Dann hatte Beckmann die zündende Idee: Krankheit! Natürlich! Warum war er nicht sofort darauf gekommen? Menschen wurden manchmal nun einmal äußerst akut krank. Jeder hatte gute Zeiten, schlechte Zeiten waren aber auch zuhauf dabei. Und so wäre es doch eigentlich gar nicht merkwürdig, wenn sich Beckmann dummerweise gerade den bewährt-berüchtigten Norovirus eingefangen hätte – schließlich grassierte der momentan geradezu! Und wer steckte sich schon gern mit einem epidemischen Brechdurchfall an?

Jawohl! Die Entscheidung stand fest: Beckmann würde einen seiner beiden Kollegen anrufen und ihm mitteilen, dass er leider, leider, leider nicht mitfahren könnte. Es täte ihm auch sehr, sehr, sehr leid und es wäre geradezu unendlich schaaade um die verpassten Erlebnisse, aber es sei nun einmal nicht zu ändern. Punkt.

Fast enthusiastisch kramte er nach seinem Notizbuch, denn darin hatte er alles Wichtige notiert. In einem kleinen Anfall von Liebe - so schien es damals zumindest - hatte er sich vor einigen Jahren sogar die Telefonnummer einer Frau aufgeschrieben. Letzten Endes war es mit der aber doch nichts geworden. Sie hatte von Beckmann einfach zu viele Veränderungen gefordert, unter anderem hatte sie immer wieder das Zusammenziehen in eine gemeinsame Wohnung angeregt …

Beckmann schüttelte den Kopf, einerseits weil er die Erinnerung an sie wegbekommen wollte, andererseits weil er fassungslos war, denn es schien so, als hätte er sich keine einzige Nummer aus dem Kollegenkreis notiert.

Mist, aber so langsam drängte die Zeit! Als Beckmann auf die Uhr sah, zeigte diese tatsächlich schon 10:30 Uhr an. Wenn er innerhalb der nächsten fünf Minuten nicht zumindest die Nummer eines Kollegen herausfand, würde ihm sein Plan zu brisant werden. Denn schließlich bekäme niemand fünf Minuten vor einem Ausflug einen Brechdurchfall … Gut, er könnte verschlafen haben – etwa weil er gestern so lange über der Schüssel hing, oder so. Aber na ja, die Sache wurde immer unglaubwürdiger, je länger und intensiver er darüber nachdachte.

Allerdings war es nicht abzustreiten, dass Beckmann ein schwaches Immunsystem hatte und sich schnell etwas einfing. Schon die Kinderärzte von St. Heilbutt-Tauchending hatten das während seiner Schulzeit festgestellt. Damals fiel er stets mit etlichen Fehlstunden auf, und weil seine Eltern nicht wollten, dass er die mit ins Berufsleben nahm, hatten sie ihn von Grund auf in der Klinik durchchecken lassen. Zwar hatte man dort nichts Stichhaltiges gefunden, aber alleine die Predigten seiner Eltern waren ihm Antrieb genug gewesen, nicht mehr wegen jedes Magenkrampfes zu verzagen.

Gleich würde er aber höchstwahrscheinlich vor seinem eigenen Plan kapitulieren müssen, denn in seiner Nervosität fand er das Telefonbuch nicht. Zitternd kramte er alle Schubladen durch und rannte dann hektisch ins Schlafzimmer, wo er auf herumliegenden Boxershorts ausrutschte und auf dem Laminatboden aufschlug. Vor Schmerzen biss er die Zähne zusammen und zischte.

Dann klingelte das Telefon.

Es war Beckmanns Glück, dass er das Mobilteil stets neben dem Bett auf der Nachtkonsole deponierte. Nur deshalb schaffte er es, hinzurobben und das Gespräch anzunehmen. Ein Arbeitskollege tönte ihm ins Ohr:

"Hey Beckmann! Die schönen, schönen Bahnstrecken unserer Erde müssen heute tatsächlich ohne uns auskommen! Lehmann hat mich gerade angerufen. Er ist krank geworden. … Aber na ja, ganz unter uns: Ich hatte eh keine Lust aufs Skifahren. Dann lieber den großen Promi-Biathlon im Fernsehen gucken. Bin nämlich eher der gemütliche Typ, der lieber andern zuguckt als selbst rumzuackern." Dann lachte er grunzend auf.

Beckmann konnte als Antwort nur kurz "M-hm" schnaufen. Sein Gesprächspartner deutete dies als Auftakt zur Verabschiedung:

"Okay, dann bis morgen, Beckmann. Tschaui."

Schnelles Tuten.

Aufgelegt.

Beckmann ließ das Telefon aus der Hand gleiten und kapitulierte vor dem Schmerz.

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Tag der Veröffentlichung: 11.10.2016

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