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Kapitel 1

Mittwoch. Sechs Uhr morgens. Aufstehen. Schule. Bah. Völlig übermüdet und unausgeschlafen lag ich im Bett. Jeden Morgen dasselbe. Die Monotonie leitete den Tag ein. Tiefe imaginäre Augenringe drückten mein Gesicht ein, das vom viel zu kurzen Schlaf total zerknautscht war. Ich sollte wirklich früher ins Bett gehen. Aber das sagte man sich doch immer nur, im Endeffekt, egal wie groß die Motivation anfangs sein mochte, scheiterte man an beidem: Am frühen Schlafengehen und am motivierten Aufstehen in der Frühe. Als Langschläfer hatte man eben schlechte Karten, wenn die Schule so weit entfernt war. Der einzige Lichtschein am Mittwoch und Freitag waren die Schulstunden an diesen Tagen, die mir aus dem gesamten Repertoire noch am ehesten zusagten.

Sozialwissenschaften, Deutsch und Kunst waren meine Lieblingsfächer. Erträglich waren ebenfalls Informatik, Geographie und Spanisch. Englisch vielleicht auch, je nach Thema. Aber eigentlich wurde, wie ich nun schon mehrfach festgestellt hatte, die Zuneigung oder Abneigung zu einigen Fächern extrem bis fast ausschließlich von dem Lehrer beeinflusst, der dieses Fach unterrichtete. Religion oder Sport zum Beispiel. Sechs Jahre lang stand ich bei jeweils zwei verschiedenen Lehrern durchweg eins. Dann übernahm besagte Kurse in der Oberstufe eine Frau, die zuvor schon meine zwei Geschwister unterrichtet hatte. Meine Schwester stand unter ihrer totalitären Klassenleitung und mein älterer Bruder musste sich auch in Sport mit ihr herumschlagen. Was soll ich sagen. Religion, das bis dahin immer eines meiner Lieblingsfächer gewesen war, weil man dort so schön diskutieren konnte: drei minus. Sport glatt drei. Selbstverständlich völlig ungerechtfertigt, aber diese Frau war nun mal ein Teufel. Nein, sie war der Teufel. Vollkommen übermotiviert, alt und grau, kaum Durchsetzungsvermögen, grottenschlechte Arbeitsmethoden und ignorant, wie ich sonst selten jemanden erlebt hatte. Die Alte gehörte in ein Fitnesscenter und sollte irgendwelche Zumba Kurse für andere alte Frauen geben, aber Schüler unterrichten ging gänzlich an ihrem Kompetenzbereich vorbei. Wer weiß, vielleicht war sie früher, in den jüngeren Jahren ja noch erträglich gewesen. Aber ich hatte schon genug Zeit damit verbracht, mich über diese Person aufzuregen.

 Was man von meiner Einstellung gegenüber meiner Mitschüler im Jahrgang kaum behaupten konnte, denn über sie regte ich mich jede Woche, jeden Tag und jede Stunde auf. Manchmal hatte ich das Gefühl, in einem Versuchslabor zu sitzen, in dem ich von einer intelligenteren Affenspezies umgeben war und auf meine Geduld und Nervenauslastung getestet wurde, indem ich zu einer Zusammenarbeit mit ihnen gezwungen wurde. Meine Testergebnisse dürften allerdings äußerst bescheiden ausfallen, denn statt mich mit der Dummheit dieser Wesen, die intellektuell vermutlich nicht einmal an eine Primatenspezies heranreichten, zu arrangieren, saß ich meist völlig introvertiert in einer anderen Ecke, arbeitete meine Gruppenarbeit alleine aus und kassierte die guten Noten. Leider war diese Art des sich Entziehens durch den Alleingang nicht immer möglich, so  kam es regelmäßig zu stillen Konflikten in meinem Kopf, wenn ich immer wieder mit arbeitsunfähigen Kleinkindern in eine Gruppe gesteckt wurde. Zwar gab es Lehrer, die meine Einstellung gütigerweise anerkannt hatten und mich alleine arbeiten ließen, doch das war eher die Ausnahme.

Mit dem Arbeiten als Ein-Mann-Arbeitsgemeinschaft hatte ich nie ein Problem gehabt. Es war mir auch in nicht ganz so beschränkter Gesellschaft durchaus lieber, denn ich kannte meine Fähigkeiten schließlich am besten, und da es in meinem Interesse lag, gute Noten zu bekommen, war auch meine Arbeitshaltung dementsprechend gut. Außerdem hatte ich es satt, ständig Leute, die es in keinster Weise verdient hatten, notenmäßig hochzuziehen, obwohl das einzige was sie geleistet hatten das Auskitzeln des Nachbars oder das Malen von Herzchen auf Schuldokumente war. So weit zu mir und der stabilen Beziehung zu meinen Mitschülern.

 

Der Spiegel offenbarte mir, dass trotz dem Gefühl von dicken, schwarzen Rändern unter den Augen dort nichts zu sehen war. Lediglich ein paar hauchfeine Adern färbten das Weiß um die Iris herum rötlich. Ich fuhr mir seufzend mit den Fingern durch die Haare und wandte mich dann von meinem Doppelgänger ab. Die Küche war mein Ziel. Im Kühlschrank erwartete mich, was bei mir Wohlgefallen auslöste, eine breite Auswahl an Aufstrich. Während die Kaffeemaschine mehr oder weniger leise vor sich her dümpelte, schmierte ich mir drei Brote für die Schule und stopfte mir noch zwei weitere in den Mund. Es dauerte eine Weile, bis das Koffein seine Wirkung entfaltete, aber dessen war ich mir bewusst. Nach dem Frühstück schlenderte ich ins Bad. Achtlos warf ich meine Boxershorts auf die Truhe mit den Handtüchern, dachte dann aber an meine Mutter und legte sie dann doch vorsichtshalber in den Wäschekorb. Meine Mutter konnte zum Tsunami werden, wenn jemand sich nicht an ihre Hausregeln hielt. Keine dieser Regeln zu brechen war eine Regel, die uns letztendlich das Überleben sicherte.
    Das Wasser prasselte von oben auf mich herab. Zwar machte mich die Hitze etwas schläfrig, aber der frische Windzug, der bisweilen durch das geöffnete Fenster zog, hielt mich im Hier und Jetzt. Mit Duschgel schäumte ich jeden  Quadratzentimeter meines Körpers ein, dann meine Haare. Die weißen Bläschen wanderten mit den Wassermassen meinen Körper hinunter, um sich schließlich im Abfluss zu verlaufen. Einige Minuten länger als nötig ließ ich mir von dem harten Wasserstrahl den Rücken massieren, drehte dann doch irgendwann ab und stieg aus der Dusche. Während ich mich abtrocknete dachte ich an die bevorstehenden Stunden. Zwei meiner Lieblingslehrer hatte ich heute in jeweils zwei Stunden, das waren gute Aussichten. Anfang des Schuljahres waren beide als Referendare dem elften Jahrgang zugeteilt worden, ich hatte das Glück, dass beide Kurse übernahmen, in denen ich war.
    Die Knöpfe vom Hemd schnell zugeknöpft, Jeans übergestreift, Socken, Lieblingssneaker, Tasche gepackt und dann ab aus der Tür. Wie jeden Morgen musste ich zügig gehen, um den Bus noch zu erwischen. Das zu späte aus dem Haus gehen war eine dämliche Angewohnheit von mir.

 

Halb zehn, die Schulglocke läutete zur Pause. Die Schüler strömten aus dem Gebäude auf den Schulhof. Ich steuerte wie gewöhnlich gleich die Bank an. Nach einem langen, nicht enden wollenden Winter hatten nun die ersten Sonnenstrahlen die Luft erwärmt und ließen - Ende April war das aber auch wirklich überfällig - ein wenig Frühlingsgefühl aufkommen. Dennoch war noch kein T-Shirt Wetter. Ich hatte mich trotz dieser Tatsache ziemlich leicht bekleidet und stellte später auf der Bank fest, dass dies ein Fehler gewesen war. Jeder Windstoß pustete die mühevoll erhaschte Wärme gleich wieder weg, und ich hatte fast die ganze Pause mit einer chronischen Gänsehaut zu kämpfen. Mit Dennis unterhielt ich mich über die neuesten PS3 Erscheinungen, bis es klingelte. Englisch war jetzt nicht so mein Fall bei der Lehrerin, der Unterricht war wirklich langweilig, auch wenn sie sichtlich bemüht war. Weitere zwei Stunden verstrichen. Oder dehnten sich mehr wie das Kaugummi, das die Snob-Tusse vor mir im Unterricht gerade aus dem Kauapparat unter den Tisch befördert hatte. Direkt von der Schule werfen. Für so etwas hatte ich kein Verständnis. Ich schluckte Kaugummis immer runter, aber selbst wenn man das nicht wollte, wozu hatte man Taschentücher oder Mülleimer in diese Welt gesetzt?

    Nachdem auch diese beiden Stunden vorbei waren, erhellte sich mein Gemüt schlagartig. Es standen zwei Stunden Deutsch an. Und abgesehen davon, dass mir das Fach total lag, hatte ich auch noch das Glück den mit Abstand coolsten Lehrer der Schule und wahrscheinlich auch der Stadt, nein, der ganzen Städte im Umkreis zu haben. Herr Aturi war eigentlich nur Referendar und er unterrichtete auch erst seit einem halben Jahr an meiner Schule. Trotzdem hatte ich ihn längst als vollwertigen Lehrer aufgenommen, denn mal abgesehen von seiner sehr sympathischen und offenen Art machte er einfach hochqualitativen Unterricht, der sogar wirklich Spaß machte. Da diese Exemplare wirklich außerordentlich selten waren, fraß ich jede Stunde mit ihm in mich hinein, als würde ich in einem Anfall von Heißhunger meine Lieblingspizza verschlingen. Meine Mitschüler teilen meine Begeisterung zwar auch, aber nicht ganz so intensiv wie ich, was allerdings eher an dem Fach lag, das nicht jeder von ihnen mit denselben Voraussetzungen belegt hatte.

Schade, dass ich Herr Aturi als nahezu perfekten Deutschlehrer nur noch ein halbes Jahr genießen durfte, denn dann würde ich die Schule wechseln. Die Formalitäten liefen gerade im Hintergrund ab. Ich hatte mich vor etwa einem Monat dazu entschieden, als mir klar wurde, dass ich mich in meiner  Stufe wirklich noch deplatzierter fühlte, als ich bislang angenommen hatte. Außerdem war mir der Anspruch zu gering. Ich hatte also vor, von der Gesamtschule auf ein Gymnasium in meiner Nähe zu wechseln. Aber das war noch eine andere Geschichte.

Ich betrat den Raum, in dem wir zwei Mal die Woche Deutschunterricht hatten. Weil gerade die zehnminütige Pause war, war keine Person außer mir im Raum. Ich setzte mich in aller Ruhe auf meinen Platz, direkt neben das Lehrerpult am Fenster. Von dort aus hatte ich die perfekte Sicht auf die Klasse. Mit dem Deutschkurs hatte ich übrigens ungemein Glück, der war fürwahr nicht ganz so dumm wie etliche andere Kurse. Aber auch das mochte am Lehrer liegen. Er bezog einfach alle Schüler aktiv mit ein, auch jene, die nicht gerade deutschbegabt waren. Ich mochte wetten, dass sie ihn dafür liebten. Wenn mich in Mathe jemand mal so fördern würde…

Die Tür, die ich angelehnt hatte, öffnete sich einen Spalt breit und die Türklinke wurde heruntergedrückt. So verharrte sie noch etwa zehn Sekunden, in denen ich die Stimmen von Lehrern vernahm, die sich vor der Tür unterhielten. Dann schwang sie mit einem fürchterlichen Quietschen auf und ein lächelnder Herr Aturi betrat den Raum. Er sah mich an und grüßte.

„Morgen Ethan!”

„Moin Herr Aturi!”

Die Tür hinter sich zog er zu. Herr Aturi war erst sechsundzwanzig Jahre alt, und das sah man ihm auch an. Er hatte dunkelbraune, kurze Haare, die er meistens gelte. Seit Gesicht war recht schmal, ähnlich wie meines. Die blauen Augen waren etwas heller und stachen deshalb auch ziemlich hervor. Meist trug er Hemden und Jeans, ab und an auch Hoodies. Ich fand ihn – in mehrerlei Hinsicht – fast schon zu cool für einen Lehrer. Könnte mein großer, na ja, noch größerer Bruder sein. Mein richtiger Bruder war fünfundzwanzig Jahre alt und wohnte schon länger nicht mehr bei uns.

„Warum bist du nicht draußen?”, fragte er mich, während er seine Materialien auf dem Tisch ausbreitete. Ein Blatt fiel herunter.

„Ich hatte gerade das Bedürfnis nach Ruhe”, antwortete ich wahrheitsgemäß und bückte mich unter den Tisch, um das Blatt aufzuheben. Ich reichte es Herr Aturi hin und blinzelte verträumt.

„Oh, dann tut es mir wirklich leid, dass ich deine Ruhe gerade stören muss. Ignorier mich einfach.”

Abwehrend hob ich die Hände und schüttelte energisch den Kopf, ungeachtet dessen, dass er mit seinem Papierkram beschäftigt war und es vermutlich gar nicht sah.

„Nein, so war das nicht gemeint. Also doch, schon, aber ich meinte eher die Ruhe vor Mitschülern.”

Kurz sah er auf und blickte mich mit einer Art Skepsis an. Das war für mich nichts Neues, ich machte kein Geheimnis aus der Abneigung gegenüber meinen Mitschülern, und manchen gefiel das eben nicht so sehr. Herr Aturi jedoch nickte nun gemächlich mit dem Kopf, nachdem er seine blauen Murmeln endlich von mir abgewandt hatte.

„Verstehe. Kann ich nachvollziehen. Ich war früher auch lieber alleine unterwegs als mit anderen Schülern.”

„Wirklich?”, wollte ich ungläubig wissen. „Sie sagten doch selber, dass Sie eher der Exzentriker sind?”

„Ja, ja, mittlerweile”, lachte er. „Aber in deinem Alter hatte ich noch gar kein Interesse daran, mich den anderen mitzuteilen.”

„Sie sprechen so, als wären Sie schon uralt”, stellte ich amüsiert fest und beobachtete ihn weiter beim Lächeln und Zurechtrücken seiner Sachen. Er antwortete nicht und ein kleines Schweigen breitete sich aus. Ich nutzte die Zeit um nachzudenken. Ich hatte bisher nur dem Schulleiter und unserer Oberstufenleitung von meinem geplanten Schulwechsel erzählt. Nicht einmal Dennis, mein bester Freund, wusste davon. Ich hatte es noch nicht über mich gebracht, es ihm zu sagen, vor allem, weil noch nichts wirklich feststand. Aber hätte ich nicht wenigstens Herr Aturi einweihen sollen? Vielleicht war jetzt der richtige Moment. Gerade öffnete sich mein Mund, um die Nachricht kundzutun, als die Tür aufschwang und laut grölend Alex und Lars in den Raum einfielen. Sie sangen irgendeine Fußballhymne, wurden aber leiser als sie den Lehrer bemerkten und stellten sich sogleich aufrecht, fast schon elitär und mit albern ernsten Gesichtern hin.

„Morgen Herr Aturi!”

„Tach Herr Aturi!”

„Morgen, lasst euch bei eurem Gesang nicht stören.”

Er war so unglaublich entspannt. Lehrer sollten alle jünger und cooler sein. Ich ärgerte mich zwar über die verpasste Chance, ihm von meinem Schulwechsel zu berichten,  meine Laune war jedoch weiterhin konstant gut. In den nächsten Minuten trudelten immer mehr Schüler ein, bis zum Klingeln tatsächlich alle auf ihren Plätzen saßen. Auch das war eine Seltenheit in anderen Unterrichtsstunden. Der gegenseitige Respekt war hier eindeutig zu spüren. Respekt und auch eine persönliche Bindung, wie ich fand. Herr Aturi war einer der wenigen und wenigsten Lehrer, die uns in der Oberstufe noch duzten. Wir hatten uns Anfang des Jahres darauf geeinigt, sehr zu meinem und anderer Schüler Gefallen.

 

Der folgende Unterricht war wie zu erwarten recht abwechslungsreich. Ich klebte meinem Lehrer ständig hochkonzentriert an den Lippen, schrieb jedes Detail mit und meldete mich so oft wie möglich. Die Eins kam ja doch nicht von allein. Mitte der ersten Stunde, wir hatten das Thema Kommunikation, machten wir eine Art Experiment, bei der alle Schüler den gleichen Dialog unterschiedlich betont sprechen sollten und die anderen die zugehörige Situation erraten mussten. Das mehr Spiel als Experiment nahm knapp fünfunddreißig Minuten in Anspruch und es gab einiges zu lachen. Die anschließende Auswertung im Kreis rundete das Unterrichtsgeschehen ab. Als es klingelte, war ich fast ein wenig wehmütig, dass die Zeit so schnell herumgegangen war. Die anderen Schüler strömten aus der Klasse, ich wie üblich ließ ich mir Zeit und packte in Ruhe meine Sachen zusammen. Als dann der letzte zur Türe hinausging und auch Dennis schon weg war, wurde ich doch etwas schneller. Den Rucksack gerade geschultert und auf dem Weg um das Pult herum, um zur Tür zu gelangen, sprach Herr Aturi mich plötzlich nochmal an.

„Sag mal, Ethan, warst du nicht letztens auf dem Dream Theater Konzert?”

Ich schaute ihn verdutzt an. Woher wusste er das?

„Ja, war ich. Wieso?”, wollte ich verwundert wissen, denn es interessierte mich wirklich. „Hören Sie auch Dream Theater?”

„Aber so was von, ist eine klasse Band! Ich hatte auch eigentlich vor hinzugehen, aber zeitlich hat es leider nicht gepasst. Ich musste noch eure Klausuren korrigieren.”

Er schmunzelte selber über diese Aussage. Ich ging darauf ein, aber fragte noch einmal.

„Woher wissen Sie denn, dass ich da war?”

Wir waren bereits auf dem Flur angekommen und Herr Aturi schloss die Türe ab. Dann drehte er sich zu mir um, lächelte und antwortete mit einer leisen, geheimnisvollen Stimme: „Ich habe da so meine Quellen.”

Ehe ich es wirklich verstehen konnte, war er verschwunden. Ich hätte ihm gerne hinterher gerufen, aber die anderen vielen Schüler, die sich vor ihren Spinden drängelten, trieben schnell einen Keil zwischen uns. Mein Kopf rauchte. Er war schon echt nett, aber das gerade kam mir doch etwas seltsam vor. Nun denn. Ich schob meine Gedanken beiseite und machte mich auf zum nächsten Unterricht. 

Kapitel 2

Als ich die Tür zu meiner Wohnung aufschloss, lief mir Twix, meine überniedliche kleine Katze entgegen.
   „Hallo Tigerchen!“, rief ich gleich enthusiastisch, warf meinen Rucksack in den Flur und schnappte mir stattdessen den kleinen Fellball. Zärtlich grub ich meine Fingerspitzen in ihr gestreiftes, silbriges Fell. Unter wildem Schnurren rieb sie ihr Köpfchen an meiner Hand und drückte sich begeistert gegen meine Brust. Ich behielt sie noch eine Weile auf dem Arm, während ich durch die Wohnung lief und nach menschlichem Leben Ausschau hielt. Fehlanzeige, offenbar war ich allein zu Hause. Ich setzte Twix wieder ab und betrat mein Zimmer. Es war aufgeräumt, alles war an Ort und Stelle und erneut stellte ich fest, dass ich mich bei Ordnung in meinen eigenen vier Wänden tatsächlich am wohlsten fühlte.
   Durch die halb herabgelassenen Bambusrollos drangen die Strahlen der warmen Nachmittagssonne hinein und erhellten die Wände. Mein routinierter Gang führte mich sofort zum Schreibtisch, unter dem mein Computer seinen Platz hatte. Ich schaltete ihn ein und zog dann zunächst einmal meine Schuhe aus. Brav nebeneinander stellte ich sie neben das Regal an meiner Tür und widmete mich dann wieder dem Bildschirm, auf dem nun der Login Screen erschien. Ich tippte mein Passwort ein und ließ mich dann auf den bequemen Schreibtischstuhl fallen.
   Mehrere Stunden saß ich so - wie üblich - da und vertrieb mir die Zeit mit meinen Lieblingsbeschäftigungen. Von unten hörte ich das Öffnen und Schließen einer Tür, auf das kurz darauf ein Klopfen an meiner folgte. Meine Mutter drückte vorsichtig die Klinke herunter und kam dann herein.
   „Hey“, grüßte ich nur, wandte meinen Kopf aber nicht vom Bildschirm ab, auf dem ich gerade ein wenig sinnerfüllendes, aber dennoch kurzweiliges Strategiespiel spielte.
   „Hi Ethan. Wir sind wieder da.“
   „Das sehe ich“, feixte ich und bemühte mich gerade krampfhaft um das Zurückdrängen der gegnerischen Armeen.
   „Wie war dein Tag?“
   „Gut gut.“
   „Irgendeine Klausur zurückbekommen?“
   „Ne, erst am Freitag Spanisch und vielleicht Deutsch.“
   „Ach so. Hast du Hunger?“
   Einer meiner Wachtürme fiel in sich zusammen, und grummelnd warf ich meine Hände über den Kopf, bevor ich mich endlich zu meiner Mutter umdrehte. Sie schaute mich mit großen Augen an.
   „Och ja, schon etwas“, antwortete ich und rieb mir als Geste der Untermauerung dieser Aussage den Bauch.
   „Ist Hühnchen mit Curry Süß-Sauer in Ordnung?“
   Was für eine dumme Frage.
   „Klar.“
   „Gut. Dann ruf ich dich wenn das Essen fertig ist.“
   „Ist gut, danke.“
   Und weg war sie.
   Dafür, dass ich es meiner Familie mit meiner recht speziellen Art manchmal nicht so einfach machte, war meine Mutter mit einer der liebsten Menschen die ich kannte. Gut, so extrem viele Menschen kannte ich ohnehin nicht, aber sie war tatsächlich immer sehr bemüht es allen recht zu machen, und das ohne sich dabei selbst zu vernachlässigen. Selbst nach Auseinandersetzungen, bei denen sie durchaus zur Furie mutieren konnte, beruhigten sich unsere Gemüter schnell wieder und meist endeten diese Konflikte - in denen es hauptsächlich um die mangelnde Mitarbeit meinerseits im Haushalt ging - mit einem breiten Grinsen im Gesicht der teilnehmenden Personen.
   Anders als mein Vater arbeitete meine Mutter neben der üblichen Haushaltsarbeit nur drei Stunden in der Woche. Vor sieben Jahren wurde bei ihr ein Hirntumor diagnostiziert, was dazu führte, dass sie neben dem Autofahren auch die Arbeit über ein halbes Jahrzehnt nicht wieder anrührte. Vor sechs Monaten nahm sie dann den Job im Kindergarten zum Ausgleich an. Und seit dem, so kam es mir vor, hatte sich die Lage auch etwas entspannt.

   Nach dem Essen schleppte ich meinen vollen Bauch laut leidend und unter übermenschlicher Anstrengung die Treppe hinauf. Die Matratze unter mir gab nach, als ich mich halbtot auf mein Bett fallen ließ, und erneut dankte ich der Firma, die sie hergestellt hatte, dass sie so weich war. Der Wecker auf meiner Kommode neben dem Bett teilte mir mit, dass es kurz vor Sieben war.
   „Schon wieder so spät“, knurrte ich und richtete mein Gesicht wieder zur Decke. Ein paar Minuten blieb ich liegen und starrte sie an. Die Tapete war weiß und langweilig. Der Lichtkegel meiner Lampe malte eine kreisförmige Erhellung daran, aber auch das machte es nicht besser. Müdigkeit überrannte mich irgendwann, und ich schloss die Augen. Gerade drehte ich mich auf die Seite, um eventuell ein kleines Nickerchen zu machen, als mein Handy auf der Kommode neben mir vibrierte. Nachrichten oder Anrufe bekam ich selten, und einen Wecker hatte ich mir für diese Zeit ganz bestimmt nicht gestellt, also erhob ich mich gemächlich und griff nach dem Mobiltelefon.
   Es war Dennis, er fragte in der SMS, ob ich am Freitag - also übermorgen - Zeit hatte. Da ich weder viele Freunde hatte mit denen ich etwas hätte unternehmen können, noch in einem Sportverein oder Sonstigem war, hatte ich natürlich Zeit. Demnach antwortete ich ihm mit einem einfachen „Positiv“. Die SMS wurde versendet. Weil ich das Handy gerade schon einmal in der Hand hielt, tippte ich interessehalber die GMX App an, um meine E-Mails zu checken, da in der Infoleiste am oberen Bildschirmrand das Symbol für neue Nachrichten eingeblendet wurde. Neben einer Bestellbestätigung der kürzlich von mir bestellten Webcam und einiger Spammails erweckte eine E-Mail von meinem Deutschlehrer mein Interesse. Es war nichts Ungewöhnliches daran, er schickte dem Kurs häufig Rundmails mit Arbeitsblättern oder wichtigen Informationen. Doch machte mich eine Sache diesmal etwas stutzig: Der Titel.
   "Ethan Nachhilfe
   Mein Name und der Begriff Nachhilfe in einem Satz? Ging das? Ich stand doch glatt eins, wieso sollte ich Nachhilfe nehmen? Die Fragen, die ich mir in diesem Augenblick stellte, klärten sich, als ich auf den dickgedruckten Betreff klickte und las.

„Hallo Ethan, tut mir leid, dass es so kurzfristig ist, aber ich habe eine Bitte an dich. Einer meiner Schüler im 5. Jahrgang hat massive Probleme in Deutsch, und er möchte keine Nachhilfe von irgendwem, den er nicht kennt. Das Ganze ist noch etwas komplizierter, aber kurz gesagt möchte ich, dass du mal darüber nachdenkst eventuell Nachhilfe zu geben. Gib mir einfach am Freitag Bescheid.“

   Ich las noch einmal. Und noch einmal. Dann drückte ich den Power Schalter meines Handys und der Bildschirm verdunkelte sich. Ich ließ mich ins Kissen zurückfallen und schloss die Augen um nachzudenken. Nachhilfe geben, so war das also. Noch nicht ein einziges Mal hatte ich diesen Gedanken auch nur in Erwägung gezogen. Wieso sollte denn ausgerechnet ich Nachhilfe geben? Nach einem halben Jahr Unterricht sollte mich Herr Aturi doch eigentlich gut genug kennen um zu wissen, dass ich eher der Kategorie unkommunikativer Menschen angehörte, und dass ich Kinder nicht besonders mochte war auch bereits aus einigen Diskussionen hervorgegangen. Aber ich verwarf den Gedanken nicht sofort, im Gegenteil. Ich dachte jetzt erstmals ernsthaft darüber nach. Ich meine, was konnte bei einem Fünftklässler schon so problematisch sein? Außer Nomen, Verben und Adjektive zuordnen und Satzbauteile verbinden hatten wir doch damals auch nichts gemacht. Der Stoff an sich konnte also schon mal wenig problematisch sein. Und für das bisschen Arbeit - falls man das überhaupt so nennen konnte - bekam man an unserer Schule acht Euro für eine Dreiviertelstunde Unterricht, und zehn für eine ganze Stunde, was bei weitem kein schlechtes Geld war. Und leicht verdientes Geld verneint man doch nicht, oder? Klar, das war nur die Theorie, und ich hatte auch noch nie Nachhilfe gegeben oder in Anspruch genommen. Aber bei dem Bild, das sich in meinem Kopf zusammensetzte, war ich der Idee doch grundsätzlich nicht abgeneigt, wie ich feststellte. Dazu kam natürlich noch, dass mich Herr Aturi darum bat. Ich schnappte mir mein Handy  und las ein drittes Mal. Tatsache, er klang nicht nur bittend, sondern fast schon irgendwie verzweifelt. Merkwürdig. Ein kaum merkliches Kribbeln durchzog meinen Bauch. Wenn ich ihm damit einen Gefallen tun könnte? Wieso eigentlich nicht? Ich gähnte. Der Tag war lang gewesen und meine Augen waren schwer wie Blei, also entschloss ich mich dazu, die Entscheidung zu vertagen und mir am nächsten Tag weitere Gedanken darüber zu machen. Ich zog die Decke hoch, umklammerte eins meiner Kissen und schlief ein.

   Die nächste Woche verlief ganz gewöhnlich. Die Stunden zogen sich, Dennis ließ seiner Redseligkeit immer in den falschen Momenten freien Lauf und ich beklagte im Stillen die Inkompetenz meiner Lehrer und Mitschüler. Es war wie immer, derselbe schnöde Schulalltag seit elf Jahren. Ich hatte mich am Freitag mit Herr Aturi über die Nachhilfe unterhalten, und nachdem ich noch weitere Details in Erfahrung bringen konnte, hatte ich zuversichtlich zugesagt. Herr Aturi würde dann die ersten paar Stunden jeweils dabeisitzen und schauen, ob das alles so funktionierte, denn Nick - so hieß der nachhilfebedürftige Schüler - war ein Problemfall in mehrerlei Hinsicht. Mein Lehrer vertraute ihn mir aus Gründen an, die mir zwar nur schleierhaft einleuchteten, aber allein das Vertrauen das er in mich setzte ließ mich nicht Nein zu dem Vorhaben sagen. Von jetzt an standen an jedem Freitag also fünfundvierzig Minuten Deutsch Nachhilfe an.

   Am Mittwoch erhielt ich die offizielle Bestätigung von dem Gymnasium, auf das ich wechseln wollte. Der Transfer würde ohne große Probleme vonstattengehen. Doch hatte ich noch gut ein halbes Jahr bis zum Jahresende, und so blieb auch erst einmal die Aufregung darüber aus. Dennis erzählte ich weiterhin noch nichts davon. Ob er es mir verübeln würde? Wahrscheinlich. Wir trafen uns am noch am selben Abend vor dem Schwimmbad unserer Stadt. Es war noch immer warm, obwohl den ganzen Tag über Wolken den Himmel verdeckt hatten. Als ich den schmalen, gepflasterten Fußweg zum Eingang des Hallenbads entlang lief, sah ich Dennis schon von weitem. Er grinste mich breit an, und mit einem Handschlag begrüßten wir uns.
   „Nicht zur Schule gehen aber dann schwimmen, jaja. Elender Hund du“, lachte ich und schob meinen besten Freund zur Tür hinein.
   „Man muss ja Prioritäten setzen“, feixte dieser zurück und untermalte seine Aussage, in dem er ausdrucksvoll den Zeigefinger empor hob. Ich lächelte in mich hinein und ging ihm dann hinterher zur Rezeption, wo wir bei einer kraushaarigen Dame in den Fünfzigern den Eintritt bezahlten und dann in den Kabinen verschwanden.

   Dennis war ein sehr guter Schwimmer. Wo ich mich beim Kraulen mühsam abrackerte, glitt er so behände durch das Wasser, dass es einfach Spaß machte ihm dabei zuzusehen, wie er mit seinen Händen wie mit scharfen Messern die Wasseroberfläche durchschnitt und eins mit dem Element wurde. Manchmal saß ich eine längere Zeit einfach da und beobachtete ihn, seine Schnelligkeit, seine Eleganz im Wasser und sein Muskelspiel unter der Haut. Es stimmte mich zwar einerseits ein wenig neidisch, denn als Amateur im Wassersport konnte ich natürlich nicht mit einem geübten Sportler mithalten, andererseits erfüllte es mich mit einem gewissen Stolz, wenn andere Leute - sogar andere Männer - für ein paar Sekunden ihren Schritt verlangsamten und meinen Freund vom Beckenrand aus anerkennend begutachteten. Für mich persönlich war das kühle Nass kein idealer Ort zum aktiven Sporttreiben, für stumpfes Bahnenschwimmen war ich erstens nicht ausdauernd genug, zweitens war mir das dafür ausgelegte Schwimmerbecken immer zu voll, und es machte mir wenig Lust, ständig umherirrenden Rentnern auszuweichen oder Mädchenrudel darauf hinzuweisen, dass man Kaffeekränzchen nicht auf einer vielbeschwommenen Sportlerbahn abhielt. In letzterem Fall führte das sowieso meist nur zu bösen Blicken, statt zu irgendeiner Besserung der Situation.

   Dennis schlug gerade mit seiner Hand am Beckenrand an und beendete damit seine Bahnen. Keuchend klammerte er sich mit einer Hand fest und zog sich mit der anderen die Schwimmbrille vom Kopf. Ich hielt ihm meine Hand hin, und half ihm aus dem Wasser.
   „Wie viel?"
   „Drei Minuten zwanzig"
   „Mhm", kam es nur von ihm, und ich verdrehte die Augen.
   „Lass mich raten, du musst schneller werden?"
   „Exakt."
   „Du hast echt einen an der Klatsche."
   „Und du hast keine Ahnung." 
   „Ey!" Ich machte eine Schnute und knuffte Dennis in die Seite, der grinste mich verschmitzt an und zog mich in Richtung der Freizeitbecken. Ich folgte artig und freute mich auf eine  entspanntere Gangart nach unserem Training. Wir gingen zuerst in das Außenbecken, zu dem ein breiter Wassergang führte. Die Luft war nun doch deutlich abgekühlt und ein zarter Nebelteppich lag über der Wasseroberfläche. Außer einem jungen Pärchen und zwei alten Frauen war das Becken leer, wie wir befriedigt feststellten. Ich zog meine Schwimmbrille auf und tauchte ein paar Mal zwischen den Wänden hin und her. Das Becken wurde von blauen Lampen durchleuchtet und strahlte in einer der Lumineszenz noch am nächsten kommenden Farbe, die mich jedes Mal aufs Neue faszinierte. Ein bis zwei Mal die Woche kam ich hierher. Oft war Dennis mit dabei, aber ich scheute auch nicht den Alleingang. Im Wasser konnte ich meine Alltagsprobleme nahezu vergessen. Wenn ich an der Oberfläche trieb und mein Atem ruhig und gleichmäßig Sauerstoff in meine Lungen pumpte, war mein Körper in einer Schwerelosigkeit gefangen, die es nirgendwo sonst gab. So trieb ich manchmal stundenlang durchs nasse Element und dachte mit geschlossenen Augen und hinter dem Kopf verschränkten Armen über die verschiedensten Dinge der Welt nach.
   „Was hast du eigentlich letztens so lange mit Herr Aturi besprochen?“, fragte Dennis mich, als ich gerade vor ihm auftauchte und tief einatmete. Ich robbte auf die niedrige Unterwasserbank rauf und legte mich dort neben ihn.
   „Ach“, begann ich, immer noch schwer atmend, „war nichts Besonderes.“
Sein Schweigen verriet mir, dass er mit der Antwort nicht zufrieden war.
   „Ich werde demnächst Nachhilfe geben, bei einem seiner Fünftklässler. In Deutsch.“
   „Du Nachhilfe? Verarschst du mich?“
   „Ja, ich Nachhilfe“, bestätigte ich.
   „Du meidest doch sonst andere Menschen wo du nur kannst. Und Nachhilfe? Irgendwie passt das nicht zu dir. Und-“ Ich hörte nichts weiter, weil in diesem Moment die Düsen hinter und unter uns angingen und eine Fassade von Bläschen Dennis' Aussage lautstark verschluckte. Mir war's recht, und so legte ich meinen Kopf ins Wasser und ignorierte meinen Freund, der, wie ich durch halb geschlossene Augen noch sah, immer noch weiterbrabbelte. Mit einem Schmunzeln ließ ich das Gespräch ruhen und gab mich wieder ganz dem Wasser hin. Dennis musste ja nicht wissen, dass ich mich nicht unbedingt um die guten Noten eines Knirpses scherte, oder um das Geld was ich dort bekommen würde, sondern dass es da einen Lehrer gab, dem ich gerne etwas näher kommen würde. Rein freundschaftlich natürlich. Ob das funktionieren würde, war wieder eine andere Sache, aber ich war zuversichtlich, dass der folgende Freitag gut werden würde.

   Nach dem Schwimmen verabschiedete ich mich von Dennis an der Bushaltestelle, weil er mit dem Fahrrad nach Hause fuhr. Ich schaute ihm noch hinterher, bis er nicht mehr zu sehen war. Dann ließ ich mich seufzend auf die Sitzbank fallen und lehnte mich an das schmutzige Glasfenster. Dennis war schon ein guter Kerl. Ich kannte ihn jetzt seit sechseinhalb Jahren, seit wir zusammen in die weiterführende Schule kamen und in eine Klasse gesteckt wurden. In all den Jahren hatten wir schon viel zusammen durchgestanden, von Kleinkriegen innerhalb der Klasse über Beziehungskatastrophen des jeweils anderen bis hin zum trotzigen Ausbüchsen vom Elternhaus und dem gemeinsamen Verschanzen in einer selbsterbauten Residenz. Unsere Eltern hatten es wahrlich nicht immer leicht mit uns gehabt. Es hatte sogar Zeiten gegeben, bei denen der eine für eine ganze Woche einfach beim anderen eingezogen war. Manchmal machten wir das auch immer noch, dann aber nur für ein, zwei Tage. Es waren nur scheue Momente wie dieser hier, aber als ich so dasaß und darüber nachdachte, dankte ich einmal mehr dafür, dass ich einen so tollen Freund wie Dennis an meiner Seite hatte. Der Bus kam, und ich stieg mit einem Lächeln ein.

Kapitel 3

Ich stand vor dem leeren Klassenraum, hielt zitternd die Unterlagen in der Hand, die ich vorhin von Herr Aturi bekommen hatte und schaute auf die Uhr. Er würde gleich kommen. Beide würden kommen, Lehrer und Schüler. Ich versuchte krampfhaft meine Beine nicht wie Pudding aussehen zu lassen und lehnte mich an der Wand an. 14:22 Uhr. Vor sieben Minuten hatten die meisten Schüler Schulschluss. Jetzt liefen nur noch ein paar arme Seelen umher, die an einem Freitagnachmittag acht, neun oder sogar zehn Stunden Schule hatten. Ob mich dasselbe Schicksal einmal erwarten würde? Ungewiss. Eine Tür öffnete sich und ich schaute auf. Da kamen die beiden, allen voran Herr Aturi, der mir lächelnd entgegenlief.
   „Hey“, begrüßte er mich recht schwungvoll, was mich angesichts der Tatsache, dass wir vorhin erst Unterricht zusammen gehabt hatten, etwas verwunderte.
   „Hallo“, grüßte ich erst ihn zurück, dann wandte ich mich auch dem kleinen Mann zu, der sich zurückhaltend hinter seinem und meinem Mentor versteckte.
   „Hi, ich bin Ethan“, sagte ich in freundlichem Ton und nickte dem Zwerg aufmunternd zu.
   „Ich bin Nick“, antwortete dieser leise. Herr Aturi schloss die Tür auf und ließ uns in den Klassenraum.
   „Also, Ethan du weißt was du zu tun hast?“
   „Ich denke schon, ja.“
   „Gut, ich bin dann kurz im Lehrerzimmer und komme in fünfzehn Minuten wieder. Nick, streng dich gut an.“
   Nick nickte.
   „Bis gleich dann.“
   Die Tür schloss sich wieder und nun standen wir alleine im Raum. Das Zittern meiner Hände und Beine hatte nachgelassen. Es war ein seltsames Phänomen, das immer in den unnötigsten Momenten auftrat. Vor Referaten, in denen ich grundsätzlich absolut sicher war und normalerweise eine 1 davon trug, vor Treffen mit unbekannten Leuten, ja sogar wenn ich zum Schwimmbad fuhr oder morgens durch den Arkadengang lief und sich die Schule näherte. Es war völlig unsinnig und mir extrem peinlich, wenn es jemand bemerkte. Denn es war ja nicht so, dass ich einen Grund gehabt hätte um aufgeregt zu sein. Wenn mich jemand dann unglücklicherweise darauf ansprach, schob ich es auf Unterzuckerung. Funktionierte auch meist ganz gut.

   „Also Nick, was ist denn dein Problem in Deutsch?“, fragte ich. Schritt 1: Analyse des Problems.
   „Alles“, kam es zurück, und ich war erstaunt, wie laut der Junge auf einmal war. Er musste wohl neun oder zehn sein, dachte ich.
   „Alles?“ Ich überlegte.
   „Was kannst du denn gut in Deutsch?“
   „Nichts.“
   Ich legte meine Stirn in Falten und dachte an Mathe. Hätte mir jemand diese Fragen gestellt, so wären meine Antworten dieselben gewesen. Ich ließ es vorerst dabei und schlug vor, sich doch erst einmal zu setzen. In den nächsten zehn Minuten hatte ich ihn so weit gebracht, dass ich nun um die Erkenntnis reicher war, dass er mit Rechtschreibung, Ausdruck, Grammatik, Satzbau und Zeichensetzung Probleme hatte. Ein langer Weg lag vor uns. Die größte Mühe hatte ich allerdings damit, meine eigene Sprache indes so zu reduzieren, dass es auch ein zehnjähriger verstand. Nach den zehn Minuten ging ich zu Schritt 2 über: Ziele setzen. Ich erklärte Nick also in welchen anderen Fächern Deutsch wichtig war - also in nahezu allen - und vor allem, was wir in den nächsten Stunden an Stoff so machen würden.

   Herr Aturi kam fünf Minuten später als angekündigt wieder, mit zwei Kaffeetassen und einer Limonade in der Hand. Mir fiel in diesem Augenblick wirklich kein anderer Lehrer ein, der auf die absurde und gleichzeitig geniale Idee kommen würde, seinen Schülern aus heiterem Himmel Getränke anzuschleppen. Ich bedankte mich ausgiebig und feierte anschließend jeden Schluck Kaffee im Wissen, dass er von meinem Lieblingslehrer kam. Dagegen eher kontraproduktiv war, dass ich mich in den folgenden zwanzig Minuten nur noch fürchterlich schwer konzentrieren konnte, was weniger an dem Koffein lag. Ständig schweifte mein Blick zu Herr Aturi ab, der sich neben Nick und damit mir gegenüber hingesetzt hatte. Gerade war es völlig still in dem Raum, weil der rothaarige Fünfer im Alleingang eine kleine Übungsaufgabe bearbeitete. Für gewöhnlich liebte ich die Ruhe ja, aber jetzt in diesem Moment war es eine Tortur. Ich blätterte nervös in dem Deutschbuch des Jungen herum, überflog ein paar Zeilen, blätterte weiter und las wieder. Mein Gehirn nahm allerdings kein einziges Wort auf. Stattdessen verflogen meine Gedanken gänzlich und ich verfiel in eine Art Trance. Als ich dann zwei volle Minuten lang nur auf den Kugelschreiber vor mir gestarrt und die Welt um mich herum völlig vergessen hatte, wurde ich plötzlich mit einer Intensität wachgerissen, die mich später schmunzeln lassen sollte. Ich spürte etwas an meinem Knie. Es wanderte etwas nach oben und rüttelte an meinem Bein. Die Ursache der Intensität lag aber nicht etwa in dem Rütteln, sondern in der Erkenntnis, dass sich Herr Aturis Hand auf meinem Oberschenkel befand. Ich schaute erschrocken auf. Schaute in seine Augen, eine ganze Weile. Mein Knie fing in diesem Moment zu brennen an, und mein Magen zuckte unkontrolliert zusammen. Ein heißer Schauer jagte durch meinen Körper wie eine Flut kochenden Wassers. In meinem Körper brannte ein Inferno, und doch blieb ich völlig ungerührt sitzen, still und weiter in die Augen meines Lehrers starrend. Er hatte erreicht was er erreichen wollte, mich aus dem Tunnelblick zu holen. Jetzt sah ich ihn an, und er hob fragend beide Augenbrauen, eine etwas höher als die andere. Es war das “Alles okay?-Gesicht“. Ich fasste mich schnell zusammen und für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein gekünzeltes “Alles gut-Lächeln “ über mein Gesicht. Doch war das hier alles andere als gut, denn sogar meine Hose verriet mir scheinheilig, das etwas nicht so war wie es sein sollte. Das Gefühl, dass sich etwas an meinem Bein befand, ging auch die restliche Zeit der Nachhilfestunde nicht mehr weg. Stattdessen rutschte ich unruhig auf meinem Stuhl hin und her und versuchte, meine Reaktion auf das eben Erlebte zu verdrängen. Doch je strenger ich mich zum Vergessen ermahnte, desto intensiver dachte ich daran, und eine Gänsehaut nach der anderen jagte mich durch die stillen Minuten. Ich war froh, dass Nick bald darauf mit der Aufgabe fertig war, so konnte ich zumindest halbwegs versuchen, mich mit Deutsch abzulenken. Zugegeben, mit einem nur mäßigen Ergebnis.

   Als dann endlich die Schulglocke meine Erlösung verkündete, sackte ich in mich zusammen. Freiheit! Ich sah Nick wie gelähmt dabei zu, wie er hastig seine Sachen in den Rucksack stopfte und sich dann flüchtig und leise von mir verabschiedete. Ich brachte gerade noch ein „Bis nächste Woche" hervor, wobei bei Woche meine Stimme versagte. Der Kleine huschte aus dem Raum. Ich dachte an mein Bett. Meine Beine und Arme waren schwer geworden, und mein Kopf tat entsetzlich weh. Es war für mich höchste Zeit nach Hause zu kommen. Trotzdem blieb ich immer noch sitzen. Das Schlimme dabei: Herr Aturi bewegte sich auch nicht weg, sondern saß ebenfalls noch auf seinem Platz, also mir gegenüber. Ich sah auf meinen Rucksack, der auf dem Boden lag und danach schrie, eingepackt und wegtransportiert zu werden. Ich starrte ihn böse an, und das Schreien wurde leiser.
   „Ethan", rüttelte mich die Stimme meines Lehrers aus der Starre, in der ich mich schon wieder - oder eher immer noch - befand.
   „Mhm?"
   Ich war zu keiner geistreichen Konversation mehr fähig. Es war Freitagnachmittag, warum war ich nicht zu Hause, oder wenigstens bei Dennis? Stattdessen wurde ich hier festgehalten, in der Schule, in der Anstalt des Grauens.
   „Geht's dir nicht gut?"
   Seine Stimme klang besorgt. Ich antwortete erst nach einigen Sekunden.
   „Doch. Alles bestens."
   Der Rucksack fing nun erneut an zu schreien, und ich wollte nur noch den Kopf unter Wasser stecken und nichts mehr davon hören, von all dem.
   „Du", er räusperte sich, "klingst nicht sehr überzeugt." Kurz pausierte er und sah mich weiterhin an. Das erkannte ich auch aus den Augenwinkeln. „Aber die erste Stunde hast du gut gemacht."
   Ich hörte wie er lächelte, und endlich drehte ich meinen Kopf zu ihm und sah ihn an.
   „Danke", sagte ich, doch ich verzog keine Miene. Keine Freude keimte in mir, über die erfolgreiche erste Nachhilfestunde. Keine Zuversicht für die folgenden. Denn an mir nagte etwas, das ich selbst noch nicht so ganz verstand. Dieser Mann. Dieser Mann der da vor mir saß und jetzt nicht mehr lächelte, der plötzlich aufstand und auf mich zuging. Dieser Mann, der sich zu mir herunterbeugte, mir tief in die Augen sah -
   „Hast du Fieber?"
   Ich fühlte seine Hand auf meiner Stirn. Sie war kalt. Nein, sie war nicht kalt. Aber ich war heiß, mein Körper glühte, jede einzelne Ader pulsierte in meinem Inneren und das Blut pochte laut in meinen Ohren. Fieber dachte ich. Ja, vielleicht ist es das. Fieber. Herr Aturi zog seine Hand von mir weg. Ich zitterte, meine Stimme zitterte.
   „Ich weiß nicht", brachte ich hervor. Ich musste ungeheuer kratzig und kaputt klingen, denn so fühlte ich mich. Sein besorgter Blick ruhte auf mir. Mir fiel auf, wie schön seine Augen waren. Dieses Blau, es war wunderbar. Es war nicht ganz einheitlich, hatte die Struktur eines tropischen Korallenriffs, das im schönsten Blau des Meeres tauchte. Es erinnerte mich an meinen Kroatienurlaub vor drei Jahren. Die frische Luft, die warme Sonne, das wundervolle Meer mit den prächtigen Korallenriffen und das klarste und schönste Wasser, das ich bisher je gesehen hatte. All das fand ich jetzt wieder - eine Komposition der Sinnlichkeit in zwei kleinen Murmeln versteckt, und das direkt vor mir, im schmalen Gesicht meines Lehrers. Wir starrten uns eine schiere Ewigkeit an. So kam es mir jedenfalls vor. Fast schon erwartete ich, dass es gleich zur nächsten vollendeten Stunde klingeln würde, denn der Bann in dem ich gefangen wurde, hörte nicht auf.
   „Ethan", sagte er wieder. Ich hörte es wie durch Watte, dumpf und leise. Eine Welle der Müdigkeit durchzog meinen Körper, zog mit einer ungeheuren Kraft an meinen Augenlidern. Sie fielen zu, langsam aber stetig. Ich kämpfte dagegen an - erfolglos. Die Erschöpfung, Verwirrung und Hilflosigkeit forderten ihren Tribut. Mein Kopf klappte zur Seite, meine Hand verließ jede Kraft, und im nächsten Moment waren das letzte was ich spürte, wie ich von zwei starken Armen festgehalten wurde.


   Ich erwachte zu meinem Erstaunen in meinem eigenen Bett. Mein Kopf schmerzte höllisch und ich packte mir an die Stirn. Fast verbrannte ich mich, so heiß war sie. Bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, griff ich nach der Wasserflasche auf dem Boden und durchspülte meine trockene Kehle. Ich schluckte gierig, jeder Tropfen hinterließ eine Quelle der Erleichterung. Ich ließ die leere Flasche achtlos neben das Bett fallen und versuchte mich aufzusetzen. Es ging zwar langsam, aber es ging. Ein Kühlpack fiel zu Boden. Ich hob es auf. Es war warm, und ich ahnte bereits warum. Mit wackeligen Beinen stand ich auf und ging die Treppe hinunter, musste mich aber am Geländer festhalten, als mir plötzlich schwindelig und schwarz vor Augen wurde. Mein Kreislauf schwankte eine Weile, ehe ich weiterlaufen konnte. Ich kam unten an und hörte den Fernseher laufen.
   „Ethan!“, rief meine Mutter besorgt aus und stand sofort von der Couch auf, um zu mir zu laufen. „Wie geht es dir? Du hättest im Bett bleiben und mich rufen können.“
   „Ist schon okay. Hast du eine Kopfschmerztablette für mich?“
   „Du hast schon zwei genommen mein Schatz“, sagte sie und strich mir über die Haare.
   „Ach“, antwortete ich nur verdutzt. „Wann denn das?“
   „Vorhin, als dein Lehrer dich hergebracht hat und vor etwa einer Stunde nochmal.“
   „Mein was? Mir viel jetzt erst die Absurdität dieser ganzen Sache auf. Das letzte woran ich mich erinnern konnte war die Schule, in der ich Nachhilfe gegeben hatte und...
   „Wer hat mich hergebracht?“
   „Dein Lehrer, dieser gutaussehende junge Mann. Er hieß“, meine Mutter überlegte kurz, „Herr Atari oder so ähnlich.“
   „Aturi“, verbesserte ich. „Wie hat er mich denn hergebracht, und woher weiß er überhaupt wo ich wohne?“ Mir erschien es, als sei ich immer noch im Delirium.
   „Er hat mir gesagt, dass er die Adresse aus dem Sekretariat hat, und dass du plötzlich vom Stuhl gekippt warst.“ Sie sprach aufgebracht. „Du lagst völlig abwesend an seiner Schulter und er musste dich stützen, damit du nicht umfällst. Sogar die Treppe hat er dich noch raufgetragen.“
    Ich dachte ich hörte nicht richtig.
   „Er hat was?“
   „Ich hätte dich in dem Zustand nicht die Treppe hoch bekommen, dein Vater war nicht da und deshalb hat er dich bis zu deinem Bett getragen.“
   Mein Magen drehte sich.
   „Er war wirklich sehr freundlich und nett, auch wie er... Ethan?“
   Ich rannte wie von einem Hornissenschwarm verfolgt ins Badezimmer, keine Sekunde zu früh. Ich übergab mich wirklich sehr selten, aber wenn, dann meistens auch wirklich heftig. Twix maunzte leidend und sah mir zu, wie ich meinen Kopf über die Toilette senkte.

   Gut, der Abend war gelaufen. Meine Mutter maß noch einmal meine Temperatur als ich buchstäblich völlig leer wieder im Bett lag. Das Thermometer zeigte mir stolze 39,6°C, ein ordentlicher Wert. Ich wusste nicht was schlimmer war. Die Tatsache, dass ich mit hohem Fieber die nächsten Tage bewegungslos in meinem Zimmer vergammeln würde oder die, dass mein Deutschlehrer mich offensichtlich von der Schule bis nach Hause gebracht und mich dann auch noch in mein eigenes Bett getragen hatte, und ich mich zusätzlich an nichts davon erinnern konnte. Da das Fieber wohl nur vorübergehend war, entschied ich mich für Letzteres.
   „Er bestand darauf noch zu bleiben bis du eingeschlafen warst“, hatte meine Mutter gesagt. „Weil er sich so nett um dich gekümmert hat, hab ich ihn dann oben bei dir warten lassen, bis er irgendwann wieder runter kam. Ich hab dich dann gleich für die nächsten paar Tage vorsorglich krankgemeldet.“
   Wieso hatte sie mich nicht gleich für das nächste halbe Jahr krank gemeldet. Oder besser, als vermisst. Wie sollte ich Herr Aturi jetzt noch in die Augen sehen. Er hatte mir beim Einschlafen zugesehen? Was hatte sich denn meine Mutter dabei gedacht? Ich zog meine Decke bis zum Kinn. Obwohl ich versuchte ihr deshalb irgendwie Vorwürfe zu machen, es funktionierte nicht. Stattdessen freute sich ein kleiner Teil in mir sogar darüber, was ich natürlich sofort zu vereiteln versuchte. Klar, Herr Aturi war schon ganz nett und so. Aber wieso war er denn noch geblieben, nachdem er mich hier abgeliefert hatte? Hatte er sich etwa so fürchterliche Sorgen gemacht? Schwer vorstellbar. Doch wieder erfreute sich etwas an dem Gedanken, dass er bei mir gewesen war. Ich hatte ihn zwar nicht direkt wahrgenommen, aber das Wissen daran entlockte mir unfreiwillig ein Lächeln, über das ich schließlich einschlief.


   Ich lag bis Dienstag völlig unbrauchbar und halb verrottet im Bett herum. Mein Umfeld schien mir dabei deutlich aufgebrachter als ich selbst zu sein. Meine Mutter pflegte mich wie ein kleines Kind und brachte mir alle paar Stunden frischen Tee, mein Vater bestückte mich immer mit den neuesten Medikamenten aus dem Krankenhaus - er war Krankenpfleger - und sogar Dennis kam an zwei Tagen vorbei, um nach mir zu sehen. Es war wahrlich keine schöne Zeit, ständig wechselte meine Körpertemperatur zwischen eiskalt und brennend heiß, ich malträtierte mit meinem Erbrochenen die Toilette und die Kopfschmerzen drohten mir jeden Tag den Schädel zu zersprengen. Dennis kam am Dienstagabend vorbei. Er hatte eine Blu-ray und meine Lieblingschips mitgebracht und freute sich sichtbar darüber, dass es mir nicht mehr ganz so beschissen ging. Auch ich freute mich wirklich sehr über seine Gesellschaft, denn die einsamen Stunden unter der Decke vergingen noch träger als so manche Schulstunde. Dennis schob die Blu-ray in das Disklaufwerk meiner PlayStation 3 während ich mein Bett zurechtrückte, nämlich so, dass wir von dort aus eine gute Sicht auf den Fernseher hatten. Er knipste das Deckenlicht aus und kam dann zu mir ins Bett, wo ich mich gerade frierend unter der Decke verkroch, weil wir das Fenster aufgemacht hatten.
   „Soll ich es zu machen?“, fragte mich Dennis und sah mich gleichermaßen mitleidig und amüsiert an.
   „Ne, schon gut“, dementierte ich. „Frische Luft und so.“
Er grinste und setzte sich neben mich, mit dem Rücken zur Wand. Ein paar Kissen hier, die Decke da zurecht gezupft und wir hatten das beste Heimkino überhaupt. Der Film fing an, und an dem Intro erkannte ich, dass es sich um den überaus geilen Film “Sieben“ handelte, den ich schon ein paarmal, aber noch nicht oft genug gesehen hatte. Ein Meisterstück wie ich fand. Statt sie mir allerdings selbst zu kaufen, hatte ich die Blu-ray vorletztes Jahr Dennis zum Geburtstag geschenkt. Das machte aber kaum einen Unterschied, weil wir uns quasi alles teilten, das wir besaßen. Das ging über Filme, Games, Konsolen und Bücher bis hin zu unseren Klamotten. Manchmal lief ich zum Beispiel mit einem von Dennis' T-Shirts herum, und nicht selten wurden wir auch darauf angesprochen.
Während Brad Pitt und Morgan Freeman dem Serienkiller hinterherjagten, amüsierten wir uns über die Statisten im Hintergrund der Szenen, verzogen die Gesichter wenn mal wieder ein Opfer auf abnormale Art und Weise verstümmelt wurde und absorbierten derweil so viele Chips, dass die dritte Tüte nach anderthalb Stunden der vierten weichen musste.
   „He Ethan“, murmelte Dennis und sah mich an.
   „Mhm?“
   „Das bleibt aber drin, okay?“
   Ich musste lachen und grinste dann hämisch, während ich wieder zulangte.
   „Klar“, versprach ich mit vollem Mund und legte den Kopf kurz schief, bevor ich wieder auf den Bildschirm schaute.
   „Du“, sagte Dennis dann nach einiger Zeit wieder, wartete aber nicht auf eine Reaktion meinerseits, sondern redete sofort weiter. „Herr Aturi hat mich heute nach dir gefragt.“
   Der Chip in meinem Hals wurde widerspenstig und ich verschluckte mich und musste unwillkürlich husten.
   „Ich hab ihm gesagt, dass es dir besser geht. Schöne Grüße von ihm.“
   Hastig griff ich nach der Cola und trank gierig die halbe Flasche, ehe sich mein Husten legte. Tief einatmen Ethan.
   „Danke“, röchelte ich. „Aber du hattest doch heute gar keinen Unterricht bei ihm?“
   Ich starrte stur in Brad Pitts blutverschmiertes Gesicht, wagte nicht, meinem Freund in die Augen zu sehen.
   „Ich hab ihn auf dem Gang getroffen“, sagte er.
   „Aha.“
   „Ja.“
   Er seufzte.
   Wir sahen wieder schweigend dem Film zu.

Kapitel 4


   Dennis hatte bei mir übernachtet. Eigentlich war das gar nicht geplant gewesen, aber war er noch während dem Film neben mir im Bett eingeschlafen, und ich hatte es nicht über mich bringen können ihn zu wecken. Da ich aber wusste, dass er am Mittwoch erst zur dritten Stunde hatte, war das nicht weiter schlimm. Mein Bett war groß genug, und so hatte ich mich einfach längs hingelegt, sodass Dennis noch genug Platz hatte. Bei anderen Jungs hätte ich wohl ein Problem damit gehabt, dass sie mit mir in einem Bett schliefen, aber bei ihm machte es mir nichts aus. Ich wälzte mich auf die Seite, weil ich auf dem Rücken liegend nicht schlafen konnte. Irgendwie hatte ich dann immer das Gefühl, dass ich so angreifbar war. Wie eine Schildkröte, die auf den Rücken gedreht wurde. Aber vielleicht war es auch einfach nur auf Dauer nicht bequem.
   Der Mond schien heute sehr hell. So hell, dass meine Augen nicht zur Ruhe kamen, weshalb ich mich doch wieder auf die andere Seite drehte. Jetzt sah ich Dennis vor mir liegen. Er atmete ruhig und gleichmäßig, seine Brust hob und senkte sich unter der Decke, die ich ihm zuvor noch übergelegt hatte. Ein paar dunkle Strähnen fielen ihm ins Gesicht. Ihm zarten Licht des Mondes schimmerte es silbern. Seine geschlossenen Augen sahen friedlich aus, und ich bemerkte, wie eine gewisse Ruhe in mich einkehrte, als ich ihn so ansah. Er war schon irgendwie hübsch musste ich widerwillig zugeben, wie er so dalag. Hatte etwas Mystisches, etwas Ruhiges und Stilles. Ich schmunzelte, denn all das traf auf Dennis genauso wenig zu, wie auf einen Stein die Bezeichnung “liebevoll” und “einfühlsam”. Aber ich wusste auch aus Erfahrung, dass es in all den Jahren die wir uns jetzt kannten auch schon einige Überraschungen gegeben hatte. Vielleicht hatte ich diese eine Seite an ihm einfach noch nicht kennengelernt. In jedem Fall schlief ich mit einem Wohlbehagen ein, und sogar über gewisse Lehrer dachte ich an diesem Abend nicht mehr nach.


Erst am Freitag fühlte ich mich wieder in der Lage zur Schule zu gehen. Ich riss mich zwar nicht darum, aber irgendwie empfand ich gegenüber Nick ein gewisses Schuldgefühl, allein schon deshalb, weil ich das letzte Mal so neben der Spur gewesen war. Das würde mir heute nicht passieren, immerhin war ich jetzt wieder gesund. Was Herr Aturi betraf war mir zwar immer noch etwas bange vor unserer ersten Begegnung, nach dem Ereignis letztens, aber da musste ich sowieso durch. Bis zur zweiten Pause ging alles gut, ich sammelte den verpassten Papierkram zusammen und ließ mich von Dennis auf andere Gedanken bringen. Die Mitschüler schlugen mir aufs Gemüt und die Lehrer schmissen mir Vorwürfe wegen zu vieler Fehlstunden hinterher - es war also alles wieder normal. Dann jedoch klingelte es zum Pausenende. Ich saß gerade mit meinem besten Freund auf der Bank und hörte mir seine neuesten philosophischen Ausführungen zum Thema Todesstrafe an, als das Geräusch der Schulglocke in meinen Ohren widerhallte. Sofort verkrampfte sich mein Bauch, meine Hände fingen an zu zittern und ich spürte das Blut in meinen Beinen wieder zu zähem Pudding werden. Ich hatte gewusst dass die fünfte Stunde kommen würde, umso mehr war ich von meiner Reaktion überrascht und gleichermaßen gequält. Aber ehe Dennis es bemerken konnte - denn er hätte sich sicher wieder Sorgen gemacht - stand ich auf, schulterte meinen Rucksack und vergrub die Hände in den Hosentaschen.
   „Kommst du?”
   Ich hatte ihn wohl in der Kernaussage seiner Rede unterbrochen, aber er schaute mich nur kurz an und nickte. Dass er nichts weiter sagte, kam mir ganz gelegen.
   Der Raum in dem wir Deutsch hatten war schon - oder noch - auf, und wir setzten uns auf unsere Plätze. Ich zog den Stuhl ran und presste meine Beine gegeneinander. Meine Hand hatte ich zu einer Faust geballt. Mein Kopf wurde abwechselnd leer und übervoll, die Schauer die durch meinen Körper gingen spielten ein ähnliches Spiel der Abwechslung. Wieso nahm mich diese Begegnung eigentlich so mit? Ich dachte an Freitag vor einer Woche, und ja, natürlich erinnerte ich mich. Es war mir unangenehm einem erwachsenen Mann in die Augen zu sehen, der mich wie ein Kleinkind ins Bett gebracht hatte, nur um dann auch noch zu warten, bis ich eingeschlafen war. Natürlich war mir das peinlich, wem wäre es das nicht.
   Unter dem Lärm der Schüler war die sich schließende Tür kaum zu hören, aber als ich jenes Geräusch wahrnahm, legte ich nur den Kopf auf meinen Tisch und schloss die Augen. Er war da. Er ging zwischen den Stühlen und Tischen her nach vorne, ich erkannte sogar seinen Gang ohne hinzusehen. Die Stimmen im Hintergrund verblassten langsam, eine Tasche wurde auf dem Pult abgestellt und ein Schlüsselbund hingelegt. Zwischen dem Schwarz vor meinen Augen tänzelten die Silhouetten meines Lehrers. Ich vergrub meinen Kopf noch tiefer zwischen den Armen. Die Stimmen verstummten nun vollständig.
   „Morgen zusammen.”
   „Morgen”, echote der Raum. Gemurmel, wie üblich nach der Begrüßung. Dann, als er weitersprach, verebbte es wieder.
   „Also Leute, ich hab es endlich geschafft eure Klausuren von der Abteilungsleitung zurückzuerobern, das heißt, die bekommt ihr gleich wieder.”
   Gemurmel, Jubel, ablehnendes Aufstöhnen und ungeduldige Freude ertönten. Ich hörte Dennis neben mir erleichtert seufzen.
   „Eure Noten wisst ihr ja schon.”
   Ach ja? Ich nicht. Ich biss mir ungeschickt auf die Zunge und fluchend öffnete ich automatisch meine Augen. Wie gern hätte ich diesen Moment noch ein wenig nach hinten verschoben. Unsere Augen begegneten sich. Mein Schmerzbeklagen war in dem Murmeln der Menge untergegangen, vorne allerdings hatte er es wohl mitbekommen. Ich hielt nicht einmal eine viertel Sekunde aus, bevor ich beschämt meinen Kopf wegdrehte und mit düsterer Miene auf den Collegeblock vor mir starrte. Verdammte Zunge! Sie schmerzte widerwärtig an der Stelle auf die ich gebissen hatte, aber das war mir jetzt egal.
   „Wie ist der Durchschnitt?”, hallte die Frage von Julian, dem blonden Neunmalklug unseres Kurses durch den Raum.
   „Der Durchschnitt ist”, Herr Aturi bückte sich zu dem Kursheft hinunter und landete so in meinem Sichtfeld, „glatt drei.” Er fischte ein Stückchen Kreide vom Pult und drehte sich zur Tafel um, wo er anfing eine Punktetabelle anzuzeichnen. Innerlich bebte ich noch immer, aber das Zittern hatte nachgelassen. Ich versuchte weiter den Block vor mir zu fixieren, aber meine Augen gehorchten nicht. Sie folgten ihm, langsam und zögerlich, als hätten sie Angst vor dem, was sie zu sehen bekommen würden. Aber der Mensch kann nicht ohne die Angst. Sie ist ein Urinstinkt, und die Gefahr reizt manchmal zu sehr. Wenn das Risiko mit einem verführerischen Lächeln winkt, dann wird der Mensch schwach, sogar wenn er die Konsequenzen kennt.
   Mein Blick lag auf ihm. Genauer gesagt auf seinem Rücken. Seine Hand führte die Kreide auf dem dunkelgrünen Untergrund, dabei bewegte sich jeder seiner Muskeln unter dem hellen Hemd, das er trug. Es steckte im Bund seiner Hose, und sicherlich hätte das bei jedem anderen total bescheuert ausgesehen. Aber so wie er es trug, locker und trotzdem recht enganliegend, in Kombination mit der smarten Jeans und den weißen Sneakern... Seine dunklen Haare waren schwungvoll nach oben gegelt. Der Dreitagebart ließ ihn gleichzeitig rau und lässig wirken, während seine Augen die blauen Tiefen des Ozeans wiederspiegelten. Als er sich umdrehte und ich hineinsah, tauchte ich ab, und als er mich mit seinem perfekten Lächeln in den Bann sog, konnte ich mich endgültig nicht mehr wehren. Er sah... Er sah einfach zum Anbeißen aus.

   „Ethan, weißt du schon was du hast?” Es war Dennis, der mich aus dem Bann herausriss. Verwirrter denn je sah ich mit an, wie sich mein Lehrer von mir ab- und dem Klausurenstapel vor ihm zuwandte, ehe er diesen ergriff und begann, ihn unter der grölenden Meute auszuteilen. Ich schüttelte langsam den Kopf.
   „Nein.”
   „Ich hab eine zwei plus, wie letztes Mal”, maulte Dennis weiter. Ich schüttelte erneut den Kopf.
   „Äh, Ethan? Hörst du mir überhaupt zu.” Diesmal reagierte ich gar nicht, sondern richtete meinen leeren Tunnelblick wieder auf den Collegeblock. Wieso hatte ich so verquerte Gedanken? Hatte ich etwa immer noch Fieber?
   „Kann sein, dass du wieder die eins hast.” Dennis ließ sich nicht beirren. Aber meine Klausur war gerade das, was mich am wenigsten interessierte. „Julian war letzte Stunde auch nicht da, einer von euch beiden hat sie.”
   „Mhm”, machte ich beiläufig.
   „Das ist echt bescheuert, nur zwei Punkte mehr und ich hätte die eins minus gehabt.”
   Herr Aturi drehte seine Runde gerade im hinteren Teil der Klasse. Mit jedem zurückgegebenen Blatt schwelte die Lautstärke im Raum wieder an, und ich fragte mich ernsthaft, ob man wohl mit dreißig Prozent weniger Hörvermögen wieder aus der Schule rausging, so nach dreizehn Jahren Dauerbeschallung, und ob Lehrer für Hörgeräte wohl Zuschüsse vom Staat bekamen.
   Dennis lehnte sich an meiner Schulter an und verstummte nun auch. Manchmal machte er das einfach so, und ungeachtet dessen, dass uns schon einige Male Anspielungen mit Bezug auf “schwules” Verhalten nachgeworfen wurden, ließ er es nicht bleiben. Ich hatte auch irgendwann aufgehört ihn von mir wegzuschieben. Einmal hatte ich mich sogar selbst dabei ertappt, wie ich meinen Kopf auf seiner Schulter geparkt hatte - Sehr zu seinem Amüsement. Jetzt kam es mir allerdings etwas ungelegen, und obwohl der Geruch seines Shampoos mich kurz an andere Dinge denken ließ, richtete ich mich auf, sodass er wieder von mir abließ. Etwas enttäuscht schaute er mich an, dann jedoch beachtete er mich nicht weiter, denn ein Bündel Papier landete auf seinem Tisch. Ich starrte es an und sah die Note rot auf weiß, wollte gerade etwas dazu sagen, als mir leicht auf die Schulter geklopft wurde.
   „Beim nächsten Mal wird's aber wieder eine eins, Ethan, okay?”
   Ich zuckte zusammen.
   „Bestimmt”, antwortete ich automatisch, völlig von den Sinnen. Er schmunzelte zufrieden und setzte sich dann vorne aufs Pult. Ich schob geistesabwesend die Klausur zur Seite und ignorierte Dennis erneut, der mich nach meiner Punktzahl auszufragen versuchte, die ich allerdings nicht einmal selbst wusste.
   „Also Leute”, mahnte Herr Aturi nun wieder mit ernsterem Blick und wartete, bis es still wurde. „Wir fangen heute wie angekündigt mit der neuen Unterrichtsreihe an. Ihr kauft euch bitte bis nächsten Mittwoch die Lektüre “Das Parfüm”, die ISBN sage ich euch gleich. Wir werden das Buch in den nächsten Wochen lesen und dann bis zum Ende dieses Schuljahrs damit arbeiten. Und bevor ihr fragt, ja, wir schauen auch den Film dazu. Der Lehrplan sieht vor, dass im zweiten Halbjahr eine Buchanalyse mit einer Filmanalyse verglichen werden muss, das machen wir dann am Ende dieser Unterrichtsreihe.”
   „Wir arbeiten jetzt fünfeinhalb Monate mit einem Buch?”, kam es von Lars aus der hintersten Ecke.

„Und mit dem dazugehörigen Film”, korrigierte Herr Aturi. „Ihr werdet sehen, dass sowohl Buch als auch Film viel zu bieten haben, auch einiges an Diskussionsstoff.” Dabei sah er Dennis an. Mein Freund liebte Diskussionen mit Lehrern, sie gehörten für ihn fast schon zum täglich Brot. „Auf meiner vorigen Schule hat die Reihe den Schülern Spaß gemacht, also freut euch darüber, dass ihr euch nicht durch Sachtextanalysen quälen müsst, so wie der Parallelkurs von Frau Decker.”
   Die Menge stimmte erheitert zu.
   „Die Sachtextanalysen kommen dann erst nächstes Jahr.”
   Und die Menge brach in jammerndes Ächzen aus. Widerwillig musste ich bei diesem Nachsatz grinsen. Ich hatte mich langsam wieder beruhigt, meine Hände faltete ich vor meinem Kinn auf dem Tisch. Jetzt war er wieder nur mein Deutschlehrer. Zugegeben, mein verdammt charismatischer, lässiger und gutaussehender Deutschlehrer.
   „Wer von euch hat denn den Film schon gesehen”, fragte Herr Aturi, der jetzt aufstand und sich auf dem Pult abstützte. Ein paar Hände gingen hoch, und auch in meiner zuckte es verführerisch. Ich gab ihr nach und hob sie an. Der normale Unterricht kehrte wieder ein.

   Nach der siebten Stunde fand ich mich nun zum zweiten Mal vor dem Raum wieder, in dem ich zur Nachhilfe verabredet war. In meiner Brust pochte es wieder etwas schneller als gewöhnlich, aber ansonsten war ich völlig gelassen. Herr Aturi hatte mich auf nichts angesprochen, - bezüglich letzter Woche - und das war auch gut so. Beinahe fing ich schon an, die Vorkommnisse zu verdrängen. Vergessen würde ich sie wohl ohne weiteres nicht, aber so war das eben.
   Ich sah Nick hinter der Glastür den Gang entlang schlendern. Er sah mich zwar, lächelte aber nicht oder bewegte sonst irgendwie einen Gesichtsmuskel. Ein wenig erinnerte er mich an mich selbst, wenn ich mit meinem kalten Blick durch die Gänge der Schule lief, und die Menschen dort entweder das Glück hatten, von mir ignoriert zu werden, oder aber das Pech, von meinem totbringenden Gesichtsausdruck getroffen zu werden. Ich legte diese Miene nicht einmal absichtlich auf. Es war eher so, dass meine Emotionen und sämtliche positive Energien einem riesigen Eisblock wichen, wenn ich in dieser Schule umherlief. Dennis nannte es immer liebevoll “versteinern”, wenn er mich bei dem Blick ertappte. Und so fühlte es sich auch an.
   „Hi”, sagte ich, und hob die Hand ein wenig zum Gruß.
   „Hallo”, kam es gewohnt leise zurück.
   „Wo ist denn Herr Aturi?” Wieso war das die erste Frage, die mir einfiel.
   „Der ist bei irgendeiner anderen Lehrerin”, antwortete Nick und blieb vor mir stehen. „Die reden noch miteinander, unten in der Mensa.”
   „Ah”, gab ich zurück. „Und wie sollen wir jetzt in den Raum kommen?”
  Nick drehte sich zur Tür und drückte die Klinke herunter. Quietschend öffnete sie sich.
  „Nicht abgeschlossen”, stellte der Kleine fest und lächelte kurz. Super, da hätte ich auch vorher drauf kommen können.
   „Gut, dann fangen wir wohl alleine an”, stellte ich fest, ohne mir meine gerade im Kopf herumgeisternden Gedanken anmerken zu lassen.
   „Ja. Was machen wir denn heute, Ethan?”
   Ich schloss die Tür wieder hinter uns und legte meine Sachen auf einen der Tische.
   „Wir kümmern uns um Groß- und Kleinschreibung, und deine Rechtschreibung.”
  Tatsächlich hatte ich mich für heute trotz meiner Krankheit vorbereitet. Naja, ich hatte einfach einen Übungstext für entsprechende Themen ausgedruckt, aber immerhin.
   Nick brauchte zwanzig Minuten, um nahezu jeden Fehler zu finden und zu korrigieren. Ich tat mein Bestes und erklärte ihm auch immer brav, wieso dies und jenes so war, wie es war. Auch ließ ich ihn ein kleines Regelbüchlein anfertigen, in das er die selbst erarbeiteten Regeln eintrug, und ich fand, dass ich mich als Nachhilfelehrer gar nicht mal so schlecht schlug. Gegen zwanzig vor drei ertönte eine lachende Frauenstimme auf dem Flur, und wenige Momente später kam ein breit grinsender Herr Aturi durch die Tür marschiert.
   „Na Jungs, wie läuft's?”
   Ich hoffte, dass Nick antworten würde, aber der sah nur schweigend unseren Lehrer an.
  „Gut, gut”, schaltete ich mich deshalb noch schnell ein, bevor falsche Interpretationen der Stille fallen konnten. Immerhin lief es ja wirklich gut. Herr Aturi sah durch und durch gut gelaunt aus, und ich fragte mich, mit welcher Lehrerin er da gerade so viel Spaß gehabt hatte. An der Stimme hatte ich sie nicht erkannt, aber sie hörte sich recht jung an. Er kam zu uns rüber und schaute Nick und mir kurz über die Schulter. Für einen Moment spürte ich seinen warmen Atem in meinem Nacken, was mich innerlich erschaudern ließ. Sofort hatte ich das Bedürfnis aufzustehen und wegzulaufen. Aber stattdessen lehnte ich mich im Stuhl zurück, was zur Folge hatte, dass ich mit der Schulter seinen Oberkörper berührte. Ethan, was tust du nur? Doch Herr Aturi blieb nicht lange.
   „Sieht gut aus Nick, sehr gut. Mach weiter so.”
   Ich bekam diesmal keine Rückmeldung.
   „Sagt mal, ist es okay, wenn ihr jetzt ihr alleine weitermacht? Ich müsste noch dringend was erledigen. Ihr kommt ja anscheinend ganz gut zurecht.”
   Ganz dringend was erledigen? Wohl eher Spaß mit irgendwelchen Lehrerinnen haben.
  „Klar”, antwortete ich, und erschrak ein wenig darüber, wie genervt meine Stimme auf einmal klang. Er offenbar auch, denn sein Lächeln verdünnte sich zu einem schmalen Strich. Letzteres stand ihm irgendwie nicht.
   „Gut... Dann bis Montag, schönes Wochenende.”
   „Danke. Gleichfalls.”
  Wow, ich war wirklich angekratzt. Aber wieso? Ich meine, ich mochte Frauen nicht wirklich, und bei Lehrerinnen war das ohnehin schon kritisch. Aber dieses Lachen von gerade eben kekste mich gerade echt an. Und vor allem hatte Herr Aturi uns wegen ihr sitzenlassen. Moment - uns sitzenlassen? Erhob ich jetzt etwa schon Ansprüche auf meine Lehrer? Dass ich es nicht mochte wenn Dennis mich ignorierte war klar, immerhin war er mein bester und nahezu einziger Freund. Aber Herr Aturi...? Etwas zwickte in meinem Bauch bei dem Gedanken daran, dass er jetzt allein mit ihr im Lehrerzimmer sein würde und vielleicht...
„Fertig”, unterbrach Nick in stolzem Ton meine Gedanken, und dafür ich war dem Knirps ausnahmsweise mal dankbar. Er schob mir das Papier hin, und ich begann zu lesen. Die restlichen Minuten verstrichen schneller, weil ich irgendwann anfing, mich mit dem Rothaarigen über ihn selbst zu unterhalten, weil mir auffiel, dass ich außer den Deutschproblemen nichts wirklich über ihn wusste. So fand ich heraus, dass er auf Tierdokus stand, einen Tag die Woche im Sportkegelverein zubrachte, einen Golden Retriever namens Hanuta besaß und nachmittags immer Animeserien im Fernsehen schaute. Bei der Sache mit Hanuta konnte ich mir ein ungläubiges Grinsen nicht verkneifen. Ich erzählte ihm von meiner Mieze Twix, und ich hätte schwören können, dass ich einen derartig genialen Zufall wohl kaum nochmal erleben würde.
   Auf dem Rückweg beschloss ich dann, meinen nächsten Kater Knoppers zu nennen. Falls es denn einen nächsten geben würde. Ich saß gerade an der Bushaltestelle und wartete auf den Bus, in den ich umsteigen musste, als mein Handy in der Tasche vibrierte. Ich tippte auf eine SMS von Dennis und lag damit richtig.

  "Hey, du heute schlafen mir bei? Neues Game haben ich tun.”

  
Das letzte Mal, dass ich bei Dennis übernachtet hatte war schon ein Weilchen her, und ein neues Game - welches auch immer das sein sollte - klang doch recht verlockend. Ungeachtet der völlig willkürlich zusammengestückelten SMS, deren Stil ich sogar selbst in die Welt gesetzt hatte, schrieb ich zurück.

   “Bin um acht da.“
   Gesendet, 16:14 Uhr

   Mein Bus hatte schon wieder vier Minuten Verspätung, was allerdings die Mindestverspätung für diese Linie war, also eigentlich schon wieder normal. Ein weiterer Grund dafür die Schule zu wechseln, zum Gymnasium würde ich ganz einfach fünf Minuten mit dem Fahrrad fahren.

   Sogar eine Minute früher als angekündigt stand ich vor Dennis‘ Haustür und klingelte. Über meiner Schulter hing mein Rucksack mit ein paar Klamotten und etwas Knabberzeug. Mehr benötigte ich nie, denn Handtücher und Duschzeug bekam ich von Dennis, und sogar eigene Zahnputzutensilien hatte ich schon dort. Das war praktisch, wenn sich einer von uns spontan zu einem längeren Aufenthalt entschied. Wir wohnten nämlich mit etwa fünfunddreißig Minuten Weg nicht unbedingt nah beieinander.
   Unmittelbar nach dem ersten Klingeln wurde die Tür schon geöffnet, und Frau Winka strahlte mich mit umgebundener Schürze und Topfhandschuh an einer Hand an. Der Duft von Gebäck stieg mir in die Nase.
   „Ethan, wie schön. Du warst ja schon länger nicht mehr hier, komm doch rein.“
   “Länger“ hieß in dem Fall etwa zwei Wochen. Ich bedankte mich höflich und zog meine Schuhe aus, die ich an den gewohnten Platz stellte.
   „Dennis hat erzählt, du hattest Fieber. Geht es dir jetzt wieder gut?“
   Es war schön, Frau Winka wiederzusehen. Sie war eine wirklich reizende Frau, fürchterlich nett, redselig und nahezu immer gut gelaunt. Es war offensichtlich, von wem Dennis jene Eigenschaften geerbt hatte.
   „Ja, mir geht es wieder besser“, beruhigte ich sie, denn sie hatte, genau wie ihr Sohn das manchmal tat, diesen besorgten Mutterblick aufgesetzt.
   „Das ist schön“, stellte sie fest und lächelte mich warm an.
   „Wie geht es Ihnen denn?“, erkundigte ich mich.
   „Oh, uns geht es  gut. Eigentlich wie immer. Du weißt schon“, zwinkerte sie. „Wie lange bleibst du denn hier?“
   Ich legte kurz den Kopf schief. „Bis morgen nur, denke ich.“
   „Oh. Okay.“
   Sie dreht sich von mir weg und lief zur Küche.
   „Möchtest du Kekse? Sind gerade frisch aus dem Ofen gekommen.“
   „Kekse? Ist die Weihnachtszeit nicht schon ein paar Monate vorbei?“
  Sie lachte, und ehe ich in meiner üblichen Bescheidenheit ablehnen konnte, hatte ich einen Teller mit warmen, knusprigen Gebäckstücken in der Hand.
   „Bring Dennis auch ein paar mit. Sie sind köstlich, versprochen.“
   Ein Seufzen unterdrückend dankte ich ihr erneut und lief dann mit Keksen und Rucksack bepackt die Treppe ins erste Stockwerk hinauf. Dennis hatte zwei Zimmer, eins mit Bett, Kleiderschränken, Fernseher und Konsolen, und eins mit Schreibtisch, Computer und dem in meinen Augen viel zu riesigen Regal, das seine Film- und Spielesammlung beinhaltete. Ich erahnte seine Existenz im Schreibtischzimmer nur dadurch, dass die Laute einer gerade malträtierten Tastatur durchs Stockwerk hallten. Leise öffnete ich die Tür und legte die Sachen auf seiner Couch ab. Er hatte ein Headset auf und hörte mich höchstwahrscheinlich nicht, denn das Dröhnen der Kampfhubschrauber und Sturmgewehre konnte ich sogar durch die gut gedämpften Ohrmuscheln des Headsets noch deutlich wahrnehmen. Grinsend schloss ich die Tür und lehnte mich zunächst daran an, um ihm noch eine Weile beim aggressiven Herumhauen auf den Tasten und dem Wundklicken der Maus zuzusehen. Als er dann laut fluchend die Runde beendete und das Headset abnahm, schlich ich mich von hinten an ihn heran. Gut, das war fies, aber es war ein Spiel, das wir beide schon oft genug mit dem anderen gespielt hatten. Knapp neben seinem Ohr machte ich Halt, zögerte noch einmal kurz und machte dann das leise, fauchende Geräusch einer Schlange nach. Dennis‘ Reaktion darauf war diesmal allerdings weitaus… ausladender. Sein flacher Handrücken erwischte mich mit den Knöcheln volle Breitseite am Kinn, und ich flog mit einem Schrecken nach hinten, er dagegen vom Stuhl direkt auf mich drauf, die Augen weit aufgerissen, als wolle er mich umbringen. Es ging alles so schnell, dass ich kurz an der Realität zweifelte, aber als ich meine Augen wieder öffnete und nach oben sah, saß da ein völlig verwirrter und heftig atmender Dennis über mir gebeugt, der endlich zu begreifen schien, dass ich kein Feind war und dem statt blanker Mordlust jetzt der Ausdruck purer Schuldgefühle aufs Gesicht geschrieben war. Eine Sekunde später fing ich an zu lachen wie ein Irrer. Meine Lippe schmerzte zwar etwas, aber der folgende Akt der Verzweiflung und Entschuldigungsversuche des Braunhaarigen über mir waren einfach zu köstlich.
   „E-Ethan, tut mir Leid, s-sorry! Ich wusste nicht dass… Du, du hast dich angeschlichen und… Ich dachte…“
   Mein Lachen unterbrach ihn, und er starrte jetzt abwechselnd mich und dann die Hand an, mit der er mich getroffen hatte. Mein Bauch tat schon weh, was aber vielleicht auch an Dennis‘ Gewicht lag, das dieser voll auf mich geladen hatte, immerhin saß er komplett auf mir.
   „Sorry, sorry, sorry. Ich wollte dich nicht schlagen!“
   Seine Verzweiflung fand ich geradezu niedlich, aber ich fing langsam an mich wieder einzukriegen. Verdammt, meine Lippe tat wirklich ziemlich weh. Sie war vom ungewollten Schlag an einen meiner Zähne gehauen worden.
   „Krieg dich wieder ein, ist ja nichts passiert“, grinste ich hochamüsiert, doch der Schock ließ nicht nur sein Herz immer noch schnell schlagen.
   „Du… Deine Lippe-“
   Ich schüttelte abwinkend den Kopf, doch im nächsten Moment spürte ich seine warme Hand an meiner Wange. Die geplanten Worte blieben mir im Hals stecken. Wir verstummten. Er beugte sich etwas vor, sein Blick fest auf meine Lippe gerichtet, von der aus ich jetzt einen bitteren Geschmack wahrnahm. Er atmete immer noch schwer. Ich schluckte. Noch ein Stück kam er näher, fast berührten seine Haare mein Gesicht. Dann strich ein Finger vorsichtig über meine Lippen und verwischte das Blut. Ich schmeckte es. Meine Augen starrten geradeaus, mir wurde plötzlich fürchterlich heiß. Ich spürte den Puls an meinem Hals ansteigen, und mein Körper verkrampfte sich schlagartig, meine Wange fing an zu glühen, dort wo seine Hand lag. Dennis sah mich irgendwie seltsam an, aber ich konnte seinen Blick nicht wirklich deuten. Das Gewicht auf meiner Hüfte wurde schwerer, und ich realisierte jetzt völlig entgeistert, dass er mit seinem Becken genau auf der Stelle saß, an der sich bei mir jetzt etwas zu regen begann. Was zur Hölle passierte hier? Ich drehte mein Gesicht zur Seite weg und kniff die Augen zusammen.
   „Könntest… Könntest du von mir runtergehen?“
   Ich hatte Dennis selten so perplex gesehen. Allerdings schien er auch erst jetzt zu merken, worauf er die ganze Zeit gesessen hatte. Dieses Worauf hatte in der Zwischenzeit ein gewisses Ausmaß in meiner Hose angenommen, und jetzt war ich es, der mit Verwirrung und Verzweiflung gleichermaßen zu kämpfen hatte. Das war gerade nicht passiert, oder? Ich hatte nicht von ein wenig Körperkontakt mit meinem besten Freund einen Steifen bekommen, oder? Ich stand nicht auf Männer. Ich war nicht schwul. Nein, das war alles ein Missverständnis. Vielleicht die Reaktion auf den Schreck. Ich weigerte mich vehement gegen das, was ich jetzt durch einen Schneidersitz zu verbergen versuchte. Das war es nicht, das stimmte nicht! Doch mein Herz schlug nur noch schneller, je mehr ich versuchte mich von den Tatsachen zu entfernen, je mehr ich an das dachte, was gerade passiert war. Die Stille in dem Zimmer wurde von dem Rauschen in meinen Ohren durchbrochen, das laut und unaufhaltsam an meinen Nerven nagte. Ich stand nicht auf Kerle, das konnte nicht sein! Das war nur… das war…
   Ich konnte es nicht länger abstreiten. Diese Gewissheit breitete sich wie ein Parasit in meinem Bewusstsein aus und verursachte mir Kopfschmerzen die schlimmer waren als die, die ich begleitend zum Fieber gehabt hatte. Aber diesmal war es kein Fieber, keine Krankheit. Es war ganz einfach die Erkenntnis, dass Dennis in mir etwas ausgelöst hatte, das bei Männern definitiv nicht üblich war. Und da war noch… er. Wenn er an Dennis‘ Stelle gewesen wäre… Mein Blut geriet bei dem Gedanken in Wallung, und ich lehnte mich gequält nach vorne, um die wachsende Beule in meiner Hose zu verbergen. Nein. Nein. Das war alles so falsch.
   Ich war nicht schwul.
   Ich war nicht schwul.
   Ich war nicht schwul!

 

Kapitel 5

Die nächste Woche lebte ich so dahin, physisch wie psychisch introvertiert und geistig völlig von der Welt um mich herum abgeschottet. Ich hatte Dennis nichts von meiner Reaktion an diesem Abend erzählt und hatte mich auch weitestgehend normal verhalten, aber innerlich brodelte in mir ein unerträgliches Feuer. Ich war nicht normal. Was ich zuerst als hormonbedingte, seltsame Reaktion abgetan hatte, bestätigte sich mir in den darauffolgenden Tagen als sichere Tatsache, dass ich offenbar auf Männer stand. Ich schwänzte in dieser Wochen drei Tage Schule. Zwar fehlte ich schon so wirklich viel zu oft in der Schule, aber ich brachte es einfach nicht über mich, Dennis oder Herr Aturi - oder sonst irgendjemandem - in die Augen zu schauen. Letztendlich ließ es sich aber nicht vermeiden, weshalb ich versuchte, das Beste aus dieser unglückseligen Situation zu machen. Nur zum Schwimmen sagte ich Dennis ab, denn ich wollte wirklich nicht riskieren, in der Öffentlichkeit mit einem Ständer herumzulaufen - und das, wo ich doch meist nur mit Männern in einem Becken war...



   „Hey Ethan, hast du Lust mit uns zu arbeiten?“
  Eine zahnspangenbesetzte Pferdefresse gaffte mich hoffnungsvoll an, und am liebsten hätte ich ihr als Antwort eine Ladung fauler Eier entgegen geklatscht. Hätte vom Geruch her eigentlich auch keinen Unterschied mehr gemacht.
   „Nein. Ich mach das alleine“, knurrte ich und drehte mich demonstrativ von Henning weg, der seine Augen sogleich weinerlich zusammenpresste. So sah er nochmal abscheulicher aus, und ich fragte mich, ob es eine Grenze für Hässlichkeit gab. Wenn ja, dann war Henning wahrscheinlich ein Stammgast der Grenzpatrouille. Gerade noch so verkniff ich mir ein angewidertes Grinsen bei diesem Gedanken.
   „Aber uns fehlt noch jemand, und wir sollen in Dreiergruppen arbeiten.“
   Ja und, war das mein Problem?
   „Ich bin bestimmt nicht der Einzige der noch keine Gruppe hat.“
   Ein kurzes Zögern seitens Henning ließ mich hoffen, doch dann wurde all meine frisch erlangte Zuversicht von meiner neuen Geographielehrerin zerschmettert.
   „Hat jeder eine Gruppe? Du, sagst du mir noch einmal deinen Namen?“
   „Ethan“, sagte ich genervt und warf ihr einen kalten Blick zu. Ihr französischer Akzent ging mir schon nach der ersten halben Minute auf den Geist. Wieso hatte sich Herr Thalom auch verletzen müssen. Jetzt hatte ich diese Etepetete-Tusse am Hals, und niemand wusste, wie lange mein Geographielehrer im Krankenhaus bleiben würde. Sicher war nur, dass eine instabile Beckenfraktur wahrlich keine Sache war, die mit einem Pflaster und ein paar Medikamenten aus der Welt war, und so begrub ich schnell die Hoffnung, dass ich Frau Baguettefresse bald wieder los sein würde.
   „Ethan, warum hast du noch keine Gruppe? Bei Henning und Daniel ist doch noch ein Platz frei. Und hier, Julian und Karl sind auch nur zu zweit.“
   Ich wusste nicht was mich mehr ärgerte. Die Tatsache, dass diese Schnepfe meinen Namen anscheinend als einzigen nicht zu kennen schien oder die sichere Aussicht, dass beide von ihr gestellten Optionen nichts weiter als Regen und Traufe darstellten.
   „Ich arbeite alleine.“
   „Bitte?“
   „Ich arbeite alleine“, wiederholte ich ruhig. Es wurde stiller im Raum. Ein seltsames Phänomen, denn obwohl ich nahezu alle meiner Mitschüler verachtete, schienen sie einen gewissen Respekt vor mir zu haben. Oder zumindest vor dem, was ich sagte. Denn außer mir wagte es für gewöhnlich niemand, in einem derartig abfälligen Tonfall mit Lehrern zu sprechen, geschweige denn sich ernsthaft auf Diskussionen mit ihnen einzulassen. Dennis tat letzteres ganz gern, aber wenn es um Respekt ging hielt er sich zurück, egal ob er den Lehrer oder die Lehrerin mochte oder nicht. Doch diesmal schien ich meine Kontrahentin unterschätzt zu haben.
   „Hier wird nicht alleine gearbeitet, ich habe gesagt ihr sollt euch zu dritt zusammenfinden. Das hier ist keine Pralinenschachtel aus der man sich die besten Truffes au chocolat herauspickt, das ist eine verbindliche Aufgabe. Also entscheide dich jetzt bitte für eine der beiden Gruppen, damit ihr anfangen könnt. Hier gibt es keine Sonderbehandlung.“
  In nicht einmal zehn Minuten hatte sie es geschafft, meine ganze Abneigung in ihrer schönsten Pracht auf ein neues Ziel zu konzentrieren. Gratulation, Mademoiselle! Ich gab jedoch nicht zuletzt meinen Ohren zuliebe keine Widerworte mehr, denn noch mehr von diesem Akzent und ich wäre wahnsinnig geworden. Stattdessen packte ich wütend schnaubend meine Schreibsachen und setzte mich an Hennings Tisch, der mich jetzt begeistert und überglücklich angrinste. Fast hatte ich Angst, dass er gleich anfangen würde zu sabbern. Hätte Dennis doch bloß Geographie statt Pädagogik gewählt - oder ich lieber letzteres.

   Nach dieser sehr unerfreulichen Doppelstunde ließ ich mich das erste Mal seit langem wieder an der Bank blicken, an der sich eine Sippe aus Schülern meiner alten Klasse jede Pause traf. Da wir etwas früher aus dem Unterricht entlassen wurden - wenigstens eine winzige Entschädigung für den grausigen Unterricht - war noch niemand da. Ich setzte mich und packte mir den Rucksack auf den Schoß. Die Sonne schien jetzt mit all ihrem Einsatz auf die Erde, und sofort wurde mir unter dem schwarzen Hoodie zu warm, weshalb ich aufstand und ihn am Saum packte, um ihn auszuziehen. Als ich den Stoff über meinen Kopf zog und anschließend meine Arme herauslöste, hörte ich die Tür zum Hauptgebäude aufgehen. Ich rechnete damit, dass es ein Schüler der siebten Klasse war, denn gerade erst waren mir einige davon auf dem Gang entgegen gekommen. Doch als ich mich umdrehte und mir durch die Haare fuhr, die vom Ausziehen des Pullovers völlig zerzaust worden waren, sah ich Herr Aturi vor mir, seine dunkelgraue Tasche über der Schulter und einen Kaffee To Go aus der schuleigenen Cafeteria in der Hand. Er blickte mich gleichermaßen verwirrt an wie ich ihn, denn von allen Menschen dieser Schule hatte ich mit ihm hier am wenigsten gerechnet. Es kam eigentlich nie zu Begegnungen mit ihm außerhalb der Gänge im Gebäude der Sekundarstufe II, weil er dort sein Lehrerzimmer und gleichzeitig fast alle seiner Unterrichtsräume hatte...
Wow, ich wusste wirklich zu viel über ihn.

   „Oh Ethan, hi.“
   „Äh, hallo.“
   Er sah gestresst aus, irgendwie müde. Diesen geschafften Gesichtsausdruck kannte ich gar nicht von ihm.   
   „Bist ja auch wieder da.“
   Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht, aber es schien mir etwas gequält zu sein.
   „Ja“, antwortete ich etwas unruhig. Die Tage an denen ich nach dem Abend geschwänzt hatte, hätte ich eigentlich Deutsch gehabt. Ich umklammerte unschlüssig den Hoodie mit meinen Händen und sah zwischen Bank, Mülleimer und Lehrer hin und her. Der stand jetzt da und musterte mich. Dunkle Ringe unter seinen Augen ließen ihn eher wie fünfunddreißig statt wie sechsundzwanzig wirken. Er schien den Kaffee wirklich nötig zu haben.
   „Geht's Ihnen gut?“ Die Frage verließ meinen Mund noch ehe ich sie recht realisieren konnte. Er zögerte.
   „Ähm, ja. Natürlich. Ich bin nur etwas müde, tut mir leid.“
   Er lachte verlegen und fuhr sich mit der freien Hand demonstrativ durch die Haare. Selbst diese waren heute nicht perfekt gestylt, sondern standen viel mehr in alle Richtungen ab. Trotzdem regte sich etwas in mir, dieses müde Lächeln, der verträumte Blick und die ungebändigten Haare ließen ihn auf eine gewisse Art und Weise irgendwie doch wieder niedlich wirken. Niedlich... Mein Deutschlehrer? Es mag befremdlich wirken, aber ich hatte mich schon nach zwei Wochen mit dem Gedanken daran, eventuell schwul zu sein, abgefunden. Viel zu oft hatte ich an ihn denken müssen, viel zu oft war er fester Bestandteil meiner Träume gewesen, und viel zu intensiv reagierte ich auf den Gedanken, von ihm berührt zu werden. Es ließ sich einfach nicht vermeiden. Aber ebenso war klar, dass dieser Mann, egal wie sehr ich mich hineinsteigern würde, für mich unerreichbar war.
   Und dennoch...
   „Herr Aturi?“
   Ich legte den Kopf ein wenig schief und lächelte schwach. Mein Kopf war wie betäubt.
   „Haben Sie am Wochenende Zeit?“
   Es war wohl mit Abstand das Dümmste, was ich jemals von mir gegeben hatte. Aber wenn ich ihm schon nicht als Schüler oder hoffnungsloser Schwärmer näher sein konnte, dann vielleicht als... Freund? Oh Ethan, wie naiv und gutgläubig. Doch Herr Aturi riss nicht ungläubig die Augen auf, so wie ich es erwartet hatte. Er verzog nicht voller Unbehagen das Gesicht oder stellte irgendwelche Fragen, die mich zweifellos in Verlegenheit gebracht hätten. Er schien nachzudenken. Nach etwa fünf Sekunden, in denen ich auf das Schlimmste und Niederschmetternste wartete, das mir je widerfahren würde, antwortete er schließlich.
   „Samstag habe ich Zeit.“
  Das war alles. Kein warum, keine Ablehnung, keine Ausreden. Mein Kopf wurde leer, mein Mundwerk verselbstständigte sich.
   „Ich kenne eine gute Bar. Hätten Sie Lust etwas trinken zu gehen? Samstagabend vielleicht?"
   Ich erkannte mich selbst nicht wieder.
   „Hm. Gerne. Klingt gut.“
   „Ja. Gut.“
   „Ja...“
   Ich schaute sein hübsches Gesicht geistesabwesend an. Wieso war er nur mein Lehrer?
   „Also gut, ich muss dann weiter. Achte Klasse“, sagte er etwas verlegen und drückte den Kaffeebecher in seiner Hand etwas fester. Ich sah, wie das Plastik eingedrückt wurde.
   „Ja, natürlich. Also bis dann.“
   „Bis dann.“
   Ich sah ihm noch hinterher, wie er zügig über den großen Schulhof lief. Und ich konnte nicht fassen, was ich da gerade getan hatte. Hatte ich ihn wirklich zu einem Treffen eingeladen? Er und ich alleine? So völlig außerhalb der Schule? Was hatte ich mir dabei nur gedacht. Es klingelte zur Pause, und der Klang meines wild schlagenden Herzens ging im endlosen Lärm der Schüler unter.

Als Dennis, Finn und die anderen auf die Bank zuliefen, hatte ich noch immer keinen klaren Gedanken gefasst. Es war einfach zu unwirklich, zu absurd.
   „Na Ethan, wie war Geographie?“ Der sarkastische Unterton in Finns Stimme ärgerte mich zwar nicht ernsthaft, aber ich reagierte trotzdem etwas gereizt. Immerhin war es in unserem kleinen Kreis bekannt, dass ich der einzige Depp gewesen war, der sich gegen Pädagogik entschieden hatte, was der Grund dafür war, dass ich stets alleine, nur umringt von sabbernden Vollidioten im Unterricht saß. Diesmal kam aber noch die Lehrerin hinzu, und das Ganze hatte unschöne Ausmaße angenommen.
   „Scheiße, wie immer“, blaffte ich. Finn war eigentlich echt okay, aber er war einer dieser Leute mit denen ich wirklich gar nichts außerhalb der Schule zu tun hatte. Nicht mehr jedenfalls.
    „Habt ihr nicht jetzt diese neue heiße Lehrerin? Frau Datené oder so?“
   „Wir haben 'ne heiße Lehrerin an der Schule? Wo?“, schaltete sich Markus ein, der gerade offenbar von Sport kam, denn seine Haare trieften nur so von Schweiß. Ich sah ihn missbilligend an, aber nicht wegen der Haare.
   „Ethans neue Geographielehrerin“, erklärte Finn voller Inbrunst. „Hab gehört die soll echt ein Leckerbissen sein. Grad frisch von der Uni, lange Beine, hübsches Gesicht und ordentlich Vorbau.“
    „Was, so etwas existiert hier? Man hast du Glück, Ethan! Musst sie mir mal vorstellen.“
    „Das kannst du mal schön vergessen, Strohhirn“, wehrte ich ab. „Die Frau ist ein Killer.“
   „Oho, so umwerfend? Man eh, sei nicht immer so egoistisch. Kannst ruhig mal was von deiner Beute abgeben.“
   „Nein, so meinte ich das ni-“
   „Jaja Ethan, ist klar“, zwinkerte Finn übertrieben und grinste mich vielsagend an.
   „Gibs zu, du bist ihrem Charme sofort verfallen und willst sie jetzt ganz für dich allein, du Casanova du. Lass dich bloß nicht im Klassenzimmer erwischen“, lachte Markus, und in mir keimte der Wunsch auf, ihm eine schwarze Plastiktüte über den Kopf zu ziehen und ihn in einen dunklen, unendlichen Wald zu schicken.
   „Du bist so ein Idiot. Nicht einmal in meinem schlimmsten Alptraum würde ich darauf kommen, etw-“
   „Red dich nicht immer raus Kleiner, Markus hat schon Recht. Immer schön die Vorhänge zuziehen.“
  Abwehrend hob ich die Hände, aber mir war klar, dass diese beiden Kerle hier nicht so schnell nachlassen würden, und auf eine Diskussion hatte ich jetzt nun wirklich keine Lust.
   „Oh man, Leute“, beendete ich die Konversation also zähneknirschend. Wenn etwas an dieser Frau heiß war, dann wohl das beißende Feuer ihrer unerträglichen Stimme in meinen Ohren. Sie mochte ja vielleicht ganz nett aussehen, aber Französisch war einfach ein Killer, mal ganz abgesehen von der Frau selbst. Und außerdem... Nun ja. Sie mussten es ja nicht wissen.
   Ich sah Dennis an. Er hatte sich stillschweigend neben mich gesetzt, schaute geradeaus und sah müde aus. Waren denn heute alle so fertig, oder fiel es mir sonst nur nicht auf?
   „Hey Casanova, feierst du eigentlich deinen Geburtstag?“, quatschte mich Finn weiter an.
   „Geburtstag?“
   „Ja, ähm.. Du hast doch nächste Woche Geburtstag, oder nicht?“
   Natürlich wusste ich, dass mein Achtzehnter immer näher rückte. Aber es war nicht so, dass ich viel darüber nachdachte. Für mich war es ein Geburtstag wie jeder andere, da machte die Volljährigkeit auch keinen Unterschied.
   „Hab ich letztes Jahr gefeiert?“
   „Ich hoffe doch nicht, sonst wäre ich ja wohl eingeladen gewesen.“
   „Da hast du deine Antwort.“
   „Aber es ist der Achtzehnte!“, dementierte Finn weiter. Ich zuckte mit den Schultern.
   „Na und?“
   „Wie na und? Das muss doch gefeiert werden.“
   „Ändert sich doch nichts.“
   „Natürlich!“
   „Aha?“
   „Ja, aha! Du bist ja sooo langweilig.“
   Ich schnaubte nur und biss dann desinteressiert in mein Brot. Mir war jetzt nicht nach Feiern oder dem Planen von Partys. Diese übertriebenen Achtzehner-Feiern fand ich einfach nur albern. Sollten sich andere doch extra Hallen für ihre zweihundert oberflächlichen Pseudofreunde mieten, wenn es ihnen Spaß machte. Ich würde das mit Sicherheit nicht. Vor allem mit welchen Freunden? Wahrscheinlich würde ich sowieso nur wieder mit meiner Familie zusammen Kaffee trinken und am Abend würde Dennis dann kommen und mir, obwohl ich ihn jedes Jahr darum bat mir nichts zu schenken, ein kleines Päckchen mitbringen. Es hatte keinen Zweck, er war einfach nicht zu bekehren. Okay, ich hatte ihm zu seinem Geburtstag auch immer etwas geschenkt, aber das waren Kleinigkeiten. Eine Zeichnung von ihm, mal eine kleine Holzschnitzerei von einem Orca. Das Lederarmband, das ich ihm zu seinem achtzehnten geschenkt hatte, hatte er seitdem jeden Tag getragen. Auch jetzt schlang es sich um sein schmales Handgelenk, das locker auf seinen Oberschenkeln lag. Ich blickte ihn nur ab und zu aus den Augenwinkeln an, aber er wirkte auch die nächsten zehn Minuten über immer noch ziemlich kaputt.
   „Schlecht geschlafen?“, fragte ich, als Finn und Markus sich endlich etwas von uns entfernt hatten.
   „Eher wenig als schlecht“, murrte Dennis. Er schloss seine Augen. Ich dachte an die Nacht die er bei mir geschlafen hatte, als sein Gesicht vom silbernen Mondlicht geziert wurde, während er neben mir schlief.
   „Ist irgendwas los?“ Ich kannte meinen Freund viel zu gut, als dass ich übersehen könnte, wenn ihm etwas auf der Seele lag.
   „Nein, alles in Ordnung.“ Er hielt kurz inne. „Kommst du morgen wieder mit ins Schwimmbad?“
   Ich schluckte. Bisher hatte ich ihn immer per SMS abgewimmelt, aber jetzt saß ich direkt neben ihm.
   „Ähm. Ich weiß ni-“
   „Du musst ja nicht, schon okay.“ Jetzt sah er mich an. Seine Augen glommen farblos in der Sonne. Sie schienen matter zu sein als sonst.   
   „Quatsch nein, ich komm gerne mit! Also das heißt, ich würde gerne...“
  „Aber?“ Was sollte dieser verständnisvolle Ausdruck jetzt wieder? Gab es irgendetwas, weswegen ich zu bemitleiden wäre? Es verwirrte mich, mal ganz abgesehen davon, dass ich überhaupt keine Ahnung hatte, was ich jetzt sagen sollte. Darüber hatte ich mir keine Gedanken gemacht.
   „Also“, begann ich, und zog eine gespielt genervte Schnute, „ich muss noch für Geographie ein Referat vorbereiten. Miss Baguette hat es für nötig gehalten, mir gleich nach den ersten beiden Stunden einen Vortrag über Plattentektonik aufzudrücken. Und wenn ich's mir jetzt mit ihr verscherze will ich gar nicht wissen was als nächstes kommt.“
   Wow, gut lügen ging anders. Aber Dennis schien den Köder zu schlucken. Er nickte und stand dann auf.
   „Bin mal beim Spind, bis nachher.“
   „Okay, bis dann.“

Scheiße.

 

Als ich in dieser Nacht im Bett lag, fasste ich zusammen:
    Erstens: Das männliche Geschlecht übte auf mich mehr Einfluss aus, als normalerweise üblich.
    Zweitens: Ich hatte meinen heißen Deutschlehrer um ein Treffen gebeten. Alleine. In einer Bar. Also mehr oder weniger alleine.
    Drittens: Schwimmbad-Problem.

Zweitens und drittens schienen aus ersterem zu resultieren. Wie war das? Man muss das Problem bei der Wurzel packen? Oder so ähnlich. Ich rollte mich nervös zwischen den Kissen herum und packte mir zeitweise energisch an den Kopf, so als wollte ich mir meine Neigung auf diesem Wege austreiben. Denk an Mädchen, sagte ich mir immer wieder in Gedanken, denk an ihre schönen Rundungen, ihre sanften, hellen Stimmen und die zarten, schlanken Finger. Denk an duftende lange Haare, an kurze Röcke und aufreizend geschminkte Augen. Denke nur daran! Nur daran, Ethan! An nichts anderes!

Ich wiederholte die Lektion einige Male und kam zu folgendem Ergebnis: Flache, trainierte Brustmuskeln, breite Schultern, eine raue, dunkle Stimme die erregt meinen Namen flüstert, starke Hände die meinen Körper leidenschaftlich berühren, sein göttliches Aftershave, seine kurzen, strubbeligen und wilden Haare, smarte Jeans die seinen knackigen Hintern einfach perfekt betonen und nicht zuletzt der tiefblaue Ozean in seinen Augen, in den ich am liebsten jede Minute meines verdammten Lebens eintauchen würde.

Wow. Welch ernüchternde Bilanz…

 

Kapitel 6

   Unruhig stand ich am Gleis. Meine Knie schlotterten unkontrolliert, mein Atem ging schnell. Ich warf noch ein Pfefferminzbonbon ein und schaute auf die Uhr über den Anzeigetafeln. Wir hatten neun Uhr ausgemacht. Hier am Gleis 11. Ich war bereits vor fünfundzwanzig Minuten mit der S Bahn am Hauptbahnhof eingetrudelt, darauf bedacht bloß nicht zu spät zu kommen. Was ich in der Schule immer verbockte, wollte ich wenigstens in meiner Freizeit wettmachen. Eine Durchsage schallte über das volle Gleis und informierte über die jeden Moment einfahrende Bahn. Mein Puls überschlug sich ein weiteres Mal, und die vielen Blicke die mir zugeworfen wurden ignorierend atmete ich mehrmals tief ein und aus. Wie vor einer Matheprüfung, dachte ich. Oder nein! Matheklausuren verpatzte ich auch trotz ausreichender seelischer und fachlicher Vorbereitung immer. Das hier war eher wie Deutsch oder Sozialwissenschaften. Ich wusste, dass es gut werden würde, hatte aber so hohe Ansprüche an mich selbst, dass ich deshalb immer extra nervös wurde. Ja, genau so war das. Wie eine Deutschklausur. Alles würde gutgehen. Schließlich hatte ich mich auch jetzt bestens vorbereitet. Mein schwarzes Lieblingshemd schmiegte sich an meinen Oberkörper, meine Hose saß perfekt, die Sneaker hatte ich sogar grob geputzt und das Armband baumelte fröhlich um mein Handgelenk. Frisch geduscht und rasiert, mein edelstes aber nicht aufdringliches Parfum sparsam aufgelegt und die Haare locker hoch gegelt. Meine Mutter hatte mich kurz vor dem Ausgehen gefragt, ob ich ein Date hätte, so wie ich mich bei meinem Styling ins Zeug gelegt hatte. In der Euphorie hätte ich mich sogar fast verplappert, aber letztlich versicherte ich ihr, dass ich nur mit Dennis und ein paar anderen feiern gehen würde. Das kam zwar selten vor, aber eben nicht gar nicht. Was konnte also schon schiefgehen?

   Die Bahn kam kreischend zum Stehen, doch weil der Lärmpegel ohnehin dauerhaft hoch war, fiel das nur beiläufig auf. Als die Türen sich öffneten, sah ich nur ein paar wenige Leute aussteigen, allerdings strömten jetzt dafür umso mehr in deren Richtung. Es wurde noch lauter und enger, auch hinter mir zog die Menge auf mich zu, und ich hatte das Gefühl der einzige zu sein, der nicht in Bewegung war. Fluchende und gestresste Fahrgäste drückten sich an mir vorbei, motzten herum oder seufzten erleichtert in Anbetracht der vergangenen Wartezeit. Jemand rollte mir mit seinem Koffer über den Fuß als ich gerade meinen Kopf empor reckte, um Herr Aturi in der Menge ausfindig zu machen, und ich zuckte nun meinerseits fluchend zusammen. Was hatte der denn da drin, einen komprimierten Stahlträger? Autsch! Ich versicherte mich kurz, dass mein Schuh keinen Schaden genommen hatte, dann fing ich wieder an zu suchen, denn die meisten waren nun in oder unmittelbar vor der Bahn angekommen. Hm, ein Asiate mit Anzug und Aktenkoffer, zwei anzüglich daher laufende Mädchen, vielleicht fünfzehn, ein Tramper mit riesigem Rucksack, eine Gruppe besoffener Jugendlicher, laut pöbelnd und Richtung Fressbude orientiert sowie ein älteres Paar. Das waren alle, die ich hatte aussteigen sehen. Allerdings stand ich beim Abteil A, und es gab immerhin noch die Abteile B bis D. Doch das nun fast wieder leere Gleis - Ausstieg und Einstieg vollzogen sich in nicht einmal einer Minute - wollte mir keinen Herr Aturi offenbaren. In mir kroch neben der Aufregung nun auch noch Panik hoch. Würde er nicht kommen? Ich schlich suchend weiter, an den Snackautomaten und Tauben vorbei. Das war doch der richtige Zug, oder? Neun Uhr, das hatte er geschrieben. Neun Uhr Gleis 11, mit der S 1 um sechs vor. Ich versicherte mich abermals, dass Ort und Zeit stimmten. Alles roger. Aber er war nicht da. Die Türen schlossen sich, und ich kramte mein Handy aus der Hosentasche um nachzusehen, ob er mir vielleicht geschrieben hatte. Möglicherweise hatte er seine Bahn nur verpasst.
   Doch gerade als ich auf die E-Mail App hämmerte, wurde ich an der Schulter angetippt. Ich fuhr herum, japste vor Schreck auf und starrte den Mann vor mir entsetzt an. Durch das quietschende Abfahren der S Bahn hatte ich sein Herannahen gar nicht bemerkt. Umso beruhigter war ich, dass mich kein Fremder oder irgendein randalierender Kerl angepackt hatte, sondern derjenige den ich gesucht hatte.
   „Hey, hier bist du! Man oh man, ich hab dich erst gar nicht erkannt.“ Und dann, nachdem ich nichts sagte: „Sorry, hab ich dich erschreckt?“
   Erschreckt war gar kein Ausdruck.
    „Nein, also – naja, ein wenig.“
   Er lachte, und ich konnte nicht anders als es ihm gleich zu tun. Ich entspannte mich wieder etwas und lächelte ihn aufmunternd an. „Die Bar ist nicht weit von hier.“
   „Alles klar, dann lass uns gehen“, schlug er vor, und ich stimmte zu.

   Dass es so normal sein könnte, mit seinem Lehrer einen trinken zu gehen, hätte ich beim besten Willen niemals gedacht. In der ersten halben Stunde hatte ich noch mit meiner Nervosität zu kämpfen, nachdem wir aber endlich in der bereits halbvollen Bar waren, tauten wir beide langsam auf. Die Gespräche waren belanglos, nichts Außergewöhnliches. Wir redeten über Bildung, Berufe, Bücher und Medien, die Infantilisierung der Gesellschaft und unfähige Politiker. Interessanter wurde es bei dem Thema Religion und dem Sinn des Lebens, wobei sich sowohl bei ihm als auch bei mir die sarkastischen Zyniker zu Wort meldeten. Und obwohl ich mich schon nach zwei großen Biergläsern massiv bemühen musste, ihn nicht die ganze Zeit anzustarren, kam eine – für eine Bar – relativ niveauvolle Konversation zustande. Irgendwann war diese auch voll, die Musik war genial und die Stimmung ausgelassen. Und ich musste mal pinkeln, also entschuldigte ich mich bei meinem Begleiter und drücke mich an den Leuten hauptsächlich mittleren Alters vorbei, die um die zahlreichen Stehtische herum standen und qualmten. Eigentlich hasste ich sowohl Rauch als auch die meisten Raucher, was sich meistens einfach ergab, aber in Bars und Kneipen war mir das seltsamerweise ziemlich schnuppe. Eklig war es nur am nächsten Tag, wenn die Klamotten wie Sau stanken. In den Haaren haftete das Nikotin teilweise noch länger, was wirklich nicht schön war.
   In einer Nische vor der Frauentoilette, wo normalerweise die Putzfrau saß und Trinkgeld entgegennahm, standen zwei Frauen eng umschlungen und knutschten wild. Die eine hatte ihr Bein zwischen die Schenkel der anderen gedrückt und rieb ihren Körper ekstatisch an ihr auf und ab. Ich versuchte nicht hinzusehen, was mir zugegebenermaßen nicht allzu schwer viel, und verschwand auf der Männertoilette, als diese endlich frei wurde. Nachdem ich mich erleichtert hatte, überprüfte ich mithilfe des Spiegels im Vorraum mein Aussehen.
   Frisur: Saß.
   Hemd: Etwas verrutscht, schnell wieder hergerichtet.
   Hose: Sah man nicht im Spiegel, Gefühl war aber gut.
   Schuhe: Etwas mitgenommen, viele draufgetreten.
   Attraktives Lächeln: Passt.
   Ja, zugegeben, ich war etwas eitel. Dafür aber umso weniger trinkfest. Ich bahnte mir den Weg zurück zum Tisch, an meinem gaffenden Klo-Vorgänger vorbei, der die lasziv herummachenden Lesben anfeuerte, die Dart- und Billardspieler hinter mir lassend und schließlich durch die trinkende und lustige Meute hindurch. Als ich nach diesem gefühlten dreistündigen Ausflug wiederkam, sah ich, wie Herr Aturi amüsiert lachte und dem dicken Affen neben ihm zuprostete.
   „Hab ich was verpasst?“, fragte ich, und obwohl ich die Frage rhetorisch stellte, wollte ich eine konkrete Antwort hören.
   „Würde ich so jetzt nicht formulieren“, grinste Herr Aturi, der sich immer öfter zu mir herunter beugen musste, damit ich ihn verstehen konnte. „Der Kerl hat mich gerade gefragt, ob du mein Lustsklave oder so etwas bist, und ob wir eine Art Rollenspiel spielen.“
   „Was?!“, rief ich bestürzt aus und musste lachen. „Wie kommt der denn auf so einen Mist?“ Etwas ziepte in meiner Magengegend.
   „Er meinte ihm sei aufgefallen, dass du mich immer ‚Herr Aturi‘ nennst“, erklärte er. „Schüler Lehrer Rollenspiele und so.“

Mir gefiel diese spontane Absurdität. Wir lachten gemeinsam, und doch fühlte sich dabei irgendwas in mir unangenehm ertappt. Nicht, dass ich auf Machtspielchen stehen würde, aber ein fremder Mann hatte uns gedanklich in eine Kiste gesteckt - buchstäblich. Irgendwie munterte das meine Laune auf. Obwohl die ohnehin schon gut war. Um vom Thema abzulenken, sprach ich auf die Lesben vor der Toilette an.


    Es war mittlerweile kurz vor zwölf. Wir hatten uns eine gute Stunde lang über die Homosexellenverfolgung in Russland unterhalten, wobei ich etwas zurückhaltender als sonst mitfieberte. Glücklicherweise stieg zwischenzeitlich der dicke Affe in das Gespräch ein, denn obwohl der hauptsächlich niveaulose Blondinenwitze lallte, war das ein unterhaltsamer Part des Abends. Auch amüsierte es ihn so köstlich, dass ein Schüler mit seinem Lehrer eine Bar besuchte, dass er uns jeweils noch zwei Runden Kurze spendierte, ehe er mit seinem Rudel zur nächsten Kneipe weiterzog. Nach dem zweiten Kurzen spürte ich so langsam meine Grenze des Vernünftigen näher rücken. Aber auch Herr Aturi hatte so langsam einen Silberblick aufgesetzt. Ich ließ mein Glas zurück auf den Tisch sinken, seufzte laut und sah ihn dann an. Eine ganze Weile verging, in der wir uns nur anstarrten. Irgendwann musste ich allerdings grinsen, und so wandte ich meinen Blick wieder von ihm ab. Er sah wirklich gut aus, hatte ein dunkelrotes Hemd an, eine dunkelgraue, fast schwarze Hose und eine – wie ich fand - unheimlich geschmackvolle Uhr um sein schmales Handgelenk.
    „Sag mal, darf ich dich etwas fragen?“, brüllte mich Herr Aturi an. Gerade läuteten die Hells Bells ihren glorreichen Auftakt ein.
    „Schätze schon“, rief ich nicht weniger laut. Mein Kopf wankte ein wenig hin und her. „Was ist?“
    „Wieso hast du mich eigentlich eingeladen? Ich mein, machst du das häufiger? Mit Lehrern ausgehen und so?“
   Ich zuckte mit den Schultern. „Hm. Nö. Machen Sie das eigentlich häufiger? Ihren Schülern beim Einschlafen zusehen und so?“
   Er sah mich höchst irritiert an. Jaja, damit hatte er nicht gerechnet. Ethan der schlaue Fuchs mal wieder. Okay, der gut alkoholisierte Fuchs. Muh! Ich prostete meinem Lehrer grinsend mit meinem leeren Glas zu und beobachtete, wie er wieder verlegen lachte. Eben so, wie er es manchmal tat.
      „Ob du es glaubst oder nicht“, sagte er dann, „du warst der Erste.“ Ich runzelte die Stirn und hob ungläubig beide Augenbrauen.
      „So? Und wie war es so, das erste Mal?“
    Er nippte an seinem Bier, während er mich anfunkelte. Immerhin hatte er noch welches. „Es war... Interessant.“       „Geht es noch schwammiger?“, zog ich nach. Er schien kurz nachzudenken.
   „Du hast nicht lange gebraucht. Hast noch irgendwas gemurmelt und warst dann vom einen auf den anderen Moment weg.“
    „Aha?“
    „Noch ein Bier?“
    „Wollen Sie mich abfüllen?“
    „Was hätte ich davon?“
   Jetzt war ich es der in den Seilen hing. Ich tat so, als würde ich angestrengt nachdenken und die Optionen abwägen.
    „Eins noch. Nur noch eins.“
    Augenblicklich verschwand mein Lehrer zwischen den Menschen. Weil ich gerade nichts zu tun hatte quatschte ich einen anderen Mann an. Leider kam dabei nichts zustande, was man eine Konversation hätte nennen können, denn er war Spanier, und mit den paar Wortfetzen Spanisch die ich sprach kamen wir nicht weit. Selbst wenn ich nicht angetrunken gewesen wäre, das Ergebnis wäre wohl dasselbe geblieben.
     Ich beobachtete meinen von der Jagd wiederkehrenden Lehrer und, wie die Menschen an denen er vorbei kam auf ihn reagierten. Gut, die Männer waren eigentlich nur auf ihr Bier und ein paar Dekolletés fixiert, dagegen spähten ein paar Frauen ihm interessiert hinterher. Es wunderte mich, dass in dieser Kneipe überhaupt Frauen waren. Ich mein, war ihnen das ganze hier nicht zu rau, zu laut, zu rockig? Zu testosterongeladen? Anscheinend nicht, sonst wären sie ja nicht hier. Wobei die blondierte Puppe da hinten am Tresen eher aussah, als suchte sie hier eine Lösung für ihre nächtliche Einsamkeit - und Alkohol, denn der wurde ihr von einem etwas pummeligen, ziemlich ungepflegtem Mann in den Vierzigern spendiert. So heuchlerisch diese mysteriöse Spezies. Dass sie ernsthafte Absichten mit ihm hegte, wagte ich zu bezweifeln. War wohl wirklich nur der Alkohol.
    Ein letztes Mal prosteten wir uns zu.

    „Wuuuuh“, machte ich und sank in der Nähe eines riesigen Bronzedenkmals auf einer Bank zusammen. Mein Verstand war noch erstaunlich klar, ein wenig benebelt höchstens, mein Körper dagegen spürte jeden Tropfen des Gifts in den Venen fließen.
    „Meine Ohren ringen. Kringeln. Klingen.“
    „Klingeln.“

„Ja!“
    „Geht es dir gut?“
    „Niiiiie besser gewesen“, lallte ich und sank zur Seite weg. Meine Schläfe berührte das kühle Holz. Ich atmete tief ein.
    „Beim nächsten Mal lässt du am besten die Kurzen weg. Du verträgst nicht so viel.“
    „WAS?!“, grölte ich entsetzt und saß sofort wieder aufrecht. Dann, zwei Sekunden später, sackte ich wieder zusammen und mein Kopf schnellte in den Nacken. „Nicht wahr.“ Er antwortete nicht. Die Welt um mich herum war verschwommen, in einem dunklen Dunst gefangen. Zwischen den zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen sah ich seine Silhouette vor mir. Ich hörte mich, wie ich nach der Uhrzeit fragte. Die Antwort war klar, trotzdem hatte ich Probleme damit sie einzuordnen. Er fragte nach meiner Bahn, wann die letzte fuhr. Vor meinem inneren Auge sangen Hühnerküken Highway To Hell und schmückten Herr Aturi mit Christbaumkugeln. Ich musste lachen. Doch ich verstummte, als sich das etwas gerötete Gesicht meines Lehrers auf meine Höhe begab und mich deutlich besorgt musterte. Wahrscheinlich dachte er nun darüber nach, ob er wegen mir seinen Job verlieren würde. Weil er mit einem seiner Schüler trinken war. Und wer weiß was sonst noch.
    „Ich verrate nichts, keine Sorge“, brabbelte ich leise vor mich hin. Er sah mich weiter an. „Niemand wird jeeeemals davon erfahren.“ Seine Augenbraue machte einen bedeutenden Schwung nach oben. Er war nicht zufrieden. „Ich verspreche es Ihnen. Versprochen!“ Jetzt konnte ich seine Miene nicht mehr deuten. „Bei meinem nicht existenten Gott an den ich nicht glaube, weil ich Atheist bin, schwöööre ich, da-“
    „Wovon zur Hölle sprichst du?“

War er verärgert? Ich war verwirrt. Ich hatte ihn wütend gemacht. Phasenweise durchspülten Feuer und Eis meine Nervenzellen und ließen mich beben. „Es tut mir Le-“
    „Sei still, Ethan.“

Seine Hand lag plötzlich an meiner Wange. Hatte er mich geschlagen? Nein. Sie lag noch immer da. Warm. Ich merkte, dass mir kalt war. Aber er war warm. Und er lächelte. Warum?
      „Du bist so anders wenn du getrunken hast“, sagte er. Vermutlich ein Vorwurf. Ich öffnete meine Augen wieder, die ich aufgrund seiner Berührung automatisch geschlossen hatte.

   „Wie denn anders?“, wollte ich wissen. Er seufzte, ließ seine Finger ein wenig weiter in meinen Nacken gleiten. Ein heißer Schauer rann durch meinen Körper.

   „Anders eben.“

   „Verstehe.“ Ich verstand nicht. Seine Finger hatten meine kurzen Haare erreicht, gruben sich leicht hinein. Ich spürte, wie sein Daumen leicht über mein Ohr strich.

  „Du verstehst nicht“, stellte er fest und lächelte noch ein wenig mehr. Langsam und sanft kreisten seine Fingerspitzen auf meiner Haut.

   „Stimmt“, gab ich zu, und konnte nicht anders als meine Augen zusammenzukneifen. Seine Berührung machte mich so verdammt wahnsinnig. Verdammt wahnsinnig und geil. Er durfte es nicht merken.
       „Ethan“, hörte ich meinen Namen, wie ein Echo aus einer fernen Welt. Immer wieder. Seine Hand löste sich für einen Augenblick von mir, doch nur um dann in voller Statur durch meine braunen Haare zu streichen. Paralysiert hörte ich zu, wie es von innen gegen meinen Brustkorb hämmerte, wie mein Atem zitternd und schnell meiner Kehle entwich, während ich versuchte dagegen anzukämpfen. Ich war unfähig etwas zu tun, etwas zu sagen. Mein Schwanz drückte gegen den harten Jeansstoff, wurde nur von meinem dünnen Hemd vor seinen Blicken  bewahrt. Was tat er da…

„D-Das dürfen.. Sie nicht.“ Die Worte kamen so erbärmlich leise und wackelig aus mir hervor, dass ich mich am liebsten geohrfeigt hätte. Doch sie zeigten Wirkung. Langsam entfernte sich die Wärme von meinem Kopf und von allem, was jetzt noch von mir übrig war. Nein! Was hatte ich getan? Ein schummriges Gefühl überkam mich, nur widerstrebend öffnete ich die Augen, als ich vernahm dass er aufstand. Ich rechnete mit harschen Worten. Doch erneut lag ich falsch.

 „Komm.“

Die Hand die gerade noch durch meine Haare strich, die Hand die diese wunderbare und zugleich grausame Hitze in mir auflodern ließ – jene wurde mir nun hingehalten. Ich ergriff sie ohne nachzudenken, ließ mich auf die Füße ziehen. Ließ mich nahe an seinen Körper heranziehen. Zu nah. Zu spät. Die Beule in meiner Hose drückte gegen seinen Oberschenkel. Undenkbar, dass er es nicht merkte. Aber er stieß mich auch nicht weg. Und ich war weiterhin unfähig mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen, von ihm wegzugehen. So sehr sich mein Inneres auch dagegen wehrte, ich genoss diese Berührung zu sehr, als dass ich sie jemals wieder unterbrechen wollte. Vielleicht war es das erste und letzte Mal, dass ich diesem Mann so nahe sein konnte. Diesem Mann. Meinem Lehrer.

„Komm“, sagte er noch einmal. Diesmal leiser, aber trotzdem bestimmt. Ich spürte wie seine Hand über meinen Rücken strich, langsam, vom Nacken hinunter bis zum Steißbein. Nur ein einziges Mal.

„Ich bringe dich zu deiner Bahn.“

Kapitel 7

 

Wie viele unglückliche Ereignisse konnten einem einzelnen Menschen innerhalb weniger Wochen eigentlich widerfahren? Das war die Frage, die mich den ganzen Sonntag hindurch begleitete. Wie eine lästige Zecke klebte sie an mir, bohrte sich bei jedem Gedanken an jene Ereignisse ein Stück tiefer in meinen Körper, um sich am Blut zu laben und satt zu trinken. Zugegeben, so wie ich mich fühlte enthielt dieses Blut noch winzige Mengen an Alkohol, aber das betäubte weder die Frage noch die Erinnerung. War ich wirklich schwul? Zweifellos ließen mich die Berührungen etwaiger Männer bisher kalt, waren nichts Besonderes. Nie war ich auch nur auf den Gedanken gekommen, mir meine männlichen Mitschüler oder Männer auf der Straße unbekleidet vorzustellen, daran zu denken wie sie es mit mir… Nein, wirklich nicht. Auch jetzt empfand ich keinerlei Bedürfnis, jedem testosterongesteuerten Wesen dort draußen in die Arme zu laufen. Nicht, dass normal orientierte Menschen das untereinander ständig tun würden, aber es hätte mir doch auffallen müssen. Früher, viel früher noch. Warum jetzt? Warum bei den zwei Menschen, die für mich unerreichbarer nicht sein könnten? Für die ich bisher nie mehr als gewöhnliche, wenn auch stark ausgeprägte Empathie empfunden hatte?

Die Berührung mit ihm gestern war schön gewesen. Ich hatte es bedauert, als sich unsere Wege wenige Minuten später am Gleis getrennt hatten, aber nur so hatte ich es letztendlich gerade noch in meine letzte Bahn geschafft. Ein Wunder, dass ich überhaupt zu Hause angekommen war. Ich besaß einfach keine Übung im Trinken.

Twix räkelte sich auf meinem Bett, und obwohl ich eigentlich gerade der Dusche einen Besuch abstatten wollte, zwang mich der durchdringende Blick des Kleinen einfach dazu, mich wieder neben ihn in die weiche Mulde zu legen.

„Wenigstens bei dir ist es okay“, murmelte ich und vergrub mein Gesicht in seinem weichen Fell, welches durch sein sanftes Schnurren leicht vibrierte. Meinen kleinen Flausch konnte mir niemand nehmen, er war mein Ein und Alles seit dem ersten Blick, den sich unsere Augen vor acht Jahren zugeworfen hatten. Damals wusste ich noch nicht, dass das Zwinkern – ich nenne es „kniepen“ - einer Katze wie ein Lächeln zu verstehen ist. Vermutlich instinktiv hatte ich dennoch auch meine Augen zusammengepresst, lächelnd und dahinschmelzend bei dem Klang des Maunzens, das dieser silberne Miniatur-Tiger so euphorisch von sich gab. Seit dem hatte nichts uns wieder getrennt. Ich lag noch eine ganze Weile bei ihm und inhalierte den Duft des Waldes, der an ihm haftete, ehe ich mir die abertausenden von Härchen aus dem Gesicht wischte und unter dem heißen Wasser endlich die Erlösung von meinen quälenden Gedanken fand. Wenn auch nur kurzfristig. Nach der Dusche schmiss ich mich in meine gemütlichsten Klamotten und kramte meine alte Nintendo 64 hervor, auf der ich bis zum späten Nachmittag die alten Schinken von damals zockte und mich dem Gefühl der Nostalgie hingab. Gegen halb sechs rief Dennis an, und erinnerte mich daran, dass wir bis Mittwoch noch unser Biologie-Projekt fertigstellen, beziehungsweise überhaupt erst einmal anfangen mussten. Diese Information nahm ich nur widerstrebend entgegen, aber gegen meinen Wunsch danach, noch die ganze Nacht vor dem Bildschirm zu verbringen, stand er eine Dreiviertelstunde später vor meiner Tür. Dadurch, dass wir erstaunlich diszipliniert an die Arbeit herangingen, schafften wir aber bereits gut die Hälfte. Für einen Sonntagabend war das mehr als genug. Ich war froh, als Dennis bald wieder fuhr, denn obwohl alles wie immer gewesen zu sein schien, und wir trotz Biologie relativ gut drauf waren, war mir eher nach Ruhe zumute. Außerdem hatte ich ihm nichts von dem Kneipengang mit unserem Lehrer erzählt. Es war schließlich nicht besonders wichtig. Dennoch plagte es mich irgendwie, etwas vor Dennis geheim zu halten. Ich konnte mich nicht daran erinnern, das vorher jemals getan zu haben. Höchstens bei meinem unglücklichen Ausrutscher letztens. Dass ich die Schule wechseln würde mal außen vor gelassen, das war aber etwas völlig anderes. Und er hatte schließlich nicht nach meinem Verbleib gefragt, somit war ich ihm auch keine Antwort schuldig. Klare Sache.

 

Montagmorgen.

„Buenos dias a todos.“

„Buenos dias señor Ortíz García“, echote der mit neunzehn Schülern bestückte Raum, wobei etwa die Hälfte nach knapp vier Jahren Spanischunterricht noch immer Probleme mit der Aussprache des Namens unseres Lehrers hatten. Dabei legte er doch so viel Wert auf ein schön gerolltes Rrrrr. Ich verdrehte im Geiste die Augen und kam der Anweisung des Meisters nach, sich hinzusetzen. Es gab wohl kaum einen disziplinierteren, strengeren und gefürchteteren Lehrer an dieser Schule, als Señor Ortíz García. Fehlverhalten und Drückebergertum wurden hart bestraft. Schüler ohne Hausaufgaben verfolgten die Striche bis in die dunkelsten Träume, bis sie schließlich am Tage des dritten dem Armageddon gegenüberstanden. Einem Ausbruch des stets aktiven Vulkans Pablo Enrique Ortíz García wollte keiner beiwohnen, der schon einmal Zeuge seiner Zerstörungskraft gewesen war. Das hatte allerdings den angenehmen Vorteil, dass nach einem lavadurchtränkten ersten Halbjahr kein anderer Kurs so leise und konzentriert arbeitete wie dieser hier. In der Schule ist das Balsam für Ohren und Hirn.

Nachdem die Hausaufgabenrunde getan war, und zum Glück keiner gewagt hatte, den Vulkan zu erzürnen, verschwand unser Lehrer. Natürlich nicht, ohne uns zuvor sechs Zeilen mit Aufgaben an die Tafel zu kreiden. Wir wussten weder wohin noch wie lange er weg sein würde. Es war in den vergangenen Jahren schon häufiger vorgekommen, dass er sich einfach in Luft aufgelöst hatte, teilweise ohne an jenem Tag überhaupt wieder aufzukreuzen. Doch die allgemeine Verwirrung darüber hatte sich über die Jahre hinweg zerstreut und war einer Welle der Euphorie gewichen, die jedes Mal mit dem sich entfernenden Schlüsselklimpern wuchs und meist erst wieder versiegte, wenn der Meister, so plötzlich wie er verschwunden war, mit grimmiger Miene in der Tür stand, und sich keiner um die Aufgaben geschert hatte. Spanisch war schon etwas Feines.

"Hey Ethan, bist du schon fertig?", grölte Finn durch das Geschwätz der anderen hindurch, die sich gerade mit Kreidestückchen befeuerten und unwissenden Mädchen kleine Papierkugeln in die Haare pflanzten. Ich nickte nur und beobachtete von meinem Platz aus das schwelende Chaos. Wie in den meisten Kursen und Räumen saß ich ganz hinten in der Ecke, die Wand zu meiner rechten und die Horde stets im Blick. Der Platz neben mir war frei.

"Darf ich?", rief Finn nun etwas leiser, um nicht andere Räuber auf seine ausstehende Beute – meine fertigen Aufgaben – aufmerksam zu machen.

"Nein", maulte ich, aber ich wusste natürlich, dass es unvermeidlich war, denn er war schon längst auf dem Weg. Mit einem langgezogenen "Danke", wobei er das E sehr betonte, zog er den Stuhl neben mir zurück und ließ sich darauf fallen. Meinen Collegeblock positionierte er in der Tischmitte, ehe er seinen Kugelschreiber zückte und anfing, meine Ergebnisse offenbar ohne jegliche Form und Aufgabenstellung zu übertragen. Ich entschloss mich einfach nichts zu sagen und legte meinen Kopf auf die verschränkten Arme, sodass ich Finn und das Gewusel hinter ihm im Auge behalten konnte. Er schrieb hastig und unordentlich, was für ihn eher ungewöhnlich war. Finn war klug, überdurchschnittlich intelligent mochte man sogar meinen, wenn man den Durchschnitt anhand der Primaten um uns herum überhaupt ermitteln konnte. Er war unschlagbar in Mathematik, beinahe so sprachbegabt wie ich und ein absolutes Ass in Sport, von den meisten anderen Fächern mal ganz zu schweigen. Wenn er sein Wissen einmal den Lehrern offenbarte, dann war das im Regelfall sein Ticket zum Liebling, was, obwohl es ihm augenscheinlich missfiel, eine deutlich positive Auswirkung auf seine Noten hatte. Das Überraschende war allerdings, dass Finn obgleich seiner enormen Allgemeinbildung und seiner vielfältigen Interessen einer der faulsten Menschen war, die mir je untergekommen waren. Reden, das mochte und konnte er exzellent. Vorträge bereitete er perfekt vor, was das anging waren wir uns sehr ähnlich. Aber sobald es an Aufgaben ging, die über das gesunde Maß der Notwendigkeit hinausgingen, verpuppte er sich zu einem trägen und nichtsnutzigen Etwas, dem man in diesem Zustand der Lethargie nicht mehr mit Vernunft beikommen konnte. Abgesehen davon existierte aber auch noch eine große Portion kindlichen Verhaltens in ihm. Vielleicht war dies der einzige Grund, weshalb ich in über sechs Jahren nie so richtig mit ihm warmgeworden war.

Meine Augen folgten geistesabwesend den diversen Gegenständen, die nun endgültig unkontrolliert durch den Raum flogen. Eine leere Tintenpatrone prallte von meinem Kopf ab und blieb vor mir auf dem Tisch liegen. Ich hörte, wie sich jemand entschuldigte. Ein anderer forderte mich auf, die Patrone zurückzuwerfen. Ich ignorierte sie und starrte Finn an. Der hatte den Abschuss wohl mitbekommen und warf mir kurz einen mitleidigen Blick zu, besaß dann aber den Anstand, der Aufforderung meiner statt nachzukommen und das Geschoss zu seinem Besitzer zurück zu befördern. Kinder, dachte ich und schloss die Augen. Es würde sich nichts mehr ändern, bis ich diese Schule verlassen würde.

Nach einigen Minuten war ich in Tagträume versunken, und der Lärm und die Schule waren aus dem Feld meines Bewusstseins gerückt. Die Gedanken trugen mich nach Hause, in mein warmes Bett. Vielleicht war Dennis da. Vielleicht würden wir uns zusammen eine Blu-ray ansehen. Oder Katerchen würde mit mir kuscheln. Das wäre schöner, als hier zu sein. Hier in der Schule, wo es laut war. Laut und stickig, und wo die Lehrer nicht unterrichten und die Schüler nicht folgen konnten. Ob sich das überhaupt je ändern würde?

"Warum bist du eigentlich so ernst?", hatte man mich oft gefragt. Die Antwort war immer die gleiche gewesen. Denn auch die Leute waren immer gleich in dieser Sache. Doch diesmal war ich erstaunt, als Finn mir diese Frage stellte. Ich schlug die Augen auf. Der Dunkelblonde saß vor mir, hatte seine Kopie beendet. Nein, es war keine exakte Kopie. Finn war schlau genug, die Dinge wenigstens umzuformulieren, statt vollständige Sätze zu übernehmen. Dass er sich diesen Umstand trotz seiner Faulheit machte, lag nur daran, dass es Spanisch war. Wenn er schon betrog, dann nicht auf unterstem Niveau.

"Du findest mich ernst?", säuselte ich leise und machte eine traurige, sehr betroffene Miene. Er lächelte, sagte aber nichts. Ich richtete mich auf und streckte einen Arm aus. Mit der Hand zeichnete ich das bogenförmige Panorama des Klassenzimmers nach. Dann verschränkte ich die Arme erneut und legte meinen Kopf darauf ab.

"Sieh dich um. Bin ich derjenige, der eine unangemessene Menge an Ernsthaftigkeit besitzt?" Finn sah sich um und grinste nun.

"Absolut", sagte er und sah mir dabei in die Augen. Dann stand er auf, schob mein Heft zurück und ging wieder nach vorne, wo er sich auf seinen Platz in der ersten Reihe setzte und für den Rest der Stunde nichts mehr verlauten ließ. Manchmal war er schon merkwürdig. Oder war ich es vielleicht? Spanisch ging vorüber, ohne dass der Meister zurückkehrte.

Nach einer scheußlichen Stunde Mathematik, in der wir uns zum gefühlt fünfzigsten Mal mit den Ableitungsregeln auseinandersetzten, und einer deutlich entspannteren Biologiestunde, in der wir unsere Vorträge vervollständigten, entließ ich mich höchst erleichtert in die Pause. Ich verbrachte die folgenden zehn Minuten damit, mit Dennis über die Wiese zu schlendern, die zwischen dem Schulgebäude und dem Fußballplatz angelegt war. Wir sprachen nicht viel, und mich beschlich ein merkwürdig bedrückendes Gefühl. Irgendwann blieb Dennis neben mir stehen und sah auf den Platz hinaus. Es war, abgesehen von dem entfernten Lärm der Schulhöfe, ziemlich ruhig hier. Nur in der Ferne schlichen ein paar Gestalten in Richtung Arkadengang, wo sie sich einen Stängel anzünden und ihren Körper vergiften würden. Auf den Straßenlampen, die über zehn Meter in die Höhe ragten, hatten sich mehrere Tauben eingerichtet. Ab und an putzte sich eine von ihnen das Gefieder oder streckte ihre Flügel, um sich danach in neuer, bequemerer Position auf dem kalten Stahl niederzulassen. Etwa eine Minute beobachtete ich das zurückhaltende Treiben.

„Alles in Ordnung?“ Ich konnte nicht mehr an mich halten. Irgendetwas an Dennis passte mir nicht in den Kram. Er war so auffallend ruhig in letzter Zeit.

„Klar“, gab er zurück, sah jedoch immer noch hinaus in die Ferne. Noch einmal folgte ich seinem Blick, doch konnte ich nichts erkennen, was seine Aufmerksamkeit derart hätte fesseln können.

„Bist so still heute“, murmelte ich. Jetzt sah er mich an.

„Soll auch mal vorkommen“, sagte er und lächelte schief. Dann wieder der Blick ins Grüne. „Was hast du für Freitag geplant?“ Ich legte die Stirn in Falten und ging einige Meter weiter zu einer der Bänke, auf der ich mich niederließ. Er folgte mir und setzte sich neben mich.

„Noch nichts. Das Übliche. Kommst du vorbei?“

„Wie immer“, antwortete er.

„Aber kein Geschenk. Dies mal wirklich!“ Jetzt sah ich ihn aus dem Augenwinkel lächeln. Mir war klar, was dies bedeutete.

„Natürlich nicht. Wie immer.“ Er war ein hoffnungsloser Fall, durch und durch. Aber ich war froh, dass er das Thema angesprochen hatte.

„Wir könnten irgendwo hinfahren.“

„An was hattest du gedacht?“

„Ich weiß nicht. Noch nichts Spezielles. Nordsee ist ziemlich unspektakulär. Und was darüber hinaus geht ist zu teuer. In der Region gibt es aber wohl auch nichts Spannendes. Vielleicht in den Schwarzwald? Wandern oder so.“

„Für ein Wochenende? Das lohnt sich nicht.“

„Dann etwas anderes.“

„Fallschirmspringen.“

„Wie klischeehaft!“

„Hast recht. Saufen und in einen Stripclub. Dann weiter saufen.“

„Die Lines nicht vergessen“, spottete ich und stieß Dennis mit der Schulter an. „Du hast wieder zu viel Videomaterial konsumiert.“ Ich wurde nun gleichsam angerempelt und letztendlich einigten wir uns nach einigen fruchtlosen Vorschlägen darauf, die Entscheidung zu vertagen. Mit dem Klingeln der elektronischen Schulglocke machte sich Dennis wieder auf in den Unterricht. Ich hingegen hatte zwei reguläre Freistunden, die ich einigermaßen sinnvoll nutzen wollte, also schulterte ich meinen Rucksack und ging in Richtung Ausgang. Der Plan sah es vor, meine heimischen Vorräte ein wenig aufzustocken und einen Botengang im Dienste der Bürokratie zu unternehmen. Zu Fuß waren es nur etwa zehn Minuten bis in das Zentrum des Stadtteils, also trat ich den Weg ohne Umwege über den öffentlichen Verkehr an. In dem gut sortierten Supermarkt fand ich schnell alles, was ich auf meiner imaginären Einkaufsliste gespeichert hatte. Nachdem ich den Laden verlassen hatte, ging es auf die andere Straßenseite zur Post, bei der ich zwei Briefe meiner Mutter frankieren und abnehmen ließ. Briefmarken waren ungemein teuer, wie ich feststellen musste, und mich erheiterte die Erkenntnis, dass in dem Zeitalter, in dem wir uns nun befanden, die meisten Briefkontakte durch Email oder ähnlich bequeme Alternativen ersetzt worden waren. Wie schön es doch war, alte Laster hinter sich zu lassen. Die armen Post-Menschen.

Auf dem Rückweg traf ich noch auf meine Großeltern, die zufälligerweise gerade auch auf dem Weg zum Einkauf waren. Wobei Zufall hier relativ war, denn erstens wohnten sie in unmittelbarer Nähe und zweitens war Einkaufen eine der Hauptbeschäftigungen von Senioren schlechthin, neben Glücksspiel und Weltreisen. Vom Reden mal ganz abgesehen. Ich freute mich zwar, den beiden hier im Strom der Fremden zu begegnen, da aber unser letztes Familientreffen zum Glück noch nicht all zu lang her war, gab es diesmal nur die halbe Weltgeschichte zu hören. Wie schade. Ich verabschiedete mich bald von ihnen und schlug den Rückweg zu meiner Bildungsanstalt ein. Missgestimmt bemerkte ich, dass der Himmel sich ziemlich stark und ziemlich schnell zugezogen hatte. Das klare Blau vom Morgen war einem schweren, triefendem Grau gewichen. Ein kühler Wind ging durch die Straßen. Ich zog die Ärmel meines Hemdes herunter und steckte die Hände in die Hosentaschen, um so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten, und beschleunigte den Schritt. Die Schule war bereits in mein Sichtfeld gerückt, als die ersten Tropfen vom Himmel fielen. Zuerst waren es nur kleine, vereinzelte, die mir in den Nacken fielen und dort eine unangenehme Gänsehaut verursachten. Mir fröstelte es plötzlich. Doch alles Kleinmachen nützte bald gar nichts mehr, denn ein Platzregen erster Güte ergoss sich mit einem Mal aus den schwarzgrauen Wattebäuschen am Horizont. Ich zog die Hände aus den Taschen und verfiel in einen Laufschritt, rannte unter dem lichten Blätterdach der Bushaltestellen her und rettete mich mit einem Hechtsprung unter den einzigen Baum, der mir halbwegs dazu imstande schien, dem Druck des Wassers standzuhalten. Ich drückte mich in die hinterste Ecke des Zaunes, hinter dem der alte Ahorn stand, und atmete erst einmal auf. Der plötzliche Wetterwechsel kam mir nicht etwa wegen meiner Klamotten oder meiner Haare wegen ungelegen; es ging mir lediglich um den Inhalt meines Rucksacks. Aus Erfahrung wusste ich mittlerweile, dass „Waterproof“ alles, nur nicht wasserfest bedeutete. Ich prüfte das erste Fach und stellte erleichtert fest, dass mein Portemonnaie und das Notizbuch, das ich ständig mit mir herumführte, nur oberflächlich feucht geworden waren. Durch Regen waren mir in der Vergangenheit schon mehr Sachschäden entstanden, als man annehmen mag. Gerade erst vor zwei Monaten war die Notiz mit der Nummer einer wichtigen Kontaktperson meines Vaters vollkommen zerstört worden, denn sie war durch und durch aufgeweicht und damit unlesbar geworden. Dafür hatte ich schließlich wiederholt zu hören bekommen, dass damit eine Chance mit der Wahrscheinlichkeit eines Lottogewinns abhanden gekommen wäre. Glücklicherweise, oder eher zufälligerweise, traf mein Vater jene Person kurze Zeit später aber selber an, sodass mir weitere Mahnungen erspart geblieben waren. Ich vernahm Stimmen in der Nähe. Sie kamen aus einiger Entfernung. Ich hob den Kopf und sah über die Schulter nach hinten. Zwei dunkle Gestalten, eine größer, die andere kleiner, bewegten sich wackelnd auf mich zu. Sie hatten wohl dasselbe Ziel wie ich ins Auge gefasst. Schwer atmend kamen sie ein paar Meter hinter mir zu zu stehen. Ich wandte mich wieder meinem Rucksack zu und verstaute die gefährdeten Sachen weiter unten darin. Zwischen den Wolken rumorte es. Der Himmel hatte sich bedrohlich schwarz gefärbt, und immer mehr Wasser schnellte auf die Erde hinab und riss alles mit sich, was nicht schnell genug fortlief. Erneut stellte ich fest, wie zerstörerisch und schön die Natur sein konnte. Dort, wo das schützende Blätterdach des Baums aufhörte, hatte sich ein kleiner See gebildet. Ich drängte noch weiter zurück und hob meinen Rucksack auf den Zaun, damit er nicht die Gelegenheit bekam, sich von unten vollzusaugen. Hätte ihm so gepasst. Die beiden Gestalten, ich nahm an es handelte sich um Schüler des dreizehnten Jahrgangs, – ich hatte diese Platzdiebe seit ihrer Ankunft keines Blickes gewürdigt – hatten sich wohl wieder beruhigt. Durch das Rasseln des Regens drang eine Frauenstimme an meine Ohren. Sie beschwerte sich über das Wetter, was nicht unbedingt überraschend war. Von ihrem männlichen Mitstreiter erhielt sie nur eine kurze Antwort. Ich dachte nach. Mein Handy offenbarte mir, dass ich noch vierzig Minuten bis zum Unterrichtsbeginn hatte. Die Zeit hier zu verbringen fand ich wenig einladend, doch war nicht daran zu denken, durch diese Wassergeschwader bis zum Schulgebäude vorzudringen. Ich würde warten müssen, bis der Regen nachließ. Die Arme verschränkt und den Kopf gesenkt lehnte ich am Zaun und sah den dicken Tropfen beim Niedergang zu. Doch schon nach zwei Minuten langweilte mich diese Aussicht, außerdem wurde es zunehmend ungemütlich kühl. Das schrille Lachen der Frau riss mich aus der Gedankenstarre, in die ich wieder zusehends hinein gerutscht war. Moment mal. Ich horchte auf. Dieses Lachen. Dieses helle, klirrende Gejauchze, das da in diesem Moment an meine Ohren drang. Ich kannte es. Ich hatte es schon einmal gehört. Nein, mehrmals. Langsam drehte ich meinen Kopf in die Richtung, in der die beiden Gestalten sich unterhielten. Das Gelächter war verebbt, aber jetzt erkannte ich dessen Ursprung. Meine Befürchtung bewahrheitete sich. Die Frau, die ich für eine der minderbemittelten Oberstufenschülerinnen gehalten hatte, war tatsächlich die Referendarin der Unterstufe, die ich in letzter Zeit häufig mit Herr Aturi gesehen hatte. Immer wieder war sie mir durch ihr lautes, fehlgestimmtes Lachorgan aufgefallen. Sie hier, in dieser eingeengten Situation anzutreffen, kam mir nun ganz und gar ungelegen. Doch als ich meine Augen gerade wieder von dem Übel abwenden wollte, fiel mir ein noch größerer Stein auf den Kopf. Im dunklen Regenvorhang hatte ich ihn nicht erkannt, jetzt aber wurde die groteske Konstruktion dieser Rettungsinsel komplettiert. Mein Deutschlehrer stand mit dem Rücken halb zu mir gedreht, sprach in die andere Richtung, weshalb ich seine Stimme nicht eher vernommen hatte. Auch er hatte nur ein Hemd an, hatte den plötzlichen Wetterwechsel nicht erwartet. Und nun war er hier gefangen, eingepfercht mit seiner Kollegin mit der er sich, wie mir schien, blendend verstand. Ich schluckte schwer und zwang meinen Blick wieder in die andere Richtung. Noch hatte er mich wohl nicht bemerkt. Wenn ich weiter unauffällig bleiben würde, könnte ich so lange ausharren, bis –

„Ethan?“

Verfluchte Welt. Ich schloss die Augen, tat so als hätte ich nichts gehört. In meinem Magen rumorte es. Er machte dem Donnern weit über mir Konkurrenz. Erneut wurde mein Name ausgesprochen. Der Drang ihn anzusehen war groß. So groß, dass ich meine Augen wieder öffnete und ein wenig gequält auf den See hinaus sah, doch kein Stück weiter. Bloß nicht nachgeben, dachte ich, und wirklich; es blieb still. Die Referendarin, deren Namen mir unbekannt war, sagte etwas mit gesenkter Stimme. Vermutlich ging es um mich. Ich schielte doch wieder ein wenig zurück, aber Herr Aturi hatte sich wieder abgewandt. Nein, das war nicht die Art von Begegnung, die ich nach unserem Kneipenausflug herbeigesehnt hatte. Aufgebracht schaute ich wieder eine Weile in die andere Richtung und versuchte, die zwei zu ignorieren. Doch ein Geruch zog plötzlich auf, eine graue Rauchwolke, die dick und träge an mir vorbeizog. Sie hatte sich eine Zigarette angezündet. Das war zu viel. Ich hustete mehrmals laut und theatralisch, packte mir in einem Anfall von Wahn meinen Rucksack, schmiss ihn auf den Rücken und lief einfach los. Dieses Getue musste ich mir nun wirklich nicht antun. Sollten die beiden doch Spaß haben, alleine unter dem blöden Ahorn, und sich die Lungen vergiften. Keine zehn Meter war ich gelaufen, da war ich schon nass bis auf die Haut. Egal. Zähneknirschend beschleunigte ich meinen Schritt, musste die Augen zusammenkneifen, denn der beißende Wind peitschte nur so in mein Gesicht. Als ich schließlich außer Sichtweite der beiden war, fing ich an zu rennen. Nicht, dass das jetzt noch einen Unterschied gemacht hätte.

Auf dem Gang vor den Spinden war es still. Nur die entfernten Stimmen aus der Cafeteria hallten von den kahlen Wänden wider. Eine Wasserspur zeichnete den Weg nach, den ich zu meinem Schließfach eingeschlagen hatte.

„Sport“, dachte ich laut und schüttelte entnervt den Kopf. Schon der Gedanke daran. Doch dass ich jetzt zwei Stunden Unterricht in der Turnhalle haben würde, war vermutlich ganz praktisch. Ich kramte meine Sportklamotten zwischen den Büchern und Papieren hervor und schlurfte damit in Richtung der Halle, zu der der Weg glücklicherweise, bis auf einige Meter, überdacht war. Obwohl ich noch immer zwanzig Minuten bis Unterrichtsbeginn hatte, ging ich schon mal hinunter zu den Umkleiden. Die waren voll mit den Sachen der Unterstufe, die momentan irgendwo im Hintergrund herumturnten, aber das störte mich nicht. Ich ging in den Duschraum und legte die trockenen Sachen etwas entfernt ab. Dann begann ich damit, mich auszuziehen. Aus dem Hemd ergoss sich der halbe Himmel, als ich es über dem Abfluss auswrang. Die Hose und das T-Shirt waren auch nicht besser. Ich hängte alles über den Rand eines Waschbeckens, das sowieso nie benutzt wurde, und überlegte kurz, ob ich die Boxershorts nicht doch anlassen sollte. Der Stoff klebte mir unangenehm im Schritt. Da ich aber voraussichtlich noch zehn Minuten hatte, bis die Schüler hereinkommen würden, hing ich auch sie zur Seite und trat unter eine der Duschen. Dort stellte ich das Wasser an, und genoss für eine Weile die heißen Wellen, die meinen Körper herabflossen. Lange hielt ich mich damit aber nicht auf, denn ich hatte keine große Lust, dass „Der Nackte aus der Oberstufe“ bald bei den Achtklässlern in aller Munde sein würde. Ich trocknete mich notdürftig mit einem kleinen Handtuch ab, dass ich für Notfälle wie diesen immer in meiner Sporttasche mitführte, und zog meine Sportsachen an. Gerade als ich die Schuhe zuschnürte, hörte ich die grölende Masse sich nähern, die auch kurzerhand wie ein tollwütiges Hunderudel in die Umkleide einfiel. Es dauerte eine Weile, bis ich ihnen aufgefallen war, aber dankbarerweise verschonten sie mich mit Fragen oder Anschuldigungen in ihrem merkwürdig deutsch-türkisch-russisch klingenden Boss-Dialekt. Ich verstaute meine Sachen, überprüfte kurz noch einmal ob meine Bücher und Hefte den Regen überlebt hatten – hatten sie – und verließ dann die Räumlichkeiten in Richtung Turnhalle.

Frau Balker, meine Sportlehrerin, war noch damit beschäftigt, einige Springseile und Warnhütchen vom Boden aufzulesen, die ihre Schüler trotz Anweisung ignoriert hatten. Leise fluchend flog sie nur so umher, blieb zwischendurch stehen und redete mit sich selbst. Als sie aus dem Geräteraum wiederkehrte, und den direkten Weg zu mir einschlug, ahnte ich was mir blühen würde.

„Ah, Ethan. Sie können ja schon mal das Feld aufbauen.“ Hallo auch, Sie alte Schabracke. Hatte Ihr faltiges Diktatorgesicht schon vermisst.

„Mache ich.“ Wie gut, dass meine Gedanken stets von einem schützenden Schädel verdeckt waren. Ich schlurfte in eine der zahlreichen Kammern, die alle über die Länge der Halle miteinander verbunden waren, und begann damit, die Stangen vom Volleyballnetz raus zu tragen und aufzustellen. Das war vermutlich besser, als zehn Minuten herumzusitzen und womöglich noch mit der Alten Konversation zu machen. Meine Güte, dass man sie nicht längst eingewiesen hatte war eine Schande. Ich war gerade mit dem Spannen des Netzes beschäftigt, als die Tür zum Gang geöffnet wurde.

„Eeeeeeethan!“ Dennis riss die Hände in die Luft und wackelte unbeholfen auf mich zu. Er schien wieder besserer Laune zu sein. Wenigstens etwas.

„Hey“, sagte ich und zog an einem Spannseil herum, das sich im Netz verhangen hatte. Verdammtes Teil!

„Ich habe eine Eins in der Philosophie Klausur! Los, freu dich für mich!“

„Glückwunsch. Ich freu mich für dich.“ Mein Freund zog eine Schnute und wuschelte mir durch die Haare. Ich nahm es etwas genervt hin.

„Du freust dich überhaupt nicht. Warst du duschen?“ Endlich gab das Seil nach. Ich seufzte.

„Ja. Zwei Mal.“

„Nett. Sag mir beim nächsten Mal Bescheid, dann komme ich mit.“ Ich bezweifelte, dass das eine gute Idee war.

„Mach ich, versprochen. Und jetzt hilf mir mal, bevor die Furie wiederkommt und uns quatschen sieht. Reicht schon, dass ich mittlerweile auf eine Drei heruntergerutscht bin. Die Frau hasst mich.“

„Wenn ich nicht dein bester Freund wäre, würde ich dich vermutlich auch hassen“, flötete Dennis und folgte mir zum Geräteraum.

„Das habe ich jetzt überhört“, grummelte ich, musste aber doch schmunzeln. Er hatte wahrscheinlich Recht. Ich war ein anstrengender Mensch.

Die beiden Sportstunden vergingen rasch und zum Glück ohne weitere Zwischenfälle. Volleyball war schon sehr in Ordnung, und mit Dennis im Team war sowieso schon die Hälfte des Spiels gerettet. Wobei ich zugeben musste, dass trotz allem Mangel an Intelligenz und Sozialkompetenz die sportlichen Fähigkeiten meiner Mitschüler doch teilweise beeindruckend waren. Es waren mitunter die hohlsten aller Hohlen, die im gegnerischen Team am meisten Druck auf uns ausübten. Dennoch gewannen wir letztendlich die Mehrheit der Spiele. Die Mädchen-Teams hingegen boten durchweg einen traurigen Anblick. Wann immer ich zufällig einen Blick hinüber warf, lag der Ball entweder auf dem Boden oder wurde immer erst aufgefangen, bevor er dann nach einigen Denksekunden weitergespielt wurde. Am populärsten waren allerdings die Pausen, die mit einem Plausch auf dem staubigen Hallenboden abgehalten wurden – so etwa alle fünf Minuten. Ich dachte kurz an Lea. Wäre sie jetzt hier gewesen, hätten sich diese Klatschweiber Stahlkappen für ihre eng verpackten Hintern besorgen müssen, um das Ganze halbwegs zu überstehen. Andernfalls hätte sie sie wohl in der Luft zerfetzt, angesichts dieser Trägheit. Leider war sie seit Anfang des Schuljahres zum Austausch in Kanada, und würde erst wiederkommen, wenn ich bereits eine andere Schule besuchen würde. Ich musste mich dringend mal wieder bei ihr melden.

Das Abbauen überließ ich diesmal den anderen. Stattdessen schleppte ich mich als einer der ersten in die Umkleide zurück, wo ich mich ausgelaugt und fertig auf den Boden der Duschen sinken ließ und erst einmal tief durchatmete. Die viele Laufarbeit hatte ihren Tribut gefordert. Ich spürte meinen Puls noch immer rasen. Aber es hatte Spaß gemacht, sich mal wieder ordentlich auszupowern. Und ganz nebenbei hatte es mich abgelenkt von anderen Dingen, die mir vor nicht all zu langer Zeit noch unangenehm im Kopf herumgespukt waren. Dinge, über die ich eigentlich überhaupt nicht mehr nachdenken wollte. Ich hob die Flasche Mineralwasser an die Lippen und trank gierig. Nach einigen Sekunden war sie leer. Es gab doch nichts Schöneres, als das erfrischende Prickeln eines guten Tropfens, nachdem man sich den Allerwertesten auf dem Feld abgerackert hatte. Ich hatte aber auch ein paar faule Banausen im Team gehabt.

„Kneifst dich schon wieder vorm Abbauen?“, tönte es von oben. Ich sah auf, wusste aber, dass Dennis den Sarkasmus hinter dem ernsten Tonfall nur all zu gut verbergen konnte.

„Nicht anders als du“, antwortete ich und sah ihn an. Er lächelte und zog sein verschwitztes Shirt über den Kopf. Von seinen dunklen Haaren perlte salzige Flüssigkeit herab und tropfte auf die Fliesen zu meinen Füßen.

„Ich gehe noch duschen, das ist etwas anderes“, klärte er mich auf, während er langsam seine Shorts nach unten zog. Ich betrachtete die reflektierenden Schweißflecken auf dem Boden und merkte, wie meine Muskeln plötzlich fürchterlich müde wurden.

„Vielleicht gehe ich ja auch noch duschen.“

„Das ist ziemlich unwahrscheinlich, meinst du nicht?“

„Wer weiß. Hab dir doch vorhin erst versprochen, dass wir mal zusammen duschen gehen.“ Ich sagte dies halb lachend und sah nach oben, doch merkwürdigerweise stieg er darauf nicht ein. Seine Augen waren abgewandt, und auch ich schaute schnell wieder zur Seite, als er sich am Rest seiner Kleidung zu schaffen machte. Mir wurde etwas mulmig. Das war vielleicht etwas zu viel des Guten gewesen. Könnte man falsch verstehen. Und dabei durfte ich doch unter keinen Umständen Aufmerksamkeit erregen. Verdammt. Ich vernahm das Geräusch seiner nackten Füße auf den weißen Kacheln, die zur hintersten Dusche trotteten und erst von dem Geräusch herabfallenden Wassers übertönt wurden. Außer Dennis nutzte kaum irgendjemand die Duschen. Die Scham war eben doch größer als der Ekel vor dem verschwitzten Herumsitzen im Folgeunterricht. Selbst mir war es unangenehm gewesen, als ich einmal nach einem vierstündigen Basketballturnier doch lieber die hygienische Variante gewählt hatte, und mich schließlich mit ein paar anderen nackten Halbstarken auf diesem begrenzten Raum hatte arrangieren müssen. Und dabei hatte ich eigentlich nichts zu verbergen. Langsam kroch der Wasserdampf über den Boden und vernebelte mein Blickfeld. Unsere Mitschüler waren mittlerweile auch eingetrudelt, manche stinkend mies gelaunt, manche völlig überdreht. Ich hörte sie um die Ecke herum jammern und schreien. Elendes Pack. Mein Puls hatte sich wieder beruhigt, und ich stand auf um meine verschwitzten Klamotten auszutauschen. Ach ja. Da war doch was. Ich trat an das Waschbecken und überprüfte meine Jeans und die Oberteile, die ich zum Trocknen hier aufgehängt hatte. Scheiße. Sie waren immer noch klamm, an manchen Stellen vollgesogen mit Wasser, und sahen total zerknittert und hinüber aus. Ein entrüstetes „Fuck!“ rutschte mir heraus, während ich zwischen der Kleidung an meinem Körper und der eigentlichen Alternative hin und her blickte.

„Hast du was gesagt?“, rief Dennis hinter mir aus dem Rauschen des Wassers heraus, aber ich gab nur ein unverständliches Grummeln von mir. Die schlechte Laune kehrte schlagartig zurück. Das hatte ich jetzt gebraucht, wunderbar. Die Kurze Sporthose war definitiv zu kalt für draußen, und das Shirt war genauso nass wie das Hemd, welches ich vorhin im Regen weichgespült hatte. Widerwillig zog ich die Sporthose aus und tauschte sie gegen die feuchte Jeans. Sie klebte nur so an meinen Beinen und freute sich darauf, mir die Wärme aus dem Körper zu ziehen. Gerade als ich das Shirt ausgezogen hatte, um auch dieses zu wechseln, streckte Finn seinen Kopf um die Ecke.

„Was macht ihr zwei hübschen denn da, Rudelduschen... Mit Klamotten?“

„Wonach sieht es denn aus?“, maulte ich, ohne ihn weiter zu beachten. Der Tag war so dermaßen hinüber. Und nun auch noch eine Stunde Englisch.

„Es sieht aus wie Rudelduschen mit Klamotten. Nein ehrlich, was hast du gemacht?“

„Regen“, antwortete ich. Das musste als Erklärung genügen.

„Ah, verstehe. Und so willst du jetzt in den Unterricht?“

„Ja. Problem?“

„Na ja. Deine Sache, aber du kannst es dir nicht wirklich erlauben, nochmal zwei Wochen krank zu sein, meinst du nicht?“ Meine Schläfe fing langsam an zu zucken.

„Bist du meine Mutter? Lass das verdammt nochmal meine Sorge sein.“ Ich warf das nasse Bündel in die Ecke zu meinen Sachen und zog mir stur mein Hemd über. Im Spiegel sah ich mein aufgewühltes Gesicht, meine abstehenden Haare, meine in Falten gelegte Stirn. Ich sah ziemlich furchteinflößend aus.

„Gut, wie du meinst.“ Damit verschwand Finn mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck, den ich irgendwo zwischen Gleichgültigkeit, Enttäuschung und Angepisst einordnete. Verflucht, was war denn heute los? Wieso musste mir heute jeder auf den Geist gehen, selbst die Leute mit denen ich sonst nichts zu tun hatte? Referendarinnen, die für mich eigentlich Luft sein sollten, Lehrer, die eigentlich nur meine Lehrer sein sollten, Mitschüler, die mich eigentlich ignorierten. Dennis, der an meiner schlechten Laune wohl am meisten zu beißen hatte. Aber selbst er war mir heute einfach zu viel. Man, ich brauchte Ruhe.

„Ach, falls du es dir doch noch anders überlegst“ – Finns Gesicht war plötzlich wieder aufgetaucht und hatte mich erschrocken zusammenfahren lassen – „Hier. Brauch den erst mal nicht, mir ist warm genug.“ Damit warf er mir ein dunkelgraues Knäuel entgegen und verschwand dann endgültig. Ich sah verdutzt auf den Gang, aber dort erschien nun niemand mehr. In den Händen hielt ich einen dicken, schweren Kapuzenpullover, der mir vermutlich viel zu groß war. Was zum Henker war denn hier los. Ich legte den Hoodie beiseite und kümmerte mich erst einmal nicht darum. So weit kam es noch, dass ich die Kleidung anderer Männer anzog! Bei einem besten Freund, gut, das war noch etwas anderes. Aber Finn? Wie völlig unerwartet und suspekt. Ich schüttelte mich überfordert und bückte mich, um Socken und Schuhe anzuziehen. Dennis hatte in der Zwischenzeit das Wasser abgedreht und sich ein Handtuch umgebunden. Er schien es nicht gerade eilig zu haben.

„Ich warte oben“, sagte ich, und machte mich dann mit meinen Sachen auf dem Weg nach draußen. Im Spiegel sah ich seine Augen noch merkwürdig aufblitzen.

Vor der gläsernen Doppeltür setzte ich mich auf das Geländer der Treppe, die in drei Stufen zum Eingang hinauf führte. Obwohl ich das nicht für möglich gehalten hatte, war der Himmel noch eine Nuance dunkler geworden. Mädchengekreisch erfüllte die Luft, als ein Blitz das dunkle Unheil durchzuckte. Fasziniert starrte ich in die Ferne hinaus. Es gab Dinge da draußen, über die der Mensch nie Herr werden würde. Das machte mich glücklich.

Als Dennis mit einiger Verspätung durch die Tür ins Freie schritt, war ich bereits völlig ausgekühlt. Meine Hände waren weißblau angelaufen und ein unkontrolliertes Zittern durchfuhr meine Glieder. Das merkte ich allerdings erst, als er mich aus der Trance holte.

„Hier“, vernahm ich leise seine Stimme, „den hast du unten vergessen.“ Er hielt mir den Kapuzenpullover entgegen. „Der ist von Finn, oder?“ Ich nickte nur und nahm ihn entgegen. Mein Körper war müde von der Anstrengung und dem langen Tag, der einfach nicht enden wollte.

„Wieso hat er ihn dir gegeben?“

„Weiß nicht. Wegen meiner Klamotten oder so.“

„Wie nett. Du solltest ihn anziehen.“

„So ein Quatsch, wie sieht das denn aus!“ Die Worte kamen nur langsam hervor, aber nicht weniger energisch.

„Besser, vermutlich. Schau dich an, du zitterst wie Herr Thalom nach einem seiner Wutanfälle. Bist auch bald genauso bleich im Gesicht.“

„Red keinen Unsinn.“

„Tu ich nicht. Zieh ihn an.“

„Vergiss es.“

„Mach schon.“

„Nein!“

„Ethan!“ Ich erkannte den verärgerten Gesichtsausdruck meines Freundes. Den hatte ich bisher nicht oft gesehen. Ein kalter Luftzug fuhr unter dem Dach hindurch und stach mir in die Augen. Ich kniff sie zusammen und ließ mich vom Geländer fallen.

„Sag mir, wie sieht das für dich aus, wenn ich plötzlich aus einer Laune heraus mit Finns Hoodie im Unterricht sitze und so tue, als wäre das das Natürlichste der Welt, obwohl wir normalerweise nicht einmal ein einziges Wort wechseln?!“

„Ich verstehe dein Problem nicht, es ist nur ein verdammter Hoodie. Der könnte jedem gehören! Was sollen die Leute denken, dass ihr ein Paar seid?“ Als er das in diesem Tonfall sagte, schnürte sich mir die Kehle zu. Luft. Ich schluckte schwer. Ein Paar. Er sah aufgebracht aus. In seinen Augen lag ein wütender Schimmer.

„Natürlich nicht“, würgte ich hervor. Meine Kehle. Verschlossen. Ich sah ihm gequält in die Augen. Und in diesem Moment packte mich plötzlich die Angst. Sie ließ meine Sinne gefrieren, meinen Verstand aussetzen und mein Blut in den Adern kochen. Panik kroch in mir hoch. Ich hatte Bedenken gehabt, doch was jetzt passierte, war noch viel schlimmer. Nie hatte mir etwas so viel Angst gemacht, wie diese Tatsache. Die Tatsache, dass mein bester Freund es vielleicht bemerkt hatte. Meine Finger krallten sich in den grauen Stoff, mein Puls überschlug sich, dass es schmerzte. Es tat so entsetzlich weh. Szenarien spielten in meinem Kopf. Wann? Wie? Warum? Wie konnte das sein, wie hatte das passieren können. Meine Augen waren geschlossen. Weit entfernt schien mir seine Stimme, als er mir antwortete.

„Siehst du. Dann zieh ihn jetzt an.“ Wie durch ein Meer aus Watte, gedämpft und leise, und doch stand er direkt vor mir. Dennis. Wenn du es wüsstest, was würdest du tun? Ich atmete schwer, öffnete den Mund, doch es kam nichts heraus. Zugeschnürt. Ich war leichtsinnig gewesen. Und nun konnte ich es nicht mehr ändern. Doch seine Anweisung war klar gewesen. Er kehrte mir den Rücken zu und ging. Ich hörte, wie sich seine Schritte entfernten. Nicht! Der Regen verschluckte ihn. Ich stand da und sah ihm hinterher, konnte nicht anders. Dann ließ ich meine Sachen einfach fallen, streifte mir das graue Kleidungsstück über und lief ihm hinterher. Doch kein Pullover der Welt hätte mich in diesem Augenblick so sehr wärmen können wie die erbarmungslose Hitze, die tief in meinem Innern brannte, und langsam aber stetig außer Kontrolle zu geraten drohte.

Kapitel 8

 

Kapitel 8

 

Der Start in die Woche war verpatzt. Als ich an diesem Nachmittag zu Hause ankam, war ich so dermaßen ernüchtert und angepisst von den vergangenen Stunden, dass ich sogar meinen kleinen Twix links liegen ließ, und stattdessen sofort mein Bett anpeilte. Es war zu viel. Es war alles zu viel. Ich wusste nicht mehr, was genau eigentlich in den letzten Wochen passiert war. Es war unwirklich. Ich pfefferte meine nassen Klamotten in die nächste Ecke, zog mir noch eine trockene Boxershorts an und versank dann wild fluchend unter meiner Bettdecke.

Alles schien sich verändert zu haben. Mein Leben, meine Gefühle, meine Mitmenschen. Nichts davon interessierte sich für meine Lage, niemand hatte mich gefragt oder vorgewarnt. Es war einfach passiert, als hätte sich plötzlich ein Schalter umgelegt, der über ein Jahrzehnt nicht einmal existiert hatte. Es war verwirrend. Höchst irritierend. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Sich darüber aufzuregen würde die Geschehnisse nicht ungeschehen und meine Laune nicht besser machen. Es galt jetzt nachzudenken, zu überlegen, wie ich mein Missverständnis unauffällig wieder ausräumen konnte, ohne dass es zu einem schwerwiegendem Fehler ausartete. Ich hatte keine Ahnung, was Dennis tatsächlich wusste, aber die bloße Gewissheit, dass er irgendetwas ahnen musste, ließ mich erschaudern. Wir waren jetzt seit so vielen Jahren befreundet, hatten so viel gemeinsam durchgestanden und erlebt. Es war immer klar gewesen, dass wir nur Freunde waren. Natürlich, das war normal. Würde sich jetzt etwas daran ändern... Es war unklar, wie das unsere Freundschaft verändern würde. Dennis war nicht gerade intolerant oder gar homophob, aber es ging schließlich auch nicht um irgendeinen wildfremden Mann, dem auf einmal seine Neigung bewusst wurde. Es ging um seinen engsten Vertrauten, seinen besten Freund, der aus offenbar heiterem Himmel plötzlich erregt auf körperlichen Kontakt von ihm reagiert hatte. Wen würde das denn nicht abschrecken? Meine Güte. Mir wurde jetzt erst richtig bewusst, wie er sich gefühlt haben musste, falls er es wirklich bemerkt hatte. Und dann hatte ich auch noch neben ihm in der Dusche gesessen. Zusätzlich noch meine unüberlegten Bemerkungen.

Ich stöhnte vor Anstrengung und Entsetzen über mich selbst, vergrub mein Gesicht in der Armbeuge. Das alles nahm unschöne Züge an. Nicht einmal eine ausladende Zockersession konnte mich auf andere Gedanken bringen. Erst als gegen achtzehn Uhr ein unerwarteter Gast seinen Kopf durch meine Tür steckte, schlug meine Laune schlagartig um.

„Sam?“, rief ich, und glotzte perplex in das vor Grinsen ganz faltige Gesicht des jungen Mannes vor mir.

„Bruder! Na, wie isses dir? Lange nicht mehr gesehen.“ Ich sprang sofort auf und begrüßte meinen älteren Bruder mit einer überschwänglichen Umarmung. Es war schön, ihn wiederzusehen, wenn auch unerwartet.

„Was tust du hier? Ein Spontanbesuch? Ich dachte, du bist momentan auf Geschäftsreise?“

„Langsam, immer langsam“, lachte er und wuschelte mir durch die Haare. „Mama hat uns zum Essen eingeladen, hat sie dir nichts gesagt?“

„Was? Nein.“ Ich schüttelte energisch den Kopf und versuchte dann erst, mich an eine solche Aussage zu erinnern. Aber da war nichts. „Wer ist denn uns?“ Mein Bruder zog eine amüsierte Fratze. Dann plötzlich hallte ein hochfrequenter Ton aus dem unteren Stockwerk die Treppe hinauf.

„Eeeethan!“ Ganz klar, meine Schwester war hier.

Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem überraschenden Familientreffen um eine vorgezogene Geburtstagsrunde zu meinen Ehren. Da mein Bruder ab Mittwoch geschäftlich unterwegs und meine Schwester im Urlaub in Spanien sein würden, hatten unsere Eltern den Zeitplan einfach etwas umgekrempelt. Der Geburtstag selber war mir zwar nach wie vor ziemlich unwichtig, aber die ganze Familie mal wieder an einem Tisch zu haben, stimmte mich etwas besser. Es war schön, die beiden wiederzusehen. Vor allem Sam. Er wohnte mittlerweile seit sechs Jahren nicht mehr zu Hause. Meine ältere Schwester, Ela, war erst vor kurzem ausgezogen. Und da die beiden ihren eigenen Beschäftigungen mit mehr oder weniger Eifer nachgingen, waren Treffen mit ihnen immer seltener geworden. Daher genossen wir den Abend zusammen, das gemeinsame Essen und anschließend die Gespräche, die noch bis in den späten Abend hinein auf der Couch im Wohnzimmer geführt wurden. Darüber vergaß ich auch vorübergehend die Strapazen der letzten Stunden.

Als die beiden sich schließlich verabschiedeten, beschlossen Sam und ich, sobald er wieder da war, an irgendeinem Wochenende mal eine zweitägige Tour durch einen der nahe gelegenen Nationalparks zu machen. Er hatte vor kurzem das Wandern für sich entdeckt, und auch ich konnte mal wieder etwas Abwechslung vom Stadtleben vertragen. Ela wollte natürlich sofort einsteigen, wurde aber für gebirgsuntauglich befunden, als sie im nächsten Moment mit ihren Stöckelschuhen und aufgeklebten Nägeln anrückte und von heißen Park-Rangern zu fantasieren begann.

Einige Minuten später kroch ich ermattet unter meine Bettdecke. Ich nahm noch einen langen Zug von der kühlen Luft, die durch meine geöffnete Balkontür hereinwehte. Und noch einen. Der frische Sauerstoff belebte meine Zellen wieder. Eine Weile lag ich einfach da, völlig eingekehrt, die Arme um mein kleines Fleece Kissen geschlungen. Es schmiegte sich sanft an meine rauen Handflächen. Unten kehrte langsam Ruhe ein. Twix lag längst schon auf meinem Schreibtischstuhl und träumte vom Fressen und Schlafen. Ab und an zuckte sein gestreifter Puschelschwanz aufgeregt, wenn er vermutlich einem besonders saftigen Vogel hinterher jagte. Ich lächelte. Dann ließ ich den Tag vor meinem inneren Auge Revue passieren. Szenen aus der Schule traten hervor, Bilder von Dennis und Finn blitzten auf. Ich hörte mich Dinge sagen, und sah mich selbst, wie durch einen Spiegel der Vergangenheit. Ich dachte an Dennis' Worte, als dieser mich vor der Sporthalle angefahren hatte. Es zuckte in meinem Bauch. Sogar meine Mundwinkel verzogen sich, und ich versuchte schleunigst, diese Erinnerungen doch wieder zu verdrängen. Ich würde sie in eine Schublade schieben. Eine Schublade, in der schon viele andere Erinnerungen verwahrt wurden. Erinnerungen an Dinge, die nie hätten passieren dürfen. Dinge, die schmerzlich und doch zu schön waren, als dass ich sie wirklich hatte vergessen wollen. Sie würden wohl noch lange dort verwahrt werden.

 

Der nächste Tag brachte mir kaum neue Erkenntnisse. Gleich am Morgen hatte ich Finn auf dem Gang vor den Spinden aufgesucht, um ihm so unauffällig wie möglich den Pullover wiederzugeben, dessen Annahme er sich gestern nach der Schule überaus vehement verweigert hatte.

„Hat er dir also noch gute Dienste geleistet, wie?“, fragte er lächelnd, während er das Kleidungsstück neben den Büchern in das Schließfach stopfte. Ich nickte zögerlich, den Blick abgewandt.

„Siehst du, Ethan, soziale Interaktion hat auch seine Vorteile, ob du es glaubst oder nicht.“ Ich schnaubte. Den Kommentar hätte er sich sparen können. Doch sein Blick verriet mir, dass er es ernst meinte. War es nicht noch viel zu früh am Morgen, um die Welt zu verbessern?

„Mag sein. Aber noch einmal werde ich nichts von dir annehmen, dass das klar ist.“

„Glasklar“, antwortete er. Im hinteren Teil des Ganges sah ich Dennis und Julian herannahen. Was für eine seltsame Konstellation, wo sich doch beide gegenseitig überhaupt nicht ausstehen konnten. Finn hatte inzwischen seinen Spind wieder abgeschlossen und nickte mir noch einmal zu, ehe er sich zu seinem Klassenraum aufmachte.

„Morgen“, grüßte Dennis wie jeden Morgen, als er vor mir stehenblieb und seinen Rucksack von den Schultern gleiten ließ. Sofort fiel mir wieder die leichte Rötung seiner Augen auf.

„Morgen. Geht's dir besser?“

„Ging es mir gestern nicht gut?“, fragte er neutral, ohne von seinem Handy aufzusehen, das nun seine Aufmerksamkeit zu fesseln schien.

„Weiß nicht. Wie ging es dir gestern?“

„Nicht so, aber danke der Nachfrage. Und bei dir, alles gut? Wieder beruhigt?“ Jetzt sah er mich an.

„Einigermaßen, ja.“

„Und Sankt Martin hat seine Kleidung auch schon wiederbekommen, hab ich da richtig gesehen?“

„Hast du. Er schien überdies hochgradig erfreut darüber, dass ich ihn mir hab aufzwingen lassen.“

„Wunderbar!“, rief Dennis aus und klatschte in die Hände. „Vielleicht kriege ich dich bis zum Abitur ja doch noch in unsere Sozialgemeinschaft integriert.“ Bis zum Abitur? Ich schluckte. Nein, wahrlich nicht. Für dieses zum Scheitern verurteilte Vorhaben würde er nur noch wenige Monate Zeit haben. Ich musste es ihm so langsam wirklich mal mitteilen, doch der richtige Zeitpunkt ließ noch auf sich warten. Fürs Erste verstrich der Dienstag ohne weitere Zwischenfälle oder Reibereien mit etwaigen Lehrkräften. Das dritte Quartal stand vor der Tür, und die letzten Klausurnoten wurden zusammengetragen, um den Leistungsstand der vergangenen Monate zu erfassen. Ernüchtert musste ich feststellen, dass ich in insgesamt vier Fächern nachgelassen hatte. Zumindest was die völlig objektive und tadellose Beurteilung meiner Lehrer anging. So war ich in Geographie von einer zwei plus auf eine drei gerutscht, in Mathe von einer drei auf eine vier – was unter normalen Umständen ein triftiger Grund höchster Besorgniserregung sein sollte -, und in Englisch und Sozialwissenschaften jeweils von einer eins auf eine zwei plus. Die Noten für die Fächer Informatik, Kunst und Deutsch standen noch nicht fest, würden uns aber wohl noch diese Woche mitgeteilt werden.

In der Pause zwischen der vierten und fünften Stunde schleppte mich Dennis gleich nach Kunst in die Bibliothek. Was er dort suchte war mir schleierhaft, doch ließ ich mich willig hinter ihm her ziehen. Es erleichterte mich ungemein, dass der kleine Disput zwischen uns bisher keine bleibenden Schäden hinterlassen zu haben schien. Zumindest keine sichtbaren. Wir drängten uns durch die Massen an Schülern, die vor dem winzigen Kiosk eine riesige, unstete Schlange gebildet hatten, und damit den gesamten Gang blockierten. Verzweifelt wackelte der Abteilungsleiter mit seinem Klemmbrett in der Luft herum, als er versuchte, den Mob zu durchbrechen, der die Tür zu seinem Büro völlig verbarrikadiert hatte. Armer Mann. Wir wählten den Weg durch die Fünf- und Sechstklässler, die etwas einfacher zu bewältigen waren als ihre älteren Schulgenossen. Trotzdem wurden wir von allen Seiten mit Flüchen und unsanftem Körperkontakt empfangen – man hielt uns für Eindringlinge und potenzielle Platzkonkurrenten. Erstaunlich, wie schnell und sorgfältig sich das Vokabular der kleinen Biester an den Jargon niederer Altersgenossen meines Jahrgangs anpasste, dachte ich. Ein gutes Drittel der Wörter, mit denen sie ihr Territorium zu verteidigen gedachten, kannte ich nicht einmal. Aber gänzlich neu war dieser Zustand der Anarchie uns auch nicht, bot doch jeden Dienstag zu dieser Zeit unser Kiosk die extravaganten Stücke billiger Tiefkühlpizza zu einem horrenden Preis an. Nicht selten kam es auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen bei dem Kampf um diese begehrten Luxusgüter. Ich blieb lieber bei meinem belegten Brot. Wir erreichten die Tür zur Bibliothek, nachdem wir den lärmenden Mob hinter einer dicken Glastür zurückgelassen hatten. Kurz warf ich einen Blick auf das Schwarze Brett, das direkt daneben hing. Neben einem Werbeblättchen für den Schülerbedarf, einigen Vermisste-Gegenstände-Anzeigen und dem aktuellen Mensa-Essensplan gab es auch eine prall gefüllte Spalte mit Gesuchen und Angeboten von Nachhilfestunden für die verschiedensten Fächer. Meine Augen huschten flüchtig darüber hinweg, und erkannten auch auf den ersten Blick schon zahlreiche Deutschnachhilfe-Angebote von Schülern der Oberstufe. Interessant. Wir betraten die Bibliothek.

„Hallo“, grüßten wir im Duett die ältere Dame an der Rezeption, die sofort von einer ihrer vielen Listen aufsah und uns freundlich anlächelte.

„Hallo ihr beiden. Kreuzt ihr auch mal wieder hier auf, wie schön!“

„Jap“, sagte Dennis und kramte seinen Schülerausweis hervor. „Das schöne Wetter draußen muss man ja schließlich nutzen. Und diesen Schinken hier zu wälzen hat auch etwas länger gedauert, als erwartet.“ Er zog aus seinem Rucksack ein dickes, großes Buch hervor. Ich konnte nur erkennen, dass es sich um ein fantastisches Werk handeln musste, dem Umschlag nach zu urteilen. Vielleicht auch etwas Historisches. Er ging damit an die Theke um es zurückzugeben und eine Unterschrift zur Verifizierung zu leisten. Während er das tat, sah ich mich im kleinen Foyer um, betrachtete ein paar der aufgehängten Plakate. Allerdings entsprachen die darauf angepriesenen Romane nicht unbedingt meinen Geschmack. Vampire fand ich grundsätzlich fürchterlich langweilig, und Strandromanzen eher zum Kotzen. Immerhin war die Landschaftsaufnahme auf dem Cover ganz schön. Als ich mich wieder umdrehte, war Dennis verschwunden, zusammen mit der Rezeptionistin. Ich ging ein Stück weiter in den Raum hinein und lugte um die Ecke, aber er schien schon zwischen den hohen Bücherregalen verschwunden zu sein. Sei es drum. Ich setzte mich im Foyer in den einzigen vorhandenen Sessel und zog mein Handy aus der Tasche, um mir etwas Input zu verschaffen, während Dennis auf Exkursion war. In meinem E-Mail-Postfach lag diesmal allerdings fast ausschließlich Werbung, und auch sonst hatte keiner die Muße gehabt, mir zu schreiben. Wieso auch, ich war ein völlig uninteressanter Mensch. Mit mir zu schreiben glich am ehesten dem Versuch, eine Katze zu unterhalten. Im ersten Moment wallte die Euphorie – die Freude darüber jemanden gefunden zu haben, der sich mit einem beschäftigte, war gewaltig. Dann folgte die eigentliche Unterhaltungsphase, und man rannte ein paar Mal zwischen Plüschmaus und Spielkamerad hin und her. Schließlich war die Plüschmaus aber doch nur eine Plüschmaus, und das hoffnungslose Zerfetzen des Dings in seine Einzelteile wurde zur ernüchternden Teilzeitbeschäftigung. Letztendlich konnte dann doch nur noch eine knisternde Futtertüte das unterforderte Gemüt erhellen. Der Spielkamerad wurde uninteressant. Und schließlich folgte der Stillstand.

Ich steckte das Handy zurück und schloss die Augen. Es war wunderbar ruhig hier – einer der Gründe, weshalb ich in der Vergangenheit schon viele Pausen hier verbracht hatte. Meistens alleine, manchmal mit Dennis zusammen. Mir schien, dies war der einzige Ort in der gesamten Schule, an dem der Geräuschpegel auch mit mehreren Schülern in einem Raum stets angenehm blieb. Und das ohne einen beaufsichtigenden Lehrer. Ich ließ den Blick schweifen und gähnte, rätselte, ob es sich bei den offenbar neu angeschafften Zierpalmen und Orchideen um reale floristische Wunderwerke oder täuschend echte Plastikpflanzen handelte. Ich entschied mich für Letzteres. Trotzdem trugen sie zu dem entspannenden Komfort bei, und für einen Moment wünschte ich mir, dass Dennis sich noch bis zum Ende des Tages Zeit lassen würde. Nach etwa drei Minuten tauchte er aber auch schon wieder in meinem Blickfeld auf, offenbar mit erfolgreich erbeuteter Literatur. Ich wartete noch, bis er sich ordnungsgemäß zum Ausleihen eingetragen hatte, dann verabschiedeten wir uns von der Bibliothek und verließen sie durch die große Holztür.

„Was hast du dir ausgeliehen?“, fragte ich mehr rhetorisch als ernsthaft interessiert.

„Ein Buch“, antwortete Dennis. Ich musste grinsen. Er kannte mich einfach zu gut. Wir entschlossen uns, angesichts der noch weiter gewachsenen Menschenmenge im Pizzarausch doch lieber einen Umweg zu machen. Dieser führte uns durch einen sehr abgelegenen Gang an den Technik- und Naturwissenschaftsräumen vorbei. Nur zwei Schüler kamen uns hier entgegen, ansonsten schien der Trakt wie ausgestorben. Als wir um die nächste Ecke bogen, um zum Treppenhaus zu gelangen, blieb Dennis plötzlich stehen. Ich ging noch zwei Schritte, drehte mich dann überrascht zu ihm um. Er schaute zu Boden.

„Was ist?“, fragte ich und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Was vergessen?“ Er schüttelte den Kopf.

„Nein. Ich wollte nur...“, fing er an.

„Was?“

„Wegen gestern. Tut mir leid, dass ich dich so angefaucht habe. Weiß auch nicht was los war.“ Kurz hob er seinen Blick und sah mir direkt in die Augen. Dann ging er weiter, an mir vorbei.

„Ähm. Schon okay?“, entgegnete ich irritiert und folgte ihm die Treppe hinauf. „Kannst du eigentlich gar nichts für. Ich hatte gestern einfach einen fürchterlichen Tag. Na ja, zum größten Teil jedenfalls.“ Ein tiefer Atemzug. Mir lag so viel auf der Zunge, so vieles, was ich ihm gerne sagen würde. Doch Vorsicht war das Gebot der Stunde. „Weißt du, ich hab das Gefühl, irgendetwas hat sich verändert. In letzter Zeit habe ich immer weniger Motivation, überhaupt noch zur Schule zu kommen.“

„Hm? Wie meinst du das? Du gehst schon seit Jahren ungern zur Schule.“

„Ja, schon“, gab ich zu. „Aber in den letzten Monaten ist alles irgendwie noch unangenehmer geworden. Die Lehrer, unsere Mitschüler. Mir kommt es vor, als ginge es immer weiter bergab, je näher wir dem Abitur kommen.“ Wir erreichten das Erdgeschoss und schlängelten uns an einer weniger drückenden Schülermasse vorbei, um das Hauptgebäude zu verlassen. Draußen war es kühl. Dennis dirigierte mich zu einer freien Bank und setzte sich dort auf die Lehne. Ich gesellte mich nachdenklich zu ihm.

„Ich weiß nicht so ganz, ob ich verstehe was du meinst, Ethan. Sind unsere inkompetenten Lehrer etwa noch unfähiger geworden? Oder unsere Mitschüler noch dämlicher?“ Er gähnte.

„Na ja“, sagte ich und wurde von seinem Gähnen angesteckt. „Das sowieso. Aber dazu darf ich mich eigentlich gar nicht äußern, du weißt ja, was ich von ihnen halte.“

„Und was hat sich dann geändert?“

„Ich... Ich bin mir nicht sicher. Kommt dir nicht auch irgendetwas sonderbar vor?“

„Mal überlegen. Hm. Unsere Noten sind etwas schlechter geworden. Die Deckenlampe im Biologieraum ist seit zwei Monaten defekt, keiner der Hausmeister scheint dafür Zeit zu haben. Und die Mensa hat ihre Preise wieder erhöht.“

„Das meine ich nicht“, schnaufte ich und schüttelte den Kopf. Er verstand nicht. Wir schwiegen eine Minute lang.

„Vielleicht ist es ja gar nicht die Schule, die sich verändert hat, oder die Schüler“, bemerkte Dennis dann. Fragend blickte ich zu ihm herüber. Er hatte begonnen seine Finger ineinander zu verknoten. Das machte er immer, wenn ihn etwas Kompliziertes beschäftigte.

„Wie meinst du das?“

„Nun ja“, druckste er herum. „Es scheint alles beim Alten zu sein, von ein paar mindernden Umständen mal abgesehen. Also... Möglicherweise hast du dich ja verändert?“ Der Ton in seiner Stimme verriet mir etwas, das in mir Unwohlsein auslöste. Ich fing nun meinerseits an, die Finger spielen zu lassen.

„Das“, murmelte ich, „kann natürlich auch sein. Hat sich denn etwas an mir verändert?“ Meine Sinne waren angespannt, als ich die Frage aussprach. Ich fixierte den grauen Asphalt vor mir und öffnete den Mund ein wenig, um besser Luft zu bekommen.

„Was fragst du mich das?“, grummelte Dennis und ließ sich von der Lehne auf die Sitzfläche herabsinken, als die Pausenaufsicht ihre Runde an uns vorbei drehte.

„Du bist mein bester Freund“, konstatierte ich, „wen bitte sollte ich eher fragen als dich?“

„Ja ja, ist ja gut“, gestand er, zögerte dann eine Weile.

„Und?“

„Was und?“

„Habe ich mich nun verändert?“ Bald würde die Schulglocke der Pause ein Ende setzen. Die zweifelhafte Gier nach einer Antwort flackerte in mir. Dennis setzte erst eine undefinierbare, dann ernste Miene auf.

„Ganz ehrlich, ich weiß es nicht, Ethan. Keine Ahnung. Du bist ein wenig abweisend in letzter Zeit. Noch mehr als sonst, meine ich. Und bist mit den Gedanken oft woanders, scheinst manchmal unkonzentriert.“ Er machte eine Pause, schaute auf den Schulhof hinaus. „Du hast mir die letzten Male immer zum Schwimmen abgesagt, ohne einen für mich nachvollziehbaren Grund.“ Jetzt sah ich weg. Meine Brust zog sich Millimeter für Millimeter zusammen. „Aber das ist natürlich nichts Weltbewegendes!“, fuhr er fort. „Ich mein, vielleicht hast du ja gerade eine deiner passiven Phasen oder so, die mal etwas länger anhält. Oder hast dich in ein hübsches Mädel verguckt, oder was auch immer.“ Jedenfalls, was immer es ist, es ist nicht schlimm. Also für mich, meine ich. Und falls du das Bedürfnis hast, du weißt ja, ich höre dir immer gerne zu. Egal um was es geht. Daran hat sich nichts geändert. Und daran wird sich auch nichts ändern.“ Er lächelte mich warm an. Und mir bröckelte ein Teil der Seele weg. Meine Kehle hatte sich verengt, mit jedem Wort, das er gesprochen hatte. Ich starrte in die Leere hinaus. Er war so wunderbar, mein bester Freund. So einzigartig und unentbehrlich für mich. Und er hatte genau ins Schwarze getroffen.

Die Schulglocke läutete. Ein heller, verzerrter Ton. Unsanft durchbrach er die Trübe meiner Gedanken. Dann spürte ich seine Hand auf meiner Schulter.

„Denk mal darüber nach. Wir sehen uns nachher“, flüsterte er beinahe, nahm seinen Rucksack und verschwand langsam in der Ferne. Ich blieb mit einem Gefühl der Nichtigkeit auf der modrigen Bank zurück. Alleine und leer.

Geheimnisse, dämmerte es mir. Er wusste, dass es Dinge gab, die ich ihm vorenthielt. Doch wie konnte ich ihm von all dem erzählen, wenn ich es doch selbst noch nicht einmal verstand?

Kapitel 9

 

Steffen. Luke. Maria. Julian. Karl.

Name um Name wurde aufgerufen. Ich war der Zwölfte auf der Liste im Deutschkurs. Nur einer von vierundzwanzig Namen, einer von vierundzwanzig Personen, die den Unterrichtsraum für wenige Sekunden oder Minuten verlassen würden, um mit dem Lehrer die Quartalsnoten zu besprechen. Nichts Außergewöhnliches. Trotzdem drückte mein Puls immer schneller gegen die Hand, mit der ich meinen Kopf am Hals abstützte. Es war totenstill im Raum. Wir hatten eine klare und einfache, aber dennoch hohe Konzentration fordernde Aufgabe erhalten, mit deren Bearbeitung wir uns die gesamten zwei Stunden befassen sollten, während parallel dazu auf dem Flur draußen die Besprechung stattfand. Simon. Katharina. Sieben. Ich schluckte trocken und schaute zu Dennis herüber. Der war wie immer der letzte auf der Liste und widmete sich mit höchster Aufmerksamkeit der ausladenden Textaufgabe. Ich beobachtete nervös, wie er seinen Stift gezielt und zügig über das linierte Papier führte, und Buchstabe für Buchstabe dort zu einer Symbiose zweckdienlicher Sätze vereinigte. Ich selbst hatte in den vergangenen fünfundzwanzig Minuten gerade einmal die Überschrift und Einleitung verfasst. Unschlüssig nahm ich mir den neongelben Marker zur Hand, um zum wiederholten Male den Ursprungstext durchzugehen, ein paar Stellen zu markieren, dabei aber nicht wirklich weiter zu kommen. Stephanie. Jasmin. Das vertraute Pudding-Gefühl ergriff von meinen Beinen Besitz. Es ging doch nur um meine Note, verdammt. Noch dazu um eine nichtssagende Quartalsnote, die sich bis zu meinem Jahreszeugnis sowieso noch ändern würde. Jedes Mal, wenn ein Mitschüler zurückkehrte und den nächsten aufrief, hoben sich kurz einige Köpfe, und bei der ein oder anderen wichtigeren oder aber beliebten Person schwirrte kurz ein fragendes Gemurmel durch die Luft. Aus dem Augenwinkel betrachtete ich missbilligend Jasmin, wie sie mit ihrem wallendem roten Haar und strahlendem Gesicht wieder eintrat und mit erhabener Stimme ihre Eins Minus verkündete. Einige ihrer weiblichen Gefolgsleute ließen daraufhin ein merkwürdiges Quieken verlauten, und von den Männern – pardon, Jungen – wurden ein paar oberflächliche Kommentare bezüglich des Zusammenhangs mit ihrer recht ansehnlichen Erscheinung durch den Raum geworfen.

Thomas. Daniel. Die Schüler hatten sich wieder beruhigt. Mir jedoch verschlug es fast den Atem. Ich hatte das Schreiben und Markieren aufgegeben und die Stirn resignierend auf meinem Duden abgelegt. Meine Finger drückten gegen die Halsschlagader, was das Pochen darunter aber nicht zu mindern vermochte. Mir war heiß. Ich hatte nur ein leichtes T-Shirt an, doch fühlte es sich gerade an wie eine Eisbärfelljacke im Hochsommer, die unangenehm auf der Haut klebte und bei jeder Bewegung immer nasser und schwerer wurde, um einen schließlich zu Boden zu ringen. Fürchterlich. Mein Blick auf die Uhr verriet mir, dass Daniel seit vier Minuten draußen war. Da gab es wohl viel Redebedarf. Ich hoffte inständig, dass es sich bei mir, wie sonst auch immer, höchstens um eine halbe Minute handeln würde. Ich würde mich kurz setzen, Herr Aturi würde mir meine schriftliche und mündliche Note mitteilen, mich für meine Mitarbeit loben und kleine Defizite ansprechen, sich erkundigen ob ich noch Fragen hätte und dann nach dem Nächsten schicken lassen. Es war eine simple Abfolge von Vorgängen, die es so schnell wie irgend möglich abzuhandeln galt, damit ich heute wenigstens noch irgendeine Art Fortschritt bei dieser nichtigen Beschäftigungsaufgabe erzielen konnte. Der Gedanke daran ließ mich ein paar Sekunden wieder durchatmen und entspannen. Doch dann hörte ich entfernt einen Stuhl auf dem Boden quietschen. Schritte ertönten, und kurz darauf kam Daniel träge zur Tür herein. Er sah nicht besonders glücklich aus, was mich aber angesichts seiner allgemeinen Unterrichtsbeteiligung nicht sonderlich überraschte.

„Ethan.“

Ich warf noch einen flüchtigen Blick zu Dennis, doch der war völlig in seinen Text vertieft. An dem unglückseligen Daniel vorbei, legte ich die Hand auf die Türklinke und atmete noch einmal tief ein und aus. Es gab nichts zu befürchten.

Ich ließ das Klassenzimmer zurück und zog leise und ruhig die Tür hinter mir zu. Das leise Getuschel verstummte. Alles war still. Nur das Klicken eines Kugelschreibers durchbrach diese angenehme Ruhe und zwang mich schließlich doch dazu, mich dem Unvermeidbaren zuzuwenden. Ein paar Meter weiter in Richtung Ausgang hatte sich Herr Aturi eine leicht abgedunkelte Ecke gesucht, und es sich dort mit zwei Stühlen und einem kleinen Einzeltisch bequem gemacht. Langsam schlurfte ich auf ihn zu. Es war überhaupt ein Wunder, dass meine Beine noch meinen Befehlen folgten, denn der Instinkt hätte sie zweifellos in die entgegengesetzte Richtung geführt. Ich erreichte den für mich vorgesehenen Stuhl und ließ mich gemächlich darauf nieder. Eigentlich wollte ich etwas sagen, so etwas wie „Hey“, oder „Hallo“, oder wenigstens „Soooo...“, um die Konversation einzuleiten. Doch mein Mund war trocken, und meine Zunge versagte kläglich ihren Dienst. Herr Aturi kritzelte noch auf seinem schlauen Klemmbrett herum. Ich sah ein wenig unbeholfen in der Gegend herum, zupfte mir am Kragen herum und ließ die Hände unauffällig unter den Tisch wandern, wo man ihnen das Zittern nicht anmerken konnte. Noch immer huschte der Kugelschreiber über das Papier, und hinterließ dort mehrere Zeilen schwer entzifferbarer Notizen. Ich besah mir die Spinde, die allesamt identisch waren, beobachtete eine Fliege an der Wand beim Putzen ihrer übergroßen Augen und wechselte mehrfach die Position meiner Beine, ohne etwas von mir verlauten zu lassen. Er schrieb noch immer, bald eine endlose Minute lang. Die Fliege machte sich davon, und irgendwann konnte ich doch nicht anders, als meine Augen vorsichtig in seine Richtung schweifen zu lassen. Er schien sehr konzentriert. Sein ernster Blick ruhte auf dem Schreiben, das offenbar wichtig genug war, um mich dafür warten zu lassen. Seine Augenbrauen warfen in der Mitte der Stirn kleine Falten, die ihn noch intellektueller wirken ließen. Durch seinen zum Schreiben geneigten Kopf ragten mir seine dunklen, dichten Haare entgegen. Sie waren heute wieder mit äußerster Sorgfalt gemacht worden, was ich an einer gewissen Standrichtung festmachte. Um seinen schmalen Hals herum schlängelte sich eine dicke, sehr weich aussehende Hoodie-Kapuze. In Verbindung mit den Haaren schürte sie in mir die Lust, meine Hände auszustrecken und ihn zu berühren, ihm über den Kopf zu streicheln...

„Ethan!“ Ich erlitt beinahe einen Herzstillstand. Er legte den Stift zur Seite und wandte sich mir ziemlich direkt zu. Hatte er bemerkt, dass ich ihn angestarrte hatte? Jedenfalls war ich sichtbar zusammengezuckt, und guckte ihn nun mit großen Augen an.

„Ja!“, brachte ich rostig hervor. Mehr nicht. Mir fiel nichts Kluges ein.

„Entschuldige bitte, dein Vorgänger bedurfte einiger Muss-sich-ändern-Notizen, und selbst ich kann mir nun mal nicht alles merken. Aber du scheinst dich ja vortrefflich beschäftigt zu haben.“ Ich lächelte gequält, weil ich dadurch hoffte, nicht all zu ertappt zu wirken. Er schien nun wieder ganz da zu sein und schlug ein anderes Blatt auf seinem Klemmbrett um.

„Also“, sagte er und räusperte sich. „Was meinst du denn, wie du stehst?“ Och nein, das Spielchen, das ich nicht mochte. Ich fixierte einen unsichtbaren Punkt vor mir, rieb mit den Fingern an der Tischkante herum.

„Zwei plus?“, brachte ich schließlich nach einigen Sekunden des Nachdenkens hervor. Lüge. Seit zwei Jahren stand ich durchweg Eins in Deutsch. Aber wenn er pokern wollte, dann meinetwegen. Die Klausuren hatte ich fast alle mit Bestnote abgeschlossen, viel Spielraum hatte er nicht.

„Hm“, machte er und zeigte keine Anstalten, mich von seinem prüfenden Blick zu erlösen. „Okay. Eine Zwei Plus würde also bedeuten, dass du dich im Vergleich zum Halbjahr mündlich etwas verschlechtert hast. Stimmst du dem zu?“ Oh man, er legte es tatsächlich darauf an.

„In gewisser Weise“, mutmaßte ich. Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, mich selber herunter zu ziehen, aber nun war ich drin.

„In welcher Weise?“

„Na ja, generell eben.“ Bei Odins Bart, war ich einfallslos! „Meine allgemeine Beteiligung hat eben etwas nachgelassen.“ Er nickte einmal. Wieso nickte er?

„Und warum könnte das so sein? Ich hatte eigentlich nicht den Eindruck, dass dir das Thema nicht zusagt.“

„Nein, das nicht“, dementierte ich, „ich glaube es ist eher ein... weitläufigeres Problem. Ich habe auch in anderen Fächern nachgelassen.“ Ich zuckte mit den Schultern um gleichgültig zu wirken, aber die Wahrheit war eine andere. Seine Stirn warf als Reaktion darauf ein paar skeptische Falten. Zu leicht zu durchschauen?

„Ist das so? Na dann gibt es doch bestimmt einen Grund dafür, dass du in letzter Zeit so unkonzentriert bist.“ Er legte seinen Kopf schief und löcherte mit seinem Blick meine bröckelnde Hülle. Ich biss mir auf die Lippe.

„Äh... ja. Ist privater Herkunft, schätze ich“, antwortete ich so gelassen wie möglich. Doch seine Anwesenheit und die Fragerei trieb die Anspannung in mir auf einen neuen Höhepunkt.

„Privat, ja? Okay. Dann hängt es also nicht mit schulischem Personal oder deinen Mitschülern zusammen?“ Ich schüttelte den Kopf und sah zur Seite.

„Nein.“ Er nickte und schwieg ein paar Sekunden.

„Und es hat auch hoffentlich nicht mit unserem kleinen Treffen letztens zu tun?“, fragte er dann mit gesenkter Stimme.

„Nein.“ Die Antwort kam schneller als ich über sie nachdenken konnte.

„Hm“, grübelte er. „Gut. Und meinst du, dass sich dein Problem privater Herkunft bis zum Jahresende gelöst hat? Oder kann ich dir als dein Deutschlehrer da vielleicht irgendwie weiterhelfen?“

Ja, indem Sie die Schule wechseln und jede Erinnerung an Sie aus meinem Gedächtnis eliminieren!

„Ich fürchte nicht“, sagte ich ehrlich bedauernd. „Aber ich werde das... Problem schon in den Griff bekommen.“ Zu lang. Diese Unterhaltung wurde zu lang.

„So?“, raunte er, und plötzlich formten sich seine Lippen zu einem freudigen Lächeln. „Das höre ich gerne. Dann darf ich meinen besten Schüler also bald wieder in Höchstform erleben, was?“

Was?

Mir schoss das Blut in den Kopf.

Bitte? Entgeistert sah ich ihn an. Klar, dass ich notentechnisch oft die Oberhand im Kurs hatte, war mir bewusst, aber... das so von ihm zu hören, schien gerade eine weitgehendere Wirkung zu entfalten. Die Anspannung wich mit einem Mal, und ich sackte ein wenig in meinem Stuhl zusammen. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Meine Finger suchten verzweifelt etwas zum Festklammern. Sein bester Schüler. Das klang gut und befremdlich zugleich. Was sollte ich darauf denn nun antworten?

„Hey hey, kein Grund gleich so verlegen zu werden“, feixte er und grinste jetzt erst recht bis zu beiden Ohren. Warum mochte er es so mich zu quälen. Wieso genoss er es so sehr. Ich schwankte zwischen dem Drang, ihm entweder saftig eine reinzuhauen oder über ihn herzufallen. Beides eher suboptimale Optionen. Glücklicherweise nahm er mir die Entscheidung ab.

„Also, wir sind hier soweit fertig. Du weißt was du zu tun hast, und ich bin mir sicher, dass du das packst. Sollte dir noch irgendetwas in den Sinn kommen, was ich für dich tun kann, sag es mir einfach. Ich bin gerne bereit dir zu helfen. Auch, wenn es um private Dinge geht.“ Er sprach die letzten Worte in einer merkwürdigen Tonlage. Dabei sah er mich intensiv an. Ich nickte hastig, seltsam peinlich berührt. Daraufhin lehnte er sich befriedigt in seinem Stuhl zurück und griff zum Klemmbrett. Die Besprechung war vorüber. Ich stand wie in Trance auf und schob den Stuhl ran, ehe ich mich umdrehte und wackelig zur Tür schlich. In meinem Kopf schwamm alles.

„Ach, und Ethan?“ Mein Blick zuckte kurz zurück zu ihm.

„Ja?“

„Vielleicht wäre es ein guter Anfang, sich wieder auf das zu konzentrieren was dein Lehrer sagt – nicht darauf, wie er dabei aussieht“

Herzlichen Dank für den Rat, Sie Arsch.

 

Mein Geburtstag rückte immer näher, aber ich verspürte keinerlei Vorfreude. Nicht einmal die Aussicht auf einen entspannten schönen Abend mit Dennis vermochte das zu ändern. Dieser wuselte mittlerweile wieder gewohnt aufgedreht um mich herum, ohne von meiner Gedankenverlorenheit Notiz zu nehmen. Wir hatten unser letztes Gespräch nicht mehr weitergeführt, und momentan schien das auch die bessere Entscheidung gewesen zu sein. Die ernsten Dinge des Lebens hatten noch Zeit bis nach dem Wochenende. Ewig aufschieben konnte ich sie aber auch nicht mehr. Mit jedem Tag der verstrich, schrumpfte meine Zeit an dieser Schule auf nunmehr weniger als drei Monate. Nicht, dass ich mich nicht darauf freute, endlich aus diesem Haufen mindergebildeter Angehöriger einer niederen Spezies herauszukommen. Aber ein gewisses Unbehagen dabei zu empfinden, nach sechs Jahren seinen angestammten Platz zu verlassen, war wohl nicht ganz unangebracht. Mal abgesehen von der allgemeinen Unsicherheit, die sich seit den vergangenen Wochen wie Unkraut in meinen Gedanken und Gefühlen ausbreitete und meine Handlungen vor mir selber immer zweifelhafter erscheinen ließ. Dass es wirklich möglich war, dass sich ein Mensch in so kurzer Zeit so sehr verändern konnte, hatte ich nicht für möglich gehalten. Schon gar nicht bei mir selbst. Aber was geschehen war, war geschehen, und ich musste meinen Weg nun selber gehen, so steinig er auch noch werden mochte. Das würde ich endlich einsehen müssen, mit oder ohne meinen besten Freund.

„Ethan, schau mal!“, kam es aus einigen Metern Entferung. Ich reagierte nicht sofort, sondern starrte weiter auf die zahlreichen winzigen Fischchen, die unter den Seerosenblättern Schutz vor hungrigen Fressfeinden suchten.

„Komm mal her“, drängelte Markus weiter. Ich schnaubte und erhob mich von meiner abgelegenen Halbinsel, die von hohem Schilf umgeben war, das in der Nachmittagsbrise angenehm rauschte. Die Frösche quakten zufrieden und die Königslibellen zogen ihre Kreise über dem Wasser. Ich verließ diese Idylle nur ungern, doch waren wir mit dem Biologiekurs an diesen See gekommen, um die letzten zwei Unterrichtsstunden des Tages damit zu verbringen, das Ökosystem hier zu betrachten, Wasserproben zu nehmen und die Wasserqualität anhand der vorhandenen Kleinstlebewesen zu analysieren. Ich mochte Biologie eigentlich, und aus den stickigen Schulzimmern heraus zu kommen war eine nette Abwechslung. Aber ausgerechnet heute schien Markus, mit dem ich ein sogenanntes Zweierteam bilden musste, in exzessiver Hochform zu sein. Ich trottete zu ihm herüber und heuchtelte Interesse.

„Was ist denn? Was gefunden?“ Er kniete mit seiner Jeans im schlammigen Uferboden und schien in einem dieser dämlichen Lupengläser etwas gefangen zu haben.

„Hier, guck mal rein“, forderte er mich breit grinsend auf. Skeptisch ging ich neben ihm in die Hocke, nahm ihm den Behälter ab und sah durch das Vergrößerungsglas.

„Zwei sich paarende Schmeißfliegen“, stellte ich fest.

„Ach wo, schau mal genau hin.“

„Drei... sich paarende Schmeißfliegen.“

„Jaja, und noch mehr!“ Ich drehte das Glas in meiner Hand und suchte nach weiterem organischen Material.

„Da, oben am Deckel.“

„Ein Wasserläufer“, bemerkte ich.

„Ja!“, rief Markus verzückt. „Ein flotter Fliegendreier und ein Spanner!“, quiekte er und lachte wie ein Kind, das zum ersten Mal einen Tampon seiner Mutter entdeckt hat. Ich gab ihm das Glas zurück.

„Fantastisch.“ Ich erhob mich wieder und sah mich um. Die anderen Schüler waren glücklicherweise außer Hörweite, so musste ich mir nicht auch noch deren absurde Jahrtausendentdeckungen zu Gemüte führen. Kamen diese Menschen überhaupt vom Planeten Erde? Egal. Ich genoss die warme Nachmittagssonne und schweifte mit den Gedanken in die Zukunft. Heute hatte ich Dennis nach drei Wochen das erste Mal wieder zum Schwimmen zugesagt. Um sechs Uhr waren wir am Hallenbad verabredet. Ich hatte es einfach nicht mehr ausgehalten, ihn ständig zu versetzen. Außerdem war es wirklich auffällig geworden, wie oft ich noch dies und jenes zu erledigen hatte. Und er war mein bester Freund. Wenn ich ihm gegenüber nicht zu sozialer Interaktion verpflichtet war, wem dann? Es war auf Dauer doch ziemlich langweilig, nur mit sich selbst Gespäche zu führen. Und Schwimmen machte schließlich auch Spaß.

Nach unserer ungemein ergebnisreichen Exkursion zum Ökosystem See durften wir zu meinen Freuden direkt vom Ort des Geschehens aus nach Hause fahren. Auf dem Rückweg im Bus knallte ich mir meinen Metal auf die Ohren und döste vor mich hin. Ich war müde, irgendwie ziemlich geschafft. Von dem gleichmäßigen Rattern des Busses und der lauten aber angenehmen Musik, dämmerte ich irgendwann ein. Kurz vor meiner Umstieghaltestelle wachte ich wieder auf, schaute kurz verwirrt umher, nahm die Kopfhörer ab und streckte den Rücken durch. Dieses ganze Herumsitzen ließ einen völlig einrosten, es war wirklich höchste Zeit, wieder ein bisschen Sport zu treiben.

 

Ich traf Dennis später an diesem Abend vor dem Eingang des Schwimmbads. Er begrüßte mich wie gewohnt mit einem Handschlag, auch wenn wir uns wenige Stunden zuvor erst gesehen hatten. Ich lächelte ihn an und deutete mit dem Kopf zur großen Schiebetür. Heute schien mehr los zu sein als normalerweise um diese Uhrzeit. Der Parkplatz war noch gut belegt, und einige Leute kamen gerade erst an. Die Mehrheit schien jedoch der oberen Altersklasse anzugehören, und das war ein mildernder Umstand. Erwachsene waren weitaus leichter zu ertragen als schreiende Kinder und pöbelnde Jugendliche. Wir traten unseren Weg zu den Umkleiden an und schmissen uns in Schale. Nach der Dusche peilten wir wie üblich zuerst das Sportlerbecken an. Chlor stieg mir in die Nase. Ich mochte den Geruch, auch wenn er aus einem eher unschönen Chemiegemisch hervorging. Während ich unsere Handtücher und das Duschzeug in einem der Staufächer unterbrachte, begann Dennis bereits mit seinen routinemäßigen Dehnübungen.

„Ich freu mich, dass du wieder mit dabei bist“, sagte er, gerade auf einem Bein stehend am wackeln. „Als ich alleine hier war, musste ich die Zeit immer selber stoppen.“

„Aw, armes schwarzes Katerlein“, höhnte ich und grinste ihn an. „Aber in deine Badehose hast du es schon noch alleine geschafft, ja?“

„Nur mit Hilfe der Rezeptionistin, zugegeben.“

„So so, die alte oder die ältere?“

„Die ältere natürlich.“ Ich ging kopfschüttelnd an ihm vorbei und brachte ihn mit einem Klaps in den Nacken aus dem Gleichgewicht.

„Hey!“, rief er, und revangierte sich sofort mit einer flachen Hand auf meinem nassen Rücken. Es klatschte ordentlich.

„Autsch“, murmelte ich, und verschwand schnell in Richtung Startblöcke, bevor das hier in ein Hiebgefecht ausartete. Er folgte mir wenige Sekunden später mit einem hundsgemeinen Grinsen auf den Lippen.

„Das wird noch Konsequenzen haben, Bürschchen.“

„Das hoffe ich schwer“, antwortete ich amüsiert über seinen Gesichtsausdruck. „Aber jetzt ab mit dir ins Wasser, ich will so schnell wie möglich weg von diesen öden Wasserbahnen.“

„Ay Chef.“ Er reichte mir seine Uhr und stieg artig die Treppe hinunter ins Becken. Ich platzierte mich auf der Bank neben einem Haufen Schwimmbrettern und Schaumstoffnudeln und signalisierte, dass ich bereit war. Zwar waren die ersten paar Runden nur zum Einschwimmen, aber es konnte nie schaden, eigenen Rekorden nachzujagen. Das war zumindest Dennis' Ansicht. Er nickte mir zu und begab sich in Position.

„Bist du sicher, dass ich die Zeit stoppen soll? Du könntest danach ernüchtert unf für den Rest des Tages demotiviert sein“, fragte ich noch einmal frech.

„Jetzt halt die Klappe und mach.“

„Alles klar, auf los geht’s los. Los!“ Augenblicklich reagierte er. Funkelnde Tropfen spritzten auf, ein helles Platschen ertönte, und mit dem ersten Eintauchen unter die Wasseroberfläche löste sich die menschliche Hülle von meinem Freund. Er streifte sie ab, wie ein Schmetterling der seinem Konkon entschlüpft, um ihn hinter sich zu lassen und der Freiheit entgegen zu fliegen. Er war nun kein behäbiges Landwesen mehr, mit zwei Beinen und Armen. Sein Körper wurde eins mit dem Element, seine Füße zur Fluke, seine Hände zu Flossen. Unter den tanzenden Wellen tauchte kein Mensch mehr. Die Verwandlung vollzog sich binnen Sekunden, doch als er wieder auftauchte, erkannte ich den schimmernden Fluten einen wunderschönen Schwertwal wieder. Seine Rückenflosse durchstieß die unendliche Weite des Meeres, sein majestätischer Körper schwebte zwischen Himmel und Erde, zwischen Gravitation und Schwerelosigkeit. Er setzte eine Reise fort, die er vor langer Zeit begonnen hatte. Eine Reise, die ihn durch alle Meere unserer Welt führen würde, durch warme Untiefen und kalte Schluchten, an den Landmassen der Erde und verborgenen Gebirgen unter Wasser vorbei. Sein innerer Kompass wies ihm den Weg, unfehlbar und vollkommen. Wenn er allein war, so sang er sein Lied. Und alle die, die seinen Gesang hörten, eilten herbei um den Wanderer ein Stück seines Weges zu begleiten. So trieb er zwischen den Zeiten, leicht wie ein Blatt ihm Winde, immer fort und fort, bis er das Ende seiner Reise erreicht hätte.

Ein Schwall Wasser traf mich im Gesicht.

„Hey, hallo! Du Idiot, sag mal wozu bist du eigentlich überhaupt zu gebrauchen?“

„Drei siebzehn“, antwortete ich automatisch. Ich sah in Dennis aufgebrachtes, leicht rötliche Gesicht. Er schüttelte heftig den Kopf und verpasste mir noch eine Ladung.

„Ey, wofür war die denn?“, schmollte ich.

„An wen hast du schon wieder gedacht, hm?“, kam die Gegenfrage.

„An dich“, antwortete ich. Er legte den Kopf ungläubig schief und zog die Augenbrauen in die Höhe. „Ich hab geträumt du wärst ein Wal.“

„Wie romantisch“, feixte er und grinste mich genervt an, während er langsam auf dem Rücken schwimmend wieder forttrieb. „War ich ein alter grauer Buckelwal, mit großen Warzen und Seepocken?“ Er schlug einen Haken, tauchte kopfüber ab und verschwand aus meinem Sichtfeld. Ich stoppte jetzt erst die Uhr und schmunzelte. Auch Dennis hatte zuweilen eine rührende Fantasie, das musste man ihm lassen. Einige Sekunden vergingen, dann näherte sich ein Schatten von unten der Wasseroberfläche, durchbrach sie jäh in hohem Bogen und eine Fontäne Sprühwasser schoss durch die Luft. Es platschte abermals.

„Ha! Ich mache einen ziemlich guten Wal, findest du nicht?“, fröhnte Dennis, als er nach diesem Kunststück wieder am Beckenrand ankam.

„Auf jeden Fall, nur die Damen da hinten scheinst du nicht so beeindruckt zu haben.“ Er sah sich um und erblickte sofort die drei Weibchen in unserem Alter, die gleichzeitig böse und interessiert zu ihm herüber schauten.

„Naja, man muss es eben mögen, von mir nass gemacht zu werden.“

„Das stimmt wohl“, seufzte ich. Da hatte ich wohl etwas ins Rollen gebracht.

„Nachdem du meine Zeit also schon wieder beim ersten Mal verprennt hast, kannst du mir ja jetzt wenigstens raushelfen.“

„Walfang ist illegal.“

„Halt die Klappe!“ Ich lachte und ging vor dem Becken in die Hocke.

„Aber beschwer dich später nicht, wenn...“ Weiter kam ich nicht, denn statt ihm netterweise aus dem Wasser heraus zu helfen, half er mir hinein. Ich tauchte auf und schnappte nach Luft.

„Keine Sorge, ich beschwer mich nicht“, witzelte er mit einem zuckersüßen Lächeln und paddelte langsam davon.

„Duuuu!“, knurrte ich, und stürtze sofort hinterher. Eine wilde Verfolgungsjagd entbrannte, bei der ich logisch betrachtet nicht den Hauch einer Chance hatte. Mehr oder weniger beholfen strampelte ich hinter ihm her. Irgendwann bekam ich einen seiner Füße zu packen und hielt ihn mit beiden Händen fest. Das hatte zur unangenehmen Folge, dass ich unter Wasser hinter ihm hergezogen wurde. Er zog mich tatsächlich bis zum anderen Beckenrand, wo ich nach mehreren Sekunden endlich wieder auftauchte und heftig nach Sauerstoff rang, und meine Finger sich zitternd an dem Rand festkrallten.

„Oh Ethan! Ich hatte auch gerade einen Traum“, sagte Dennis bestens gelaunt und offenbar kein bisschen außer Puste. „Von einem Walfänger, der von seinem wackeligen Boot ins Meer fiel, und der dann allen Ernstes versuchte einen Wal im offenen Ozean mit seinen eigenen Händen zu erwürgen.“

„Das... muss... ein ziemlich... verrückter Mann... gewesen sein“, keuchte ich zwischen den tiefen Atemzügen, und brachte erst einmal nichts weiter zustande. Obwohl das der perfekte Zeitpunkt für ein paar saftige Einwände gewesen wäre. Dennis kicherte zynisch, halb unter Wasser, und hunderte kleine Blasen blubberten unter seinen hellbraunen Augen. Ich wusste nicht ob ich jetzt lachen, schlafen oder ihn beißen sollte.

„Aw, ist der kleine Ethan etwa schon erschöpft vom Planschen?“ Vielleicht war Beißen nicht die schlechteste Wahl. Oder direkt komplett auffressen. Gerade wollte ich endlich etwas entgegnen, da tauchte er schon wieder ab.

„Argh, Dennis!“, fluchte ich und hieb mit der flachen Hand auf die Wasseroberfläche.

„Ja?“, ertönte es ein paar Meter weiter.

„Du bist ein...“ Und wieder untergetaucht. Ich setzte eine grimmige Miene auf und wandte mich dem Beckenrand zu, verschränkte die Arme darüber und legte meinen Kopf darauf. Sollte er sich noch ein Weilchen austoben, nachher würde ich wieder meine Chance kriegen. Und dann war er dran! Ein Weilchen verging. Ich sah einem älteren Paar zu, wie es die schrumpeligen Glieder sorgfältig in alle Himmelsrichtungen streckte, vermutlich um sich auf die bevorstehenden Abendbahnen vorzubereiten. Ein anderes, jüngeres Paar saß auf einer Bank ganz in der Ecke und knutschte dezent miteinander herum. Dass denen das nicht unangenehm war, in der Öffentlichkeit. Ein Schwall Wasser bahnte sich von hinten an, und plötzlich verschwand alles Licht aus meiner Welt.

„Ha ha, du fetter Pottwal. Ein Riesenkalmar gibt sich nicht so einfach geschlagen! Sieh mal zu, wie du mich jetzt durch die dunklen Tiefen des Pazifik ziehst!“ Ich spürte, wie sich seine Beine um meinen Bauch schlangen, und der Druck auf meinen Augen zunahm. Sofort wollte ich seine Hände von meinem Gesicht reißen, ging aber kläglich unter, mit dem zusätzlichen Gewicht auf meinem Rücken.

„Na jetzt reiß dich aber mal zusammen mein Großer, du willst doch nicht etwa kampflos aufgeben?“

„Denn-is!“, hustete ich das Nass aus meinen Atemwegen. „Runter von mir!“ Ich bemerkte einen leisen Anflug von Panik, der mit jeder weiteren Sekunde ohne Luft immer lauter wurde. Dankbarerweise erhörte mein Peiniger mich diesmal, und es wurde wieder licht in meiner Welt.

„Danke...“ Es war nicht mehr als ein Flüstern, das ich zustande brachte. Der Beckenrand war meine Rettung, und jetzt endgültig fertig mit den Nerven klammerte ich mich daran fest.

„Oh. Gibst du also wirklich schon auf?“ Dennis klang ehrlich enttäuscht.

„Ja“, wisperte ich in meine Armbeuge. „Hast gewonnen, Riesenkalmar.“

„Langweilig“, stellte der Kalmar fest. „Du bist echt aus der Übung.“

„Kann sein.“ Eine ungeheure Müdigkeit überfiel mich mit einem Mal. Erschöpfung in jedem meiner Gliedmaßen. Mein Kopf sackte seitlich ab und meine Augen fielen schwergängig zu. Es war ein langer Tag gewesen. Dennis hing noch immer auf meinem Rücken, seine Beine vor meiner Hüfte gekreuzt. Bei jeder Welle, die von anderen Schwimmern erzeugt wurde, schwappte sein Oberkörper sachte gegen meinen. Mein Atem entspannte sich langsam wieder. Es fühlte sich irgendwie beruhigend an, diese Nähe. Vertraut, und doch anders. Warm. Irgendwann sank auch sein Kopf herab, und seine nassen Haare berührten meinen Nacken. An meinen Flanken spürte ich ganz leicht den Druck seiner Finger. Sie lagen dort, einfach so. Ich ließ sie sein. Dann irgendwann, langsam und schweigsam, tasteten sie sich ihren Weg nach vorne. Vorsichtig. Fragend. An meinen Bauchmuskeln machten sie Halt. Dort verharrten sie eine Weile, bis schließlich flache Hände über meinen Körper strichen, innehielten, und sich dann sanft davor verschlungen. Er umarmte mich. Dennis umarmte mich. Ziemlich eng sogar. Gedankenströme flossen durch meinen benebelten Verstand, doch ließ ich sie alle weiterziehen. Das hier fühlte sich so gut an, so unglaublich gut. Es fühlte sich an, als hätte ich Jahre lang darauf gewartet, auf diese eine Berührung. Mein Magen zuckte vor Wohlwollen. In meiner Kehle kribbelte es angenehm. Es war falsch, wusste mein Kopf, aber mein Körper genoss diese Nähe gerade viel zu sehr, als dass er sie unterbrechen wollte. Sein Kopf sank noch etwas tiefer herab. Ich spürte seine Nasenspitze an meiner Wirbelsäule, seinen beschleunigten Atem auf der nackten Haut. Hitze durchströmte meine Adern. So sollte es ewig bleiben, dachte ich. Oder zumindest noch einige Minuten.

Doch es sollte nicht sein.

„Guck mal, die zwei Süßen da.“ Ein Schatten huschte an mir vorbei.

„Hehe, richtig niedlich. Schwuchteln.“

Augenblick.

„Ekelhaft, in 'nem öffentlichen Schwimmbad.“

Ein Moment der Lähmung paralysierte sämtliche meiner Körperfunktionen für eine Sekunde. Dann, von einem auf den anderen Moment, ergriff die Realität wieder Besitz von mir. Ein brutales Zittern ging durch meinen Körper.

„Runter von mir!“, fauchte ich Dennis an, und riss barsch seine Hände und Beine von mir.

„Au!“, war das einzige was ich hörte, denn das Gelächter der drei Halbwüchsigen, die ihre Kommentare gerade kundgetan hatten, erfüllte meine Ohren mit Nervosität und Furcht.

„Scheiße“, flüsterte ich. Die drei verschwanden mit ihren hässlich angewiderten Gesichtern um die nächste Ecke. Ohne mich zu Dennis umzudrehen hievte ich meinen Körper aus dem Wasser und stieg aus dem Becken. Wut, Angst und Schock geisterten in meinem Kopf umher. Mir wurde jetzt erst bewusst, dass ich bestimmt zwei Minuten so eng umschlungen mit einem anderen Kerl direkt in einer Halle mit anderen Menschen gedöst hatte. Bitte Erde, tu dich auf. Sie tat sich nicht auf. Ich blickte nicht zu meinem Freund zurück, den ich so unsanft von mir gelöst hatte, sondern stapfte schnurstracks auf die Regale mit den Handtüchern zu. Ich schnappte mir meines, band es mir um die Hüfte um so meinen Halbsteifen möglichst zu verdecken und verließ die Halle heftig atmend durch die nächste Tür. Sofort fand ich eine freie Umkleidekabine und schloss mich so hastig ein, als wäre jemand mit einem Messer hinter mir her. Ein stechender Schmerz zuckte durch meine Brust. Ich sackte auf der kleinen Bank zusammen, meine Stirn fiel in die Hände. Was hatte ich getan? Was hatte er getan? Wie hatte das passieren können, wie konnte ich so etwas zulassen? In einer Halle, wo ein Dutzend anderer Menschen direkt neben uns gewesen waren! Mein Herz wummerte gegen den Brustkorb. Scheiße.

„Scheiße!“ Ich trat gegen die Kabinenwand und schnitt mir einen Zeh an der unteren Kante auf. Ah! Ich krümmte mich vorn über und fluchte, aber nach wenigen Sekunden ließ der Schmerz schon wieder nach. Trotzdem unangenehm. Schweiß mischte sich mit dem Badewasser.

„Ethan?“ Oh nein.

„Hey, bist du hier drin?“ Ich hätte mich zehn Kabinen weiter einschließen sollten. Kurz überlegte ich, ob ich einfach nichts sagen und unsichtbar spielen sollte, aber dafür schien es schon zu spät zu sein.

„Mhm“, machte ich. Ich wollte Dennis jetzt nicht sehen. Ich war wütend. Wieso zum Teufel war er mir gerade so nah gekommen? Hatte er denn völlig den Verstand verloren?

„Ist alles okay?“, hörte ich von der anderen Seite. Am liebsten hätte ich jetzt die Tür aufgerissen und ihm für diese Frage ins Gesicht geschlagen. Aber so etwas machte man nicht.

„Nein. Ich werd jetzt fahren“, antwortete ich dennoch hochgradig gereizt. Es fiel mir schwer mich zu konzentrieren. Meine Gedanken hingen zwischen unzähligen unbeantworteten Fragen, mühsam unterdrückten Emotionen und dem Planen der nächsten Schritte. Kurze Zeit herrschte Stille. Dann rutschten meine Shampoo- und Duschgelflasche unter der geschlossenen Tür her und blieben zu meinen Füßen liegen.

„Warte draußen auf mich“, sagte Dennis. Er klang ziemlich ernst. Es wiederstrebte mir, aber ich nickte. Was er natürlich nicht sah, aber es musste als Antwort genügen. Seine Schritte entfernten sich wieder. Mein Rücken klebte an der kalten Kabinenwand. Schauer jagten von meinem Magen zu der Wunde am Zeh. Ich begann zu zittern. Es war kühl geworden. Ich stand auf und löste das Handtuch von meiner Hüfte, hängte es mir stattdessen über Rücken und Schultern. Was sollte ich denn jetzt tun? Dennis war mit Sicherheit zu den Duschen gegangen, dort konnte ich jetzt unmöglich reinspazieren. Nein. Ich hob meine Sachen vom Boden auf und schloss vorsichtig die Kabine auf, als würde ein großes Übel dahinter lauern. Aber die Luft war rein. Duschen konnte ich auch nachher noch zu Hause, dachte ich. Schnurstracks peilte ich die Spinde an, suchte, fand meinen und entnahm ihm meine Klamotten. Sofort sprang ich wieder in die nächste Umkleide, und mich schnell umzuziehen und dann auf direktem Wege hier raus zu verschwinden. Gesagt, getan. Noch etwas nach Chlor riechend checkte ich mit dem Schlüsselarmband aus und lief den Korridor zum Ausgang entlang. Die Rezeptionistin warf mir einen überraschten Blick zu.

„Schon wieder raus?“, fragte sie und schielte über ihre rote Brille hinweg.

„Ja“, sagte ich unruhig mit einem erzwungenen Lächeln, „heute leider nicht so viel Zeit. Muss noch Dinge für die Schule erledigen.“ Sie ließ den Kugelschreiber um ihr faltiges Kinn kreisen.

„So so, na dann viel Erfolg dabei.“

„Dankeschön. Ihnen einen schönen Abend noch!“ Die alte Dame lächelte und zwinkerte mit den überschminkten Augen. Schnell wandte ich mich von ihr ab und verließ das Gebäude durch die gläsernen Schiebetüren. Die Luft draußen jagte mir augenblicklich eine eiskalte Gänsehaut durch Mark und Knochen. Verflucht war das kalt! Ich hatte mich in der Hektik nicht einmal richtig abgetrocknet. Eilends suchte ich Windschutz zwischen zwei tropisch bestückten Pflanzenkübeln. Besser. Ich sog scharf die Luft ein und suchte in meinem Rucksack nach dem Handy. Gerade einmal Viertel vor Sieben. Mein Blick glitt Richtung Bushaltestelle. Ich konnte ja wenigstens schon einmal gucken, wann der Bus kam. Normalerweise fuhr ich ja immer erst später, daher kannte ich die anderen Abfahrtszeiten nicht. Ich schulterte mein Gepäck und schlenderte zwischen den parkenden Autos in Richtung Wartehäuschen. Ein Autofahrer, der es wohl eilig hatte, bremste abrupt und hupte, als ich den Zebrastreifen vor ihm betrat.

„Idiot“, murmelte ich und bekam dafür die Lichthupe zu spüren. Dafür könnte ich Sie anzeigen, Sie Schwachmat. Aber es war mir völlig einerlei. Ich ging zu dem Busfahrplan, konnte aber nichts lesen. Die temporären hellen Flecken durch die Blendung verhinderten das. Hätte mir doch das Kennzeichen merken sollen. Nach einer halben Minute konnte ich wieder normal sehen und fuhr mit dem imaginären Finger am Plan entlang. Und gerade als ich bei 18 bis 19 Uhr angekommen war, hörte ich auch schon das vertraute Brummen eines herannahenden Busses, der um die Ecke fuhr. Perfekt, dachte ich. Und doch wieder nicht. Dennis hatte gesagt ich solle draußen auf ihn warten. Weiß der Geier was er von mir wollte. Irgendwas war vorhin nicht ganz richtig mit ihm gewesen, das stand fest. Sonst hätte er nie so eine... intime Annäherung gestartet. Oder? War das überhaupt eine Annäherung gewesen? Konnte es sein, dass ich seinen Kalmarquatsch vorhin einfach nur falsch gedeutet hatte? Ach, aber unabhängig davon war es eine Katastrophe in mehrerlei Hinsicht gewesen. Diese verfluchten Strohhirne von Jugendlichen, die ihr wertloses Maul bei jeder verdammten Drecksgelegenheit aufreißen mussten! Bei dem Gedanken fing mein Blut gleich wieder an zu kochen. Solche zurückgebliebenen Aasfresser. Kein eigenes Leben das interessant genug war, hauptsache anderer Leute Verhalten kommentieren. Schwuchteln, hallte es in meinem Kopf wider. Und in meiner Brust verkrampfte sich alles bei dem Wort. Ein widerliches Wort für andersartige Menschen. Die wir ja nicht waren! So ein Schwachsinn konnte auch nur von derart unterentwickelten Kreaturen kommen. Doch machte mich das nicht weniger sauer. Der Bus bremste ab. Ich schaute mich nach Dennis um, lief ein paar Schritte zurück. Die Bus hielt an. Dennis war nicht zu sehen. Was wollte er mir denn überhaupt noch mitteilen? Es war seine verdammte Schuld gewesen, dass wir angepöbelt worden waren. Vor Publikum! Und er konnte die dummen Sprüche wohl kaum überhört haben, also was wollte er noch von mir. Entschuldigen können hätte er sich auch gerade eben schon. Keiner stieg aus. Ich hatte eine Entscheidung getroffen. Sollte er doch morgen sein Verhalten erklären oder auch nicht, ich wollte jetzt nur noch nach Hause. Sofort machte ich kehrt und beschleunigte den Schritt, um den Busfahrer zu signalisieren, dass ich noch mit wollte. Er hatte die vordere Tür schon wieder geschlossen, reagierte aber freundlicherweise auf mein Handwedeln und öffnete nochmals. Ich trat ein.

„Dankeschön“, bedankte ich mich lächelnd.

„Gern geschen“, sagte der Busfahrer, ein alter schnauzbärtiger Mann und nickte mir zu. Mein Ticket bekam grünes Licht vom Prüfgerät. „Da kommt ja noch einer.“ Ich drehte mich um und sah einen Schatten auf die Haltestelle zusprinten. Doch nicht etwa...

„Ethan!“ Na klasse.

„Hey, warte Ethan!“ Zu spät Kleiner. Ich senkte den Blick und ging auf einen freien Platz im Vierer zu. Der Busfahrer öffnete erneut die Türe, und ein schwer atmender, bebender Junge sprang herein.

„Guten... Abend! Danke!“, sagte er. „Wie viel kostet ein Ticket zum Bahnhof?“

„Fünf dreißig“, antwortete der Busfahrer geduldig und schloss die Tür hinter Dennis. Der begann in seinem Portemonnaie herumzukramen.

„Oh“, hörte ich nur, und ahnte bei dieser Silbe auch schon, was da gerade vor sich ging. „Ich hab leider nur drei fünfundvierzig. Wie weit komme ich damit?“

„Bis zur Stadtgrenze, Preisstufe A“, war die Antwort.

„Und wie lange laufe ich von da bis zum Bahnhof?“

„Wenn du so sprintest wie gerade eben – recht zügig. Ansonsten knapp eine Stunde.“

„Oh“, hörte ich nun wieder. „Okay, dann einmal so weit wie möglich bitte.“ Das konnte man sich ja nicht mit anhören. Ich sprang von meinem Sitz auf und strackste nach vorne.

„Dennis“, sagte ich scharf, „du bleibst hier!“ Ich erntete einen irritierten Blick – vom Busfahrer – und einen überaus sturen von Dennis.

„Ich komme mit, wir müssen reden!“

„Willst du dann ab der Stadtgrenze dem Bus hinterher rennen oder was? Sei vernünftig, dein Fahrrad steht noch hier.“

„Das ist abgeschlossen.“ Hinten im Bus kam Gemurmel auf. Der Busfahrer räusperte sich.

„Also?“, fragte er, nun nicht mehr ganz so geduldig. „Soll ich jetzt ein Ticket drucken oder nicht?“

„Ja, bitte.“

„Nein, bitte nicht“, schnauzte ich entnervt. „Wir bleiben beide hier. Könnten Sie bitte nochmal die Tür aufmachen?“

„Och Kinder, jetzt ist aber mal gut!“ Die Tür öffnete sich, und ich schubste Dennis mehr hinaus, als dass ich ihn schob. Hinter uns schüttelte der Busfahrer nur noch den Kopf und trat aufs Gaspedal, noch bevor die Tür wieder geschlossen war. Lärmend rauschte das Fahrzeug an uns vorbei und verschwand an der nächsten Kreuzung in der Dunkelheit. Dennis war wieder zu Atem gekommen. Ich hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schaute ihn giftig an.

„Kannst du mir erklären, was das jetzt sollte?“ Dennis stand im Lichtkegel der Straßenlaterne, und ich konnte seine Röte nur zu gut erkennen.

„Klar“, sagte er und wagte es tatsächlich kurz zu grinsen. „Ich habe dich wieder aus dem Bus rausgeholt.“ Ungläubig stierte ich ihn an.

„Bitte?“

„Ist doch klar. Du hasst Unannehmlichkeiten vor anderen Leuten. War abzusehen, dass du nicht lange durchhältst. Drei fünfundvierzig, ich bitte dich. Ich hab heute in der Schulkantine noch über zehn Euro verfressen. So arm bin ich auch nicht.“ Mein Gesicht wurde länger, je breiter sein Grinsen wurde. Ich war doch nicht wirklich gerade auf eine vollkommen gut geplante Farce hereingefallen?

„Jap“, bestätigte er mir, als hätte ich die grausige Vermutung laut ausgesprochen.

„Manchmal bin ich eben auch ein Genie.“ Meine Fassung kehrte langsam wieder zurück. Ruhig bleiben. Atmen.

„Gut, du Genie. Dann hast du jetzt deine erste und letzte Chance zu erklären, warum du deinen bescheuerten Plan überhaupt erst umsetzen musstest.“

„Gleich sofort, lass uns bitte erst zum Eingang zurückgehen. Ich habe meine Tasche da liegen lassen.

„Wie? Was? Du bist ohne deine Tasche losgelaufen und wolltest mir hinterherfahren?“ Was ein Armleuchter.

„Unsinn. Ich wusste, dass meine Siegeschance bei über 75% lag. Wäre der Bus tatsächlich losgefahren, wäre ich einfach an der nächsten Haltestelle ausgestiegen und zurückgelaufen.“ Was ein Genie. Ich schüttelte den Kopf und damit die Bewunderung für diesen Hinterhalt in den Abend hinaus.

„Dann lass uns deine blöde Tasche holen. Und dann kriege ich eine Erklärung. Eine gute, die mich dafür entschädigt, dass ich jetzt eine halbe Stunde auf den nächsten Bus warten darf.“ Wir gingen wieder über den Parkplatz. Mittlerweile war es stockfinster, und die einzigen Lichter gingen von der Straße und dem Schwimmbad aus. Ich lief ihm einfach hinterher, ohne weiter etwas zu sagen. Es war jetzt sein Zug. Er war mir Antworten schuldig, nicht nur für das gerade eben. Immerhin war es nicht normal, dass man seinen besten Freund einfach halbnackt umarmt, seine Beine um ihn schlingt und sich von hinten anschmiegt wie ein Reiter auf seinem Gaul. Bei diesem Gedanken wurde mir augenblicklich wieder flau im Magen. Diese Wärme, diese wunderbare Wärme. Jetzt in diesem Augenblick könnte ich sie gut gebrauchen, denn der stete Wind kühlte die Luft ziemlich stark ab. Und meine Haare waren noch immer nass. Dennis umrundete einen Pflanzkübel und kam kurz darauf mit seiner Sporttasche wieder zum Vorschein. Sogar versteckt hatte er sie für den Nicht-Siegesfall. Clever. Ich baute mich vor ihm auf und sah ihn ernst an.

„Also?“ Er zwinkerte und gähnte.

„Also was? Wie war die Frage noch gleich?“ Ich knirschte mit den Kiefern vor Ärger – Musste aber dann tatsächlich nachdenken. Was war die Frage noch gleich?

„Du sagtest, du musst mit mir reden.“

„Ich sagte, wir müssen miteinander reden.“ Die Schiebetür neben uns surrte und ging auf. Das Paar von vorhin kam heraus, händchenhaltend und verliebte Sachen labernd.

„Nicht hier“, grummelte ich und ging los, in Richtung des Schulhofes, der direkt an das Gelände grenzte. Dort lehnte ich mich an die Tischtennisplatte und wartete auf Dennis. Er kam mit langsamen Schritten hinter mir her, und wirkte nun nachdenklicher als noch Momente zuvor.

„Dann schieß mal los, worüber möchtest du reden?“, fragte ich nüchtern. Die Wahrheit war, dass mich die Situation plötzlich unheimlich nervös machte. Worüber wollte er denn reden? Ich hatte den Schock nach den verbalen Sticheleien vorhin schon wieder fast überwunden, doch jetzt kehrten andere Empfindungen in meinen Körper zurück. Andere Gedanken. Schönere. Dennis stellte betont langsam seine Sachen auf einer Bank ab und setzte sich dann auf die Lehne. Das fing ja gut an, ein Gespräch beim Psychologen. Da kam Freude auf.

„Also“, fing er an. „Wo soll ich beginnen.“ Ich schluckte trocken, beobachtete seine Mimik und Gestik genauer.

„Vielleicht mit dem Anfang“, schlug ich ungeduldig vor und erntete dafür nur einen sarkastischen Blick.

„Schlechte Idee. Ich weiß nämlich nicht mehr, wann es angefangen hat.“

„Was wann angefangen hat?“

„Wann du angefangen hast so merkwürdig zu sein“, sagte Dennis in einer ungewohnt unsicheren Tonlage. Natürlich, es war mir von Anfang an klar gewesen, dass ich meine Gefühle und Konflikte nicht ewig vor meinem besten Freund geheim halten konnte. Aber jetzt, da es soweit war sie zu offenbaren, brach in mir die blanke Angst aus. Meine Hände ballten sich in meinen Jackentaschen. Es gab kein Zurück mehr. Nicht ob, sondern wann war die Frage.

„Was meinst du mit merkwürdig“, fragte ich, und das Kratzen in meiner Stimme betrog mich um meine Absichten. Dennis starrte seine Hände an, die sich wild ineinander verknoteten. Er war ein kluger Kerl, es würde nicht lange dauern.

„Weiß nicht“, murmelte er. „Deine Gedankensprünge in letzter Zeit, deine abwesende Konzentration wenn sie eigentlich notwendig ist. Du hast viel nachgedacht in den letzten Wochen, das habe ich dir angesehen.“ Er machte eine Pause und hob kurz seinen Blick. „Ich weiß nicht worüber du nachgedacht hast, aber ich denke es hat etwas mit deinen Gefühlen gegenüber einer bestimmten Person zu tun.“ Mein Puls verdoppelte sich. Wasser! Meine Kehle war staubtrocken, obgleich ich kein Wort verloren hatte. Ich war froh, dass es dunkel war, so konnte er mir meine Nervosität zumindest nicht sofort ansehen.

„Du bist nervös“, stellte er fest. Verflucht. Ich verlagerte mein Gewicht auf das andere Bein.

„Mir ist nur kalt“, sagte ich mit fester Stimme.

„Du hast T-Shirt, Pullover und Jacke an“, entgegnete Dennis skeptisch.

„Meine Haare sind noch nass.“

„Oh ja, stimmt. Du bist ja auch wie von einer Qualle gestochen aus dem Wasser geflohen.“ Und ich dachte ich hätte einen positiven Themenwechsel erwirkt. Verdammt.

„Dir sind die Kommentare dieser Idioten doch sicher nicht entgangen.“ Dennis schüttelte den Kopf.

„Natürlich nicht.“

„Was verstehst du dann nicht?“, harkte ich nach.

„Ich verstehe nicht, Ethan, wieso es erst das brauchte, um dich von mir wegzuscheuchen.“ Jetzt begriff ich, worauf er hinaus wollte.

„Das ist... Ich war müde und kaputt, und du wolltest dein komisches Kalmarspielchen spielen!“

„Und weil ich ein Spiel spielen wollte, das du offenbar nicht mitgespielt hast, durfte ich trotzdem noch an dir drankleben, bis dich jemand freundlich darauf aufmerksam gemacht hat?“ Meine Brust schmerzte, Das Pochen an meinem Hals drang bis an die Ohren.

„Wie gesagt, ich war müde und nicht ganz aufnahmefähig.“ Dennis schnaubte und wurde immer aufgeregter.

„Okay. Nehmen wir an es war so wie du sagst. Was war dann vor drei Wochen, als ich dir versehentlich eine reingehauen habe und auf dir drauf saß?“ Die Hitzewellen, die meinen Körper folterten, erreichten bei diesem Punkt der Konfrontation einen neuen Rekord. Ich hatte das Gefühl, Dampf stieg von meiner Haut auf.

„Was... Was war denn da?“ Ich schrumpfte immer weiter zusammen. Das war die falsche Frage gewesen. Dennis stand plötzlich auf. Er sah mich an, drehte sich von mir weg, lief zwei Meter nach links und wieder zurück, und warf die Hände über dem Kopf zusammen.

„Komm schon Ethan, mach es mir nicht so schwer“, sagte er heiser und nicht lauter als nötig. Auch er schien an einem Punkt angekommen zu sein, an dem es Unvermeidbares nicht mehr lange zu vermeiden gab.

„Du weißt worauf ich hinaus will“, flüsterte er dann in die Nacht hinein. „Du weißt es ganz genau.“ Seine Stimme bebte plötzlich. Er klang mitgenommen, als läge ein großes Gewicht auf seinem fragilen Körper. In der Dunkelheit stand er da, mir den Rücken zugewandt. Ich rührte mich keinen Zentimeter, wagte es kaum zu atmen. Würde ich jetzt ein einziges Wort verlieren, wäre es das Ende. Also antwortete ich nicht. Meine Schuldgefühle wurden indes immens. So lange hatte ich mein Geheimnis gehütet, und jetzt musste es auf so eine grausame Art und Weise entblößt werden. Dennis atmete tief und geräuschvoll aus. Dann drehte er sich um und sah mir direkt ins Gesicht. Im gelben Schimmer der einzigen kleinen Hoflaterne glänzten seine Augen verheißungsvoll. Schön. Schön und voller Fragen. Er ging einen Schritt auf mich zu und blieb vor mir stehen. Er war kleiner als ich, seinem Blick auszuweichen war mir dennoch nicht möglich.

„Ethan?“, fragte er, ruhig und sanft, als könnte ich sonst an den Worten zerbrechen, die darauf folgen sollten. „Bist du vielleicht schwul?“

Ich hörte die Worte, klar und deutlich. Er hatte es getan. Er hatte es ausgesprochen. Ich rang nach Atem, versuchte meinen Körper unter meine Kontrolle zu bringen. Doch das Zittern hörte nicht auf, und die Wärme konnte nicht mehr entfliehen. Mein Mund war halb geöffnet, doch ich war nicht imstande etwas zu erwidern. Ich sah hinunter, hörte ihn noch einen Schritt näher kommen. Wie gelähmt stand ich dort, handlungsunfähig, aber doch in der Lage den Schmerz zu spüren, die Angst zu schmecken. Er hatte das heute absichtlich gemacht. Er hatte das alles geplant, um seine Bestätigung zu bekommen. Hatte nach Körperkontakt gesucht, um seine These bestätigen zu können. Gleich würden die Vorwürfe auf mich herabregnen wie Hagelkörner im Sommersturm. Unsere Freundschaft stand auf Messers Schneide. Sie lag nun in seiner Hand. Würde er mich abweisen? Wäre er angewidert, würde ich seine Frage bejahen? Ich kniff in Erwartung seiner harten Worte die Augen zu. Welche Konsequenzen würde all das hier haben? Er holte Luft.

„Ist schon okay“. Mein Atem setzte aus. Verwirrung. Wie? Was sagte er da? Und vor allem, wie hatte er es gesagt? Er stand immer noch unmittelbar vor mir, vor Ethan, seinem schwulen Freund, der zu einer eisernen Skulptur erstarrt war. Etwas Warmes berührte meine linke Hand.

„Ist schon okay“, wiederholte er. Entgeistert öffnete ich die Augen, sah vorsichtig zu ihm hinunter. Etwas in seinem Ausdruck schien sich schlagartig geändert zu haben. Etwas, das ich mir nicht erklären konnte. War es Zorn? Spott? Sorge? Nein. Er sah... erleichtert aus? Der Druck an meiner Hand nahm leicht zu. Ich sah ihn an. Und er mich.

„Weißt du, woran ich es erkannt habe?“, fragte er nach einigen Sekunden, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten. Ich gab keine Antwort, schüttelte nicht den Kopf. Nichts. Seine Hand löste sich von meiner und legte sich sachte an meine Wange. Ein Inferno entbrannte an der Stelle. Die zweite Hand landete sanft in meinem Nacken und strich zart darüber. Er lächelte. Es war das glücklichste Lächeln, das ich je in seinem hübschen Gesicht gesehen hatte.

„Deine Augen“, flüsterte er, und strich mit seinen Fingerkuppen behutsam über meine Stirn und Schläfe, an meinem Hals entlang. „Dein Blick hat sich verändert. Du schaust mich anders an als früher.“ Ein Schauer jagte mir eine Gänsehaut über den Körper. Keine Reaktion. Ich sah ihn einfach nur an. Sah Dennis an, wie er meine Gefühle entblößte und in meine Seele sah. Seine braunen Augen tanzten aufgeregt im Glanz des Lichtes. In ihnen lag ein mir unbekannter Ausdruck, den ich noch nie in den Augen meines Freundes gesehen hatte. Etwas Neues, Fremdartiges.

„Weißt du, Ethan, worauf ich schon seit einer sehr, sehr langen Zeit warte?“ Ich schlucke hart, schaffte es gerade so, den Kopf zu schütteln. Wieder lächelte er, und es übertraf sogar das erste Mal. „Lügner“, hauchte er. Dann zog er mich zu sich herunter und küsste mich.

 

Kapitel 10

 

Kapitel 10

 

In dem Moment, in dem seine Lippen meine berührten, spürte ich zunächst nichts. Mein Körper schien sämtliche Funktionen einzustellen und alles wurde taub. Stille. Nur eine Berührung. Dann brach das Chaos los. Eine Hitzewelle unermesslicher Intensität wallte in mir auf. Von meinem Bauch aus breitete sie sich aus, schoss in meinen Kopf, meine Glieder und Muskeln. Ein Kribbeln durchzuckte meine Haut dort, wo Dennis' Hände sie berührten. Was...? Was um alles in der Welt passierte hier? Mein Kopf schrie diese Frage aus, doch mein Körper blieb versteinert. Er küsste mich. Mein bester Freund küsste mich. Das war nicht möglich, absolut nicht möglich.

Etwas war hier ganz und gar falsch. Meine Augen starrten offen in sein Gesicht. Er hatte seine geschlossen. Noch nie war ich ihm so nah gewesen, noch nie hatte ich seinen Atem so intensiv gespürt. Seine Lippen waren weicher als ich je erwartet hätte. Weich und warm. Es fühlte sich eigenartig an. Eigenartig unwahr. Doch ich konnte den Kuss nicht erwidern.

Nach einem endlosen Augenblick rührten sich endlich meine Glieder wieder. Inmitten des dumpfen Gefühls von Verwirrung, Erregung und Zuneigung regte sich mein Gewissen. Zitternd bewegte ich meine Hände an seine Schultern. Daraufhin drückte er sich nur noch fester an meinen Oberkörper, und seine Hände vergruben sich in meinem Haar. In diesem Moment legte sich der Schalter in meinem Kopf um.

Schluss damit!

Schlagartig drehte ich mein Gesicht ab und schob ihn von mir. Abstand! Ich schnappte nach Luft und stemmte meine geballten Fäuste gegen seine Schultern. Schwer atmend hielt er inne, öffnete nur langsam seine verträumt schimmernden Augen. Doch all die Emotionen, die wie ein Spiegel seiner Seele vor mir aufflackerten, verloschen mit einem Mal, als er sie auf mich richtete. Sein zartes Lächeln schwand, und die Realität kam eiskalt und unbarmherzig zurück. Ich starrte ihn an, und versuchte die Macht über meine Stimme zurückzugewinnen, doch in meinem Kopf braute sich nur wirres Durcheinander zusammen. Er war es, der zuerst die Besinnung wiedergewann. Doch seine Zuversicht schien sich endgültig in Unsicherheit verloren zu haben.

„Ethan… Es… Ich...“

Meine Lippen brannten, doch was mir nun durch den Kopf hallte, war das Echo seiner Worte in den vergangenen Sekunden.

„Weißt du, Ethan, worauf ich schon seit sehr, sehr langer Zeit warte?“

Ich atmete immer heftiger. Seine Worte, diese Worte… Es konnte nicht wahr sein. Widerwillig hielt ich meinen Blick auf ihn gerichtet. Er stand einfach da, wie ein erschöpfter  Hirsch, der dem Gewehr des Jägers direkt in den Lauf blickt.

Und mein Finger umspielte den Abzug.

Lügner“, flüsterte es in meinem Kopf. Wie konnte er nur. Wie konnte er es wagen. Das Gefühl der Verwirrung ließ nach und entblößte die grausame Wirklicheit. Meine Zähne knirschten aufeinander, Wut braute sich in meinem Innern zusammen. Ein Zorn den ich noch nie zuvor gespürt hatte. Er richtete sich einerseits gegen mich selbst, der es zu dieser Situation überhaupt hatte kommen lassen. Ich hätte ihn abblocken sollen bevor es dazu kam, hätte schon bei seinen merkwürdigen Worten Alarm schlagen müssen. Doch es war geschehen. Er hatte es geschehen lassen. Fürchterliche Anschuldigungen drangen sich mir auf. Ich wollte ihn anschreien, wegstoßen und davonlaufen. Ich wollte ihm vorwerfen, unsere Freundschaft in diesem Augenblick zerstört zu haben. Wollte ihm mein gebrochenes Vertrauen ins Gesicht schleudern, meine Enttäuschung über seine Unehrlichkeit. Ich wollte ihm eine ordentliche Backpfeife verpassen und ihn verbal zur Vernunft prügeln. Das hier war sein Fehler, und er sollte den Preis dafür zahlen.

„Es tut mir leid“, durchbrach Dennis meine sich aufbrausenden Gedanken. Ich hatte mich von ihm abgewandt und starrte mit finsterem Blick in die Dunkelheit. Ich überlegte kurz, ob ich darauf überhaupt antworten sollte.

„Das sollte es auch“, erwiderte ich schließlich. Der Ernst und der Ärger in meiner Stimme ließen ihn noch weiter zusammenschrumpfen. Mich überkam der Drang zur Flucht, und die Haare in meinem Nacken stellten sich auf. Mein Magen schmerzte plötzlich, und ein bitterer Geschmack breitete sich in meinem trockenen Mund aus. Flucht. Flucht oder Angriff.

Dennis nahm mir die Entscheidung ab. Ich sah es nicht, doch hörte ich wie er seinen Rucksack von der Bank hob und sich zum Gehen wandte. Er war bereits einige Schritte gegangen, als er in der Bewegung stockte und sich noch einmal umdrehte. Ich schloss die Augen in Erwartung an das Unerwartete. Seine Stimme klang heiser, und verletzt.

„Ich hatte gehofft, du erkennst es selbst. Aber es scheint, dass du nicht nur dir gegenüber unehrlich bist.“ Ein kaltes Zittern mischte sich in seine Worte. „Oder wann hattest du vor mir zu erzählen, dass du die Schule verlässt?“

Ein Dolch bohrte sich in meine Brust und erstickte meinen Atem. Eine weitere Sekunde stand er da, vielleicht wartend auf meine Rechtfertigungen. Doch als keine kamen, knirschte der Asphalt und seine Schritte verloren sich in der Nacht.

 

Ich saß im Bus nach Hause, betäubt, im Delirium gefangen. Mein gesamter Körper schmerzte, in meinem Kopf hämmerte eine Dampfwalze. Alles um mich herum schien sich in Raum und Zeit verloren zu haben. Zwischen leer starrenden Augen und Straßenlaternen schwebten meine Erinnerungen durch das Nichts. Es fühlte sich an wie ein Film. Unwahr, nicht real, die  Spannungsspitze in einem schlecht geschriebenen Drama. Ich war der egoistische Protagonist in diesem idiotisch-tragischen Stück. Derjenige, der alles in den Sand setzte, nur um später nach der Bridge als Chorus wieder aufzuerstehen um das Ganze zu einem strahlenden Happy End zu bringen.

Doch dies war das Leben. Kein Script, kein Happy End. Nur der Spannungsbogen blieb, zog seine Linien wie die Geier ihre Kreise. Meine Mundwinkel verzogen sich kränklich zu einem Grinsen. Wieso grinste ich? Richtig, es war ein schlechtes Drama. Schlechte Darsteller, miserable Dialoge, unglaubwürdige Handlung. Doch mein Herz raste noch immer.

Der Bus hielt an und dumpf ertönte die Stimme des Fahrer durch die Lautsprecher. Endstation. Ich wartete in meinem Sitz bis die anderen verbleibenden Passagiere ausgestiegen waren und erhob mich dann langsam, schlurfte zur Tür.

„Schönen Abend noch“, murmelte ich dem Fahrer zu, doch bekam keine Antwort. Vielleicht hatte er auch einen beschissenen Tag gehabt. Vielleicht war er auch einfach nur unfreundlich.

Auf der Anzeigetafel sah ich, dass mein Anschlussbus gerade abgefahren war. Klasse. Ich entschloss mich dazu, lieber eine Viertelstunde durch die Dunkelheit zu laufen und meinen Kopf abzukühlen. Auf halbem Weg fing es jedoch an zu regnen, und an einer Zwischenhaltestelle in einer dunklen, baufälligen Straße ließ ich mich erschöpft auf den Wartesitz sinken und fing an zu kichern. Das Kichern wurde zu einem undefinierbaren, unheilvollen Lachen, und zu dem Regenwasser, das von meinen Haaren über die Stirn herab tropfte, mischten sich salzige Tränen.

 

Am nächsten Morgen waren meine Sinne wieder klarer. Obwohl mich der Schlaf von Alpträumen verschont hatte, war das Erwachen in diese Welt ein ähnlich fürchterliches Erlebnis, und die Realität schüttelte mich in Krämpfen. Meine sechs Jahre andauernde, engste und vertrauteste Freundschaft lag in Trümmern. Es war tatsächlich passiert. Meine schlimmsten Befürchtungen jedoch, nämlich kalt abgewiesen und als Schwule Schwuchtel abgestempelt und stehengelassen zu werden, waren noch übertroffen worden. Nicht nur hatte Dennis mich geküsst und mir quasi seine Gefühle gestanden, er hatte sie die ganze Zeit über geheim gehalten. All die Dinge die wir in den letzten Monaten und Jahren zusammen erlebt und unternommen haben, all die freundschaftliche Nähe und Wärme und das Vertrauen in den anderen. Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals, als ich an unsere vergangenen Treffen dachte. Der Zwischenfall mit dem Schlag ins Gesicht, seine vielen Übernachtungen, nicht selten in meinem Bett. Oft war er einfach dort eingeschlafen, und aus Rücksicht hatte ich ihn nie geweckt. War das alles bereits ein Teil seiner Annäherungsversuche gewesen? War es nicht reine Freundschaft, sondern andere, intimere Wünsche die ihn so eng an mich gebunden hatten?

Ich drehte die Dusche kalt auf und rieb mir über das Gesicht. Diese Dinge gingen Jahre zurück, es war unvorstellbar, dass er es die ganze Zeit über gewusst hatte. Und doch, seine Worte gestern ware eindeutig die Wahrheit gewesen. „Worauf ich schon sehr, sehr lange gewartet habe“.

Meine Eingeweide zuckten wieder zusammen. Ich dachte an den Kuss. Es war ein gutes Gefühl gewesen, einem anderen Mann so nahe zu sein, sogar Dennis. Vielleicht ganz besonders er. Ja, ich hatte den ein oder anderen Halbsteifen in seiner Nähe gehabt, mag sein auch durch seine Berührung. Er war attraktiv, er war schlau und charismatisch, eine seltene und anziehende Kombination. Aber seine Lippen zu berühren hatte mir vor Augen geführt, dass es nicht das war, was ich an ihm begehrte. Es war nicht mein Wunsch, ihm auf diese Weise nah zu sein.

 

Ich seufzte laut auf aufrgund der Gedankenflut, und versuchte für den Augenblick abzuschalten und die Dusche zu genießen. Der Moment würde kommen, da wir uns wieder in die Augen sehen mussten. Es war unvermeidbar, nur eine Frage der Zeit. Eine Hälfte in mir glaubte, dass wir alles klären und bereden würden, und alles wieder normal würde. Doch die andere Hälfte wusste wohl, dass der Schmerz und die Enttäuschung tief saßen. Vielleicht würden diese Narben nie wieder ganz verschwinden.

 

Den Donnerstag verbrachte ich in der isolierten Sicherheit meines Zimmers. Ich hatte meine Mutter davon überzeugen können, dass exzessive Kopf- und Magenschmerzen mich nicht unbedingt zum Lernen motivierten. Besorgt wie sie war, hatte sie direkt die Schule angerufen und mir von der Apotheke eine Schachtel Tabletten mitgebracht. Ich ließ sie unangetastet in meiner Bettschublade verschwinden. Meine körperliche Verfassung war nicht physischer Natur, aber das musste meine Familie ja nicht wissen. Während meine Eltern auf der Arbeit waren, verbrachte ich die Zeit mit Schlafen, Zocken, Serienschauen und Essen. Ein angemessenes Anti-Frust-Programm. Gegen Nachmittag fühlte ich mich etwas besser, doch die Gedanken waren ein unnachgiebiger Begleiter durch all meine Aktivitäten. Als ich gegen vier Uhr ein Online Rollenspiel auf meinem Computer spielte, sah ich Dennis‘ Namen als Online am Bildschirmrand aufleuchten. Sofort begann mein Herz wieder zu sprinten, und ich klickte beinahe binnen zwei Sekunden auf Spiel beenden. Das letzte was ich brauchte war ein virtueller Dennis auf meinem Bildschirm. Doch konnte ich meiner Neugier nicht helfen. Ich klickte auf sein Spielerprofil und bekam prompt seine neuesten Spielzeiten und Games aufgelistet. Er hatte heute sage und schreibe sechs Stunden Videospiele gespielt. Vier verschiedene. Kein Zweifel, er war ganz sicher nicht zum Unterricht erschienen. Ich loggte mich komplett aus und wandte mich der PlayStation zu.

 

Gerade hatte ich die Der Herr der Ringe Trilogie Extended Collectors Edition BluRay hervorgekramt, die mich tatsächlich einen ganzen Tag beschäftigen konnte, als mich ein Gedanke traf:

Morgen war Freitag!

Das war nicht wichtig, weil es mein achtzehnter Geburtstag war, der ohnehin dazu auserkoren war, der miserabelste aller Zeiten zu werden. Nein, morgen stand Nachhilfe an! Der kleine Nick würde nach dem Unterricht auf mich warten und sein Rechtschreibung-und-Grammatik-Regelbuch erweitern wollen. Ich wurde für diesen Service bezahlt, und das nicht zu knapp. Und außerdem... Außerdem tat ich es für meinen eigenen Deutschlehrer. Wow. Ich war in letzter Zeit so sehr von meinen Gedanken an meinen besten, oder ehemals besten Freund vertieft, dass ich Herr Aturi völlig aus meinem Gedächtnis verdrängt hatte. Ein Übel gegen das nächste. Bei der stillen Erwähnung seines Names allein überkamen mich die Erinnerungen an unsere heimlichen Treffen, die zufälligen Berührungen und Bemerkungen, die er immer wieder einstreute, bewusst oder unbewusst.

„Verdammt“, fluchte ich laut aus. Frodo und Konsorten würden warten müssen, ich hatte eine Hausaufgabe zu erledigen. Vielleicht konnte ich morgen den Tag über zu Hause verbringen und mich nach Ende der siebten Stunde unbemerkt auf das Schulgelände schleichen. Ich ging diesen simplen Plan durch und befand ihn schnell als nicht durchführbar. Zu viele Augen anwesend, könnte in einen meiner Lehrer rennen. Könnte in mehr Problemen resultieren als ohnehin schon vorhanden. Nick würde Herr Aturi konsultieren, der wahrscheilich sowieso vorbeischauen würde. Nein, ein anderer Plan musste her.

Ich fühlte mich allerdings wirklich nicht dazu bereit, sieben volle Stunden mit meinen geistlosen Mitschülern zu verbringen. Deshalb bediente ich mich einer weit dunkleren, verbotenen Technik des Unterrichtschwänzens und schmiss meinen Computer wieder an. Im Dokumente Ordner angekommen rief ich den Scan einer Entschuldigung für einen Arztbesuch auf. Das Original war auf 2014 datiert, doch das hielt mich nicht auf. Schnell in ein Grafikbearbeitungsprogramm geladen, passende Schrift herausgesucht, Datum und Beschreibung geändert, Unterschrift leicht verzerrt und ausgedruckt. Fertig war meine Entschuldigung von der ersten bis zur vierten Stunde. Arztbesuch aufgrund von Verdacht auf irgendetwas Unschönes. Das würde reichen. Meine fünfte Stunde war eine Freistunde, und darauf folgen würde lediglich eine Doppelstunde Kunst, was an sich sehr gut auszuhalten war. Selbst wenn Dennis also morgen in der Schule sein sollte, wäre es unwahrscheinlich, dass wir uns über den Weg liefen.

Das Gefühl von Triumph wallte kurz in mir auf, doch blieb es nicht lange. Die geringere Aufgabe bestand nun darin, Material für die Nachhilfestunde zu sammeln und sich mental auf das Wiederauftauchen in der Schule vorzubereiten. Es wäre nur für drei Stunden, dann war wieder Wochenende. In meinem Kunstunterricht saßen glücklicherweise nur wenige Pfeiffen, die von meinem Geburtstag wussten, daher sollte dies ein ruhiger Tag werden.

 

Gesagt, getan.

Meine Eltern überschütteten mich am nächsten Morgen mit netten Gesten und Worten, und auch wenn ich mir nichts gewünscht hatte, warteten zwei kleine Pakete auf dem Frühstückstisch, die beide neue Hardware für meinen Computer enthielten.

„Sam hat uns da beraten, er hat ja mehr Ahnung von diesen Dingen“, strahlte meine Mutter.

„Hoffentlich lässt dich dieser Kram nicht noch länger vor der Kiste hocken“, kommentierte mein Vater zynisch. Mit einem Grinsen ging er dann auf mich zu und umarmte mich. „Alles Gute mein Junge!“

„Junger Mann“, ergänzte meine Mutter.

„Ihr seid doch beide hoffnungslos“, lächelte ich und fuhr mit unserem Frühstück fort. Es mochte den meisten wie die langweiligste Geburtstagsparty überhaupt erscheinen, aber allein das Beisammensein meiner Eltern und deren freudige und stolze Gesichter machten mich zu einen der glücklichsten Nachkommen in einer Zeit, in der fast jedes zweite Kind irgendwann eine Trennung oder Scheidung miterlebte.

Meinen heutigen Schulplan offenbarte ich ihnen allerdings nicht. Stattdessen nutzte ich die einzig wirksame Ausrede die ich hatte, auch wenn sich mir dabei der Magen umdrehen wollte.

„Ich bin jetzt bei Dennis, weiß nicht wie spät es wird“, rief ich durch den Flur, während ich meine Sneaker anzog.

„Pass auf dich auf Junge, trinkt nicht zu viel!“, kam der gutgemeinte Rat meines Vaters aus dem Wohnzimmer.

„Und nimm eine Regenjacke mit, es ist ganz schön finster draußen“, rief meine Mutter aus der Küche.

„Mach ich“, entgegnete ich schmunzelnd und trat aus der Tür, ohne überhaupt daran zu denken.

 

Kunst verlief wie erwartet schnell und ereignislos. Nur Markus und Finn liefen mir auf dem Flur über den Weg, aber entgegen meiner unheilvollen Erwartungen schenkten sie mir nur einen stillen, skeptischen Blick, und setzten ihre Konversation fort, ohne mir weiter Beachtung zu schenken. Gut so, dachte ich. Meine Entschuldigung war von Frau Kantsgut ohne Kommentar angenommen und vermerkt worden. Ich war eben ein Meister im Fälschen von Dokumenten. Aber das durfte man natürlich niemandem sagen.

 

Nach der siebten, beziehungsweise meiner zweiten Stunde war es soweit. Das Gebäude leerte sich drastisch, viele Lehrer und noch mehr Schüler strömten zu Bussen und Parkplatz. Ich trottete die Stufe hinauf zum zweiten Stock des B Gebäudes, dem der Unterstufe, und verschwand in dem leeren Klassenzimmer, in dem Nick und ich jeden Freitag verabredet waren. Das zweite Läuten der Schulglocke leitete den Beginn der achten Stunde ein. Zu dieser Zeit waren nur noch Schüler der Jahrgangsstufen 12 und 13 sowie Leute zum Nachsitzen und gelegentlich zur Nachhilfe da. Ich wartete geduldig und breitete die Aufgabenblätter für Nick auf dem Tisch aus. Fünf nach, vielleicht verspätete er sich heute etwas. Nach weiteren fünf Minuten, die ich an meinem Handy verbrachte, stand ich auf und ging zu den Fenstern. Es war totenstilll auf dem ganzen Gelände.

Tatsächlich mochte die Schuleinrichtung als solche. Es war ein riesiger Komplex mit vier Neben- und einem Hauptgebäude, vielen nett angelegten Grünflächen und zwei separaten, weitläufigen Schulhöfen mit Unmengen an Aktivitätsmöglichkeiten. Die zahlreichen Fachräume waren gut ausgestattet, die Bibliothek umfangreich und ruhig, die Klassenzimmer modern und die Kantine führte ein gutes Angebot.

Alleine zu sein in diesem Raum, in dem sonst um die dreißig Schüler lauthals Amok liefen, hatte jedes Mal eine besondere Wirkung auf mich. Schon viele  Male seit der fünften Klasse hatte ich nach dem Unterricht hier gesessen und gezeichnet oder gelesen, manchmal alleine, manchmal mit Dennis. Es hatte etwas Meditatives, aber auch etwas Erhabenes an sich. Manchmal stellte ich mir vor, wie es wäre Privatunterricht zu nehmen. Ein Lehrer, ein Schüler, perfekt auf einander abgestimmt und beiderseits motiviert zu lehren und zu lernen. Ob der Unterricht und die Schüler auf dem Gymnasium dem näher kommen würden? Ich wusste es nicht, doch große Hoffnungen machte ich mir auch dort nicht. Ein Kieselstein war eben doch nur ein Kieselstein, ob man in nun in Gold oder Messing fasste.

 

Ich schaute auf meinen Gedanken auf und zückte das Handy. Bereits fünfzehn Minuten waren nun vergangen, irgendetwas stimmte nicht. Ich ging zurück zum Tisch und packte die Aufgabenblätter zurück in die Mappe, als ein Geräusch an der Tür mich zusammenfahren ließ. Das Schloss klickte geräuschvoll und rastete ein. Schritte auf dem Gang, sie entfernten sich. Konnte es sein... Ich hastete zur Tür und sprang an die Klinke. Doch nichts tat sich, egal wie feste ich daran zog und drückte.

Jemand hat mich eingeschlossen, fuhr es mir durch den Kopf. Es war ein absurdes Szenario, dass ich mir schon einige Male vorgestellt hatte. Doch diesmal saß ich mitten drin, und es gab nur eine Chance wieder hier raus zu kommen. Ich klopfte zunächst nur mit den Fingerknöcheln gegen die Tür, und rief in moderater Lautstärke:

„Hallo, entschuldigung, ich bin hier eingesperrt!“ Ich wiederholte dies etwa fünf sechs Male, lauschte nach jedem Mal, ob sich die Schritte wieder näherten oder eine Stimme ertönen würde. Doch es blieb still auf dem Gang. Nicht gut. Ich wurde lauter und machte diesmal von meinen geballten Fäusten Gebrauch, ohne jedoch hysterisch auf die Tür einzuhämmern. Im schlimmsten Fall würde ich einfach das Sekretariat anrufen, dort war schließlich meist jemand zugegen.

Gerade überlegte ich, ob ich vielleicht eher aus dem Fenster nach jemandem Ausschau halten sollte, als Geräusche auf dem Gang meine Aufmerksamkeit erregten. Ja, ganz klar sich nähernde Schritte. Ich presste mein Ohr an die Tür und rief noch einmal.

„Hey, hallo, hier ist jemand im Raum eingeschlossen!“, begleitet von dezentem Klopfen. Die Schritte verstummten.

„Hier drin“, dirigierte ich meinen Retter in meine Richtung. Hoffentlich war es kein anderer Schüler, das wäre mir jetzt unangenehm. Die Klinke, die ich ohne es zu wissen noch immer in den Händen hielt, bewegte sich.

 „Hallo?“, hörte ich die Stimme eines Mannes. Sehr gut, vermutlich einer der Lehrer oder Hausmeister. Bevor ich antworten konnte, drang bereits das wohl bekannte Klimpern eines Schlüsselbundes an meine Ohren.

Glück gehabt, dachte ich. Nun war es hoffentlich nicht jemand, bei dem ich für gewöhnlich Unterricht hatte. Das würde mir einige Erklärungen bezüglich meiner Fehlstunden ersparen. Nach wenigen Sekunden klickte das Schloss erneut und die Klinke wurde heruntergedrückt. Ich wich einige Schritte zurück und konnte ein peinlich berührtes Lächeln nicht vermeiden, als...

„Ethan?“

„Herr... Aturi.“

Es war doch immer dasselbe mit meinem Glück.

„Was machst du denn hier drin? Und wieso bist du überhaupt in der Schule, ich dachte du seist krankgeschrieben?“ Mein Lächeln verschwand und ich entfernte mich ein wenig weiter von der Tür.

„Ich war heute nur beim Arzt, es geht schon besser.“ Schnell festigte sich meine Stimme. „Ich bin hergekommen wegen Nick’s Nachhilfe.“ Überraschen breitete sich auf Herrn Aturi’s Gesicht aus.

„Na den wirst du hier nicht mehr finden, ich hatte ihm vorhin Bescheid gegeben, dass du krank bist und die Nachhilfe ausfällt.“ Ich dachte darüber einige Sekunden nach und ließ ein neutrales „Oh“ vermerken. Natürlich, daran hatte ich bei meinem Masterplan nicht gedacht. Ich hatte Deutsch in der vierten Stunde verpasst, logisch, dass mein Lehrer mein Fehlen an Nick weitergeleitet hatte. Es klappte aber auch nichts so wie ich es wollte. Herr Aturi sah mich einen Augenblick nachdenklich an. Dann erhellte sich seine Miene.

„Sag mal, hast du nicht heute Geburtstag?“ Ich sah überrascht zu ihm auf und nickte zögerlich.

„Bist nun volljährig, was?“, schmunzelte er. Ich zuckte mit den Schultern.

„Jeder wird älter.“ Das erhellte das Lächeln meines Lehrers noch weiter.

„Da hast du Recht. Nichts desto trotz -“ Er machte einen Schritt auf mich zu, und dann noch einen, bis er gefährlich nah war, und ich wegen eines Tisches in meinem Rücken nicht weiter zurückweichen konnte. Ich sah zögerlich in seine klaren Augen, und dann hinunter auf seine Hand, die er mir entgegenstreckte.

„Alles Gute“, sagte er. Nur ein Handschlag, kreiste es in meinem Kopf. Ich nahm sie entgegen und sah zur Seite.

„Danke“, brachte ich trocken hervor. Es war ein angenehmer Händedruck. Es erinnerte mich daran, dass menschliche Charakterzüge recht präzise von dieser Art des phyischen Kontaktes abgelesen werden konnten, und fragte mich, was mein Lehrer wohl gerade in mir las. Für einige Sekunden machte keiner von uns Anstalten, den Händedruck zu lösen. Ich fühlte, wie sein Griff weicher wurde, und sich noch geschmeidiger um meine Finger wob. Eine wohlige Wärme breitete sich in meinem Unterarm aus, und ein flaues Gefühl durchzog meine Magengegend. Ich entschied, dass dies mehr als lang genug war, und ließ meine Finger lose von seinen gleiten. Für einen Moment spürte ich seinen Blick auf meinem Gesicht ruhen.

„Also, noch irgend etwas Nettes vor heute?“, brach er die Stille. Meine Gedanken sammelten sich wieder.

„Nicht wirklich“, antwortete ich, doch änderte meine Meinung sofort und fügte hinzu: „Vielleicht fahre ich später zu einem Freund.“

„Aha“, machte er. „Zu Dennis?“ Ein Blitz fuhr durch meine Eingeweide als ich den Namen hörte. Meine Augen suchten hektisch Halt am Boden.

„Ja“, log ich, wobei ich gleichzeitig die Konsequenzen verschiedener Antwortmöglichkeiten durchging. Er nickte zufrieden.

„Schön, dann euch einen guten Abend zusammen.“ Ich schluckte hart und versuchte meinen Mund nicht schmerzlich zu verziehen.

„Danke“. Er lächelte, als hatte er genau das hören wollen. Draußen rumorte der Donner.

„Dann raus mit dir, ich muss den Raum wieder abschließen. Wie bist du überhaupt in diese Lage gekommen, ganz nebenbei?“ Ich ging um die vorderen Tische herum, froh über den gewonnen Abstand, und sammelte meine Sachen ein.

„Ich habe hier auf Nick gewartet und wurde von jemandem eingeschlossen“, antwortete ich knapp und wahrheitsgemäß. Was erwartete er denn, dass ich mich absichtlich hier hatte einsperren lassen? Er schmunzelte erneut und schloss die Tür hinter mir zu. 

„Da ist wohl einer meiner Kollegen seiner Kontrollpflicht nicht nachgekommen.“

„Anscheinend“, sagte ich und schaute auf die Uhr. Wenn ich mich beeilte, konnte ich noch den Bus nach Hause erwischen.

„Ich muss jetzt los“, presste ich hervor ohne ihn anzusehen. „Schönes Wochenende.“

„Danke sehr, auch so. Grüß‘ Dennis von mir. Der Unterricht ist wirklich nicht dasselbe, ohne euch beide.“ Ich wusste darauf nichts zu antworten, stattdessen drehte ich mich zur Tür herum und zwang mich zu einem Lächeln.

„Danke für’s Aufschließen“, rief ich, und sah ihn nur noch abwinken, ehe ich die Treppe herunter hastete.

   

Ich hatte noch drei Minuten um den kompletten Schulhof zu überqueren, den Arkadengang entlang zu rasen, am Parkplatz vorbei und zu den Bushaltestellen zu gelangen. Als ich die weite Tür des Hauptgebäudes aufschob, prallte mir ein Schwall Wasser entgegen. Ein Blick nach oben verriet mir, dass meine Pechsträhne anhalten sollte. Hart klatschten die Tropfen mir in den Nacken, während ich versuchte möglichst nah am Gebäude entlang zu rennen und Deckung vor dem miserablen Wetter zu suchen. Auf halbem Wege zog ich mein Handy aus der Hosentasche, verlor es beinahe, sah auf die Uhrzeit. Eine Minute. Ich raste den Arkadengang entlang, nahm eine Abkürzung über den Sportplatz und vorbei an parkenden Autos, bis ich mit weichen Knien an der Bushaltestelle ankam. Sie war leer. Mein Handy teilte mir mit, dass es eine Minute nach Abfahrtzeit war. Schwer atmend trottete ich der Haltestelle entgegen und kniete mich unter den Ahorn, der mich schon zuvor vor dem kalten Nass geschützt hatte. Nach all den Jahrzehnten hatte die Schule es noch immer nicht geschafft, Unterstelldächer an den Haltestellen zu bauen.

 

 Der ausladende Sprint hatte mich völlig aufgeweicht. Meine Haare klebten in dicken Strähnen auf meiner Stirn, meine Jeans an den Beinen. In meiner Brust wummerte es heiß, doch meine Haut begann rasch abzukühlen. Ich schickte ein Stoßgebet an Fortuna, und bat den Patron der Busfahrer um ein sofortiges Auftauchen meine Gefährts. Doch nichts geschah. Der Regen kam nun in beinahe Monsunartigen Schauern herabgeprasselt und wehte unter dem Ahorn hinweg. In meinem Hinterkopf tanzte meine Mutter mit erhobenem Zeigefinger und Regenjacke in der Hand herum. Sie würde die Jacke mittlerweile entdeckt haben. Am Kleiderhaken neben der Tür, wo sie immer hing. Zwei Minuten vergingen, und ich kauerte mich zu einem Bündel zusammen um dem Wind auszuweichen. Noch immer war kein Bus in Sicht. Verdammt, er musste einfach kommen! Eine weitere Erkältung mit Fieber konnte ich mir nicht ausmalen. Diesmal würde ich keinen Besuch kriegen, mit dem ich Filme schauen und Videospiele spielen konnte.

 

Die Pfützen wurden breiter und tiefer. Ich spürte das Wasser nun deutlich meinen Rücken herablaufen. Alles an mir hing dunkel und schwer herab, ein Zittern schüttelte mich. Wind und Wasser ließen mich endgültig frieren. Wieso hörte ich auch nie auf die Weisheit meiner Mutter?

Mehr Zeit verstrich, und mittlerweile ich hatte die Hoffnung aufgegeben. Mein Bus war fort, und der nächste käme in fünfundzwanzig elend langen Minuten. Irgendwo hinter mir, gedämpft von Zaun und Bäumen, sprang ein Motor an. Glücklicher Mensch, trocken, warm und alleine im eigenen Transportmittel. Vielleicht sollte ich wirklich bald den Führerschein in Angriff nehmen. Langsam knirschend tastete sich das Auto voran. Ich nahm Haltung an, wollte ich doch nicht wie ein kauerndes Lamm wirken, und nahm meinen triefenden Rucksack in die Hand. Darin schwamm vermutlich bereits alles.

Der dunkelgraue Wagen fuhr an mir vorbei und folgte dem großen Wendekreis zwischen den Haltestellen. Ich lehnte am Zaun, den Kopf unter der schweren Kapuze gesenkt. Erschöpfung setzte sich wie ein schwerer Knoten in meiner Brust fest. Wenn ich zu Hause ankäme, würde ich mich im Bett verschanzen und das gesamte Wochenende verschlafen. Nichts wünschte ich mir jetzt mehr, als endlich Ruhe vor all dem zu finden. Vielleicht auch, all das hier komplett hinter mir zu lassen. Schulabbrüche wurden zwar nicht gerade belächelt, doch mit einer soliden Fachoberschulreife mit Qualifikation konnte man immer noch eine breite Auswahl an Ausbildungsberufen erlernen. Dort zählten ohnehin völlig andere Qualitäten als stumme schwarze Zahlen auf einem Stück Papier.

Ich könnte wegziehen von hier, in einen ruhigeren Teil des Landes, all diese dummen Gesichter und diese kaputte Stadt zum Teufel wünschen. Was hielt mich noch hier? Meine beste Freundschaft war zerbrochen, meine Familie war mir zwar wichtig, aber ständig um sie herum sein musste ich auch nicht.

 

Ich zog meine tropfende Kapuze tiefer ins Gesicht, als sich ein weiteres Auto näherte. Ich presste mich rücklings an den Zaun und unterdrückte das elende Klappern meiner Kiefer. Ich vernahm, wie das Auto langsamer wurde und schließlich unweit von mir anhielt. Vermutlich wurde jemand hier abgesetzt. Seltsam, um diese Uhrzeit.

„Hey!“ Ich unterbrach für eine Sekunde mein Zähneklappern und hörte auf zu atmen.

„Ethan?“ Im strömenden Regen war die Stimme gedämpft, doch war ich mir fast sicher, meinen Namen gehört zu haben. Und es gab nachweislich nur einen Ethan an dieser Schule.

Ich sah hoch und hatte Mühe, die Person in dem Wagen hinter dem Wasserwall zu identifizieren. Dann sah ich das Fahrzeug. Ein dunkelgraues Auto – genau dasselbe, das nicht einmal zwanzig Sekunden zuvor vom Parkplatz gefahren war. Das Fenster war heruntergelassen, der Fahrer saß auf der anderen Seite im Dunkeln. Meine Augen huschten nach allen Seiten, doch außer mir war nach wie vor keine Menschenseele hier. Mit einem unguten Gefühl im Magen trat ich einen Schritt näher an das haltende Fahrzeug heran und beugte mich, etwas widerwillig, zum Fenster herunter.

„Hallo nochmal.“

„Oh, Sie...“, brachte ich hervor. Es überraschte mich schon fast gar nicht mehr, dass sich unsere Wege immer wieder kreuzten, wie unerwartet die Situation auch sein mochte.

„Du siehst fürchterlich aus“, sagte Herr Aturi, und das kleine gemeine Grinsen auf seinen Lippen entging mir nicht.

„Danke, Sie schmeicheln mir“, entgegnete ich etwas genervt. „Nicht meine Schuld, dass hier in zehn Jahren noch niemand darauf gekommen ist, ein Unterstelldach zu bauen.“ Er formte ein zustimmendes Lächeln.

„Ich dachte du fährst zu Dennis, wohnt der nicht in die entgegengesetzte Richtung?“, fragte mein Lehrer schließlich. Eine rhetorische Frage. Wieder schoss mir bei der Erwähnung das Blut durch die Adern. Wenn er diesen Namen noch einmal in den Mund nehmen sollte, würde ich ihn mit einer Stunde eisernem Ignorieren strafen. Ich zuckte mit den Schultern, die durch das Wasser in den Textilien schwer dagegen arbeiteten.

„Ich warte nur hier unter dem Baum, sobald der Bus kommt laufe ich zur anderen Haltestelle.“

„Ist der nicht gerade erst weggefahren?“ Bei Talos, war dieser Mensch abartig aufmerksam. Ich sah auf und rang um weitere Lügen, doch schien ich mir nur ein noch tieferes Grab zu schaufeln.

„Mhmja, den habe ich verpasst.“ Weil Sie mich noch im Gebäude aufgehalten haben!

Eine kurze Pause rief mir den Regen zurück ins Gedächtnis und ein Schauer lief mir den Rücken herunter. Ich wollte jetzt zurück unter meinen Baum, und in Ruhe und Frieden meine Zeit absitzen.

„Wenn du möchtest, kann ich dich gerne mitnehmen“, sagte mein Lehrer dann. Der Puls wummerte plötzlich in meinen Ohren. Sogar durch das Rauschen des Niederschlags hindurch hörte ich es, wie ein Echo meines eigenen Körpers. Verstand oder Bauch, Verstand oder...

„Danke, aber das ist wirklich nicht nötig. Die paar Minuten kann ich warten, ich bin absolut daran gewöhnt.“ Hochgezogene Augenbrauen verrieten mir alles was ich wissen musste.

„Der nächste Bus kommt in einer halben Stunde und es gießt wie aus Eimern. Du bist jetzt schon bis auf die Knochen nass und –“

„Es okay, wirklich!“, konterte ich nun eindringlicher. „Es ist nichts.“ Zwei im Schatten des Wetters dunkelblaue Augen funkelten mich skeptisch und anmaßend an, und ich richtete mich bereits wieder auf.

„Ethan“, ertönte es dann wieder. „Du kannst es dir wirklich nicht leisten wieder krank zu werden, und schon gar nicht, nur weil du ein stolzer und sturer Bock bist.“ Bei den Worten meines Bildungsbeauftragten wollte mir beinahe die Kinnlade herunterklappen. Stolzer, sturer Bock? Ungläubig starrte ich geradeaus, noch immer zum Gehen aufgerichtet. Das wurde ja immer bunter. Ich sammelte gerade eine fiese Entgegnung zusammen, als es neben mir klackte und mit einem Schwung die Beifahrertüre meine Beine streifte. Ungläubig lugte ich wieder in das Fahrzeug hinein. Ein äußerst entschlossener, fast schon verärgerter Herr Aturi sah mich herausfordernd an. Sturer Bock, dachte ich. Da wären wir zwei.

„Sag mir wohin und ich setze dich dort ab. Ich kann dich nicht einfach in dieser Misere stehenlassen wenn ich weiß, dass du noch zwanzig Minuten eingeregnet wirst.“ Wieder wurde mir flau. Mich vor Dennis Haustüre abzusetzen war die schlechteste Idee die mir zurzeit einfiel.

„Ehrlich“, begann ich wieder, doch meine Glaubwürdigkeit fing an zu bröckeln. „Ich glaube ich fahre doch erst nach Hause. Ich sollte sowieso erst einmal meine Klamotten wechseln.“

„Dann steig ein, ich fahr dich auch in die entgegengesetzte Richtung“, entgegnete mein Gegenüber widerwillig. Ich schüttelte argwöhnisch den Kopf.

„Das ist doch Unsinn, wieso sollten Sie das tun.“

„Ich kann meinen Einkauf auf dem Rückweg erledigen, kein Problem.“

„Aber –“

„Jetzt mach erst einmal, dass du hier rein kommst. Trockener wirst du da draußen nicht.“ Mein Blut floss immer schneller durch die Adern. Das hier konnte doch nicht richtig sein, egal welche guten Intentionen dahinter standen. Ein Schüler sollte nicht in das Auto seines Lehrers einsteigen. Das widersprach so vielen Grundsätzen, und sämtlichen mentalen Hürden die ich mir gesetzt hatte. Doch wie von Sinnen ließ ich meinen Rucksack von den Schultern gleiten. Ich strich meine nassen Haare von der Stirn und schüttelte ein paar der Tropfen ab, die ununterbrochen davon herabliefen. Noch ein letztes Mal sah ich mich um, vergewisserte mich, dass niemand mich dabei sah, wie ich in das Auto meines Deutschlehrers einstieg.

 

Als ich endlich in den weichen Ledersitz gefallen war und die Türe zuzog, wurde es zunächst einmal unheimlich still. Der Regen schlug zwar noch zornig auf das Dach des Wagens ein, doch war ich jetzt sicher vor ihm. Ich sah auf das matt schwarze Handschuhfach und presste meine bebenden Hände gegen die Knie.

„Geht doch“, grinste mein Sitznachbar mit einer Stimme des Triumphes.

„Das Wasser dürfen Sie aber später aufwischen“, murmelte ich.

„Ach, das trocknet alles. Dir muss kalt sein?“ Ich schüttelte den Kopf.

„Geht schon.“ Er drehte die Heizung auf, als hätte er mich gar nicht gehört. Ich seufzte ergeben.

„Also, wohin geht es?“ Ich starrte weiter. Nach Hause, dachte ich. Doch glaubten meine Eltern, ich verbrächte den Abend bei Dennis. Wenn ich jetzt nach Hause kommen und mein Zimmer nicht mehr verlassen würde, würden sie Fragen stellen. Unangenehme Fragen. Ich schüttelte den Kopf, ohne zu merken, dass ich mit meinen Gedankengängen ja alleine war.

„Zu Dennis“, brachte ich hervor, schluckte dann schuldbewusst. Der Motor summte auf und wir folgten dem Wendekreis, weg von der Schule. In den grauen Straßen lag eine bedrückende Stille. Nur wenige Regenschirme wackelten an den kleinen Läden und Wohnhäusern vorbei, die zugehörigen Personen tief darin verborgen. In der Ferne zuckte ein Blitz durch den schwarzen, wolkenverhangenen Himmel.

„Hast aber wirklich den besten Tag erwischt“, bemerkte Herr Aturi nach einigen Minuten. Ich sah geistesabwesend aus dem Fenster.

„Mhm“, machte ich. Die nächsten zehn Minuten fuhren wir schweigend im frühabendlichen Verkehr. Ich wies meinem Fahrer die Richtungen an und wurde immer unruhiger, je näher wir Dennis‘ Wohnort kamen. Was war der neue Plan? Ich würde am Ende seiner Straße aussteigen und mich für die Fahrt bedanken, so tun als würde ich zu seinem Haus laufen und, sobald mein Lehrer verschwunden war, wieder umkehren und zur nächsten Bushaltestelle laufen. Wohin dann, wusste ich noch nicht.

„Sagen Sie“, begann ich zweifelhaft, „wieso tun Sie das hier eigentlich?“ Herr Aturi durchquerte einen Kreisverkehr und schenkte mir einen kurzen, fragenden Blick.

„Dich fahren?“, fragte er überrascht.

„Ja“, bestätigte ich. Meine Beine begannen langsam zu Pudding zu werden. Herr Aturi schmunzelte.

„Sieh es als mein Geburtstagsgeschenk an dich.“ Ich schnaubte verächtlich und sah wieder aus dem Fenster, an dem der Regen wilde Muster malte. Er lachte kurz auf, ob meiner Reaktion.

„Okay, wenn es dich denn beruhigt, ich hätte es auch an jedem anderen Tag getan.“ Seine Stimme war freundlich, warm und ehrlich. Meine Wangen glühten unmerklich auf.

„Die nächste links“, murmelte ich. Mir kam ein neuer Gedanke. Ich musste doch nicht einmal so nah an Dennis heran, oder? Ich konnte doch sicherlich einfach irgendeine belibige Straße wählen, vielleicht eine, die näher an der Bushaltestelle lag.

„Ich.. meine rechts, entschuldigung.“ Strategiewechsel. Ich bekam einen schnellen Blick zugeworfen, doch wir bogen rechts ab. Ich atmete auf. In der Ferne sah ich ein hellgrünes Bushaltestellenschild vor dem grauen Hintergund aufleuchten. Perfekt.

„An der übernächsten Seitenstraße können Sie mich rauslassen“, sagte ich vorsichtig. Wir warteten, bis sich ein LKW an uns vorbei geschoben hatte. Langsam näherten wir uns der Seitenstraße. Bei näherem Betrachten sahen die Häuser hier ziemlich groß, nobel und vor allem teuer aus. Ich hoffte, dieser Umstand würde keinen Verdacht erregen, doch in meinem Magen drehte sich alles vor Nervosität. Neben einem von einer weißen, gothisch angehauchten Mauer umzäunten Garten hielten wir an. Ich wagte es kaum zu atmen, als der Motor ausgeschaltet wurde und es ruhig wurde. Zögernd raffte ich meinen Rucksack auf meine Beine und atmete geräuschvoll aus.

„Danke für die Fahrt. Sehr zuvorkommend von Ihnen.“ Ich erwartete ein freundliches Lächeln zur Antwort, doch als ich zu ihm herüber sah, betrachtete er mich mit zusammen gekniffenen Augen und einer Falte zwischen den Brauen. Mein Inneres drehte sich einmal um einhundertachzig Grad. Schnell schaute ich weg und legte die Hand an den Türöffner.

„Also, bis Montag dann –“

„Ethan.“ Ich hielt inne, wagte es jedoch nicht mich umzudrehen. „Was hast du vor?“ Ich glaubte mich zu verhören.

„Ich gehe zu meinem... Freund“, antwortete ich leise.

„Ist das so? Und du bist dir sicher, dass er hier wohnt?“, fragte er.

„Ja... In der Nähe. Ich werde noch ein Stück laufen.“ Ich zog mir die Kapuze über und öffnete die Tür einen Spalt.

„Hey!“, hörte ich es hinter mir, und etwas Warmes schloss sich um mein linkes Handgelenk. Ich schnellte herum und sah Herr Aturi verärgert an, der mich blitzartig wieder losließ.

Er weiß es, echote es in meinem Hinterkopf. Sein Blick hatte sich verändert, seine Züge sich etwas entspannt.

„Hey, hör mal. Es ist eigentlich nicht meine Art sich in anderer Leute Leben einzumischen“, sagte er ruhig. Mein rechtes Knie, das zur Tür heraus ragte, wurde kalt berieselt, und eine eisige Brise zuckte mir durch Mark und Knochen. Ich gab einen vorwurfsvollen Blick zum Besten. Dafür ist es ein wenig spät, meinen Sie nicht? Er drehte sich mir zu, und mit einem Mal fühlte sich das geräumige Auto bedrückend eng an.

„Ich weiß nicht was zwischen euch vorgefallen ist, aber es ist offensichtlich, dass du nicht vor hast, Dennis einen Besuch abzustatten.“ Ich wusste nicht was ich sagen sollte, mir fehlten schlichtweg die Worte. Ich hatte nicht mehr die Energie, mit diesem Mann zu diskutieren. Aber irgendwie hatte er meine Absichten durchschaut.

„Wie..?“, fragte ich heiser.

„Mach erst einmal die Tür wieder zu. Ich lasse dich bei diesem Dreckswetter nicht draußen herumstreunen, wenn ich es vermeiden kann.“

Alle meine Instinkte standen auf Flucht, doch wie so oft führte seine Stimme meine Bewegungen. Die Tür schnappte zu.

„Gut“, sagte er ruhig und lehnte sich ein wenig zurück. „Muss ich es dir wirklich erklären?“ Mein irritierter Blick war ihm Antwort genug.

„Du sagtest mir vorhin, du fährst zu Dennis. Als ich an dir vorbei fuhr, standest du an der Haltestelle in Richtung deiner Stadt. Wenn ich dich erinnern darf, dort habe ich dich bereits einmal abgeliefert.“ Daran musste er mich tatsächlich nicht erinnern. Das Ereignis war mir totgeschwiegen am liebsten. „Am Mittwoch habt ihr beide euch im Deutschunterricht noch verhalten wie immer. Dann plötzlich seid ihr beide zwei Tage krankgeschrieben, und ich erwische dich, wie du nach Schulschluss wie ein gejagter Fuchs durch die Gänge rennst, nur um Nachhilfe zu geben.“

Ich war in einen Tunnelblick verfallen und hörte mir seine Ausschweifungen an. Je mehr er sagte, desto mehr spürte ich das Gefühl des Versagens an meiner Kehle zerren.

„Du zuckst jedes Mal zusammen, wenn ich den Namen deines besten Freunds nenne. Ich habe zwischen euch noch nie einen Hauch von Zwist gesehen, dafür kann es also nur einen ernsthaften Grund geben. Während unserer Fahrt hierher wurdest du immer angespannter, deine Schultern kleben dir noch immer fast an den Ohren, deine ganze Körperhaltung schreit Defensive. Du hast willkürlich die Richtung gewechselt, Meinungswechsel, Unsicherheit. Der Rest ist das Einmaleins der menschlichen Mimik und Artikulation, eine einfache Rechnung. Ich schätze, du hattest tatsächlich vor nach Hause zu fahren, aber irgend etwas sprach dagegen. Und jetzt hältst du in unmittelbarer Nähe zu einer Bushaltestelle, weil du es dir anders überlegt hast. Liege ich mit irgendetwas falsch?“

Ich schwieg. So musste es sich anfühlen, bei einem Diebstahl auf frischer Tat ertappt zu werden. Mein Atem stockte und noch immer fand ich keine Worte. Stattdessen schüttelte ich nach einigen Schocksekunden geschlagen den Kopf. Ein zufriedenes Lächeln zuckte über sein Gesicht, verschwand aber schnell wieder. Er seufzte laut und ließ sich in den Fahrersitz zurückfallen, die Hände am Lenkrad abgestützt. Einen Moment lang versanken wir beide in Gedanken. Der Regen draußen kam und ging in rauschenden Wogen. Ich traute mich kaum, mich einen Zentimeter zu rühren. Irgendwann seufzte Herr Aturi noch einmal.

„Weißt du“, sagte er plötzlich in ruhigem Ton, „du musst mir nicht erzählen, was zwischen euch vorgefallen ist. Es ist privat und geht mich nichts an, das verstehe ich. Aber es widerspricht sowohl meiner beruflichen Position, wie auch meiner persönlichen Moral, dich jetzt einfach in dieser Misere auszusetzen.“

Ich zwang mich dazu, einen schnellen Blick in seine Richtung zu werfen. Worauf wollte er hinaus? Er räusperte sich.

„Unter den gegebenen Umständen habe ich zwei Optionen für dich. Erstens, ich fahre dich jetzt nach Hause, sodass du so schnell wie möglich ins Trockene kommst.“ Ich schnaubte innerlich bei diesem Vorschlag. Was würden meine Eltern denken, wenn ihr Sohn schon wieder von seinem Lehrer nach Hause gebracht wurde? Kein neutral gesinnter Mensch würde so etwas tun, es war mehr als verdächtig. Und dann war da noch der Geburtstag. Seit sechs Jahren hatte ich den 23. Mai nicht mehr ohne Dennis verbracht, es war einfach eine Selbstverständlichkeit. Würde ich mich heute mit meiner Laune im Zimmer verkriechen, war dies das offensichtlichste Zugeständnis, das ich machen konnte. Nein, das ging nicht. Herr Aturi schien meinen Gesichtsausdruck zu deuten.

„Die zweite Option also“, fuhr er fort, hielt jedoch kurz inne, um sich meiner Aufmerksamkeit zu vergewissern. „Du kommst mit zu mir, in meine Wohnung, wärmst dich dort ein paar Stunden auf bis es dir besser geht, und dann fahre ich dich später nach Hause.“

Ich musste wohl kreidebleich geworden sein, als ich seinen Vorschlag hörte. Zu ihm nach Hause? Meine Zurechnungsfähigkeit schien sich nun endgültig verloren zu haben. Ich schluckte mehrmals, öffnete die Lippen leicht in Erwägung einer Antwort, überlegte es mir aber doch anders. Die Kälte kroch an meinen Beinen hoch und lähmte mich zusätzlich. Die Entscheidung sollte mir eigentlich nicht schwerfallen. Zu meinem Lehrer nach Hause gehen? Das war absurd! Völlig abwegig und unvernünftig. Welche fragwürdige Verbindung auch immer wir zu diesem Zeitpunkt haben mochten, das würde sie komplett verändern. Sich in der Öffentlichkeit zu treffen war eine Sache, aber in die Privatgemächer des anderen einzudringen war schlichtweg zu viel des Guten.

„Ich würde es vorziehen, hier auszusteigen“, sagte ich, weniger entschlossen als geplant. Doch mein Lehrer schüttelte nur den Kopf.

„Ich glaube, du hast mich nicht richtig verstanden. Ich lasse dich nicht einfach gehen“, zischte er beharrlich.

„Sie können mich nicht aufhalten“, machte sich mein Mundwerk selbstständig, ohne dass ich über die Konsequenzen nachdachte. Er legte den Kopf schief schenkte mir ein schräges Lächeln.

„Ach nein?“ Meine Hautfarbe wechselte zwischen weiß und rot. Ich sah schnell zum Beifahrerfenster hinaus, und machte mich gerade für die Flucht bereit, als der Motor aufheulte. Ich presste meine Finger so fest um den Gurt meines Rucksacks, dass die Nägel mir ins Fleisch schnitten. Jetzt oder nie, dachte ich. Doch obwohl meine Hand tatbereit auf dem Türgriff lag, rührte sie sich kein bisschen. Stattdessen rastete der erste Gang ein und das Auto rollte los. Mit einer Mischung aus Ärger, Verwirrung und Neugier wandte ich mich Herrn Aturi zu.

„Was machen Sie?“, fragte ich energisch. „Ich möchte hier raus!“ Ein breites, diesmal amüsiertes Grinsen huschte über seine Fassade.

„Das glaube ich nicht“, feixte er. Wir fuhren an den luxuriösen Häusern und penibel gepflegten Gärten vorbei, die unter dem grauen Wolkenteppich vollkommen ihren Glanz verloren hatten. Aus dem fahrenden Wagen springen war keine gute Idee, stellte ich fest, beließ meine Hand jedoch am Türgriff. Bei der nächsten Kreuzung oder Ampel könnte ich es versuchen. Mit zusammengekniffenen Augen und tiefen Falten auf meiner Stirn sah ich zu meinem Lehrer hinüber. Der schien viel zu entspannt zu sein, dafür dass er gerade seinen Schüler kidnappte. Vielleicht tat er das öfter.

„Was haben Sie jetzt vor?“, fragte ich verärgert, aber mit mulmigem Gefühl. „Wollen Sie mich entführen, einsperren und foltern?“ Er lachte leise auf und wandte mir seine blauen Murmeln zu.

„Wenn du das gerne möchtest.“ Ich konnte mir ein kurzes Zucken der Mundwinkel nicht verkneifen. Gleichzeitig wurde mir immer flauer im Magen.

„Nicht unbedingt“, gab ich zu. Wie infantil, so etwas in Erwägung zu ziehen, dachte ich, und hätte es am liebsten unausgesprochen gemacht. Er lächelte der Straße entgegen, die jetzt in einem Wendekreis endete. „Was dann?“, hakte ich trotzdem nach. Wir drehten und fuhren zurück, das einzige bewegte Objekt in dieser Straße der Reichen.  

„Wir fahren zu mir“, sagte er. Ich warf ihm einen ungläubigen Blick zu. Als ob ich darin überhaupt kein Mitbestimmungsrecht hätte! Meine Finger klammerten sich fester um den Türgriff. Wir näherten uns der Kreuzung von der wir gekommen waren, meiner einzigen Chance. Das Auto wurde langsamer.

„Wenn es dir überhaupt nicht gefällt, werde ich dich nicht aufhalten“, sagte er plötzlich, sah mich aber nicht an. Ich horchte auf. War da etwa so etwas wie Bedauern in seiner Stimme?

„Ich möchte nur nicht, dass du wieder krank wirst“, redete er weiter. Der Wagen hielt vor dem Stoppschild. Ich spürte wie meine Finger zitterten, wie der Puls vom kühlen Metall reflektiert wurde.

Jetzt oder nie...

„Das... ist nett von Ihnen.“

Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung.

Meine Hand rutschte von der Tür und verschwand in meiner Hoodietasche. Sie zitterte noch immer. Es war wieder passiert. Wieder hatte ich dem stoischen Eigensinn dieses charismatischen Idioten nachgegeben. Warum ließ all mein sonst omnipräsentes Durchsetzungsvernögen mich immer bei ihm im Stich? Jetzt war es zu spät, ich hatte ihm die Leine regelrecht in die Hand gedrückt.

Wir folgten einigen Nebenstraßen, und meine Orientierung war längst hinfällig. Als wir jedoch in einen Kreisverkehr fuhren, und ich in dessen Mitte die im Regen silbern schimmernde Bronzestatue eines aufgerichteten Löwen erkannte, krampfte sich meine Brust schlagartig zusammen.

„Wo genau fahren wir hin?“, fragte ich plötzlich energisch, mit einem wachsenden Kloß im Hals. Meinen Lehrer schien das nicht zu beeindrucken. Wieder einmal war er mir einen Schritt voraus.

„Zu meiner Wohnung, das sagte ich doch bereits“, antwortete er kühl. Und dann fügte er hinzu: „Keine Sorge, ich weiß, wer hier wohnt. Und ich werde dich nicht vor seiner Haustür abliefern.“ Ich atmete heftig ein und stieß die Luft wieder aus. Der bronzene Löwe zog an uns vorbei, und verschwand schließlich im Rückspiegel. Ich beruhigte mich wieder ein wenig.

„Wir sind gleich da“, sagte er in die Stille hinein. Ich straffte meine Schultern und versuchte, meinen Herzschlag zu regulieren.

„Woher wissen Sie, wo er wohnt?“, fragte ich vorsichtig und skeptisch gleichermaßen, erkannte aber, dass die Frage im Grunde dämlich war. Sein Schmunzeln verriet mir, dass er der gleichen Meinung sein musste.

„Nun“, entgegnete er, „wenn wir Lehrer eines im Überfluss haben, dann sind das Schüler, Papierkram und Listen. Ich habe erst vor wenigen Wochen eine dieser Listen mit Schüleraddressen in der Hand gehabt und festgestellt, dass Dennis quasi bei mir um die Ecke wohnt.“ Ich atmete gequält auf. Das war zwar plausibel, machte es aber nicht weniger störend. Je weiter ich von Ihm, dessen Name nicht mehr genannt werden sollte weg war, desto besser. Ein Stechen in der Flanke setzte mir zu, als hätte mir jemand eine Nähnadel zwischen die Rippen gedrückt. Unangenehm.

Wir näherten uns einer Reihe Einfamilienhäuser mit Gemeinschaftsgärten, denen gegenüber einige einzeln verstreute Wohngebäude hoch hinauswuchsen. Ich fragte mich, wann wir wohl anhalten würden, und ob Herr Aturi in einer dieser Pferchboxen lebte. Wir fuhren langsam, und die Hochbauten zogen an uns vorbei. Zum Ende der Straße hin wurde es grüner. Einige höhere Bäume trotzten dem peitschenden Wind und wankten bedrohlich über den parkenden Autos. Wir erreichten das Ende der Straße und hinter einer Fassade von Grün, ein unscheinbares, dreistöckiges Mehrfamilienhaus. Herr Aturi bog in die Einfahrt ein und manövrierte das Fahrzeug mit Leichtigkeit in eine der spärlichen Parklücken. Der Motor verstarb, und wieder war da diese unheimliche Stille, nur das Rauschen der Witterung um uns herum.

„Da sind wir“, sagte Herr Aturi deutlich positiver gestimmt als ich, und griff nach seiner Tasche auf dem Rücksitz. Ich drückte mich gegen die Tür, und umklammerte meinen Rucksack. Ich blieb einige Sekunde länger im Wagen als mein Lehrer, angespannt und scheu. Doch die Neugier und der Zwang ließen mich schließlich die Türe öffnen. Tatsächlich hatte der Regen nachgelassen, zumindest für den Moment. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, meine noch immer völlig durchnässte Kapuze aufzusetzen. Den Weg zur Eingangstür des Hauses gingen wir in Schweigen. Herr Aturi schloss auf und hielt mir die Tür auf, bis ich nachkam. Ich murmelte ein widerstrebendes „Danke“ in meinen Kragen hinein und folgte ihm die Treppe hinauf. Erster Stock, zweiter Stock, dritter Stock. Oben angekommen, stand ich wortlos hinter ihm und beobachtete, wie er mit den Schlüsseln am Schloss herum friemelte. Mit einem Klack öffnete sich die Tür, und mein Lehrer verschwand darin. Ein letztes Mal zögerte ich, wollte mich umdrehen und fortlaufen. Doch wie ein Magnet, der sich nicht von seinem Gegenpart abwenden kann, wurde ich von dem Mann vor mir angezogen.

Ich schüttelte meine Ketten ab und brachte die letzten Schritte hinter mich.

 

Das hier war real. Ich war wirklich hier.

In der Höhle des Löwen.

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Tag der Veröffentlichung: 17.06.2013

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