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Prolog




Ich fühlte den Sand an meinen Füßen und den Wind, der die warmen Temperaturen angenehm machte.
Zwei Wochen war es nun her, dass ich mit meiner Schwester Ruby und Mom von Cork nach Sylt gezogen war. Es war neu. Ein neuer Anfang.
Ich sog noch ein letztes Mal die warme Luft ein und machte mich dann auf den Weg zu unserem kleinen blauen Haus. Als ich auf den Glastisch im Garten zu ging, saß Ruby auf einem Holzstuhl. Sie hatte ihren Zeichenblock in der Hand und wirkte hochkonzentriert. Ich schaute ihr über ihre Schulter und betrachtete das Bild, das sie gerade malte. Ein Wesen, das doch keines war. Eine Jägerin, ohne Pfeil. Der Tod voller Leben.
„Das Bild ist wunderschön.“, sagte ich zu Ruby, doch ich war mit meinen Gedanken schon in einer fremden Welt.
„Ich schenke es dir.“, antwortete sie knapp, auch Ruby war so still geworden.
„Danke.“, flüsterte ich, obwohl es mich einen hohen Preis kostete.
Ich nahm das Bild mit zitternden Händen und ging hoch in mein Zimmer. Achtlos
warf ich es auf den Boden.
Ich sah zu Zimmerdecke. Seit wir hier waren, war ich nicht mehr in meinen Träumen versunken. Ich war nicht mehr nicht mehr durch den Himmel spaziert, hatte keine Abenteuer mehr in der Hölle erlebt. Es war nicht gut für mich. Mich erinnern. Es war schwer für mich Abschied zu nehmen und in mein Leben zurück zu kehren, dennoch war es... wichtig für mich.
Ich ging wieder runter in unseren Garten. Dort stand unser verrückter Flügel. Mom hatte das Klavier letzten Sommer zusammen mit Dad und meinem kleinen Bruder Luke gestrichen. Jetzt stand es da, in himmelblau, mit hellgrünen Punkten. Ich setzte mich auf den kleinen Holzhocker davor und spielte die leisen Töne eines Rondos. Doch es war ein vergessenes Stück. Nur eines von vielen. Ich spielte immer langsamer bis ich schließlich aufhörte.
Auf dem Tisch stand jetzt eine große Schüssel mit dem Eintopf. Ich ging hinüber und setzte mich auf den Hocker neben Ruby. Mom kam dazu und setzte sich ebenfalls.

„Morgen ist euer erster Tag in der neuen Schule.” Sagte Mom und lachte.
Sie war die Einzige von uns, die übrig geblieben waren, die es nicht war haben wollte. Sie wäre gern in Irland geblieben, doch dafür liebte sie uns zu sehr. Manchmal fragte ich mich, wie sie es schaffte so zu sein. So fröhlich. So...zart. Und doch unverletzbar. Wie ein Kind. Sie war Kind.
„Fährst du uns Mom?“, fragt Ruby mit Hundeblick.
„Klar!“ Ruby konnte einfach jeden überzeugen. Eine ihrer unzähligen Stärken.
Ich schob mir einen letzten Löffel Eintopf in den Mund, dann stand ich auf und brachte meinen Teller zum Geschirrspüler.
Anschließend ging ich wieder hoch in mein Zimmer und setzte mich an meinen Schreibtisch.
Ich betrachtete unser Familienfoto. Rechts Mom und ich mit dunkelbraunen Haaren, links Ruby und Dad mit roten Haaren und in der Mitte Luke mit seinem rabenschwarzen Haare.
Ich schaute lange darauf und prägte mir jede Einzelheit ein. Alle auf dem perfekten Foto vor der weißen Leinwand waren...eben perfekt. Luke war immer der Mädchenschwarm gewesen. Perfekter Körperbau, Haare, die nur er so hinkriegt. Seine dunklen Locken saßen perfekt. Jetzt lief er irgendwo in L.A. rum und spielte sich auf dem Saxophon um die Welt. Ruby, lange rote Haare zu einer komplizierten Flechtfigur gebunden. Traumfigur. Mom und Dad, Aphrodite und Zeus in jung. Und ich. Lange, braune Haare, mit einem einfachen geflochtenen Zopf. Sportliche Figur und ein charmantes Lächeln. Aber es war Maskerade. Ich hatte selten so ein Lächeln.
Irgendwann wandte ich den Blick ab. Ich ging ins Bad und stellte mich unter die Dusche.
Warmes Wasser rieselte mir den Rücken runter und ich hörte einfach auf zu denken. Stellte es ab.
Anschließend trocknete ich meine Haare mit einem langen Handtuch. Ich verzichtete darauf sie zu föhnen und zog mich um. Nachdem ich mir die Zähne geputzt und mich umgezogen hatte kuschelte ich mich in meine warme Decke und schlief ein.

Kapitel 1




Mein Wecker rüttelte mich aus dem Schlaf. Ich vergaß sofort wieder was ich geträumt hatte, aber ich erinnerte mich daran, dass es ein schöner Traum war und ich bedauerte es, aufgewacht zu sein.
Ein Sonnenstrahl fiel durch mein Fenster. In Irland war das anders, die Sonne war fast immer von den Wolken verdeckt. An das andere Wetter musste ich mich erst einmal gewöhnen, an alles hier musste ich mich erst mal gewöhnen. Ich stand auf und ging ins Bad. Meine Haare hatten sich in Locken verwandelt, also band ich sie wie immer mit einem schwarzen Faden zu einem geflochtenen Zopf. Ich zog mir ein weißes Hemd und Shorts an und ging die Treppe runter.
Das unnötig grelle Licht erhellte die Küche zusätzlich des Sonnenlichts. Ich sah hinaus und war für einen kurzen Augenblick wieder ganz woanders.
Ich musste mich beeilen und schnell mein Frühstück, was aus einem Stück Brot und einem Schluck Apfelsaft bestand, runter schlingen. Dann stieg ich zusammen mit Ruby ins Auto und Mom fuhr uns zu unserer neuen Schule. Während der Fahrt war es ganz still im Auto. Ich nutzte die Zeit und ordnete meine Gedanken. Vielleicht...vielleicht hätten wir doch in Irland bleiben sollen. Da wäre ich jetzt nicht in so einer peinlichen Situation. Ich wusste nicht warum ich das so...so seltsam fand. Es war einfach so. Doch ich rief mich wieder zur Vernunft. In Irland wäre es genauso schlimm gewesen. Ich hätte auch diese Angst gehabt. Dieses merkwürdige Gefühl, wenn alles vor deinen Augen verschwimmt und du dir wünschst du wärst jemand anderes, der das nicht durchstehen musste. Es wäre dieselbe Panik gewesen, nur mit einem anderen Hintergrund.
Die Schule beinhaltete zwei große Gebäude und einen Schulhof mit einem kleinen Teich und einer sogenannten „Grünen Insel“. Sie war einfach eine große Fläche Gras mit Wegen und Bänken. Ruby und ich gingen zur Sekretariat und holten uns die Stundenpläne.
Erste und zweite Stunde Spanisch stand bei mir auf dem Zettel.
Ich verabschiedete mich von Ruby und ging auf einen Raum zu, dessen Tür aussah, als hätte man mit einem Hammer auf sie eingedroschen: Der Griff stand in einem seltsamen Winkel zu der blaue gestrichenen Tür. Der Lack der Tür war zerkratzt und an einigen Stellen splitterte das Holz. Kein schöner Anblick. Ich musste einen Moment tief durchatmen, bevor ich hineinging.
Als ich rein kam zog ich sofort alle Blicke auf mich. Und schon kam es wieder, dieses schreckliche Gefühl des Schwindel und dieser Klos in meinem Hals. Ich suchte mir einen freien Platz neben einem Jungen, er hat sich abgegrenzt. Sein Federmäppchen stellte er wie eine unüberwindbare Barriere in die Mitte des Tisches. Dennoch, ich mochte ihn von der ersten Sekunde an. Er redete nämlich nicht. Weder mit mir, noch mit irgendjemand anderen. Das beruhigte mich, wenn auch nicht großartig. Es war einfach schön zu wissen, dass es jemanden gab, der sich nicht dafür interessierte, was in meiner Vergangenheit passiert ist, was mich in der Gegenwart berührt und was ich für die Zukunft plante.
Ein Mädchen mit karamellfarbenen Haar und schmalen Gesicht kam auf mich zu.
„Ich bin Emilia.“, stellte sie sich lächelnd vor.
Ich wandte den Blick ab. Viel zu freundlich. Ich wette sie war ein Plappermaul.
Konnte ich gar nicht gebrauchen.
„Mein Name ist Lexie“, erwiderte ich schüchtern. Sie war eindeutig viel zu optimistisch für mich. Wie kann man nur fünf Minuten Dauerlächeln. Musste das nicht wehtun. Doch bevor ich irgendeinen bösen Kommentar loslassen konnte, kam unser Spanischlehrer rein.
„So, wie ihr sicher schon bemerkt habt, haben wir ab heute eine neue Schülerin. Würdest du bitte nach vorne kommen und dich vorstellen.“
Ich stand auf und ging nach vorne. Kurz und knapp stellte ich mich vor. Und diesmal zog ich noch mehr Blicke auf mich, als in dem Moment als ich rein kam. Selbst mein neuer Sitznachbar starrte mich an. Es wäre so schön gewesen, wenn der Erdboden erbarmen gezeigt und ein Loch aufgetan hätte, in dem ich verschwinden konnte. Doch anscheinend war der Boden heute nicht so gut gelaunt. Er erwies mir die Freude nicht.
„Mein Name ist Lexie Callahan. Ich bin 17 Jahre alt und komme aus Irland. Irgendwelche Fragen?“, wandte ich mich an die glotzende Meute. Ein paar meldeten sich, aber ich ignorierte sie gepflegt und ging wieder zurück zu meinem Platz. Er saß immer noch da ohne sich zu bewegen, ohne zu sprechen. Die Spanischstunde lief verdammt langweilig ab und am Ende war ich um die Erfahrung reicher, dass unser Spanischlehrer eine tödliche Narkosespritze ist.

In der Mittagspause setzte ich mich alleine an einen Tisch. Mir war einfach nicht nach Gesellschaft. Ich blieb gerne allein. Wo mich keiner stören konnte. Wo ich mir nicht ständig Sorgen machte, jemand redete über mich. Leider hielt die Ruhe nicht lange an. Ruby kam zu mir rüber. „Hey, was sitzt du denn hier so alleine rum, noch keine Freunde gefunden?“ Sie hatte damit keine Probleme. Freunde zu finden. Ich brauchte dafür ewig, aber Ruby, Ruby war einfach so jemand von der Sorte, die man einfach lieben musste. Ich konnte mir denken, dass sie schon mit mindestens der halben Klasse befreundet war. Klar, dass sie das so locker sah.
„Das hier soll ein neuer Anfang sein. Wie wäre es mit etwas Optimismus Lexie.“ Haha. Witzig. Was haben wir gelacht.
Ich sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, doch um Ruby zufrieden zu stellen, setzte ich mich zu Emilia. Nach ungefähr drei Sekunden bereute ich das. Ich hatte recht behalten. Dieses Mädchen konnte einfach nicht aufhören zu reden. Ich hörte ihr nicht zu und ließ stattdessen meinen Blick durch den Raum streifen. Ich blieb an dem Jungen hängen, neben den ich mich heute früh gesetzt hatte. Er saß mit einem anderen Jungen zusammen an einem Tisch. Ich betrachtete ihn zum ersten Mal genauer. Er hatte schmale Schultern, eine aufrechte Körperhaltung. Angespannt. Seine braunen Haare waren leicht zerzaust, aber nicht so sehr, dass es blöd aussah. Er hatte ein Lächeln aufgesetzt, doch der Blick mit dem er den Jungen neben sich bedachte war...besorgt oder sauer? Der Andere war muskulöser. Größer. Er hatte leicht gelockte Haare. Dunkelblond. Er saß locker da. Fast schon ein wenig gelangweilt.
„Sag mal, Emilia, wer sind die beiden Jungs da?“, fragte ich und zeigte auf meinen Sitznachbarn. Vielleicht machte es sich jetzt bezahlt, dass ich mich zu ihr gesetzt hatte. Ich erfuhr bestimmt jede Menge Sachen über die Leute in dieser Schule.
„Tja, also...das ist eine wirklich gute Frage. Äh, eigentlich weiß keiner was über sie. Ich hab mal gehört, dass sie verwandt sind, aber so richtig weiß das niemand. Alles, was ich weiß ist, dass sie verdammt gut aussehen. Und ihre Namen. Mehr nicht...“
Ich schaute sie erwartungsvoll und gleichzeitig ein wenig verständnislos an, glaubte ich zumindest, aber ich konnte mich ja gerade schlecht im Spiegel angucken. Sie zuckte mit den Schultern und begann auszuplaudern, was sie anscheinend doch herausgefunden hatte. „Der Typ, der neben dir sitzt, das ist Alessandro. Er hat angeblich das stärkere Temperament. Eigentlich macht er aber nie was. Er redet kaum, aber er schreibt gute Noten, deshalb hat er auch immer ein gutes Zeugnis. Irgendwie mogelt er sich durch. Der andere ist Antonio, der Ältere.“ Als sie Antonio erwähnte hatte ihre Stimme einen bissigen Unterton angenommen. Anscheinend hatte sie schon ihre Erfahrungen gemacht, was mich kurz schmunzeln ließ.

Ich schaute die beiden an. Genau in diesem Moment schauten auch sie mich an. Ein Paar blaue Augen, das mich mit warmen Blick anschaute, eins, dass mich mit eiskaltem Blick anschaute. Mir lief es kalt den Rücken runter. genau in diesem Moment klingelte es und sie wanden den Blick ab. Ich schaute auf meinen Stundenplan. Eine Stunde Sport.

Kapitel 2




In der Umkleidekabine war es warm und stickig. Ich hatte keine Sportsachen an, also ließ ich Shorts und Hemd an und ging einfach rein. Die Sporthalle war groß, an den Wänden hingen Basketballkörbe, an zwei Seiten waren Tore angebracht. Auf dem Boden verliefen bunte Linie, manche rund oder im Kreis, andere geradlinig. Ein junger Mann warf gerade Körbe. Unser Sportlehrer. Er sah jung aus, seine Locken waren verwuschelt und machten sein Gesicht schmal. Er war groß, um nicht zu sagen riesig. Und mir fiel noch etwas auf. Er lachte. Schallend, wie ein kleines Kind.
Ich überstand die Sportstunde irgendwie, obwohl ich nicht gerade ein Fan von Laufen war. Der Sportlehrer hat mich gezwungen mit zu laufen. Zwei Kilometer. Eigentlich eine schöne Strecke, wenn man nicht so eine Null in Ausdauer war, wie ich. Schon nach knapp fünfhundert Metern war ich komplett fertig und konnte mich kaum aufrecht halten. Okay, das war jetzt vielleicht ein bisschen übertrieben.
Nach dem Klingeln verschwand ich so schnell wie möglich. Es war schon peinlich genug den ganzen Tag angestarrt zu werden. Als wäre ich irgendein seltsames Ausstellungsstück, das alle nur sehen wollten, weil es so hässlich war.

Ich sah Rubys feuerrotes Auto schon als ich aus der Sporthalle trat und musste sofort
lachen. Sie hatte diese Eigenschaft immer alle Blicke auf sich ziehen zu wollen. Und
das bekam sie hin wie keine andere. Kein Wunder, sie war hübsch und vor allem
tough. Und, eins musste man ihr wirklich lassen, sie hatte Stil.
Ich ging auf das Cabrio zu und sah sie mit hochgezogener Augenbraue an.
Ruby entriegelte die Tür und ich setzte mich auf den ledernen Sitz. Sie setzte mir
ihre Sonnenbrille auf die Nase und drehte den Schlüssel im Zündschloss.

Ich ließ mich in den Strandkorb fallen und Ruby tat dasselbe. Aber nach ein paar Sekunden wurde mir langweilig und so öffnete ich das Tor zu unserm Garten und ging den schmalen Weg entlang, der zum Strand führte. Der weiße Sand passte sich an meine Füße an und schloss sie bei jedem Schritt ein. Es war warm und der Geruch von Salzwasser lag in der Luft. Es war wie damals.

<cite>Die leichte Brise wand sich in ihren langen Haaren, die Sonne ließ ihr Gesicht erstrahlen, der Sand gab unter ihren schmalen Füßen leicht nach und schon ein paar mal musste er sie halten, damit sie nicht stürzte. Sie war ein wenig unvorsichtig, doch das war nicht schlimm, denn er fing sie ja auf, bevor ihr etwas passieren konnte.
Sie gingen am Wasser entlang. Die Wellen umspülten ihre Füße und sie zuckte jedes Mal leicht zusammen, wenn sie auf das kühle Nass traf. Sie lachte vergnügt, als sie ihn plötzlich von der Brandung wegzog und sich in den trockenen Sand warf.
Manchmal war es einfach zu vergessen, wer sie war. Wenn sie wieder ein kleines Mädchen war. Wenn sie lachte und in ihren grünen Augen dieses Leuchten auftauchte, dass er so liebte.
Sie blieb liegen und schaute auf die vorüber ziehenden Wolken.
Er betrachtete sie zweifelnd. Sie zog ihn förmlich an, er konnte sie nicht loslassen und immer, wenn er es versuchte, gab es irgendwas, was ihn wieder zurückholte. Und trotzdem versuchte er wieder und wieder sich ihr zu entziehen. Er hatte sich nicht im Griff, wann immer er mit ihr zusammen war. Und das durfte einfach nicht geschehen.
Dabei wollte er sie da gar nicht mit reinziehen und das wäre auch nie passiert, hätte sie nicht so einen bescheuerten kleinen Bruder. An allem war er Schuld.

Kapitel 3




Ein leises Lachen weckte mich aus meinen Gedanken. Ich drehte mich um und erblickte, am anderen Ende des Strandes, zwei Personen. Sie waren zu weit weg als, dass ich ihre Gesichter hätte erkennen können.
Ich drehte mich um und rannte so schnell ich konnte. Ich hatte wirklich keine Lust irgendjemandem zu begegnen. Jedoch ordnete ich das leise Knirschen des Sandes hinter mir als kein gutes Zeichen ein.
Ich rannte immer weiter, aber irgendwann überwältigte mich die Erschöpfung, ich wurde langsamer und schließlich warf ich mich in den Sand.
Kurz darauf zog mich jemand wieder auf die Beine. Und stieß mich brutal in Richtung Wasser.
Ich konnte endlich einen Blick auf die zwei Gestalten werfen und...erstarrte.
Mein Sitznachbar und sein großer Freund. Mein liebenswerter Sitznachbar, der mich soeben ins Meer geschubst hatte, starrte mich zornig an. In seinen Augen funkelte die Wut und ich zuckte augenblicklich zurück.
Antonio jedoch sah mich mit seinen blauen Augen durchdringend an, aber nicht wütend.
„Ich glaube es ist der passende Moment sich vorzustellen?“, brachte er hervor. Seine Stimme wirkte heiser.
Ich nickte vorsichtig. Wieder wagte er den ersten Schritt.
„ Antonio und mein Bruder Alessandro.“ Das schien Alessandro aus seiner Starre zu reißen. Er räusperte sich, sagte jedoch nichts. Sein Blick wurde in wenig nachgiebiger, dennoch war er, wie eine Mauer.
„Alexis...Lexi.“
„ Schön dich kennen zu lernen.“ Antonio wagte etwas, das wohl ein Lächeln sein sollte, während Alessandro immer noch dicht machte.
„Entschuldige dieses...unsanfte Zusammentreffen. Gäbe es eine Möglichkeit, das wieder gutzumachen?“

Ich zog die Stirn in Falten und dachte nach. Was hatte ich schon zu verlieren?
„ Wie wäre es...“,begann Antonio, „...wenn wir für dich und deine Familie kochen? Bitte, sag ja, wir könnten italienische Gerichte kochen?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Warum nicht.“
„Also gut, morgen um 20.00 Uhr, passt es da?“
Ich dachte kurz nach, dann nickte ich. Antonio sah erleichtert aus, im Gegensatz zu Alessandro, der mich immer noch mit Wut betrachtete.
Ich wich seinem Blick aus und zog die Stirn in Falten.
„ Ähm...ja, also ich...ich wohne, wenn ihr den Weg da...“, versuchte ich zu erklären, doch Alessandro fiel mir ins Wort.
„Ja, wir wissen wo du wohnst. Also dann, Antonio genug gegafft? Oder möchtest du sie noch weiter anstarren, wie eine Ratte auf Droge?“, seine Stimme war erstaunlich sanft.
Antonio boxte Alessandro schmerzhaft in die Seite, doch der reagierte darauf nicht und zog ihn stattdessen weg, ohne mich noch einmal anzusehen. Wie freundlich.

Ich machte mich auf den Weg nach Hause. Kein Wunder, dass niemand etwas mit ihnen zu tun haben wollte. Wenn Alessandro mit allen so umging. Obwohl Antonio...
Ich schüttelte den Kopf und ging wieder den schmalen Pfad entlang.
Irgendwann ging mir auf, dass das Ganze vielleicht ein furchtbarer Fehler war. Vielleicht? Auf jeden Fall. Ich wusste noch nicht einmal, was Ruby und Mom davon hielten.
Oh man, du bist echt ne Intelligenzbestie.
Ich musste das klarstellen, eigentlich jetzt sofort, aber da ich weder eine Telefon/Handynummer noch eine Anschrift noch Mut genug hatte, beschloss ich, das ganze auf morgen zu verschieben.

Ich hüpfte unter die Dusche und versuchte mich ein wenig zu entspannen. In meinem Kopf ging ich alle Einzelheiten durch. Was ich morgen sagen würde, wie ich mich ihnen gegenüber verhalten sollte, sogar wie ich gucken wollte. Ich ging alle Risiken durch.
Irgendwann wurde das Wasser unter der Dusche kälter. Kalt. Sehr kalt. Mit einem Aufschrei sprang ich aus der Dusche. Das war auf keinen Fall normal. So schnell ich konnte hüpfte ich in meine Jogginghose und zog ein T-Shirt an.

Schon auf dem Weg nach unten hörte ich es. Dieses vertraute Lachen. Ich verdrehte die Augen.
Er war ja schon immer ein solcher Spaßvogel gewesen. Auf der vorletzten Stufe stolperte ich und fiel...direkt in Jona's Arme. Seine nussbraunen Augen waren leicht aufgerissen, doch in seinen Mundwinkeln zuckte es. Ich befreite mich aus seinen Armen und stellte mich vor ihn. Natürlich mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Ich sah ihn einen Moment an, dann schloss ich ihn wieder in die Arme. Mein kleiner...großer Bruder war wieder da.

Ich setzte mich neben Jona auf das große Sofa und schaute in die Runde.
„Was...machst du hier?“, fragte ich schließlich. Es war nicht so, dass ich ihn nicht hier haben wollte, ich war einfach nur überrascht. Er ging auf ein Internat in England. London.
Aber jetzt war er hier.
Er holte Luft und plötzlich kamen die Worte ganz schnell.
„Ich komme zurück.“ Verwundert sah ich ihm in die Augen. Haselnussbraun.
„Was meinst du?“
„Na ja, ich meine, ich werde zu euch ziehen. Und hier zu Schule gehen.“
Sprachlos.
„Wieso?“
„Ich vermisse euch. Oder muss ich einen anderen Grund haben?“
Ich kniff die Augen zusammen. Natürlich. Natürlich gab es einen anderen Grund.
Ich dachte nach. Wieso sollte er... Verdammt.
„ Du bist von der Schule geflogen.“ Das war eine Feststellung. Keine Frage.
Jona zögerte. Doch dann nickte er.
„Was zum Teufel hast du getan?“, schrie ich ihn an. Und schaute mich um. Ruby und Mom waren verschwunden.
„Nichts Schlimmes. Ich hatte einen kleinen Streit. Wir haben uns geprügelt und...“
„Das darf doch wohl nicht wahr sein. Wie konntest du nur?“, meine Stimme war wieder leise geworden, aber dafür eine Spur ärgerlicher. Mom hatte ewig gebraucht um das Internat zu finden und dann ihre ganze Zeit aufgewendet, um Jona durch die Probezeit zu bringen.
Und er setzte alles einfach in den Sand.
„Mann, reagier doch nicht immer gleich so über. Der Typ hat mich provoziert und da habe ich ihm eben eins in die Fresse gehauen.“, er war eindeutig genervt, aber das war mir sowas von egal. Mein Bruder, mein Kleiner Bruder IST KEIN SCHLÄGER.

„Hast du dich bei ihm entschuldigt?“, mein Ton war weniger scharf geworden.
Er starrte mich erst verständnislos, dann schon fast ärgerlich an.
„Wieso zum Teufel noch mal hätte ich mich bei ihm entschuldigen sollen? Er sollte sich bei mir entschuldigen und nicht andersherum.“
Ich zog eine Augenbraue hoch.
„Deiner Meinung nach?“
„Ja, meiner Meinung nach.“ Jetzt war er derjenige, dessen Ton lauter wurde.
„Worum ging es überhaupt?“
Seine Augen weiteten sich kaum merklich und für eine Sekunde biss er die Zähne zusammen.
Wieso?
„Das...geht dich nichts an.“ Jona sah irgendwie gequält aus.
Plötzlich entspannte sich sein Gesicht und er schloss mich in die Arme.
„Ich hab dich vermisst.“ Das war süß. Mein kleiner Bruder hat mich vermisst.
Ich musste augenblicklich lächeln.

Impressum

Texte: Text:© Cor ferrum, 2012
Bildmaterialien: Bild:© Linda Müller, 2012
Lektorat: Dilaila, etc.
Tag der Veröffentlichung: 05.05.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Linda und Kimi und Kati

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