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Kapitel 1: Träume


Jacks Handywecker klingelte. Er weckte ihn bereits seit Jahren zuverlässig jeden Morgen aus dem Schlaf, der Jacks bester Freund war. Die Hand des Jungen griff sofort beim ersten Ton nach dem Mobiltelefon und deaktivierte mit einem Wisch auf dem Touchscreen das immer lauter werdende Geräusch. Er ließ sich in das weiche und noch warme Bett zurückfallen und ein Seufzer entglitt seinen Lippen. Sein alltägliches Ritual, wenn er um halb Sieben auf die immer gleiche Art und Weise aus dem Schlaf gerissen wurde.
Er gähnte laut und herzhaft und blinzelte ein paar Mal. Mit den Händen fuhr er sich über das Gesicht und rieb sich mit Mittelfinger und Zeigefinger ein paar Krümel aus den Augen.

Er erinnerte sich an den Traum, den er diese Nacht gehabt hatte. Er war bei Sonnenuntergang an einem weißen Sandstrand gewesen. Die Wellen waren sanft und hatten seine Füße umspült, während er in den rot-violetten Himmel geblickt und der glühenden Sonne zum Abschied etwas zugeflüstert hatte. In der Ferne tauchte die dunkle Silhouette eines Meerestieres an der Wasseroberfläche auf, vermutlich ein Delfin oder größerer Fisch. Er war auf die Silhouette zugegangen, hatte sich jedoch nicht merklich weiter bewegt. Als ihn eine leichte Brise erfasste blieb er stehen und schaute an sich hinunter. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er keine Bekleidung hatte. Er stand völlig nackt und so, wie er von Mutter Natur geschaffen worden war, da und lies den Blick über den Horizont wandern. Und so leise und sanft, wie das Meer in diesem Augenblick war, vernahm er plötzlich ein Flüstern neben seinem Ohr und etwas berührte ihn am Rücken. Er hatte versucht sich umzudrehen, um den Ursprung der Berührung in sein Blickfeld rücken zu können, jedoch hatte sich sein Kopf nicht gerührt. So lauschte er aufmerksam der Stimme, die ihm zarte Worte in sein Ohr hauchte. Er verstand keine Bedeutungen oder Zusammenhänge, und doch beruhigte ihn diese Symphonie aus wirren Silben auf eine bestimmte Art und Weise. Und als er begann, sich der Stimme völlig hinzugeben und die Anspannung aus seinen Muskeln wich, spürte er zwei Arme, die sich sanft und mit äußerster Vorsicht um seine Hüften legten, als wäre er aus Porzellan.

Hätte der Wecker ihn nicht aus dem Schlaf gerissen, hätte Jack vermutlich weiter in den nächtlichen Fantasien wandern können. Jedoch bahnte sich nun neben dem inneren Ärger über den abrupten Abbruch dieses interessanten Traums auch ein Funke von Freude bei ihm an. Heute war nicht irgendein gewöhnlicher Schultag, das war Jack sofort nach dem Aufwachen klar. Heute war der letzte Tag an seiner Schule, den er je wieder erleben würde. Dreizehn Jahre hatte er sich durch Prüfungen gequält, sich mit lästigen Mitschülern abgegeben und mit nach seiner Meinung völlig inkompetenten Lehrern herumgeschlagen. Obwohl letzteres nicht auf alle Lehrer zutraf. Vorzugsweise auf jene, die ihn in den Jahren vor seinem Abitur unterrichtet hatten. Doch jetzt hatte er es endlich geschafft. Die schriftlichen Abitur Prüfungen waren alle bereits vergangenen Monat geschrieben worden, die mündlichen Prüfungen waren ebenfalls kurz danach erfolgt. Vor zwei Tagen hatte der Abi-Ball stattgefunden, der der langen Schulzeit einen netten und abgerundeten Schluss bereitet hatte, wenn auch letztendlich alles auf ein mehr oder weniger großes Besäufnis hinausgelaufen war.
Mit seinem Zeugnis war Jack mehr als zufrieden. Einen Durchschnitt von aufgerundet 1,5 hatte er sich ausgerechnet, was zwar nicht der beste Durchschnitt in seiner Schullaufbahn war, jedoch ein absolut akzeptables Ergebnis für ihn persönlich darstellte. Auch waren nur zwei Personen im ganzen Jahrgang besser als er. Der eine war ein Junge, den die moderne Gesellschaft durchaus als absoluten Nerd und Streber bezeichnen würde und dies auch tun dürfte. Mager, als würde er sich nur von einem Vollkornriegel pro Tag ernähren, blass wie ein ausgebleichter Käse und dazu eine auffällige schwarze Hornbrille auf der Nase machten ihn zu dem, was er war. Jack selbst hatte nur den fortgeschrittenen Spanischkurs mit ihm gemeinsam, sonst war er ihm höchstens mal flüchtig auf dem Flur begegnet. Der Streber hatte es auf einen Durchschnitt von 1,2 gebracht, was einem, mal ganz abgesehen von der Person selber, durchaus zu bedenken geben konnte. Der andere Kerl, der einen um 0,3 Noten besseren Durchschnitt als Jack aufweisen konnte, war ein netter und verrückter Halbgrieche, der sechs Jahre lang in Jacks Klasse gegangen war.
Unterbewusst hatte Jack sich schon immer einen kleinen Konkurrenzkampf mit diesem Mitschüler geliefert, war jedoch irgendwann immer um eine oder zwei Noten im Rückstand gewesen und hatte sogar zwischenzeitlich aufgegeben, ihn überholen zu wollen. Diesmal jedoch war es ihm zumindest fast gelungen, und die beiden hatten sich bei der Zeugnisübergabe gegenseitig mit großem Respekt beglückwünscht.

Jack verwarf seine Gedanken an die vergangenen Tage und Wochen und stand nun endlich auf. Er rollte sich seitlich aus dem großen Bett und setzte sich erst einmal auf die Bettkante, um durch die halb heruntergelassenen Rollladen nach draußen in den Garten zu schauen, wo die Morgendämmerung bereits eingesetzt und den kleinen Wald zu Füßen des Hauses in ein mattes Orange-Gelb getaucht hatte. Die Vögel zwitscherten bereits unaufhörlich.
Jack hasste dieses Gepiepe wenn er deswegen manchmal nicht einschlafen konnte. Aber morgens, musste er zugeben, war es ein rundum harmonisches Bild, dass sich ihm darbot, wenn er aus dem Fenster im ersten Stock auf das kleine Fleckchen Natur sah.
Jack erhob sich und griff sich ein Handtuch, das er am Vortag zum Trocknen in sein Zimmer gehängt hatte und machte sich dann auf den Weg zur Dusche. Er hatte Glück mit seinem Zimmer, da es direkt an das Badezimmer angrenzte und er sowieso nun die ganze Etage für sich alleine hatte.
Das Wasser, welches aus dem Wasserhahn sprudelte nachdem er diesen aufgedreht hatte, war zunächst kalt und Jack zuckte bei der Berührung zusammen. Nach einigen Sekunden jedoch wurde es lauwarm und dann endlich heiß. Er hing den Duschkopf in die dafür vorgesehene Vorrichtung ein und genoss, wie das Wasser auf seinen Körper herunterprasselte. Die Müdigkeit wusch er sich mit einer Handbewegung aus dem Gesicht, bevor er anschließend nach dem Duschgel griff.
Jacks Statur war das, was viele Mädchen seines Alters als annähernd perfekt bezeichnen würden. Er hatte einen durchtrainierten Oberkörper, war schlank und sportlich und mit etwa 1,78m Körpergröße weder ein Gigant noch ein Zwerg. Sein Kopf wurde von kurzen, strubbeligen braunen Haaren geziert, die er immer etwas gelte. Das Gesicht des Jungen war schmal, zeigte aber leicht ausgeprägte Kieferknochen auf. Die Augenfarbe war im Laufe seines Lebens von Grau-Blau zu einem strahlenden Hellgrün gewechselt, auf das Jack sehr stolz war. Ein dunkler Ring umrandete seine Iris und betonte seine Augen noch mehr. Insgesamt sah er einfach gut aus. Das fand er selber, das fanden, wie er aus eigener Erfahrung wusste, viele weiblichen Teenager und sogar die männliche Konkurrenz hätte zugeben müssen, dass es wirklich so war. Obwohl Männer dies natürlich nie zugeben würden, so augenscheinlich es auch sein mochte.
Der Schaum lief in unterschiedlichsten Formationen an Jacks Oberkörper hinunter, als er sich mit dem Duschgel einzuschäumen begann. Der Duft des Gels breitete sich sofort im ganzen Badezimmer aus. Und dadurch, dass Jack die Badezimmertür immer offen ließ, zog sich der frische, nach Mann duftende Geruch jeden Morgen durch die ganze Etage. Jack liebte sein Duschgel dafür. Er schloss die Augen.
Als er auch endlich die Haare eingeschäumt und gewaschen hatte, ließ er das Wasser noch einige Sekunden einfach so weiterlaufen, bis er schließlich den Hahn abdrehte und aus der Dusche stieg. Mit dem zuvor bereitgehaltenen Handtuch rubbelte er sich provisorisch die Haare ab und trocknete dann den Rest seines Körpers mit Hingabe ab. Um die Prozedur endgültig abzuschließen, griff er sich sein Body-Spray und sprühte einige Male. Dann band er sich das Handtuch um die Hüfte und verschwand wieder in seinem Zimmer.

Mittlerweile war es kurz vor Sieben und draußen schien es bereits taghell zu sein. Jack schlurfte die Treppe hinunter und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Sofort sprang ihm seine über alles geliebte Katze Moony entgegen, die ihn mit ihren strahlend gelben Augen aufgeregt ansah und schnurrend um Jacks Beine strich. „Moony!“, rief Jack enthusiastisch und bückte sich, um der kleinen Katze durch das tiefschwarze Fell zu streicheln. „Na wie hast du geschlafen Kleine?“ Natürlich erwartete er keine Antwort, aber die Beziehung zwischen den beiden war so eng, dass sie sich ohne Worte verstanden. Wie hätte es auch anders sein können. Da Moony sich weiterhin wie wild an dem Jungen rieb und um ihn herumstromerte, deutete Jack dies als ein Ja. „Jetzt muss ich aber weiter Moony, sonst komme ich zu spät. Magst du mit frühstücken kommen?“ Er richtete sich hastig auf und ging nun Richtung Küche, gefolgt von der kleinen mauzenden, hungrigen Katze. Dort angekommen war gerade noch Zeit für ein schnelles Frühstück, deshalb machte er sich auch nicht die Mühe für einen drei Stunden langen Tag extra Brote zu schmieren. Stattdessen stopfte er sich lediglich eine Banane in den Mund, fütterte die Schwarze und zog sich dann seine Schuhe an. Vier Minuten bevor sein Bus kam lief er los, vergaß seinen Schlüssel, lief zurück und rannte dann gehetzt zur Haltestelle, um noch in letzter Sekunde in die hintere Bustür einzusteigen.
Im Vierersitz saßen bereits Chucky und Sascha, seine besten und auch irgendwie einzigen Freunde. Sie grinsten ihn amüsiert an, als sie sahen, wie eilig er es wohl gehabt hatte.

„Moin Jungs“, begrüßte Jack die beiden Grinsemänner.
„Tag Jack, na, letzten Schultag fast verschlafen?“ lachte Sascha. Jack sparte sich eine Antwort und grinste ihn einfach ironisch an, während er sich ebenfalls hinsetzte.
„Ich hab gehört du willst doch in Deutschland bleiben“, sagte Chucky mit fragendem Unterton.
„Du solltest weniger Klatsch und Tratsch von Leuten glauben, die nur in deinen Träumen existieren. Du weißt, dass ich fahren werde.“
Chucky lächelte und nickte bejahend. Er wusste, dass es Jacks Traum war, nach Australien zu gehen. Das wussten sie alle drei. Und doch war es nicht leicht für Chucky und Sascha, Jack für so lange Zeit zu entbehren. Obwohl jeder von ihnen jetzt einen anderen beruflichen Weg einschlagen würde, wohnten sie dennoch weiterhin in derselben Stadt und würden auch weiterhin die drei besten Freunde bleiben.
„Wir bleiben ja immer in Kontakt Leute, das wisst ihr“, sagte Jack.
„Und wie willst du wissen ob du in dem Busch da unten Internet hast? Da gibt es bestimmt nicht mal Satellitentelefone“, sagte Sascha.
„Ach irgendwo werde ich schon Internet finden, außerdem bin ich ja nicht nur im Outback sondern auch in größeren Städten, da gibt es überall Internetcafés“, antwortete Jack.
Die Antwort stimmte Sascha nicht wirklich zufrieden, aber statt weiter zu bohren sah er einfach aus dem Fenster. Nach einigen weiteren Minuten war der Bus sowieso überfüllt mit kleinen und lauten Schulkindern, weshalb sie sich auch nicht mehr die Mühe machten gegen die Lautstärke anzureden.
Die letzten drei Stunden in seiner Schule verflogen wie nichts, und als die Mitschüler den Zehn Sekunden Countdown vor dem Klingeln anstimmten fühlte Jack endlich, wie sein Traum in greifbare Nähe rückte. Der Traum von Freiheit und der Möglichkeit seine Wünsche zu erfüllen, seinen eigenen Weg zu gehen.
Die Schulkinder rannten zu den Bussen. Die offiziellen Sommerferien begannen erst zwei Wochen später, das war ein Privileg, welches Jack zu schätzen wusste. Er hätte es nicht viel länger ausgehalten und war nun froh, dass alles vorbei war. Die letzten Monate waren stressig gewesen. Abgesehen davon, dass er bei dem Umzug seiner Schwester hatte helfen müssen und seine Mutter eine Woche vorher noch krank geworden war, musste er für die Abiturprüfungen lernen und hatte kaum noch Zeit zum Zocken mit Chucky und Sascha gehabt. Zusätzlich waren kurz darauf neue Nachbarn mit einem Baby eingezogen, wessen Schreie ihn mehrfach um den Schlaf brachten. Jack mochte keine Kinder. Sie waren laut, anhänglich, bedürftig, unfähig, aufmerksamkeitsgestört und gingen einem einfach auf die Nerven. Am schlimmsten waren die jungen, völlig überforderten und aufgrund der gestressten Situation schlecht gelaunten Mütter, die mit ihren drei Kindern, zusätzlichen drei Shoppingtüten und einem Kinderwagen den gesamten Bus verstopften und die Nerven der Fahrgäste aufs Äußerste strapazierten.
Besonders bei den Mädchen flossen die Tränen, als es an das Verabschieden ging. Jack drängte sich an den sich umarmenden und schluchzenden Massen vorbei und kämpfte sich zur Aula vor. Vor der Tür befand sich allerdings ein riesiger Tropf Menschen, also blieb Jack noch eine Weile abseits stehen, verabschiedete sich noch von einigen vorbeikommenden Lehrern und wartete, bis sich das Gedränge langsam auflöste. Er hatte es nicht eilig. Auch hatte er nicht das Bedürfnis danach, den anderen Mitschülern auf Wiedersehen zu sagen. Im Gegenteil, er war wirklich froh, dass er sie nicht mehr sehen musste. Die, die kamen um ihn zu verabschieden, ignorierte er entweder gekonnt und ging schnurstracks weiter oder er erbarmte sich zu ein paar kurzen Worten. Die einzigen Personen, die ihm wichtig waren, würde er sowieso noch sehen. Außerdem hatte er sich immer bemüht, sein Privatleben auch privat zu lassen, weshalb auch kaum einer wusste, dass er für zwei Jahre weg sein würde. Aber weder würde er sie, noch sie ihn vermissen.

An der Bushaltestelle angekommen traf er Chucky.
„Wo ist Sascha?“, fragte dieser.
„Der wird noch von den Mädchen festgehalten glaube ich. Aber er wollte sowieso vorher nochmal nach Hause und kommt dann später nach.“
„Alles klar“, antwortete Chucky knapp. Die beiden unterhielten sich noch etwas über die vergangenen Monate und Wochen und fuhren dann zu Jack nach Hause.

„Was zu trinken?“, fragte Jack.
„Ich weiß ja wo es steht“, entgegnete Chucky, „ist ja nicht das erste Mal, dass ich hier bin.“
„Und gewiss nicht das letzte Mal“, grinste Jack. Sie gingen hoch auf Jacks Zimmer.
„Woran ich mich allerdings nie gewöhnen werde ist, dass du jetzt eine ganze verdammte Etage für dich alleine hast.“
„Vor allem eine ganze Etage, die für zwei Jahre nun niemand nutzen wird“, antwortete Jack und schaltete seinen Computer ein. Chucky warf sich auf Jacks Bett und starrte die Decke an. Daran war eine Karte von Australien angebracht, auf der alle großen Städte und Nationalparks markiert waren. Direkt daneben hing eine Deutschlandkarte, die maßstabsgetreu zu Australien war.
„Es ist so klein“, bemerkte Chucky.
„Was?“, fragte Jack, obwohl er ahnte, worum es sich handelte.
„Deutschland. Im Gegensatz zu Australien meine ich. So klein und unbedeutend“. Chucky drehte sich einmal um seine Achse. „Wie viele Einwohner hat Australien noch gleich?“
„Knapp 23 Millionen, davon leben 92% in Städten, hauptsächlich an der Ostküste, vereinzelt auch im Norden und an der Westküste. Das westliche Inland, die Wüsten und das Outback sind beinahe völlig menschenleer.“ Jack ratterte die Antwort herunter, als hätte er nur gewartet, dass ihm diese Frage gestellt wird. Chucky schaute ihn ironisch grinsend an und zog eine Augenbraue hoch. „Vielen Dank Professor Jack Australia, bei weiteren Fragen zu Down Under komme ich gerne auf Sie zurück.“ Beide lachten.
„Ich“, begann Chucky mit bedacht ruhiger Stimme, „werde dich vermissen“. Die kurzanhaltende Stille war gebrochen. Die Luft warm und schwer von der Sonne. Jack schwieg und hatte kurz mit dem Zusammenzucken seines Bauchs zu kämpfen. Es kribbelte seltsam. Dieses warme, wohlige aber auch völlig neue Kribbeln erschreckte ihn innerlich. Seine Silhouette zeichnete sich nun schwarz und schemenhaft vor dem Bambusrollo, hinter dem die Nachmittagssonne schien, ab. Jack wischte den Staub von der kleinen Drachenfigur auf seiner Fensterbank und schluckte, obwohl der Speichel längst versiegt und sein Mund trocken war.
„Ich werde euch auch vermissen“, presste er heraus, sichtlich bemüht sich nicht seine Betroffenheit in dieser Situation anmerken zu lassen, was ihm mehr oder weniger gut gelang.
Wieder schwiegen sie. Chucky schaute Jack von der Seite an. Er merkte wie nervös er plötzlich war, als hätte ihn seine Aussage aus dem Konzept gebracht. Vielleicht hatte er nicht damit gerechnet. Jack war jemand der alles plante und organisierte, wo es etwas zu planen oder zu organisieren gab. Ein sehr durchdachter, kluger Junge. Chucky bewunderte ihn auf eine bestimmte Art und Weise, wenngleich er auch nicht so genau sagen konnte, welche dies sein sollte. Chucky fuhr sich mit den Händen durch seine Mähne. Das blonde, etwas längere Haar des Jungen fächerte sich breit auf der Bettdecke auf. Er stöhnte angestrengt, obwohl es keinerlei Anstrengung bedurfte, auf dem Bett zu liegen und nichts zu tun. Er betrachtete seine Hände prüfend und legte sie dann unter seinen Kopf, atmete tief ein und sah dann wieder zu Jack herüber, der immer noch den Tunnelblick aufgesetzt hatte.
„Alles okay bei dir, Kumpel?“ fragte Chucky nun zögernd. Offensichtlich hatte er Jack aus den Gedanken gerissen, denn er reagierte erschrocken und stand plötzlich ruckartig auf, um mit einem „Ja, klar, natürlich. Was soll nicht okay sein?“ aus dem Zimmer zu verschwinden. Noch während auf der Treppe ging, klingelte es an der Tür. Chucky schmunzelte. Als hätte er geahnt, dass Sascha genau in diesem Moment kommt. Jack hastete in völlig übertriebener Eile auch die zweite Treppe herunter und schlitterte auf dem gefliesten Boden der Tür entgegen. Er öffnete sie und fand einen Sascha vor, der noch völlig außer Atem, laut keuchend am Türrahmen lehnte. Lächelnd bat er ihn hinein.
„Was hat dich denn gestochen, dass du so schwer atmest?“, erkundigte sich Jack, der schon wieder auf dem halben Weg in die Küche war.
„Der Bus kam mal wieder zu spät, und da ich sowieso schon so spät bin hab ich mir gedacht, ich treibe mal nebenbei etwas Sport“, lachte Sascha. Dabei musste er immer wieder Atempausen einlegen. Er entledigte sich seiner Schuhe und folgte Jack dann in die Küche, wo er sofort ein kühles Bier in die Hand gedrückt bekam.
„Gibt es was zum Feiern?“, fragte Sascha überrascht und beäugte den Dampf, der tänzelnd der kalten Flasche entschwand.
„Außer nie wieder Schule? Weiß nicht, sag du es mir“, zwinkerte Jack und schwang sich mit einem weiteren Bier für Chucky das Treppengeländer hoch, wobei er drei Stufen auf einmal nahm. Sascha hatte Mühe ihm zu folgen. Oben stießen die drei Freunde auf einen erfolgreich überstandenen und gleichzeitig auf einen neuen Lebensabschnitt an und wünschten sich gegenseitig viel Erfolg bei allem, was sie sich für die Zukunft vorgenommen hatten.

Am Abend lagen sie alle angeheitert auf Jacks Bett und starrten zusammen die Decke und das Australienposter an. Sascha summte die Melodie von Eye Of The Tiger und zupfte an der Decke herum. Jack trank sein Bier aus und stellte es neben das Bett auf den Boden. Er setzte sich auf die Bettkante und wippte von der einen zur anderen Seite, hin und her. Falls das im Takt des gesummten Lieds sein sollte, so war er völlig falsch, was Jack allerdings nicht die Bohne interessierte.
„Ihr seid klasse, Jungs!“, lamentierte Jack in den Raum hinein, stand gleichzeitig auf und öffnete drei neue Biere. Nachdem er diese verteilt und wieder Platz genommen hatte, erwiderten Sascha und Chucky, indem sie lallenderweise einen Tost ausbrachten.
„Jack, du bist auch ein klasse Freund“, begann Chucky. „Mehr noch, eher ein Bruder“, vervollständigte Sascha. „Ich glaube ich spreche für uns beide“, sagte Chucky wieder und schielte Sascha an, „wenn ich sage, dass du mindestens der coolste Freund bist, den man haben kann. Und ich glaube auch, dass wir dir beide alles Gute für die nächsten zwei Jahre wünschen.“ „Und“, Sascha trank einen Schluck, „dass du nicht da unten stirbst und dich nicht von irgendwelchen Schlangen oder Spinnen beißen lässt.“ Er plusterte seine Brust vor Stolz über diese ehrfurchterregende Bemerkung auf und rühmte sich insgeheim selber. Diese letzte Bemerkung ließ Jack etwas irritiert schauen, dann jedoch lachte er und prostete den beiden anderen zu.
„Auf Australien!“
„Auf Australien!“

Kapitel 2: Adé!


Der Mann am Schalter in der Bank hatte geschlagene sechs Minuten mit Jack darüber diskutiert, ob es sich bei der Überweisung einer hohen Geldsumme von dem Konto seiner Eltern auf sein Konto, dem Abziehen eines Bankauszugs und dem anschließenden Rücküberweisen um ein legitimes Verfahren handelte. Bei der Einreise in Australien war es nämlich Pflicht - wenn auch laut anderen Backpackern kaum bis gar nicht kontrolliert - einen Bankauszug mit sich führen, auf dem ein Kontostand von mindestens 5000$ verbucht war und der zusätzlich von der zuständigen Bank abgesegnet sein musste. Jack hatte zweieinhalb Jahre für diese Reise gespart und hatte insgesamt trotzdem nur knapp 2800€ beisammen, was etwa 3700$ entsprach.
Mit sechszehn hatte er Wochenpost ausgetragen und als er siebzehn war hatte er in den Ferien in einer gutbesuchten Eisdiele gearbeitet. Im Alter von achtzehn Jahren hatte er lediglich hier und da mal eine kleinere Arbeit aufgenommen, da er sich in dieser Zeit hauptsächlich auf das Lernen konzentriert hatte.
Der Bankangestellte hatte den Kontoauszug letztendlich doch unterschrieben und Jack genervt aber erleichtert die Bank verlassen.

Im Internet hatte sich Jack nach dem Durchlesen vieler Rezensionen schon einige Monate vor der Reise einen Backpacker Rucksack für knapp 80€ gekauft. Er fasste siebzig Liter Gepäck, hatte zwei Bauch-, zwei Brust- und zwei Rückengurte und außerdem einen Halter für mobile Schlafmöglichkeiten wie Zelt oder Schlafsack. Vor allem auf mehrere kleinere Staufächer hatte Jack geachtet, da er es vermeiden wollte, für jeden kleinen Gegenstand das große Hauptfach zu durchwühlen. Auch das war an diesem Rucksack praktisch, das große Hauptfach war zweigeteilt und ließ sich auch von unten öffnen. Ein ständiges Umpacken, weil etwas unter den anderen Klamotten lag, war also nicht nötig. Jack, so organisiert wie er war, hatte natürlich schon lange eine umfangreiche und detaillierte Packliste angefertigt. Das Packen selbst ging deshalb ziemlich schnell. Schwierig war es nur, die Sachen so anzuordnen, dass sie platzsparend und gleichzeitig sinnvoll angeordnet waren, sodass er vor allem die wichtigen Dokumente wie Reisepass, Portemonnaie und Flugticket schnell bereithalten konnte, wenn dies erforderlich war.
Der Tag seiner Abreise rückte näher, und Jacks erwartungsvolles Kribbeln war an diesem Abend besonders stark. Er stellte den halbfertig gepackten Rucksack neben sein Bücherregal und setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl. Während er sich von links nach rechts und zurück drehte, und dieses Spielchen immer wiederholte, dachte er nach. Bilder von der roten Wüste Australiens zogen an seinem inneren Auge vorbei. Kängurus, Rinderherden und der legendäre Uluru. Er schaltete die kleine Schreibtischlampe an, suchte im Internet ein Bild von einem Känguru und fing an zu zeichnen.
Gegen Mitternacht legte er den Bleistift zur Seite. Ein Rotes Riesenkänguru schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen durchdringend an, die Ohren aufgerichtet und das Fell borstig. Im Hintergrund erstreckte sich die unendliche Wüste, deren trostloses Bild nur durch ein paar ausgedörrte Bäume und Büsche noch etwas Leben eingeflößt wurde. Das Fell des Kängurus war dreckig, eingestaubt von den Sandwinden in diesem unwirtlichen Lebensraum. Wer dort lebte, musste sich anpassen. Jack hatte sich vorgenommen, die Wüste als einzigen Teil Australiens nicht so intensiv zu erkunden. Es musste unglaublich heiß sein, auch wenn er nicht wusste, wie sich 50°C anfühlten. Für einen Deutschen war es sicherlich die Hölle auf Erden. Man schmorte so lange, bis die Eiweiße in der Haut anfingen zu blubbern. Dann würde man als Spiegelei enden und später von irgendwelchen Reptilien und Insekten zum Abendessen verspeist. Nein, das stellte er sich nicht unter seiner Reise vor. Zu groß würde ihm das Gesundheitsrisiko erscheinen, und zu groß erschien es ihm auch jetzt schon in der Theorie.
Er signierte die Zeichnung und setzte das Datum darunter. Samstag, 20. Juni 2015. Am Montag, dem 22. Juni diesen Jahres würde er den Boden seiner Heimat verlassen und erst knapp 15.000 Kilometer Luftlinie weiter auf fremdem Boden wieder aufsetzen.

Sein Flug ging um sechs Uhr. Bereits um drei Uhr waren Jack, seine Eltern, seine Schwester und Chucky und Sascha am Flughafen. Jack trank insgesamt drei Kaffees und war so aufgeregt wie nie zuvor. Alles war perfekt gelaufen bis dahin, er hatte alles mit, was er brauchte. Trotzdem quälte ihn die absurde Sicherheit, dass er irgendetwas Elementares vergessen hatte. Auch seine Eltern, besonders seine Mutter, kämpfte sichtlich damit, ihren Sohn für so lange Zeit entbehren zu müssen. Anfangs, als Jack mit sechzehn Jahren das erste Mal ernsthaft mit seinen Eltern über seine Idee gesprochen hatte, hatte sie versucht ihn davon abzubringen. Sie hatte Angst vor den vielen gefährlichen Tieren auf diesem giftigsten aller Kontinente. Malte sich aus, wie Jack von Aborigines entführt wurde, oder wie beim Bananenpflücken eine gelbe Spinne auf ihn herabfiel und ihm mit ihrem giftigen Biss zusetzte. Zumindest letzteres war sogar eine nicht zu ignorierende, mögliche Tatsache. Doch letztendlich hatte sie über die Jahre eingesehen, dass es sein größter Wunsch war. Außerdem hatte sich Jack über alles, was potenziell gefährlich sein könnte, ausreichend informiert.

Es war voll am Flughafen, aber vermutlich war es das immer. Immerhin gingen Flüge zu jeder Tages- und Nachtzeit. Jack war noch nie geflogen, aber er hatte unglaubliche Lust darauf endlich zu erfahren, wie es sich anfühlte. Zwar bangte ihm etwas vor dem Start, aber dieser machte schließlich nur einen Bruchteil des gesamten Fluges aus.
Endlich zeigte die Anzeigetafel die Flugnummer und das passende Gate, sowie ein Terminal an, welches auf Jacks Flug passte. Es war Zeit für den Check-In, und damit für den Abschied. Weder Jack noch alle anderen wussten wirklich, was sie sagen sollten. Der Junge wirkte leicht aufgelöst und trat zu seinen Eltern, um erst seine Mutter und schließlich seinen Vater für eine gefühlte Viertelstunde zu umarmen. Seine Mutter gab ihm einen Abschiedskuss auf die Wange und sie und sein Vater rangen sich gemeinsam noch einige Worte ab. Tränen beiderseits waren jedoch unvermeidbar. Ob es Freuden- oder Trauertränen waren, wusste Jack in diesem Moment nicht genau einzuordnen. Vermutlich war es beides.
Dann verabschiedete er sich von seiner Schwester, was ihm sichtlich einfacher viel, und zuletzt von Chucky und Sascha. Auch die beiden umschlang er noch einmal mit einer ungeheuer emotionsbedingten Intensität, bevor er schließlich sein Gepäck an sich nahm und ihnen allen den Rücken kehrte. Am Check-In warf er nochmal einen Blick hinter sich. Sie winkten ihm ein letztes Mal zu. Er lächelte, hob die Hand, senkte sie wieder, ging weiter und wischte sich eine letzte Träne weg.
Beim Check-In reichte er sein Gepäck zur Kontrolle ein und erreichte schließlich das Gate, von dem aus er zum Flugzeug geleitet werden sollte. Das Boarding ging allerdings erst in einer Dreiviertelstunde los, und so setzte er sich zwischen Kunstpalmen auf eine gepolsterte Bank und entspannte sich endlich etwas.
Es waren schon einige Passagiere da, vorzugsweise Touristen und Businessleute, die offenbar Geschäftsreisen vor sich hatten. Ein Pulk in Anzüge gekleideter Männer mittleren Alters zog an ihm vorbei, wild durcheinanderredend und gestikulierend, als würden sie gerade alle eine hitzige Diskussion miteinander führen. Auch ein paar Jüngere waren darunter. Die Aktenkoffer fest umklammert stellten sie sich schließlich unweit von Jack ans Fenster, welches die Aussicht auf einen Teil des Flugplatzes bot. Jack schaute ihnen interessiert zu und lauschte ihnen, so gut es bei der zwar gedämpften, aber dennoch etwas unruhigen Geräuschkulisse möglich war. Es ging vor allem ums Geschäft. Er hörte Namen von Leuten, die er nicht zuordnen konnte, häufig waren sie chinesischer Herkunft. Oder zumindest etwas in der Art, in Asien hörte sich für einen Europäer sowieso alles gleich an.

Jack rechnete fest damit, dass diese Männer - und eine Frau, wie er bemerkte – die Business Class oder den VIP Bereich gebucht und beansprucht hatten und deshalb früher zum Boarding geladen wurden. Tatsächlich löste sich nach etwa zwanzig Minuten ein kleiner Tropfen der Men in Black von den etwa fünfzehn anderen und verschwand mit einer kleinen, gutaussehenden Stewardess durch das Gate. Auch zwei Männer im Rollstuhl und eine Familie mit vier kleinen Kindern folgten ihnen.
Jack knibbelte aufgeregt an seinen Fingern herum. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern. Das Terminal hatte sich mittlerweile gefüllt, er hörte viele Menschen hinter sich. Doch er drehte sich nicht um, um sich seine Mitflieger anzuschauen. Stattdessen schloss er die Augen und wartete, dachte nach. Die Durchsage, die ihn zum Boarding aufforderte, kam bald, und so packte er sich sein Handgepäck und stellte sich in die Reihe.
Mit dem Bus ging es zum Flugzeug, da es weiter entfernt stand. Jack wurde ehrfürchtig und machte sich ganz klein, als er ausstieg und sich vor ihm ein riesiges Monster aufbaute. Dieses Flugzeug war gigantisch. Das einzige Mal, das Jack auf einem Flughafen war und ein echtes Flugzeug aus der Näher gesehen hatte, war bei einem Ausflug in der siebten Klasse. Damals hatten sie das Thema Bewegung in der Luft und im Rahmen des Unterrichts eine Busrundfahrt über den Düsseldorfer Flughafen gemacht. Doch dieses Tier, das sich da vor ihm aufbäumte, war etwa vier Mal so groß wie das, was er in Düsseldorf gesehen hatte. Und er hatte Respekt vor ihm. Und Respekt vor seinen Piloten.
Jacks Onkel war Pilot, aber sie hatten sich so lange er denken kann so selten gesehen, dass es nie zu einem Gespräch zwischen ihnen gekommen war. Er wusste nur vom Foto und von den Erzählungen seines Vaters, wie er aussah und wie er war.
Er folgte den anderen Passagieren die Treppe hinauf, die in das Monster hineinführte. Eine Stewardess nickte ihm freundlich zu und er betrat schließlich den Bauch des Flugzeugs. Es war genauso, wie auf den Abbildungen im Internet. Eine lange, breite und monotone, aber dennoch gemütlich aussehende Röhre mit drei Sitzen auf jeder Seite. Dazwischen ein schmaler Gang, durch den später die Stewardessen schlendern und Essen und Getränke verteilen würden.
Jack schaute auf seine Bordkarte und entnahm ihr die ihm zugeteilte Sitzplatznummer. Er suchte und fand ihn auch schon bald. Offensichtlich hatte er enormes Glück gehabt, denn sein Platz befand sich am Fenster, gleich neben der rechten Tragfläche des Flugzeugs. Trotz der schieren Größe dieser hatte er nach vorne hin eine wunderbare Sicht auf den Boden und würde sicherlich später einen tollen Ausblick auf die Flugroute haben.
Zuerst würden sie über Rumänien fliegen, dann kämen Iran und Afghanistan, weiter ging es über Nordindien, vorbei an Thailand, Malaysia und Indonesien. Dann würde das Flugzeug eine Tankpause in Singapur einlegen und schließlich die letzte Etappe bis nach Darwin fliegen. Und bis dahin war es jetzt noch etwa genau ein Tag. Vorausgesetzt es lief alles reibungslos, und das hoffte Jack, wäre er gegen fünf Uhr morgens in Australien. Dort müsste er dann erst mal eine vorzeitige Unterkunft in einem Hostel suchen. Natürlich hatte er sich schon vorher informiert und sich einige Adressen herausgesucht. Ob er dort allerdings auch unterkommen würde, war eine andere Frage.
Der Plan, also sein Plan, sah vor, dass er sich nach der Ankunft erst einmal einen Tag vom Jetlag erholen würde. Dann würde er sich um die Eröffnung eines australischen Kontos und um die Beschaffung einer Prepaid Handykarte kümmern. Wenn er sich dann einige Tage in Darwin umgesehen und sich an das Klima und die Sprache gewöhnt hätte, würde er auf Jobsuche gehen. Denn für einen langen Urlaub reichte sein Geld nicht, beziehungsweise wollte er einfach sparsam damit umgehen.
Die Bezahlung in Australien war gut, der durchschnittliche Stundenlohn betrug immer zwischen 12 und 20 Australische Dollar, was etwa 9 bis 15 Euro entsprach. Das Gehalt wurde außerdem nicht wie in Deutschland am Monatsende, sondern schon jedes Ende der Arbeitswoche, also Freitag, ausgezahlt. Mit diesen Voraussetzungen hatte man also eine wöchentliche Finanzabsicherung und konnte gleichzeitig, wenn einem der Job nicht gefiel, zum Wochenende hin kündigen und sich nach etwas Neuem umsehen. Die Aussicht auf diese Mobilität gefiel Jack.

Er hatte Platz genommen und sich in den, auf den ersten Blick sehr gemütlich aussehenden Sitz gedrückt. Sein Handgepäck verstaute er bis auf ein Buch und seinen MP3 Player vorerst über seinem Kopf auf der Gepäckablage. Die Kopfhörer wollte er aber erst aufsetzen, wenn sie in der Luft waren, wollte er doch keine Ansage verpassen. Er schaute noch eine Weile nach draußen. Das Wetter war klar und sonnig, ideales Flugwetter, wie er befriedigt feststellte. In der Ferne türmte sich imposant der Flughafen auf. Und obwohl es nicht seine Heimatstadt war, genoss er den Blick auf diese vertraute Umgebung. Kleine Gepäckwagen fuhren herum, Personal in neongrüner Uniform wies ihnen den Weg und gestikulierte mit einem runden Schild in der Luft herum. Im Himmel entdeckte er ein Flugzeug, welches sich wohl gerade im Landeanflug befand, denn es flog sehr niedrig.

Ein Mann setzte sich neben Jack und er erschrak kurz, weil er sich so intensiv mit der Welt außerhalb des Flugzeugs beschäftigt hatte. Intuitiv lächelte Jack ihn kurz an und nickte ihm zu. Er glaubte kurz, diesen Mann schon einmal gesehen zu haben. Als er sein Jackett auszog und Platz nahm, wusste er auch wo. Er war einer der Business Männer, die nicht den VIP Bereich gebucht hatten und deshalb erst jetzt an Bord kamen. Jack schätzte den Mann auf etwa siebenundzwanzig Jahre. Er trug unter dem Jackett ein blaues Hemd und eine schwarze Krawatte um den Hals. Sein Gesicht war männlich, aber nicht zu markant, soweit er das von der Seite beurteilen konnte. Nur ein paar Bartstoppeln ließen ihn älter wirken, denn ansonsten sah er recht jung aus. Das Haar war dunkelbraun und glatt nach rechts vorne gekämmt. Seine Stirn wurde von dunklen Strähnen gesäumt. Ein Geruch von Parfüm wehte Jack entgegen. Es roch frisch, männlich und befreite seinen Kopf kurz von allen anderen Gedanken. Gerade sog er, die Augen halb geschlossen, die Luft ein, als der Mann ihn auch direkt ansprach.

„Hallo, Mirko“, sagte er und streckte Jack seine Hand entgegen. Er lächelte freundlich. Jack, der nicht erwartet hatte, dass der Mann ihn ansprechen würde, besann sich sofort und erwiderte die Geste. Der Händedruck war angenehm, nicht zu stark und nicht zu schwach. Businessleute hatten das wohl drauf.
„Jack, angenehm“, lächelte Jack und stellte fest, dass er diesen Mann, Mirko hieß er, sofort sympathisch fand.
„Und, wohin geht es?“, fragte Mirko und lockerte seine Krawatte etwas.
„Australien, Work and Travel“, antwortete Jack knapp. Er beobachtete Mirko, wie er sich auf seinem Platz einrichtete. „Und Sie?“, fragte er dann.
Mirko sah ihn kurz entrüstet und amüsiert an.
„Sie?“, fragte er grinsend. „Wie alt schätzt du mich denn, dass du mich siezt?“
Jack stockte kurz und überlegte was er sagen sollte.
„Naja, wenn ich jemanden nicht kenne, dann sieze ich ihn nun mal“, brachte er stammelnd hervor.
„Das beantwortet meine Frage nicht“, grinste Mirko und zog eine Augenbraue künstlich kritisch hoch. Jack hasste das Schätzen von Alter. Er lag zwar selten komplett falsch, aber derartige Aussagen brachten ihn immer aus dem Konzept, und es war ihm peinlich, wenn er etwas falsches sagte. Obwohl man ihn auch immer älter einschätzte, als er tatsächlich war.
„Nun?“, bohrte Mirko, während er sich nebenbei weiter einrichtete.
„Nun ja“, begann Jack. „So siebenundzwanzig?“
Mirko sah auf und verzog sein Gesicht seltsam. Dann erhellte sich seine Miene und eine Art Mix aus Anerkennung und Zufriedenheit breitete sich stattdessen auf seinem Gesicht aus.
„Du bist gut, siebenundzwanzig stimmt sogar. Weißt du auch noch mein Geburtsdatum?“, lachte er und schaute Jack mit seinen hellbraunen Augen an. Jack ließ erleichtert seine Schultern etwas sinken, schüttelte den Kopf und brachte ein „Nein“ hervor, während er nach unten starrte.
„Und wenn ich siebenundzwanzig bin, und du mich auch noch richtig eingeschätzt hast, warum siezt du mich dann? Ich bin schließlich dann nur ein paar Jahre älter als du.“ Er tippte Jack an die Schulter und dieser wusste nicht so ganz, worauf Mirko hinauswollte.
„Immerhin acht Jahre“, sagte Jack und zuckte mit den Schultern. Mirkos Augen wurden noch größer als sie sowieso schon waren, und wieder erhoben sich die Augenbrauen des Mannes zu einem skeptischen Gesichtsausdruck.
„Erzähl mir doch keinen, du bist doch mindestens vierundzwanzig“, sagte er und schaute Jack ungläubig an. Dieser schüttelte abermals leicht den Kopf, lächelte verhalten und klärte Mirko dann über sein Alter auf. Dieser staunte nicht schlecht, glaubte Jack aber erst, als der ihm seinen Personalausweis vor die Nase hielt.
„Tatsächlich“, murmelte Mirko. „Nun, du sagtest vorhin, dass du Menschen siezt, die du nicht kennst. Da wir uns jetzt kennengelernt haben“, er grinste breit, „kannst du mich ab jetzt ja duzen.“
Jack musste ebenfalls grinsen und nickte zur Abwechslung einmal. Eine ältere Frau nahm neben Mirko Platz, nickte den beiden Männern kurz zu, machte es sich bequem und vergrub ihr faltiges Gesicht schon bald zwischen einer Modezeitschrift, auf der ein spindeldürres Gerippe mit einem gigantischen Pelzmantel und einem entstellten Pudel auf dem Arm zu sehen war. Die Dame selber hatte eine Kunstlederjacke an. Seidene, halbdurchsichtige Handschuhe zierten ihre mit Altersflecken bedeckten Omahände. Auch trug sie einen unübersehbaren violetten Hut, der aussah, als hätte man ein Dutzend Vögel ihrer Federn beraubt und sie dann alle wahllos auf die skurrile Kopfbedeckung geklebt. Als Mirko von der Frau zu Jack schaute, und dabei ein ziemlich belustigtes Gesicht zog, konnte Jack sich ein lautes Loslachen gerade noch verkneifen. Trotzdem amüsierte es ihn köstlich, und auch Mirko musste sich ziemlich zusammenreißen. Leider mussten die beiden auch feststellen, dass die alte Dame wirklich penetrant nach Parfüm roch. Es integrierte sich perfekt in ihr nicht gerade unauffälliges Erscheinungsbild und verlieh dem Ganzen noch die gewisse Note.
Das Flugzeug hatte sich inzwischen komplett gefüllt und Jack wollte sich gerade einmal umsehen, als die Lautsprechanlage ertönte und eine weibliche Stimme erste Sicherheitsanweisungen durchgab. Er konzentrierte sich deshalb erst einmal darauf, befolgte sämtliche Anweisungen und nahm Hinweise zur Kenntnis. Sein Sitznachbar tat es ihm gleich.
Der Pilot begrüßte die Passagiere nun auch offiziell und informierte über Flugzeit, Route und Zwischenstopps. Nachdem er schließlich einen angenehmen Flug gewünscht hatte und einige Minuten verstrichen waren, fing das Flugzeug endlich an zu rollen.
Ein mulmiges Gefühl packte Jack und er verkrallte sich in die Lehnen seines Sitzes. Von Mirko blieb das nicht unbemerkt.
„Fliegst du zum ersten Mal?“, fragte er. Jack nickte nur und schaute nach draußen. Der Boden glitt immer schneller und unschärfer an ihm vorbei. Mirko wollte gerade noch etwas sagen, als das Flugzeug abhob und alles für kurze Zeit ordentlich durchgeschüttelt wurde. Jack kniff die Augen zu und zog zischend Luft durch die Nase ein. Die Triebwerke schalteten ein und er wurde in den Sitz gedrückt. Sein Gesicht bildete unter der Anspannung ein paar groteske Falten. Aber ehe Jack sich noch weiter in dieses Ereignis hineinsteigern konnte, wurde das Ruckeln deutlich weniger und sie befanden sich jetzt nur noch im Steigflug. Jacks Herz raste, beruhigte sich aber nun schnell wieder. Als er nach links sah, schmunzelte Mirko leicht und fügte ein „War doch gar nicht so schlimm“ hinzu. Jack sah ihn einfach mit großen Augen an und wandte sich dann dem etwa dreißig Zentimeter hohen Fenster zu. Der Boden war noch klar erkennbar und strukturiert, entfernte sich aber immer weiter.
Er wurde von der Seite angetippt, und als er sich umdrehte hielt Mirko ihm ein Kaugummi vor die Nase.
„Gegen den Druck auf den Ohren, hilft wirklich.“
„Danke“, sagte Jack und nahm das silbern verpackte Teil entgegen. Tatsächlich merkte er jetzt deutlich den erhöhten Druck auf seinen Ohren. Das Kaugummi zeigte aber Wirkung, und schon bald entspannte Jack sich wieder.
„Warte erst mal die Landung ab“, scherzte Mirko. Als dieser von Jack einen ungläubigen Blick zugeworfen bekam, fuchtelte er verteidigend mit den Händen vor seinem Gesicht herum. „Ist ja gut, ich hab nur einen Scherz gemacht“, brummte er.
Dafür, dass sie sich jetzt gerade etwas über zwanzig Minuten kannten, waren beide schon ziemlich undistanziert sich gegenüber. Aber das war okay, fand Jack.
Mirko packte ebenfalls ein Buch aus und für einige Minuten lasen beide in ihren Büchern. Der Fantasy Roman, den Jack in den Händen hielt, handelte von Drachen, während Mirkos Schriftstück sich mit Finanzen und Wirtschaft befasste. Die anderen Fahrgäste redeten wenig, deshalb war es weitgehend ruhig. Das Klima im Flugzeug blieb konstant angenehm und der Boden war mittlerweile weit weg.
Ein Gong ertönte. Die Männer sahen von ihren Büchern auf und vernahmen erneut die Stimme des Piloten. Er verkündete Informationen über das aktuelle Wetter hier und am Zielort, die jeweilige Außentemperatur und die voraussichtliche Ankunftszeit in Asien, wo der Zwischenstopp sein würde. Dann unterrichtete eine Stewardess die Fahrgäste noch von der Möglichkeit, die Gurte nun abzunehmen und sich frei im Flugzeug zu bewegen. Ein leises Klicken beendete die Durchsage.

Jack schielte zu Mirko herüber und erblickte das Buch.
„Wer liest denn in seiner Freizeit Bücher über Finanzen?“, fragte er und neigte unverständlich den Kopf zur Seite.
„Na ja, ich schätze mal... ich.“ Mirko zuckte mit den Schultern und lächelte kurz, ohne den Blick vom Buch abzuwenden.
„Das sehe ich“, schmunzelte Jack. „Was arbeitest du eigentlich? Ich habe dich vorhin mit den anderen Anzugmännern gesehen, seid ihr auf Geschäftsreise oder so ähnlich?“
Jetzt blickte sein Gegenüber von dem bedruckten Papier auf und schaute ihn schon wieder mit dieser seltsamen Mine an.
„Schon wieder ertappt, du solltest zu einer Quizshow gehen“, feixte er. „Ja, ich gehöre zu den anderen Anzugmännern, wenn du so willst. Wir arbeiten alle in der Industrie- oder Finanzbranche. Ich bin für das Internationale Investmentbanking zuständig und berate Kunden in Asien, weshalb ich auch in Singapur raus muss.“
„Ach“, sagte Jack nur verdutzt und musterte Mirko, als wäre er plötzlich jemand anders. „Noch so jung und schon auf Geschäftsreisen? Das ist schon ziemlich bemerkenswert.“
Mirko lachte und winkte ab. „Ich hatte einfach Glück mit dem Arbeitgeber. Aber sag mal, was ist eigentlich dein Plan, du willst nach Australien und Work and Traveln?“
Jack streckte sich und gähnte. Er war doch ziemlich müde, das frühe Aufstehen forderte seinen Tribut.
„Ja, richtig“, sagte er dann. „Ich habe vor zwei Jahre dort zu reisen und zu arbeiten.“
Mirko staunte nicht schlecht. „Zwei Jahre? Das ist eine ganze schön lange Zeit. Hast du keine Probleme damit so lange von deiner Familie und deinen Freunden wegzubleiben?“ Er dachte kurz an die, die er immer zurücklies, wenn er auf Geschäftsreise war.
„Nein“, entgegnete Jack. „Das hoffe ich jedenfalls nicht. „An meine Familie hab ich mich schon lange nicht mehr so stark gebunden, ich war immer froh wenn ich oder sie mal ein paar Tage weg waren. Solange ich weiß, dass es ihnen gutgeht, ist das für mich kein Thema. Und meine beiden besten Freunde werde ich sicherlich vermissen, aber wir werden versuchen regelmäßig Kontakt zu haben.“
„Und deine Freundin?“
„Meine Freundin?“ Jack machte einen ziemlich abstrusen Gesichtsausdruck bei der Frage. „Wie kommst du darauf, dass ich eine Freundin habe?“
Mirko wunderte sich über diese Reaktion. Er zögerte. „Ähm… Ich ging einfach mal davon aus, dass ein so gutaussehender junger Kerl wie du auch eine Freundin hat. Hätte ja sein können, aber warum ziehst du gleich so eine Schnute? Du schaust aus, als würde das Wort ‚Freundin‘ eine Alienart bezeichnen“, lachte er und sah ihn fragend an.
Jack nahm diesen Satz gerade im Kopf auseinander, als eine Stewardess durch den Gang geschlendert kam und freundlich fragte, welches Menü und welches Getränk sie gerne zum Frühstück hätten. Mirko antwortete in routinierter Art sofort und bestellte zwei Croissants mit Marmelade und einen Kaffee.
„Einmal das gleiche bitte“, teilte Jack der freundlichen Dame mit. Sie bedankte sich für die Bestellung und zog dann zur nächsten Reihe weiter.
„Doch so wählerisch, ja?“, witzelte Mirko, als Antwort auf Jacks Bestellung.
„Was dagegen?“, grinste dieser. „Ach und nein, ich habe keine Freundin. Ich find Frauen nicht besonders interessant.“
Diese Aussage brachte Mirko zum Stutzen. Er verzog schon wieder die Augenbrauen, anscheinend machte er das gerne. „Bist du schwul?“
Jacks Augen formten einen vielsagenden Blick der Ironie und Entrüstung und sein Kopf wich etwas nach hinten, um Mirko sarkastisch zu betrachten. Als wäre dies nicht schon Antwort genug, versicherte er: „Nein, ich bin nicht schwul. Ich glaube, das wüsste ich.“
Mirko musste lachen und rieb sich mit der Hand im Nacken. „Hast ja recht, sorry. Ich dachte ja nur, wenn du kein Interesse an Frauen hast, dann vielleicht an Männern.“
„Eher nicht. Ich schätze einfach, dass ich bisher einfach nur die Sorte Frau getroffen habe, die nicht meinen Erwartungen entspricht.“
„Verstehe“, antwortete Mirko.
„Was ist mit dir?“
„Kompliziert. Ich hatte drei Jahre eine feste Freundin, aber durch die ganzen Reisen war ich kaum noch zu Hause und man lebte sich auseinander. Einfach ist das nicht, diesen Job mit einem Partner zu vereinen.“
„Das tut mir leid, also das mit deiner Freundin.“
„Ach was.“ Mirko winkte ab. „Kann man nichts dran ändern. Wenigstens bin ich mit meinem Beruf glücklich.“

Sie schwiegen daraufhin und widmeten sich wieder ihren Büchern. Nach einiger Zeit, sie befanden sich bereits über den Wolken, kamen die Flugbegleiterinnen mit dem Essen und verteilten dies unter den Passagieren. Jack erhielt neben den Croissants und einem Marmeladentöpfchen auch einen Orangensaft, eine in Plastik verpackte Schale mit Obstsalat und ein winziges Paket Butter. Den Kaffee nahm er mit Milch und zwei Süßstoff. Sein Nachbar trank ihn schwarz, ansonsten glichen sich ihre Speisen.
„Guten Hunger dann“, wünschte Jack.
„Gleichfalls, danke“, lächelte Mirko und sie frühstückten.
Nach dem Essen plauderten sie noch eine Weile über Jacks Vorhaben in Australien und über alles, was sich sonst noch anbot. Irgendwann wurde Jack allerdings müde. Er entschuldigte sich, setzte seine Kopfhörer auf und schlief über die Musik schließlich ein.

Kapitel 3: Auf dem Weg


Jack träumte von Moony. Offensichtlich vermisste er sie jetzt schon am meisten. Der Abschied von ihr war der schwerste gewesen, weil er nicht wusste, ob sie begriff, dass er sie  zwei Jahre nicht sehen, streicheln und füttern würde. Er hatte sie zuletzt in den Arm genommen, sie auf die Stirn geküsst und sie so feste gedrückt, wie es bei einer Katze möglich war, ohne ihr wehzutun. Seinen Eltern hatte er eingeschärft, dass sie sich bloß gut um die Kleine kümmern sollten. Aber er vertraute ihnen was das anging.

Als Jack die Augen aufschlug hatte er die Kopfhörer noch auf, aber die Musik spielte nicht mehr. Sein Nacken schmerzte leicht als er ihn etwas anhob. Er gähnte herzhaft und ließ sich dann wieder in den Sitz zurücksinken. Allerdings bemerkte er jetzt erst, was der Grund für den Schmerz im Nacken war. Er war im Schlaf mit dem Kopf nach links geknickt, was ihn aufgeschreckt hochfahren und realisieren ließ, dass er an Mirkos Schulter angelehnt geschlafen hatte. Erschrocken und peinlich berührt starrte er Mirko an. Dieser jedoch war, wie er jetzt feststellte, ebenfalls am Schlafen. Allerdings besaß er nicht die Dreistigkeit, sich an den Schultern fremder Leute anzulehnen. Oder wenn nicht fremd, dann zumindest erst seit kurzem bekannt. Jack hoffte, dass er schon lange schlief und sein Missgeschick nicht mitbekommen hatte. Unsicher beobachtete er noch eine Weile, wie sich der Brustkorb des Mannes unter dem Hemd langsam und regelmäßig hob und wieder senkte. Dann, weil er vermeiden wollte, dass dies noch einmal passierte, lehnte er sich weit nach rechts und legte seinen Kopf direkt ans Fenster. Die Kopfhörer störten allerdings beim Anlehnen, und so nahm er sie ab und legte sie zurück in seine Tasche. Ein Seufzer entfuhr seinen Lippen und er schloss erneut die Augen. Jedoch musste Jack feststellen, dass der harte, kantige Teil zwischen Sitz und Fenster sich nicht besonders zum Schlafen eignete. Andererseits wäre es ihm fürchterlich unangenehm, sollte er noch einmal versehentlich in Mirkos Richtung rutschen.
Als er sich angesichts dieser Möglichkeit doch für die unbequemere Variante entschied, bemerkte er ein Tippen an seiner Schulter. Entgeistert drehte er sich um und schaute direkt in ein flauschiges Etwas, dass ihm ins Gesicht gehalten wurde. Es war Mirko, der offenbar doch wach war und Jack eine kleine Fleecedecke hinhielt.
„Hier!“, sagte er leise und zog einen Mundwinkel in die Höhe. „Lehn dich daran an, ist sicher bequemer als meine Schulter.“ Er zwinkerte Jack an und bettete seinen Kopf dann wieder in den Sitz, schloss seine Augen und machte keine Anstalten weiter auf die Situation einzugehen. Jack hatte die Decke ohne Worte angenommen, saß mit halboffenem Mund da und war vom eben geschehenen total überrumpelt. Er war so unglaublich müde, noch müder als zuvor.
„Danke“, flüsterte er nach einer Weile der Stille. Er hätte im Boden versinken wollen, Mirko hatte sein Malheur doch mitbekommen. Da sie sich allerdings über zehntausend Meter vom Boden entfernt bewegten, verwarf Jack diesen Gedanken wieder. Ohne weiter darüber nachzudenken, denn dazu war er zu müde, legte er seinen Kopf auf die Decke, die er rechts von sich zu einem kissenähnlichen Gebilde gepludert hatte und schlief mit leicht erhöhtem Puls wieder ein.


Ein Rütteln riss ihn diesmal aus dem Schlaf. Jack blinzelte verträumt und schaute in Mirkos Gesicht, der ihn geweckt hatte, weil die Stewardessen gerade herumstromerten, um die Bestellungen für das Mittagessen aufzunehmen. Mittagessen? Wie lange hatte er denn geschlafen? Es kam ihm so vor, als hätte er gerade erst gefrühstückt. Allerdings meldete sich bei dem Gedanken an eine warme Mahlzeit sein Magen, und er würde wohl nicht warten, bis er in Asien angekommen war.
„He Schlafmütze, überleg dir schon mal was du essen möchtest. Gleich sind wir dran.“
„Ja, ähm… Danke fürs Wecken“, entgegnete Jack und setzte sich aufrecht hin. Sein Nacken schmerzte nicht. Die freundliche junge Dame kam zu ihrer Reihe und nahm zunächst die Bestellung der alten Frau auf. Deren penetranter Parfümgeruch hatte sich inzwischen verflüchtigt, wie sowohl Mirko als auch Jack erleichtert feststellten. Jack entschied sich für eine asiatische Mahlzeit mit Frühlingsrolle, Ente, Bambussprossen, irgendeiner besonderen Soße und ein paar anderen Beilagen. Diesmal war es Mirko, der das gleiche bestellte wie er. Nachdem die Dame zur nächsten Reihe gezogen war, grinste Jack Mirko hämisch an.
„Was, doch so wählerisch?“
„Hey, was kann ich dafür wenn du mein Essen bestellst?“, lachte Mirko und stupste Jack mit dem Ellbogen neckisch in die Seite.
„Jaja, tolle Ausrede. Hätte ich vorhin auch sagen können.“
„Hättest du, ja. Hast du aber nicht.“ Das Grinsen wich erst nach einigen weiteren Minuten der Kebbelei aus ihren Gesichtern, als die Alte zeternd um Ruhe bat, weil sie sich angeblich nicht auf das Lesen konzentrieren konnte. Am liebsten hätte Jack sich fies dazu geäußert, dass sie doch sowieso nichts mehr hören könnte. Aber dann entschied er sich dazu es doch zu lassen. Alte Leute waren eben stur und seltsam. Ob er wohl auch mal so enden würde? Eigentlich hatte er sich vorgenommen, nie so alt zu werden, dass er Hilfe benötigen würde. Es war ihm einfach zutiefst zuwider, dass fremde Menschen ihn wuschen, rasierten, fütterten und auf mit auf Klo begleiteten. Nein, so wollte er die letzten Jahre seines Lebens nicht verbringen, nicht als eine leere Hülle, deren unausweichlichen Tod man nur durch überflüssige Maßnahmen zu verzögern versuchte.
Aber bis dahin war noch viel Zeit, und er würde sich jetzt erst einmal auf die nächsten zwei Jahre konzentrieren.

„Und, wie schläft es sich so auf der Decke?“, riss Mirko Jack aus seinen Gedanken. Dieser fuhr herum und suchte sich ein paar Worte zu einer brauchbaren Antwort zusammen.
„Ja, schläft sich ganz gut darauf. Danke nochmal.“
„Kein Problem. Wenn ich wüsste, dass sich beim Weiterflug nach Australien  jemand neben dich setzen würde, dann würde ich dir die Decke sogar schenken. Nicht, dass du noch auf den Schultern von fremden Menschen landest.“ Er grinste breit, anscheinend fand er es amüsant, Jack damit aufzuziehen.
„Ich, ähm…“, stammelte Jack, „Tut mir Leid, das war ein Versehen.“ Hätte er die Veranlagung besessen schnell rot zu werden, so wäre dies ein passender Zeitpunkt dafür gewesen. Das war aber nicht der Fall. Dennoch wurde ihm unangenehm heiß und er schaute aufgebracht zur Seite. Nach einer Zeit des Schweigens tippten zwei Finger gegen seine Stirn.
„Hey, alles okay? Ist doch überhaupt kein Problem, mach nicht so ein Gesicht“, murmelte Mirko.
„Ja.“ Jack starrte immer noch nach unten.
„Wenn es dir so unangenehm ist, vergessen wir es einfach.“
Jack schaute er auf und nickte. Dann viel ihm auf, dass er immer noch nicht wusste wie spät es war und wie lange sie schon flogen. Er kramte nach seinem Handy, schaltete es an und schaute auf die Uhr. Kurz nach zwei Uhr Mittag. Sie waren jetzt knapp acht Stunden in der Luft, weitere sechs lagen vor ihnen bis zum Zwischenstopp in Singapur.
Den restlichen Flug verbrachten sie mit Musik hören, Plaudern, Lesen und Essen. Als es neunzehn Uhr war und die beiden Männer gerade ein belangloses Gespräch über Musikgeschmäcker führten, ertönte ein Gong und eine Frauenstimme kündigte an, dass in einer Stunde der Flughafen Singapur erreicht sein würde. Der Tankstopp würde etwa vier Stunden dauern und alle Passagiere würden in dieser Zeit das Flugzeug verlassen müssen. Um Punkt zwölf Uhr würde dann die letzte Etappe nach Australien geflogen werden. Nachdem die Ansage auf weiteren drei Sprachen wiederholt wurde, beendete ein Klicken die Durchsage. Jack wurde etwas mulmig zumute.

„Noch eine Stunde, was? Dann muss ich dich auch leider alleine lassen“, sagte Mirko. Jack seufzte und schaute aus dem Fenster.
„Ja, ist wirklich schade. Aber ich schätze mal, du hast Wichtiges zu tun in Asien.“
„So könnte man das sagen. Ich muss auch nach dem Stopp sofort los. Meeting mit den großen Männern.“
„Den großen Männern?“, fragte Jack.
„Ja, Geschäftsführer, Projektleiter, Vorsitzende von riesigen Konzernen und so weiter. Ich vermittle dort im Auftrag meiner Firma und wir entwerfen dann gemeinsam Verträge. Aber das ist ein ziemlich komplexes Thema, und ich will dich nicht mit meiner Arbeit langweilen.“
„Tust du nicht!“ Jack schüttelte eifrig den Kopf. „Im Gegenteil, ich finde es wirklich interessant etwas von deinem Beruf zu erfahren. Bei uns hab ich noch nie jemanden getroffen, der auf Geschäftsreisen geht, schon gar nicht in so jungen Jahren.“
„So?“, fragte Mirko erstaunt. „Wo wohnst du denn?“
„In der Nähe von Düsseldorf, aber die Stadt ist recht klein, und viele Bekannte habe ich sowieso nicht.“
„Ach.“ Mirkos Mine erhellte sich. „Dann sind wir ja fast Nachbarn.“
„Wie?“, erkundigte sich Jack und machte ein erstauntes Gesicht.
„Tja, wenn ich mal nicht auf Geschäftsreise bin wohne ich in meinem netten Appartement in Düsseldorf.“
Jack machte nun große Augen und wunderte sich wieder einmal darüber, wie klein die Welt doch war. „Das ist ziemlich cool. Wer hätte das gedacht.“
„Zufälle gibt’s, was?“ Sie lachten.
„Sag mal, wenn du mir deine Handynummer gibst, dann kann ich mich mal bei dir melden wenn du möchtest.“
„Ja, ähm.. Ich kann dir die Nummer geben, die ich zu Hause immer habe. In Australien muss ich mir erst noch eine Prepaid Card holen, deshalb kann ich dir die Nummer leider noch nicht geben.“
„Verstehe. Aber du kannst mir ja kurz eine SMS schreiben wenn du deine australische Nummer hast. Dann ruf ich bei Gelegenheit bestimmt mal an, meine Firma übernimmt sämtliche Kosten für Mobilfunk. Dann wird es nicht so teuer über die Ländergrenzen hinweg.“
Jack nickte und Mirko diktierte ihm seine Handynummer, die sofort im Handy gespeichert wurde.
„Hast du eigentlich schon einen genauen Plan für deine Reiseroute?“
Jack dachte kurz nach. „Also, ja schon irgendwie“, fing er an. „Ich hab erst mal vor mich etwas in Darwin und der näheren Umgebung umzusehen, um die Menschen, das Klima und die Sprache näher kennenzulernen. Von jetzt auf gleich wäre das sonst etwas viel. Dann werde ich mich mal nach einem Job umsehen, ich hatte da an Fruitpicking gedacht, vielleicht Mangos oder Bananen. Dafür ist gerade Erntezeit im Northern Territory.“
„Ah, also doch ziemlich gut durchdacht, hm?“, schmunzelte Mirko. Jack zuckte mit den Schultern. Es war nicht das erste Mal, dass ihm das jemand sagte.
„Warum bist du eigentlich alleine unterwegs?“
Jack stutzte kurz. „Naja, eigentlich war es anders geplant...“

Acht Monate vor seinem Reiseantritt hatte Jack sich in einem Forum für Reisende angemeldet. Viele der Informationen die er sich zusammengesucht hatte, wurden dort aus erster Hand weitergereicht. So konnte er sich ein realistisches Bild vom Work and Traveln machen, ungeschönt und echt, anders als in den Katalogen der Reiseveranstalter. Jack hatte sich gegen eine solche Organisation entschieden. Erstens war es durchschnittlich siebenhundert Euro teurer, als ohne Organisation, und das nur für ein bisschen Rennerei und Papierkram, die einem die Organisation ersparte. Nichts, was man nicht auch alleine hätte schaffen können. Zweitens wollte Jack endlich mal etwas aus eigener Verantwortung machen, selbst entscheiden und sich nicht während seines Australienaufenthaltes von irgendwelchen Leuten bemuttern lassen.
In dem Forum gab es auch eine Rubrik in der junge Leute Mitreisende suchen konnten. Als für Jack Termin und Flug feststanden, meldete er sich dort zu Wort. Aus einigen Anfragen anderer User suchte er sich ein Profil heraus, was ihm spontan sympathisch erschien. Der Kerl war dreiundzwanzig und hieß Dennis, sah ganz nett aus und hatte, wenn man den Angaben glauben konnte, auch viele Gemeinsamkeiten mit Jack. Sie nahmen also Kontakt auf und einen Monat später schien es beschlossene Sache zu sein, dass sie zusammen fahren würden. Sie hatten sich sogar einmal getroffen, und tatsächlich hatten sie sich gleich gut verstanden. So hatten beide die Sicherheit, dass eine so lange Reise mit dem jeweils anderen gut machbar wäre.
Dann aber, drei Monate vor der Abreise sagte Dennis urplötzlich ab. Es täte ihm unglaublich leid, er hätte es nicht kommen gesehen und er wüsste nicht, wie er das entschuldigen könnte. Einen konkreten Grund nannte er nicht. Auch war sein Profil plötzlich gelöscht, seine Handynummer nicht mehr erreichbar und alle anderen Netzwerkverbindungen gekappt. In seiner Verzweiflung hatte Jack sogar die Auskunft angerufen um eine Festnetznummer herauszukriegen. Laut der war die beschriebene Person aber nicht verzeichnet. Nach zwei Wochen Recherche und Bemühungen gab Jack auf und akzeptierte, dass er nun wohl doch alleine fahren musste. Bis jetzt hatte er auch nicht nochmal ein Lebenszeichen von Dennis gehört.

„Also.. ursprünglich wollte jemand mitkommen“, murmelte Jack. „Aber dann ist er doch abgesprungen.“
„Oh“, bemerkte Mirko. „Wie ärgerlich. Keinen Ersatz gefunden?“
Jack schüttelte den Kopf.

Eine Ansage hieß die Passagiere an die Sicherheitsgurte anzulegen, da nun der Sinkflug beginnen würde. Auch sollten alle elektronischen Geräte bis zur Landung ausgeschaltet werden. Mirko und Jack taten wie ihnen geheißen und schnallten sich die Gurte um die Hüften. Jack schaute fast die ganze restliche Zeit aus dem Fenster und sah zu, wie sie durch die Wolkendecke brachen und der Boden sich langsam näherte. Das Meer erstreckte sich unter ihnen. Dunkel und blau lag es da, kräuselte sich an manchen Stellen und schäumte weiß auf. Das Licht des Mondes spiegelte sich in der Wasseroberfläche und tanzte auf den Wellen.

„Wie viel Uhr ist es jetzt in Singapur?“, erkundigte sich Jack. Mirko sah reflexartig auf sein Handy, auf dem er einen Zeitzonenrechner hatte. Dann stellte er jedoch fest, dass er es ja gerade ausgeschaltet hatte und schob es zurück in seine Hosentasche. Er setzte kurzerhand eine nachdenkliche Mine auf.
„Ich glaube es müsste jetzt etwa ein Uhr Nachts sein.“
„Hm“, gab Jack als irgendwie unzureichende Antwort von sich. Er schaute wieder aus dem kleinen Fenster hinaus und dachte an den baldigen Abschied von Mirko. Es war ärgerlich, da hatte er gerade einen netten Kerl kennengelernt und musste trotzdem im Endeffekt alleine weiter. Eigentlich hatte Jack überhaupt kein Problem mit dem Alleinsein. Im Gegenteil, er genoss es. Dann konnte er zeichnen, Geschichten schreiben und nachdenken, ohne von jemandem gestört zu werden. Schon als Kind hatte er sich unglaublich gut mit sich alleine beschäftigen können, hatte stundenlang mit Figuren herumgespielt oder war alleine den Wald an seinem Haus erkunden. Später, als Moony kam, war er dann nicht mehr alleine und hatte trotzdem seine Ruhe. Sie spazierten oft lange durch den Wald, am Bach entlang und über große Wiesen. Seine kleine schwarze Katze folgte ihm überall hin, und sie genoss seine Gesellschaft ebenso wie er ihre.

„Wenn du in Darwin ankommst wird es gegen zwölf Uhr Mittag sein“, stellte Mirko fest. Jack nickte beiläufig, ohne sich vom Fenster abzuwenden.


Die Landung war schlimmer als der Start, stellte Jack fest als er in seinem Sitz herumrutschte und ein paar kräftige Schubse ihn durchrüttelten. Seine Kiefer presste er aufeinander und auch die Augen kniff er feste zu, in der Hoffnung, es sei bald vorbei. Und das war es auch. Das Flugzeug rollte nur noch mäßig wackelnd auf der Landebahn und verlangsamte sein Tempo so lange, bis es zum Stehen kam. Die folgende, durch den schon bekannten Gong angekündigte Durchsage erklärte den Passagieren die weiteren Schritte, klärte über Weiterflug und Boardingtermin auf und entließ sie schließlich mit dem Wünschen eines angenehmen Aufenthaltes in Singapur aus dem Flugzeug. Mirko und Jack packten sich ihr Handgepäck und folgten dann der Schlange aus dem Bauch des Flugzeugs hinaus.

Ein riesiges, prunkvolles Gebäude tat sich vor ihm auf, als sie vom Flugplatz zum eigentlichen Flughafengebäude kamen. Der gigantische Saal war mit schön gemustertem Boden ausgekleidet und von allen Seiten beleuchtet. Sie folgten dem Passagierstrom und dem “Baggage“ Schild, welches sie mit Rolltreppen zur Gepäckausgabe führte. Dort holten sie ihr Hauptgepäck ab und fuhren mit einer anderen Rolltreppe wieder zurück. Als sie das Arrival Deck verließen und den Aufenthaltsbereich betraten klappte Jack die Kinnlade herunter. Von dem Geländer aus, auf dem sie nun standen, konnte man auf alles hinabsehen. Da waren viele Ecken mit großen Palmen, Büschen, tropischen Pflanzen, dazwischen ein wunderbar hergerichtetes Becken mit schwarz verkleideten Fliesen in denen Kois in allen erdenklichen Farben schillerten. Künstliche Felswände mit Farnen strotzten an den Wänden hervor, sogar ein Wasserfall plätscherte idyllisch vor sich hin, bunte Blumen tauchten alles in Farbe. Dazwischen standen Sessel und Liegestühle. Alles in Allem glich dieser Teil des Flughafens eher einem Tropenhaus als tatsächlich einem Flughafen.

„Was zur…“, stotterte Jack, dessen Augen die Größe von Orangen eingenommen hatten. Mirko grinste zufrieden, klopfte dem Jungen auf die Schulter und beantwortete die nicht gestellte Frage.
„Das mein Lieber, das ist der schönste Flughafen den du je betreten wirst. Aber das was du hier siehst ist erst der Anfang.“ Er seufzte in einem Anfall von Nostalgie. „Ich freue mich jedes Mal wieder erneut über das alles hier. Und bedaure jedes Mal, wenn ich den Flughafen wieder verlassen muss.“
„Ich… verstehe“, stammelte Jack, immer noch überwältigt von diesem Bild. Und er verstand es wirklich. Er fühlte sich, als wäre er gerade in einem 5-Sterne Hotel angekommen.
„Bis zum Boarding bleiben dir noch etwa dreieinhalb Stunden. Die würde ich an deiner Stelle genießen.“ Mirko zwinkerte Jack aufmunternd zu.
Dieser nickte. „Ja. Das werde ich tun.“ Zwar erfreute ihn die Situation des Flughafens, und dass er sich wohl nicht langweilen würde, aber andererseits würde Mirko nun nicht mehr dabei sein. Er kannte ihn zwar noch keine vierundzwanzig Stunden, dennoch drückte es auf seine Stimmung, ihn gehen lassen zu müssen.
‚Ihn gehen lassen zu müssen‘? Hatte er das gerade wirklich gedacht? Eigentlich waren sie nur Bekannte, nicht mehr. Bei Chucky und Sascha, ja, bei ihnen fiel es ihm schwer sie zu verlassen. Aber doch nicht bei einem fremden Mann, den er gerade ein paar Stunden kannte. Er schüttelte innerlich den Kopf.

„Wann musst du los?“
Mirko legte den Kopf in den Nacken und schloss kurz die Augen, eine Geste der Nachdenklichkeit.
„In meinem eigenen Interesse sollte ich so schnell wie möglich zum Hotel fahren. Die Verhandlungen sind bereits morgen Vormittag und ich muss meinen Jetlag zumindest ausgleichen.“ Mirko tat einen Schritt nach vorne, stellte sich ans Geländer und stützte seine Ellbogen darauf ab. Auf Jacks Gesicht machte sich ein klein wenig Enttäuschung breit. „Aber“, fuhr Mirko plötzlich fort, „wenn du möchtest kann ich auch noch eine Stunde hierbleiben. Wir könnten ins Restaurant gehen.“
Jack schaute Mirko erstaunt an. „Das wäre ja wirklich nett. Aber ich denke du solltest dich lieber um dich kümmern, es geht bei dir um weit wichtigeres. Also solltest du lieber gleich fahren.“
Mirko brummte etwas Unverständliches. Dann streckte er seine Arme nach oben und räkelte sich. „Weißt du, eigentlich passt mir das ganz gut. Wenn ich jetzt etwas esse muss ich es nachher im Hotel nicht mehr tun. Das bedeutet, dass ich dann sofort schlafen kann. Es macht also keinen Unterschied, ob ich hier mit dir etwas essen gehe oder mir später im Hotel etwas hole.“
Jack widersprach nicht. Es klang logisch, außerdem wäre er dann nicht allein. Zumindest für eine weitere Stunde.
„Wenn du es so willst, dann ist es mir auch recht“, antwortete er stattdessen. „Kennst du ein gutes Restaurant hier?“
„Gut sind sie alle. Aber da wäre eins, auf das ich gerade möglicherweise Lust hätte.“ Er schaute Jack an. „Magst du Sushi?“
„Ja, total gerne“, beantwortete Jack die Frage, obwohl er erst zwei Mal Sushi gegessen hatte.
„Dann weiß ich einen Laden der dir mit Sicherheit gefallen wird.“ Mirko griff nach seiner tiefschwarzen Aktentasche und sah Jack erwartungsvoll an. „Kommst du?“
„Ähm, ja, klar, tut mir Leid“, stammelte Jack und schulterte seinen Backpackerrucksack. Er realisierte erst jetzt, dass Mirko nur diese eine Aktentasche dabei hatte. Wo waren denn seine Kleidung und der ganze andere Kram? Aus Papier war sein Anzug jedenfalls nicht. Mirko grinste Jack unwissend über dessen Gedanken an und sie schlenderten den Gang entlang, Richtung… Wohin eigentlich? Jack wusste nicht wo sie waren. Er folgte einfach Mirko, der sich auszukennen schien.

„Sag mal“, fragte Jack, „wie oft warst du schon hier? In Singapur meine ich.“ Sie betraten einen Aufzug und Mirko drückte auf die Taste für das Erdgeschoss. Zwei asiatische Geschäftsmänner betraten selbigen ebenfalls.
„Nun“, ging Mirko recht verspätet auf Jacks Frage ein, „einige Male.“
Sehr differenziert, dachte Jack und verzog sein Gesicht aufgrund der erstickten Erwartung einer konkreteren Angabe. „Aha.“

Die beiden Asiaten redeten die Aufzugfahrt über so viel, wie er und Mirko seit sie sich kennengelernt hatten. Jack schnaufte unüberhörbar und erntete einen amüsierten Blick von Mirko, der offensichtlich seine Gedanken gelesen zu haben schien. Als sie das Erdgeschoss erreichten und die kleinen Geschäftsmänner aus dem Osten abgezogen waren, klagte Jack künstlich, indem er sich über „immer diese Japaner“ beschwerte, gleichzeitig aber grinsen musste.
„Japaner? Das waren keine Japaner“, wandte Mirko ein.
„So?“, fragte Jack verdutzt. „Und woher weißt du das?“
„Ich habe zwei Jahre Japanisch studiert, als Nebenfach. Und diese Männer haben kein Japanisch gesprochen, sie hatten auch keine Ähnlichkeit mit Japanern.“
Jetzt stutzte Jack. „Also für mich hören sich alle Asiaten gleich an, und irgendwie sehen sie auch nicht sonderlich unterschiedlich aus“. Mirko lachte und kommentierte dies nicht weiter.
Sie liefen einen breiten Gang entlang, zwischen hübsch dekorierten Sitzoasen hindurch, an mehreren Cafés vorbei und folgten dann einem Schild, auf dem asiatische Buchstaben zu lesen waren. Ein großer, aus naturfarbenen Steinen erbauter Bogen türmte sich vor ihnen auf, als sie am Ende des Gangs ankamen. Sie betraten den Laden, der sich als besagtes Restaurant herausstellte, suchten sich einen Tisch und ließen sich auf die Sitze fallen. Jack erfreute sich gerade noch an der weichen Polsterung der Sitze, als Mirko schon wieder aufstand. Jack sah ihn fragend an.
„Hast du großen Hunger?“, erkundigte sich Mirko.
„Nicht sehr viel, ein bisschen vielleicht.“
Mirko nickte und schlenderte zur Theke. Jack sah sich im Raum um. Es spielte ruhige, - wer hätte es gedacht -  asiatische Musik und das Licht war warm und gedämpft. Die Tische und Stühle waren aus einem dunklen, sehr edel wirkenden Holz und glänzten matt. Auf mittelhohen Holzvorrichtungen, die die Privatsphäre zwischen den Tischen wahrten, standen Vasen mit Bambusstäben darin. Was Jack aber am meisten beeindruckte, war die riesige Aquarienwand, die sich durch das gesamte Restaurant zog. Bunte kleine Fische tummelten sich darin, Garnelen wanderten auf dem Kiesboden herum und Schnecken wandelten vereinzelt an der Glasscheibe entlang. Die Wasserpflanzen wiegten sich leicht im Strom und Jack sah diesem Schauspiel noch einige Minuten zu. Es beruhigte und faszinierte ihn. Er hatte selbst einmal ein Aquarium besessen, für ein paar Jahre. Allerdings war es auf Dauer recht aufwändig zu pflegen, weshalb er es an einen Bekannten verschenkt hatte. Trotzdem erfreute er sich an dem harmonischen Bild des großen Glaskastens an diesem Ort.

„Ist schön hier, was?“, bemerkte Mirko, der wiedergekommen war und sich wieder an den Tisch setzte. Jack stimmte schweigend zu und betrachtete eine kleine Krabbe, die sich unter einem Stein verbarg und sich gerade der Körperpflege widmete. Im Restaurant waren nicht viele andere Leute. Überhaupt war es an diesem Flughafen erheblich ruhiger als bei seinem Startflughafen. Die Atmosphäre glich sich in keinem Punkt. Hier war sie entspannt, ruhig, ja man könnte fast sagen wie im Urlaub. Auf der anderen Seite der Erde, in Deutschland, war Hektik eigentlich das Stichwort schlechthin. Alles war anonym, gestresst, schlecht gelaunt und rücksichtslos. Es waren zwei verschiedene Welten, das wurde Jack schlagartig klar. Und dann musste er lächeln, denn er wusste, warum er diese Reise angetreten war. Er wollte eben diese eine andere Welt sehen. Raus aus dem angespannten Alltag, den Stress, die Sorgen, die Unruhe, all das einmal hinter sich lassen. Natürlich war ihm klar, dass Australien auch kein Paradies war, und dass er auch dort hart würde arbeiten müssen. Aber es war trotzdem ein erheblicher Unterschied, und diesen wollte er mindestens einmal selbst erfahren.
Ein kleiner Mann in schwarzem Anzug wandelte zum Tisch der beiden Männer und servierte jeweils eine gläserne Flasche Sprudelwasser und ein dazugehöriges Glas mit Untersetzer. Er sagte etwas, was Jack nicht verstand und verschwand alsbald wieder. Nach einer Minute tauchte er plötzlich wieder auf und stellte zwei Teller vor sie hin, sowie eine kleine Schale mit Soße.
„Enjoy your meal“, sagte der kleine Mann höflich in gebrochenem Englisch und verbeugte sich kurz. Der  asiatische Akzent war deutlich herauszuhören, irgendwie hörte sich diese Mischung liebenswert an.
„Thank you“, bedankte sich Mirko knapp, und Jack tat es ihm gleich. Der Mann lächelte zufrieden, dabei formten seine Augen die typische Mandelform, und verschwand dann abermals.
Jack betrachtete den Teller vor ihm. Eine Formation farbenfroher Sushiröllchen blickte ihn appetiterregend an.
„Hier“, sagte Mirko und reichte Jack eine kleine Tüte, in der hölzerne Stäbchen enthalten waren. Jack nahm sie lächelnd entgegen und verkündete schmunzelnd, dass er noch nie wirklich mit Stäbchen gegessen hatte. Dennoch packte er sie aus und nach einigen Versuchen, bei denen glücklicherweise nur ein paar Reiskörner auf den Teller hinabrieselten, schaffte er es ohne weitere Probleme die Röllchen zu verspeisen. Als sie fertig waren war Jacks Bauch voll und Mirko sah ihn zufrieden an.

„Wie ich sehe hat es dir geschmeckt“, stellte er fest und lächelte. Jack nickte zustimmend und hielt sich den Bauch. Das Sushi war wirklich hervorragend gewesen. Dann lehnte er sich zur Seite zu seinem Rucksack und kramte sein Portemonnaie heraus. Er schaute zu Mirko herüber und wollte ihn gerade fragen, wie viel das Essen gekostet hat, als ihn dieser verständnislos und ernst ansah.
„Was machst du da?“, fragte Mirko mit einem Blick, den Jack noch nicht kannte und der ihn seine Frage kurz vergessen ließ.
„Ich gebe dir das Geld wieder“, brachte er dann selbstsicher hervor.
Mirko löste sich von seiner ernsten Miene. Er seufzte laut und legte seine Stirn in Falten, ehe er seinen Kopf auf dem rechten Arm abstützte. Jetzt barg sein Gesicht den puren Sarkasmus.
Als könnte Jack sich nicht schon denken, was dies bedeutete, fasste Mirko es schließlich noch in Worte.
„Jack“, sagte er. „Ich habe dich hier her gebracht. Und ich habe dich eingeladen. Und das ist selbstverständlich. Und bevor du es jetzt als nicht nötig abstempelst und wir weiter darüber diskutieren, tu mir den Gefallen und nimm die Einladung einfach an.“
Jack glotzte Mirko perplex an. Aber die Ansage hatte ihre Wirkung keineswegs verfehlt. Er packte sein Portemonnaie zurück in den Rucksack und atmete dann ergeben auf. Schließlich blickte er Mirko in die Augen, nickte zweimal bestätigend und musste dann unwillkürlich anfangen zu lachen. Jetzt war es Mirko der ihn verwirrt anschaute. Er verzog sein Gesicht und verstand den plötzlichen Lachanfall des Jungen nicht. Doch das Lachen war ansteckend, und so folgte er ihm.
Als sie sich beruhigt hatten fragte Mirko, was denn daran jetzt so lustig gewesen sei.
„Das ist einfach cool! Kannst du mir den Text bitte aufschreiben, falls jemand mal eine Einladung von mir nicht annehmen will?“ Mirko zog eine beleidigte Fratze, sein Lächeln dahinter verkrümmte das Ganze zu einer herrlichen Grimasse. Jack zwinkerte ihm neckisch zu und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Jedenfalls“, fügte er dann hinzu, „danke. Für die Einladung“.
„Kein Problem, mache ich gerne“, brachte Mirko schmunzelnd hervor. Dann schaute er auf die Uhr. „So mein Lieber, hier ist es jetzt kurz vor zwei Uhr. In elf Stunden muss ich wieder aufstehen. Ich sollte mich nun auf den Weg machen.“ Jack nickte und sie sammelten ihre Sachen zusammen, Mirko bezahlte und sie verließen das Restaurant.

„Sag mal Mirko, wie kommt es eigentlich, dass du nur deine Aktentasche dabei hast? Du musst doch von irgendwas leben, Klamotten passen da doch auch nicht rein.“
Ein Lächeln schlich sich auf Mirkos Lippen. „Das hat mich noch nie jemand gefragt, interessant dass es dir auffällt. Aber es stimmt, natürlich hab ich da nicht mehr drin als ein paar Papiere, es ist schließlich eine Aktentasche.“ Er lachte kurz und klopfte auf das schwarze Material der  Tasche, als würde er mit dieser Geste bestätigen wollen, dass es um dieses Objekt ging. „Wenn man auf Geschäftsreisen geht, dann wohnt man überall und nirgendwo. Ich habe ein festes Hotelzimmer in Singapur, in Sydney, in Düsseldorf, in Bangkok und in Tokyo. Dort wartet bei jeder Anreise ein Schrank voll mit Hemden und Anzügen und allem anderen auf mich. Mein Privatgepäck schicke ich vor jeder Abreise an den nächsten Ankunftsort, so sind meine Sachen immer schon da, wenn ich eintreffe.“
„Ah“, erwiderte Jack. So war das also.

Sie standen vor dem Ausgang des Flughafens der in Richtung der öffentlichen Verkehrsmittel und Taxis geöffnet war.
„Also dann“, seufzte Mirko. „Es hat mich wirklich gefreut dich kennenzulernen, Jack.“ Er reichte Jack die Hand. Der Händedruck war etwas stärker als der bei ihrem ersten Wortwechsel, und trotzdem angenehm.
„Hat mich auch sehr gefreut“, lächelte Jack. Er mochte Abschiede nicht, sie waren immer so gezwungen und verkrampft. „Danke für alles nochmal.“
Mirko winkte ab. „Denk dran mir eine SMS zu schreiben, damit ich deine Nummer habe. Wär schade, wenn man sich nie wieder sprechen könnte.“
Jack nickte eifrig. „Ich werde es nicht vergessen!“
„Das glaube ich dir.“ Mirko lächelte nun ein letztes Mal, dann drehte er sich um und schritt den Gang entlang, nach draußen. Jack blieb so lange stehen, bis er Mirko aus den Augen verlor. Ein wirklich sympathischer Kerl.

Kapitel 4: Zeitvertreib


‚Allein‘ dachte Jack. Die Tatsache, dass Mirko schon nach so kurzer Zeit wieder fort war, betrübte ihn. Andererseits aber war es ein Zeichen für ihn gewesen, dass es ihm durchaus möglich war, freundliche Menschen zu treffen, auch außerhalb des gewohnten Umfelds. Vielleicht war es ja auch deshalb. Es gab sicher unzählige Leute, die alleine in einem fremden Land unterwegs waren. Aber auch wenn Jack sich der Existenz vieler Dutzend anderer einsamer Australienreisender bewusst war, so schaffte dies nur einen Bruchteil Gewissheit, dass er schnell einen Freund oder eine Freundin zum Reisen finden würde. Eine Freundin? Eigentlich wollte er auf jeden Fall mit männlicher Begleitung den Kontinent erforschen. Dann wäre er weniger eingeschränkt in seinen Handlungen, sie könnten zusammen körperlich anspruchsvollere Leistungen vollbringen und nebenbei blieben ihm nervenaufreibende Frauenkrisen erspart. Wenn er so darüber nachdachte, gab es nur drei weibliche Personen in seinem Leben, mit denen er außerhalb von Arbeit und Schule Kontakt gehabt hatte. Seine Mutter, seine Schwester und Lia, ein Mädchen, das er schon sehr lange kannte. Lia war nur wenige Wochen jünger als Jack und hob sich deutlich von der Mehrheit anderer Frauen ab. Sie war die personifizierte Offenheit, man konnte mit ihr über alles sprechen. Vor allem über Dinge, bei denen andere Mädchen nur künstlich angewidert dreingeschaut hätten und dann mit ihren besten Freundinnen zum Tuscheln um die Ecke verschwunden wären. Lia war nicht so, sie war für Jack und ein paar andere Jungs die vollintegrierte Kumpelperson, zockte tagelang mit ihnen, interessierte sich für die gleichen Dinge und hatte sowieso einen Freundeskreis, der nur aus Männern bestand. Ihr cooles, lockeres Verhalten war es, was man an ihr schätzte… und das, weswegen andere Mädchen sie verachteten und mieden, weil sie so gut mit Jungs klarkam. Eigentlich waren sie nur eifersüchtig. Themen wie Shopping, Maniküre, Pediküre, Gerüchte verbreiten, sowie alle Abstufungen der Farben Violett, Pink und Rosa waren Lia zutiefst zuwider. Diese doch recht eigenwillige Einstellung hatte Jack fasziniert, denn Lia war damit das einzige weibliche Wesen, welches er kannte, was sich in diesen und vielen anderen Punkten vom Rest unterschied. Sie war zum Zeitpunkt seiner Abreise für vier Monate in Kanada, weshalb er sich nicht von ihr persönlich hatte verabschieden können.
Ein schreiendes Baby holte Jack zurück in die Realität. Eine gestresste dunkelhäutige Frau mit zwei Kleinkindern und einem Kinderwagen rauschte an ihm vorbei. Er stand immer noch vor dem Ausgang. Verwirrt sah er dem Gespann hinterher. Dann drehte er auf dem Fuß um und schlenderte langsam zurück in die Richtung aus der sie vorher gekommen waren. Die Uhr teilte ihm mit, dass er noch etwas weniger als drei Stunden Zeit hatte. Die vergangene Dreiviertelstunde mit Mirko war ihm irgendwie länger vorgekommen. Wo sollte er jetzt hingehen? Er erreichte den ersten großen Saal wieder und sah sich zunächst einmal nach Anhaltspunkten zur Orientierung um. Ein riesiges Schild mit dem dreidimensionalen Modell des Flughafens zog seine Blicke auf sich. Er schritt näher heran  und betrachtete die bunte Aufschrift. Ein gelber Stern zeigte seinen aktuellen Standort an, er befand sich in der zweiten Etage. Die eingekreisten bunten Zahlen am Rand zeigten verschiedene Lokalitäten auf. Er sah sich die blau gekennzeichneten Aufenthaltsareale näher an und entdeckte ein recht großzügig markiertes Gebiet in der Nähe seines Gates. Da die anderen hauptsächlich in Restaurantnähe lagen, Jack aber doch jetzt seine Ruhe haben wollte, entschied er sich für das erste und machte sich auch gleich auf den Weg zum Terminal 3.
Nach einer Rolltreppe und wenigen Minuten des Laufens passierte er eine Parfümerie, einen Burger King und erreichte schließlich eine Art großen runden Saal, der zentral zu einem von Palmen und anderen tropischen Pflanzen umrahmten Podium führte. Von den umliegenden Geschäften nahm Jack nichts mehr wahr, als er sich zwischen einem kunstvollen Wasserspiel und einem kleinen Stück Regenwald niederließ. Hier waren ein paar Sessel und gegenüber eine große bogenförmige Bank platziert. Die Luft war angenehm frisch und die Temperatur gleichmäßig warm. Jack schnallte seinen Rucksack ab und ließ sich in einen Sessel fallen, der in der am weitesten hinten liegenden Ecke stand. Er war weich und gemütlich, noch viel gemütlicher als der Stuhl im Restaurant. Sogar eine Kopflehne war vorhanden und man konnte den Liegewinkel einstellen. Außer Jack waren keine anderen Leute hier, was ihm sehr gut passte. Als typischer Einzelgänger hatte er gerne seine Ruhe. Hoffentlich würden keine lauten Touristen diese Ruhe stören, denn er entschloss sich, die nächsten zweieinhalb Stunden hierzubleiben. Aus dem obersten Fach seines Rucksacks kramte er das Buch, in dem er schon vorher die ganze Zeit gelesen hatte. Ein Fantasy Roman, der von Drachen und Völkerkriegen handelte. Er schlug das Buch in der Mitte auf, da wo ein rotes Bändchen die zuletzt gelesene Stelle markierte und fing an zu lesen.

Eine Stunde war vergangen, als Jack feststellte, dass er mal auf Toilette  musste. Irgendwie verärgerte es ihn, er fürchtete, dass ihm jemand den Platz wegnehmen könnte. Nach einigen Minuten des Abwägens der Prioritäten gewann seine Blase aber den ohnehin nicht zu gewinnenden Kampf und Jack packte seine Sachen wieder zusammen. In der vergangenen Stunde war lediglich eine ältere Dame vorbeigekommen, die sich auf der Bank platziert hatte. Sie las in einer Zeitschrift, die aussah wie eine asiatische Version der Bild. Jack musste grinsen, verließ dann aber trotzdem mit einem gewissen Unbehagen seinen Platz. Hoffentlich war die Toilette in der Nähe, sodass er schnell zurück sein würde.
Die Toilettenräume waren tatsächlich nur knappe zwei Minuten entfernt, und so betrat Jack nach etwa fünf Minuten wieder die flache Treppe, die in den ruhigen Abschnitt des Flughafens führte. Er bemerkte von weitem, dass die Alte verschwunden war und freute sich irgendwie, auch wenn sie ihm nichts getan hatte. Alleine war es ihm dennoch lieber. Lächelnd darüber wollte er gerade „seinen“ Platz ansteuern, ging um die Ecke und war im Begriff, sich in den Sessel zu schmeißen, als er fast mit jemandem zusammenkrachte. Noch im Laufen und während er zur leeren Bank starrte hatte er seinen Rucksack von der Schulter gezogen und musste abrupt stoppen, als vor ihm ein Mann stand, der sich gerade hinsetzen wollte. Jack bremste seinen Schwung gerade noch ab und vermied knapp einen Crash, der Mann allerdings fuhr dennoch erschrocken herum und blickte ihn an. Etwas fiel zu Boden oder kippte um, Jack sah es nicht genau, er hielt die Luft an und suchte verzweifelt nach Worten der Entschuldigung.

„Verzeihen Sie bitte, ich habe Sie nicht… Ähm… Exuse me please, I didn‘t see you!“ Erst jetzt wich er einen großen Schritt zurück und sah beschämt zu Boden. Es war doch eigentlich gar nicht seine Art so stürmisch zu sein, warum musste es ausgerechnet jetzt sein? Hier, wo fremde Menschen waren, in einem fremden Land. Ausgerechnet jetzt musste er in diese peinliche Situation geraten. Möglicherweise verstand diese Person nicht einmal Englisch. Reflexartig ging Jack in die Knie und griff nach dem Gepäckstück der Person, dass diese offenbar wegen ihm hatte fallen lassen. Er richtete sich auf und stammelte noch einmal „I’m so sorry…“. Dann streckte er seinem Gegenüber den Rucksack entgegen und hoffte, dieser würde ihn annehmen und nicht anfangen ihn wüst zu beschimpfen.

„Alles okay bei dir?“
Jack erstarrte. Erst jetzt hob er seinen Blick etwas an und sah am Körper der Person hinauf, bis er das Gesicht erreichte und schließlich in zwei leuchtendblaue Augen blickte. Die Hand, in der er den Rucksack immer noch hielt, zitterte. Da stand ein junger Kerl vor ihm, vielleicht so alt wie er, und lächelte ihn mitleidig an. Sein Haar war blond, kurz und strubbelig. Er trug einen stoppeligen Zweitagebart zu Gesicht, seinen Oberkörper zierte ein dunkles Hemd. Um seinen schlanken Hals wandte sich ein schwarzes Lederband mit einem silbernen Drachenanhänger. Sie starrten sich gleichermaßen verwirrt und erstaunt an. Jack blinzelte nicht ein Mal. Seine Augen hafteten auf den blauen Murmeln des Jungen, er hatte den Mund leicht geöffnet, war jedoch unfähig etwas hervorzubringen. Nach einer Weile des Anstarrens zog der Fremde seinen Mundwinkel in die Höhe, neigte seinen Kopf kurz fragend zur Seite und griff dann nach dem Rucksack.
„Danke, das wär nicht nötig gewesen.“
Jack starrte weiterhin perplex auf das Gesicht des Jungen. Er war überhaupt nicht sauer oder irgendwie unfreundlich, im Gegenteil. Es verwirrte Jack. Dann vernahm er ein weiteres Mal, wie der Kerl fragte, ob alles okay mit ihm sei. Diesmal lag eine seltsame Art von Besorgnis in seiner Stimme.
„Ja“, sagte Jack leise. So leise, dass man es bei dem geringsten Geräusch von außen nicht mehr hätte hören können. Aber es war so unglaublich ruhig in diesem Moment. Jack spürte seinen Puls am Hals, kam aber nun langsam wieder auf den Boden zurück. Es erstaunte ihn aber immer noch, dass dieser Kerl Deutsch sprach. Irgendwie wünschte er sich aber plötzlich doch, es wäre ein Asiate gewesen, der ihn nicht verstanden und auch nicht weiter bequatscht hätte. Die Situation war peinlich, und doch lächelte der Typ schon wieder. Es schien ihm nichts auszumachen, dass Jack fast in ihn hineingerannt wäre.
„Tut mir wirklich leid, ich... Ich hatte hier keinen erwartet“, japste Jack, der endlich wieder halbwegs klar denken konnte. „Und es gibt keinen Grund mir zu danken.“
Jetzt schaute der Blonde ihn interessiert an, als wäre Jack ein Untersuchungsobjekt, welches man auf Reaktionsfähigkeit in unvorhersehbaren Situationen testete. Und offenbar war der durchdachte, immer zwei Schritte vorausplanende Jack nicht besonders kompatibel mit Spontanität und Überraschungen. Wieder machte sich ein großes Fragezeichen über seinem Kopf breit, erwartete der Kerl jetzt eine Antwort auf eine nicht gestellte Frage? Ein Schweigen legte sich über die Konversation. Jack schaute nervös zur Seite und fasste gerade den Entschluss zu gehen, als der blonde Bursche auf ihn zukam, kurz vor ihm stehen blieb, sich bückte und Jacks Rucksack packte, dem dieser beim Stopp aus der Hand geglitten war. Wortlos hielt er ihm das große Gepäckteil hin… und lächelte.
Jack stutzte. Dann schüttelte er in einem Anfall der Verzweiflung den Kopf, nahm das schwere Teil entgegen und seufzte. „Das war wirklich nicht nötig. Es war meine Schuld, sorry nochmal.“
Der Blonde biss sich amüsiert auf die Lippe. „Es ist nichts passiert, also zieh nicht so ein Gesicht.“
Jack war das zu viel. Er nickte noch einmal während er tief einatmete, raffte seine Sachen zusammen und wandte sich von dem Typen ab. Er hatte diesem Fremden schon genug Probleme bereitet. Eigentlich wollte er die Plattform direkt wieder verlassen, aber das würde einer Flucht gleichkommen. Und Jack floh nicht gerne vor geschätzt gleichaltrigen Kerlen, das war nun mal sein männliches Ego schuld. Und so setzte er sich an den, von seinem Sitzplatzkonkurrenten am weitesten entfernten Platz den er finden konnte. Erleichtert stellte er fest, dass auch dieser Platz seinen Ansprüchen genügte, und so platzierte er sich wieder in dem Sessel. Weniger vergnügt stellte er fest, dass der Blonde genau in seinem Blickfeld saß. Der Kerl hatte sich doch tatsächlich genau den Sitz geschnappt, den Jack vorher beansprucht hatte. Unverschämtheit, und das in den fünf Minuten die er weg war. Jack nahm sich vor, auf dem Rückflug vorher auf Toilette zu gehen und dann auf seinem Lieblingsplatz zu verharren, bis der Zwischenstopp vorbei wäre. Jetzt jedoch war es zu spät, und zusätzlich war er nun gezwungen den Typen anzusehen. Hoffentlich schaute er nicht herüber.
Jack stellte den Liegewinkel des Sessels ein und zog sein Buch erneut hervor. Dann lehnte er sich zurück und las. Doch wollte es nicht so recht funktionieren. Immer wieder spielte sich die eben erlebte Situation vor seinem inneren Auge ab, gegen seinen Willen. So blätterte er weiter und weiter, überflog jeden Buchstaben, nahm aber nicht ein Wort vom Inhalt auf. Als Jack das bewusst wurde, schloss er genervt die Augen. Er mochte diese selbstständigen Gedanken nicht. Wie viele Male hatten sie ihn schon vor dem Schlafengehen gequält. Er müsste dringend einmal ein klärendes Gespräch mit seinen Gedanken führen, ihre Beziehung war nach so vielen Jahren wohl etwas kompliziert geworden. Ob es wohl so etwas wie Gedankenberater gab? Bei diesem Gedanken musste Jack unfreiwillig grinsen. Dieser doppelt paradoxe Sarkasmus gefiel ihm. Er sollte einmal ein Buch darüber schreiben.
Sein Grinsen verflog recht schnell wieder, als er schon wieder zurückversetzt wurde. Da waren die hellblauen Augen des Jungen, das Lächeln. Er war so freundlich gewesen, trotz Jacks weniger anmutigen Reaktion. Ob er wohl eigentlich sauer gewesen war und nur aus Höflichkeit so nett gespielt hatte? Nein, irgendwie war nicht ein Funke Boshaftigkeit oder Ärger in seinen Augen gewesen. Seine Augen. Wieso dachte er plötzlich so intensiv an die Augen dieses jungen Mannes? Verwirrend, äußerst verwirrend. Jack nahm sich vor, demnächst tatsächlich einen Termin bei einem kompetenten und fachkundigen Gedankenberater zu machen. Irgendwer musste mal Ordnung in seinen Kopf bringen. Mit der rechten Hand fuhr er sich durch das kurze braune Haar und seufzte. Dann hielt er sich wieder das Buch vor die Nase. Was wohl der Blonde gerade machte? Ob er überhaupt noch da war? Jack kämpfte verzweifelt damit, Seite um Seite zu lesen, doch gelingen mochte es ihm nicht. Schließlich erlag er der Versuchung und legte das Buch offen auf seinen Bauch. Nervös wanderten seine Augen durch das Grün zu seiner linken, von seinen eigenen Händen zur Decke und zurück zum Boden. Dann, so unauffällig wie möglich, huschte sein Blick ganz schnell zu dem Jungen gegenüber und wieder weg. Er hatte gerade noch so lange hingesehen, dass er dessen Anwesenheit verifizieren konnte. Da war er also noch. Und er hatte unmöglich bemerken können, wie Jack zu ihm herübergesehen hat. Also startete er einen neuen Versuch, natürlich nur aus reiner Umgebungsanalyse. Jede andere Person hätte er auch kurz betrachtet. Etwas mutiger als zuvor schaute Jack also von seinem Buch aus direkt zu dem Blonden und verharrte diesmal länger bei ihm. Kopfhörer teilten das strubbelige Haar, er hörte also Musik. Gut, das würde ihn mehr ablenken. Bloß nicht ertappen lassen. Sicherheitshalber schweifte Jack nochmal kurz ab, aber der Kerl schien wirklich beschäftigt zu sein. Er stützte seinen Kopf mit der linken Hand ab, mit der anderen schien er etwas zu schreiben, ein Stift bewegte sich über ein Papier. Nach wenigen Sekunden erkannte Jack die Bewegung aber als Zeichenbewegung. Der Stift zog sich schnell und ruckartig über das Blatt darunter, skizzierte er möglicherweise gerade etwas? Zeichnete er Fell oder Haare? Aus eigener Erfahrung wusste Jack, dass es sich um etwas Derartiges handeln musste. Ein Zeichner hat einen Blick dafür. Gedankenverloren sah noch eine halbe Minute von weitem zu, wie der starke Arm den Stift führte, der gesenkte Blick den Strich konzentriert verfolgte und das rechte Bein im Takt der Musik mitwippte. Doch dann traf er seinen Blick. Der Junge hatte von seinem Block aufgesehen, hatte Jacks Beobachtung so direkt und schamlos aufgedeckt, dass dieser unwillkürlich wegschaute, sich hektisch sein Buch krallte und die Nase darin vergrub. Verdammt nochmal, was war ihm denn eingefallen diesen Typen so lange anzustarren. Es ist doch allgemein bekannt, dass man Beobachtungen im Nacken spürt. Wie hatte er nur so naiv sein können. Das war nicht nur peinlich, das war höchst unangenehm! Was dachte der Typ jetzt bloß von ihm, Männer betrachteten andere Männer nicht. Höchstens wenn man Mordgedanken hatte und sie visuell an dem Betroffenen ausleben wollte. Nein, das war nicht gut, er hatte außerdem viel zu offensichtlich reagiert.
Zeile für Zeile rauschte er die Seite hinunter, diesmal war sogar das Aufnehmen der zusammengesetzten Buchstaben zu einem einzelnen Wort ein Problem für Jack. Etwa zehn Minuten ratterten sämtliche Szenarien und Gedankengänge in seinem Hirn hin und her und seine innere Unruhe hätten wohl auch Außenstehende jetzt einfach von ihm ablesen können. Diesmal unabsichtlich glitt sein Blick über den Rand des Buches hinweg und streifte ihn. Er hatte die Augen geschlossen, lag weit zurückgelehnt im Sessel und umklammerte mit seinen Händen den Block. Sein Kopf wurde nach wie vor von den Kopfhörern umrahmt, seine Füße allerdings lagen still übereinander gekreuzt da. Dass er so ruhig dalag beruhigte Jack. Offenbar hatte er es längst vergessen, oder aber es störte ihn einfach nicht. Was es auch war, bevor sich das Missgeschick wiederholte sah Jack wieder auf sein Buch. Er blätterte acht Seiten zurück und las nochmal. Und diesmal nahm das Buch ihn wieder gefangen.

Kapitel 5: Down Under

 
Jack schaute auf seine Uhr. In einer halben Stunde ging es wieder zurück zum Flugzeug, dann würde er endlich den letzten Abstand zu seinem Ziel hinter sich lassen und seine eigentliche Reise beginnen können. Er war sich unschlüssig, ob er jetzt schon losgehen oder noch etwas warten sollte. Das Buch hatte er fast durchgelesen, die restlichen Kapitel wollte er sich für den Flug aufsparen. Die Hände über dem Bauch zusammengefaltet saß er weit zurückgelehnt im Sessel und sah zur Decke. Das Licht war gedimmt, weit nicht so hell wie in der Eingangshalle, viel wärmer und angenehmer. Mirko hatte sicherlich Recht gehabt, Singapur besaß wirklich einen sehr schönen Flughafen. Schade eigentlich, dass Jack nichts von der Stadt gesehen hatte. Aber die Zeit hätte sowieso nicht ausgereicht, und außerdem bestand noch die Möglichkeit, auf dem Rückflug einen längeren Zwischenstopp zu machen, vielleicht ein paar Tage oder eine Woche. In den zwei Jahren würde er genug Zeit haben, darüber nachzudenken. Wie es wohl Chucky und Sascha ging? Jack hatte versprochen sich zu melden sobald er in Darwin angekommen war.
Ein paar Minuten dümpelte Jack weiter in Gedanken. Dann verstaute er sein Buch in dem Rucksack und sah erneut auf die Uhr. Immer noch zwanzig Minuten. Jack seufzte und setzte sich auf. Er würde einfach langsam gehen, dann käme er schon pünktlich an, ohne lange warten zu müssen. Den Rucksack schulternd sah sich routinemäßig noch einmal um, um festzustellen ob er etwas vergessen hatte und schritt dann voran. Ein kurzer Blick zur Seite, der blonde Kerl saß immer noch da. Wieder trafen sich ihre Blicke, diesmal jedoch störte es Jack nicht. Es war schließlich normal jemanden anzusehen, der an einem vorbeilief. Außerdem würde er ihn sowieso nicht mehr sehen. Ganz langsam schlenderte er an den anderen Sitzen vorbei. Die blauen Augen des Jungen blitzten aus der Ecke auf, aber Jack schaute sofort weg und ging weiter. Allerdings verspürte er dieses eine, bestimmte Gefühl und seine Nackenhärchen stellten sich auf. Hatte der Kerl ihm nachgeblickt? Immerhin hatte Jack nicht gesehen, dass er seine Augen abgewandt hätte. Na ja, selbst wenn es so war, war es auch nur normal. Warum machte er sich überhaupt so viele Gedanken.
Nahezu mit perfektem Timing kam Jack am Terminal 3 an. Er musste keine Minute warten, als schon die Durchsage zum Boarding seines Fluges in verschiedenen Sprachen durch den Saal hallte. Die Anzahl der anderen Fluggäste hielt sich in Grenzen, er hatte mehr erwartet. Das Boarding ging ruhig vonstatten, und schon bald saß Jack wieder auf seinem Platz im Flugzeug. Wenigstens war dieser reserviert und konnte ihm nicht weggenommen werden. Die nächsten zwanzig Minuten starrte er aus dem stehenden Flugzeug und wartete ab, ob der leere Platz neben ihm noch besetzt werden würde. Die alte Frau vom ersten Flug hatte sich zu Jacks Leiden neu parfümiert. Aber bis zum Start blieb der Platz neben ihm leer, und damit fand er sich ab. Vielleicht war es besser so, dann war er nicht mit einem neuen Fremden konfrontiert. Denn so viel Glück konnte er nicht haben, dass er nochmal jemanden wie Mirko neben sich sitzen haben würde.
Der Start verlief  wie der vorige, doch anders als zuvor wusste Jack nun, wie es sich anfühlte und war daher auch weniger geschockt.
In den ersten drei Flugstunden passierte nichts Außergewöhnliches. Jack las sein Buch zu Ende und hörte dann hauptsächlich Musik. Als die letzte Flugstunde anbrach, fing es jedoch an in Jacks Innerem zu kribbeln. Seine typische Aufregung machte sich in ihm breit und kam nicht umher, nervös mit dem Bein auf und ab zu wackeln und auf dem Sitz hin und her zu rutschen. Er konnte irgendwie nicht glauben, dass er so ganz plötzlich auf einem anderen Kontinent sein würde. Die weiteste Strecke, die er bisher zurückgelegt hatte, war nach Spanien. Zwei Mal war er mit Chucky und Sascha mit einer Reiseorganisation in Bussen zur Costa Brava hochgefahren. Zwanzig Stunden hatte der Trip mit Zwischenstopps gedauert, und er war weit unbequemer als dieser hier im Flugzeug. Trotzdem war Jack einer der sehr sparsam gestreuten Reisegäste gewesen, die sich nicht vorher oder im Nachhinein über den mangelnden Komfort beim Schlafen in den Bussitzen beschwert hatten. Er war anpassungsfähig und mochte außerdem lange Fahrten ganz gerne. Da konnte man sich viel Zeit für eine Sache nehmen und den Ort wechseln, ohne etwas dafür tun zu müssen. Solange man nicht selber fuhr, versteht sich. Was das anging musste Jack sich sowieso noch keine Gedanken machen, er besaß noch keinen Führerschein. Warum mit neunzehn Jahren noch keinen Führerschein? Anders als viele andere in seinem Alter hatte Jack keine Familie, die in Geld schwamm und ihm den Lappen bezahlte, wie es bei sämtlichen Mitschülern von ihm der Fall gewesen war. Er hatte nie den Sticheleien nachgegeben, sondern beharrte immer auf seinem Plan, lediglich für Australien zu sparen und sich bis dahin nichts Größeres mehr zu leisten. Den Plan hatte er durchgezogen, und bereuen tat er es auch nicht. Es wäre zwar sicher nützlich gewesen, im Outback einen stabilen Wagen zu haben, allerdings hatte er weder das Geld noch wirklich die Not dazu. Den Schulweg war er ohnehin bis in die 13. Klasse mit dem Bus gefahren. Für den Führerschein hatte er noch Zeit, wenn er wieder in Deutschland war. Seinen Recherchen zufolge gab es in Australien außerdem eine Vielzahl an öffentlichen Verkehrsmitteln, mit denen er fahren konnte. Und sollte er wirklich einmal in eine abgelegene Ecke reisen wollen, würde er sicher jemanden mit entsprechenden Mitteln ausfindig machen.

Das Flugzeug näherte sich dem roten Kontinent immer weiter. Über dem Meer unter ihm erhob sich die aufgehende Sonne und malte die schäumenden Wellen orange an. Zu Hause war es jetzt etwa drei Uhr, hier dagegen musste es einige Stunden später sein. ‚Zwölf Uhr‘, dachte Jack. Dann würde er, laut Mirkos Aussage, in Darwin ankommen. Seine Knochen waren mit der Zeit doch schwer geworden, er fühlte sich wie nach drei Tagen am Schreibtisch. Schmerzende Glieder, ein dicker Kopf und Müdigkeit in den Augen. Wie schlimm würden bei ihm wohl die Auswirkungen des Jetlags sein? Man hatte ja schon von Leuten gehört, die nach einem Flug plötzlich erkrankt oder gar zusammengebrochen waren. Obwohl Jack sich sicher war, dass diese Optionen einer Auswirkung für ihn ziemlich unwahrscheinlich waren, denn sicher handelte es sich dabei um ältere Menschen, hatte er zumindest das Gefühl, dass er um Kopfschmerzen und Müdigkeit nicht herumkommen würde.
Nach weiteren zwanzig Minuten und einer Durchsage befanden sie sich im Sinkflug. Nur noch eine halbe Stunde bis sie Darwin erreichen würden. Das Kribbeln in Jacks Magengegend wurde heftiger und breitete sich langsam über seinen ganzen Körper aus. Wie würde wohl sein erster Eindruck von Australien sein? Würde die Großstadt sich vielleicht gar nicht so gravierend von anderen Großstädten in Deutschland unterscheiden? Wie warm war es wohl gerade draußen? Sowohl das Flugzeug als auch der Flughafen waren ständig klimatisiert gewesen. Bei seiner Abfahrt hatte die Sonne geschienen und es war warm gewesen, also würde wenigstens der direkte Temperaturunterschied nicht extrem sein.
Mittlerweile war das Meer unter ihnen heller geworden, das Azurblau leuchtete hell über dem Sandboden. Je näher sie der Küste kamen, desto klarer wurde das Wasser, und schließlich sah Jack die Umrisse des Festlandes. Zunächst noch verschwommen, doch relativ bald erreichten sie die Grenze zwischen nass und trocken und man konnte genaue Strukturen erkennen. Schiffe und Segelboote durchschnitten die Wellen und ließen weiße Streifen zurück, ein paar Hochhäuser strebten zum Himmel und die Küstenränder waren mit saftigem Grün übersät. Häuser standen dicht nebeneinander gereiht, mal mehr, mal weniger. Schnell zogen sie über dieses Gebiet hinweg und gingen dabei immer niedriger. Eine letzte Durchsage wiederholte die Sicherheitsmaßnahmen und dann folgte die Landung.

Als Jack das Flugzeug verließ, spürte er weder besondere Wärme noch sonst irgendetwas, das anders wäre. Dies lag allerdings daran, dass die Flugzeugtür und den Flughafen eine Art Röhre verband, die es erst einmal zu passieren galt. Als er dann im Flughafen stand, kam er sich wieder etwas größer vor. Das Gebäude war im Vergleich zu Singapur winzig, besaß nur zwei Etagen und alles war viel kleiner und leicht zu überblicken, allerdings stauten sich auch viel mehr Leute auf dem engen Raum und es war auch wesentlich lauter. Schnell hatte Jack das Gepäckband ausfindig gemacht und schob sich an der Menge vorbei, welche in alle Himmelsrichtungen zerfloss. Unmittelbar vor dem Gepäckband hatte sich ein Tropf aus Leuten gebildet, die alle um ihre Taschen und Koffer kämpften. In Jacks Ohren hallten die verschiedensten Sprachgewirre wider. Englisch, einige der viel zu zahlreichen asiatischen Sprachen die sich sowieso alle gleich anhörten, Spanisch, Französisch und ein paar andere, die er nicht zuordnen konnte. Ein großgewachsener, breitschultriger Mann mit grimmiger Miene drückte sich unsanft an Jack vorbei und riss ihm dabei fast den Rucksack von der Schulter. Dabei fluchte er irgendwas und stampfte, nachdem er sich seinen Koffer gekrallt hatte, von dannen. Jack warf ihm einen irritierten Blick nach, war dem Fremden aber nicht böse. Vielleicht war er in einer stressigen Situation und musste ein Taxi kriegen oder etwas Ähnliches. Geduldig wartete Jack bis er an seinen Rucksack kam und konnte es kaum erwarten, dem Tumult zu entkommen. Eher schleppend kämpfte er sich dann bis zum Ausgang vor, hier würde er gleich hinaustreten in die Sonne Australiens. Zwei große Glastüren trennten ihn noch von der Außenwelt. Kurz blieb er etwas abseits stehen und wartete, bis die meisten Menschen das Gebäude verlassen hatten. Da lief sogar die alte Frau mit ihrem tief in Falten gelegtem Gesicht und einem Köfferchen auf Rollen. Ihr violetter Vogelhut wippte bei jedem kleinen Schritt auf und ab und stach sogar inmitten der Menschenmassen sofort ins Auge. Ob sie sich wohl schon neu parfümiert hatte? Jack schmunzelte. Ein kleiner Hund bellte ihn von der Seite an, der Besitzer wies ihn allerdings sofort mit strengen Worten zurecht und zog den Kläffer an der Leine hinter sich her. Die Leute, die den Flughafen betraten waren leicht bekleidet. Frauen trugen lockere Kleider und die Männer T-Shirts oder Hemden. Die Eingangshalle hatte sich etwas geleert und auch Jack zog die Neugier nun endlich nach draußen. Er ging geradewegs auf die Glastür zu und passierte sie mit großen Schritten und einem Gefühl der Euphorie. Warme, trockene Luft schlug ihm entgegen. Er atmete tief ein, sog die Luft durch seine Nase und stieß sie aus dem Mund wieder aus. Es roch nach süßen Früchten und Blättern. Ein Windstoß fuhr unter dem Vordach aus Beton her und trug die sonnenerwärmte Luft in den Schatten hinein. Ein anderer Passagier, der sich an Jack vorbeischlängelte murmelte irgendetwas Unverständliches und erinnerte Jack daran, dass er nicht unbedingt im Eingang stehenbleiben sollte. Etwa dreißig Meter weiter entdeckte er ein paar Pflanzenkübel in denen Palmen sich der Sonne entgegenreckten. Dahinter schien ein riesiger Parkplatz zu sein. Jack machte sich auf zu den Kübeln, und als er aus dem Schatten trat knallte ihm schlagartig eine Kostprobe des australischen Klimas entgegen. Es war unglaublich hell und unter dem dunklen Hemd spürte er seine Haut sich ausdehnen. Jack erreichte den übergroßen Topf und stellte seinen Rucksack daneben ab. Er war am Ziel seiner Reise angekommen, gleichzeitig stand er aber am Anfang einer noch viel größeren, spektakuläreren Reise. Sein zweijähriger Trip sollte nun hier beginnen, hier, am Flughafen von Darwin im Norden Australiens. Doch vor allen Abenteuern galt es zunächst einmal eine vorläufige Unterkunft zu finden. Schon zu Hause hatte sich Jack ein paar Adressen von Hostels notiert, die in der Nähe von Darwins Innenstadt zu finden waren. Da er sich die jeweiligen Adressen erst einmal selbst ansehen wollte, hatte er aber noch nicht im Voraus gebucht. Die Rezensionen anderer Backpacker im Internet gingen, was die Unterkünfte betraf, doch ziemlich auseinander. Jacks Ansprüche waren nicht allzu hoch, immerhin würde er nur zum Schlafen und Duschen die Leistungen des Hostels in Anspruch nehmen. Nichtsdestotrotz wollte er die nächsten paar Tage nicht in einer völlig heruntergekommenen Bruchbude verbringen, daher war Vorsicht angebracht. Aus seiner Hosentasche fischte er sein Handy und schaltete es ein. Ein paar Sekunden brauchte es, dann leuchtete der Bildschirm auf und Jack tippte die PIN-Nummer ein. Seine Uhr zeigte kurz nach vier Uhr Nachts an. Er musste sie noch auf die australische Zeit einstellen, aber das würde er später machen. Über eine Notiz-App öffnete er ein Dokument, bei dem er Name des Hostels, Adresse, Preis pro Nacht, durchschnittliche Bewertung und Nähe zur Innenstadt Darwins notiert hatte. Zusätzlich hatte er sie nach der Nähe zum Flughafen sortiert, sodass er ohne Umschweife solange suchen konnte, bis er sich für ein Hostel entschieden hatte. Vielleicht würde er auch einen Taxifahrer fragen, ob er einen Insidertipp wüsste. „Banyan View Lodge“, murmelte Jack vor sich her und betrachtete die Daten zu diesem Hostel. Die Bilder im Internet hatten gut ausgesehen, sogar ein Pool war vorhanden. Es handelte sich außerdem um ein reines Backpacker Hostel, was bedeutete, dass ausschließlich Reisende mit Visum dort Unterkunft fanden. Dort würde er bestimmt ein paar nette Leute in seinem Alter kennenlernen.

„Entschuldigung?“
Jack wäre vor Schreck fast sein Handy heruntergefallen. Er drehte sich herum und starrte entsetzt in das Gesicht von…
„Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Aber ich schätze, jetzt sind wir quitt.“
Da waren sie plötzlich, am helllichten Tag in der australischen Mittagssonne und strahlten ihn an. Die zwei blauen Augen, die zu jemanden gehörten, an den Jack sich noch gut erinnern konnte: Der blonde Typ vom Flughafen in Singapur. Was machte der denn hier? Jacks Kopf dampfte, das lag nicht nur an der Sonne, an die er sich erst noch gewöhnen musste. War der Kerl ihm etwa gefolgt? Nein, mit Sicherheit nicht, das würde niemand tun. Aber warum trafen sie sich hunderte Kilometer weiter als bei ihrer ersten Zufallsbegegnung wieder? Der Typ ließ Jack nicht die Zeit, sich weitere Fragen über dieses mysteriöse Ereignis zu stellen. Er trat vor ihn und streckte seine Hand aus.
„Chris.“
Verdattert bewegte Jack langsam seine Hand in Richtung der des Jungen, sein Blick verharrte aber stur auf dessen Gesicht.
„Jack. Das nenn ich Zufall.“ Langsam löste er sich von dem Schock und lächelte den Kerl zum ersten Mal an.
„Ist es wirklich Zufall, dass das Flugzeug in dem zwei Personen sitzen denselben Zielflughafen hat?“ Der Blonde, Chris hieß er wohl, grinste in sich hinein und amüsierte sich offenbar über Jacks Reaktion. Letzterem kam diese Situation irgendwie bekannt vor.
„Gleiches Flugzeug? Warst du etwa auch in dem Flieger?“ Jetzt stand Jack auf und richtete sein Hemd, während er sein Gegenüber fragend ansah. Er war etwas größer als Jack, nicht viel, aber es machte sich doch bemerkbar.
„Der Flug von Singapur nach Darwin, ja. Ich hätte dich auch noch darauf angesprochen als du in Singapur warst, aber du schienst sehr in dein Buch vertieft zu sein. Und als ich dann beschlossen hatte dich zu fragen warst du schon auf dem Weg an mir vorbei.“ Er zuckte mit den Schultern und sah sich um.
„Ah“, sagte Jack vorsichtig. „Und ähm, was führt dich nach Australien?“
„Wenn ich mir dein Gepäck so ansehe, wahrscheinlich das gleiche wie dich.“ Er deutete beiläufig mit einem Nicken zu Jacks Backpacker-Rucksack.
„Du machst auch Work and Travel?“
„Sieht ganz so aus“, lachte Chris. Auch er hatte ein beachtliches Gepäckstück auf den Schultern sitzen. Zwei Gurte klammerten sich um den schlanken Körper des Jungen. „Das erste Mal in Australien?“
Jack nickte und stemmte einen Arm in die Hüfte. Die Situation kam ihm ziemlich kurios vor. Auch erinnerte er sich plötzlich an seinen Ausrutscher am Flughafen, als er den Kerl so lange angestarrt hatte. Eigentlich war er sich sicher gewesen, ihm nie wieder zu begegnen, und jetzt stand er hier vor ihm.
„Ich auch“, behelligte Chris mit einem Tonfall, der von guter Laune zeugte. „Wie lange hast du vor zu bleiben?“
„Zwei Jahre sind geplant. Du?“
„Hm, nicht schlecht. Ich habe vor nur eins zu bleiben, danach will ich studieren.“
Irgendetwas an diesem Gespräch störte Jack. Es war so oberflächlich, obwohl das prinzipiell ja nichts Außergewöhnliches war, wenn man sich gerade zum ersten, na ja, zum zweiten Mal unterhielt. Einige Autos fuhren vom Parkplatz und glänzten so stark in der Sonne, dass Jack die Augen zukneifen musste. Er drehte sich zu seinem Rucksack und schaute dann erneut auf sein Handy, das ihm allerdings nichts Neues erzählte.
„Wartest du auf jemanden der dich abholt oder warum sitzt du hier am Parkplatz?“ Dieser Chris schien wirklich neugierig zu sein.
„Nein, ich bin alleine hier. Wollte nur mal raus aus der Menge und musste kurz die Adressen einiger Hostels raussuchen.“
„Ah, dann hast du noch nichts gebucht?“ Wieder schüttelte Jack den Kopf.
„Ich will mir die Gebäude erst einmal selbst anschauen, bevor ich mich für eins entscheide.“
„Verstehe“, sagte Chris. „Suchst du eins in der Innenstadt von Darwin?“
„Ja.“
„Schon mal was von dem ‚Banyan View Lodge‘ gehört? Das liegt direkt im Zentrum und ist extra für Backpacker. Dem wollte ich mal einen Besuch abstatten, wenn du möchtest kannst du ja mitkommen.“ Jack schaute auf, als er den Namen hörte. Das Banyan wollte er laut seinem eigenen Plan als erstes abklappern. Ob es wohl so bekannt war, dass jeder Backpacker zuerst dorthin ging?
„Ja, schon davon gehört. Im Internet hatte es gute Bewertungen.“
„Na worauf wartest du dann noch?“ Mit seinen Murmeln sah Chris Jack erwartungsvoll an, diesem stand die Verwirrung auf die Stirn geschrieben. Da kam also einfach ein anderer Backpacker daher, der zufällig die gleiche Sprache sprach und den er zufällig schon einmal vorher gesehen hatte und forderte ihn auf, mit ihm zu einem Hostel zu fahren. Dass es so einfach werden würde, neue Bekanntschaften zu schließen, hätte Jack nicht gedacht. Aber statt sich über diese Paradoxa zu beschweren, sollte er vielleicht einfach einwilligen. Vermutlich würde der Typ sowieso nicht eher nachlassen, als bis er mitkommen würde. Außerdem war es unglaublich schwer seinen Augen auszuweichen, und würde er jetzt ablehnen, müsste er eine Zeitlang beschämt in irgendeine Ecke starren und wäre im Endeffekt doch wieder alleine. War es nicht eigentlich sogar sein Plan gewesen, neue Bekanntschaften zu machen? Jetzt bot sich ihm die Chance, und statt dankbar zu sein dachte er auch noch darüber nach.
„Warum eigentlich nicht“, seufzte Jack und versuchte dabei irgendwie fröhlich zu klingen. Er schob das Handy in die Hosentasche und raffte seine Sachen zusammen. Dabei konnte er noch sehen, wie das Lächeln auf dem Gesicht des Blonden sich zu einem triumphierenden Grinsen ausdehnte.
„Wir können mit dem Taxi hinfahren, das ist für mehrere Personen günstiger als die Busverbindung.“
„Können wir machen“, schnaufte Jack als er den Rucksack auf seine Schultern hievte. Da war wohl jemand auch ziemlich gut informiert. Als er alles beisammen hatte drehte er sich zu Chris um, der war schon wieder auf dem halben Weg zum Flughafeneingang, denn dort standen die Taxis. Jack musste sich sputen um hinterherzukommen und dackelte brav hinter ihm her. Sie erreichten ein Taxi, dessen Fahrer gerade Pause machte und rauchenderweise an der Tür lehnte. Kurz blieben sie stehen, dann jedoch lief Chris einfach weiter und machte einen Bogen um das Auto.
„He, wo läufst du hin?“, fragte Jack aufgebracht, denn er wollte gerade schon den Fahrer ansprechen.
„Ich hasse Rauch“, raunte Chris und lief schnurstracks weiter. „Kann ihn einfach nicht ausstehen.“ ‚Wie bei mir‘, dachte Jack und wollte diesen Gedanken gerade aussprechen, als Chris schon den Kopf durch das Fenster eines anderen Taxis gesteckt hatte und mit dem Mann darin redete. Jack blieb zwei Meter entfernt stehen und wartete. Dann stieg der Fahrer aus und ging zum Kofferraum, öffnete ihn und nahm Chris‘ Gepäck entgegen.
„Gib ihm deinen Rucksack“, rief Chris Jack zu und verschwand kurzerhand durch die linke Tür des gelben Autos. Jack nickte und tat wie ihm geheißen. Dann nahm er neben Chris Platz und schnallte sich an.
„Was hast du den gerade gefragt?“
„Ob er weiß, wo das Banyan liegt und wie viel es bis dorthin kostet.“
„Und?“
„Ist bezahlbar.“
„Hm. Und wie lange fahren wir?“
„Dreizehn Kilometer, fünfzehn bis zwanzig Minuten.“
Der Fahrer stieg ein, tippte auf einigen Knöpfen herum und startete den Motor. Nachdem sie vom Flughafengelände herunter waren ging es zunächst fünf Minuten nur geradeaus, auf einer zweispurigen Straße, die von einer Barriere aus Bäumen, Palmen und tropischem Gebüsch umrahmt war. Es erinnerte jetzt schon nichts mehr an Deutschland. Als auf der rechten Seite ein McDonalds Schild zwischen buschigen Palmen aufragte, musste Jack lachen. Das sah man sonst nur in amerikanischen Filmen. Dann ging es vorbei an vielen kleinen Seitenstraßen, die Zugang zu vielen kleinen quadratischen, weißen Häusern verschafften. Sie standen wie Soldaten aufgereiht im immer gleichen Abstand zueinander da und ließen sich von der Sonne bescheinen. Es folgten ein paar ältere Hütten am Straßenrand, dann bogen sie an einer Kreuzung ab und fuhren auf eine noch breitere Straße. Wieder gab es fast nur Pflanzen und ein paar Reihenhäuser zu sehen.
„Also bist du auch alleine unterwegs?“, fragte Jack während er aus dem Fenster guckte und australische Autos begutachtete.
„Jap“, antwortete Chris. „Ich wollte mal etwas Ruhe vom Alltag haben und etwas aus eigener Verantwortung heraus starten. Zuerst wollte ich meinen Freund mitschleppen, aber der hat jetzt einen Ausbildungsplatz bekommen.“
„Deinen Freund?“, fragte Jack und schaute weiter aus dem Fenster. Er war sich plötzlich nicht sicher, unter welchem Aspekt er diese Frage gestellt hatte. Chris sah Jack an und zögerte kurz.
„Ja, mein bester Freund. Warum bist du alleine gefahren?“
Jack atmete auf. Chris hatte seine Frage nicht falsch aufgefasst. Er zupfte an seiner Hose herum und erzählte dann die Geschichte von dem Jungen der so plötzlich abgesprungen war. Chris zeigte dafür offenbar kein Verständnis, er verzog sein Gesicht während der Erzählung zu einer Grimasse, als wollte er diesem ‚Dennis‘ mal eine Standpauke zu seinem Verhalten halten. Als Jack fertig war legte er seine Stirn in Falten. Dann jedoch verschwanden diese wieder so schnell wie sie gekommen waren und machten einem aufmunternden Lächeln Platz.
„Im Hostel wirst du mit Sicherheit ein paar coole Leute treffen. Vielleicht sogar einen, der sich mit dir zum Reisen zusammentut. Oder eine. Oder mehrere.“ Das Lächeln auf dem Gesicht des Jungen war ansteckend. Jack wunderte sich zwar nach wie vor, warum der Fremde so nett zu ihm war und ihm sogar ermutigende Worte vermittelte, obwohl sie sich nicht einmal wirklich kannten, die Bemerkung bestärkte ihn dennoch. Vielleicht wäre es ja wirklich einfacher als er dachte, jemanden zu finden, mit dem er seine Reise teilen konnte. Der Taxifahrer, der sich entweder als nicht gesprächig oder als sehr rücksichtsvoll herausstellte, denn er störte die kurzen Gespräche der beiden jungen Männer nicht durch irgendeine Form von Reden, fuhr den Wagen wieder um eine Ecke. Man sah nun die ersten Geschäfte und größere Gebäude durch die Frontscheibe. Der Verkehr nahm zu, je weiter sie in den Ort vordrangen. Rechts befand sich ein Elektronikfachgeschäft, daneben ein Barbecue-Restaurant und noch ein paar Meter weiter eine Art offene Garage, die auf einem ausgeblichenen Schild importierte Möbel anpries. Nach einer ganzen Reihe Fressbuden thronte an einer Ecke ein Gebäude, welches die Aufschrift „Sexyland Megastore“ enthielt. Darunter prunkte der Schriftzug „Darwins Largest Range of Adult Products“ in violetter Schrift. Eine dicke Frau mit schwarzen Locken folgte einem kleinen Mann, der seine Hand in ihrer Arschtasche vergrub in das Geschäft. Jack verdrehte die Augen und versuchte sich nicht vorzustellen, was diese zwei bizarren Gestalten dort zu finden hofften. Allgemein machte der Ort aber einen recht netten Eindruck. Zwar war alles etwas farblos und nicht einmal ansatzweise so modern ausgestattet wie in Deutschland, aber damit hatte Jack auch nicht gerechnet. Das Vergleichen zweier völlig unterschiedlicher Länder war ohnehin eine Sache, die es zu unterbinden galt, wenn man sich dem Charme dieser Stadt gänzlich hingeben wollte. Man müsste sie erst einmal kennenlernen, bevor man darüber urteilte. Die Menschen, an denen sie vorbeifuhren, sahen jedenfalls alle recht glücklich aus, Kinder strahlten über das ganze Gesicht und Erwachsene schlenderten gemütlich an den vielen kleinen Läden vorbei. Nirgends erblickte Jack eine Person, die schneller als nötig ging oder gar gehetzt durch die Straßen lief. Stress schien hier ein Fremdwort zu sein. Sie hielten an einer Ampel und sahen den Passanten beim Überqueren der Straße zu. Auch dieser Vorgang wurde nicht unnötig schnell getätigt, die Ampel blieb so lange grün, bis alle auf der anderen Seite angekommen waren. Und noch etwas länger. In der Heimat wäre jeder Taxifahrer jetzt schon rot angelaufen und hätte zähneknirschend über die deutsche Verkehrsregelung gewettert. Nicht so hier, der Fahrer schaute entspannt auf die Zeitung, die offen auf dem Beifahrersitz lag und ließ den Ellbogen locker aus dem geöffneten Fenster hängen. Bei der Anfahrt wehte eine Woge warmer Luft durch das Fenster hinein und strich Chris und Jack durch die Haare. Es fühlte sich an wie im Urlaub. Jack hörte Chris tief einatmen und sah zu ihm hinüber. Er hatte seine Augen geschlossen und lehnte mit dem Kopf am Fenster, die Nase gehoben, um jede Brise von draußen einfangen zu können. Die Hände lagen locker ineinander gehakt auf seinen Beinen, an Unter- und Oberarmen zeichneten sich die Konturen seiner Muskeln ab. Der Brustkorb hob und senkte sich in gleichmäßigen Abständen, und lediglich das Ruckeln des Taxis brachte ein Minimum Unruhe in das Bild dieses Jungen. Jack betrachtete ihn nur aus dem Augenwinkel, er sollte sich nicht wieder beobachtet fühlen. Sie fuhren jetzt in einem undurchschaubaren Muster, und der Wagen bog um fast jede Ecke, der sie sich näherten. Zum ersten Mal seitdem sie eingestiegen waren, äußerte sich der Fahrer und teilte mit, dass sie gleich da waren. Da Chris seine Augen jetzt wieder geöffnet hatte, schaute Jack wieder aus dem Fenster, zählte Palmen und analysierte die Menschen auf den Gehwegen. Das Taxi fuhr nun in eine Einbahnstraße und wurde langsamer, bis es schließlich vor einem länglichen Gebäude stoppte. Der Fahrer öffnete die Tür und stieg aus, Chris und Jack taten es ihm nach. Er überreichte ihnen ihr Gepäck und bedankte sich, nachdem Chris den berechneten Betrag gezahlt hatte.
„Ich gebe dir die Hälfte gleich zurück, wenn wir drinnen sind, okay?“, fragte Jack. Chris nickte zustimmend und sie sahen noch zu, wie das Taxi wendete und dann, eine Staubwolke über dem Kiesweg hinterlassend, davon fuhr.

Kapitel 6: Erste Unterkunft


Die Hoffnung, dass das Gebäude vor dem sie nun standen auch innen den Bildern im Internet entsprach, wurde dadurch bestärkt, dass es schon von außen einen hohen Wiedererkennungswert aufwies.
„Glaubst du, die haben noch Plätze frei?“, fragte Chris, ohne dabei jegliche Art von Zweifel oder Pessimismus äußern.
„Wäre ärgerlich wenn nicht“, mutmaßte Jack. Das nächste Hostel war zwar nicht weit entfernt und wäre sogar mit einem etwas längerem Fußmarsch erreichbar, dennoch wäre es natürlich vorteilhaft, direkt hier bleiben zu können, zumal das Banyan View Lodge wirklich schön aussah. Die Fassade war weiß gestrichen und hatte knapp unter dem Dachansatz einen gelben Streifen, der sich einmal um das komplette Gebäude wandte. Der Eingang war, wie es Jack schon bei einigen Häusern auf dem Weg gesehen hatte, von zwei halbhohen Palmen umrahmt. Eine hölzerne Treppe führte über zwei Stufen zur Tür hinauf. Sie betraten zunächst zögerlich, dann selbstbewusst das Haus und fanden sich sogleich im Eingangsbereich wieder. Es war hier mindestens so hell wie draußen, viele große Fenster gewährten den Sonnenstrahlen Einlass und dem Besucher einen Blick nach draußen. Dort sah man schon einen Teil des Gartens, der laut Beschreibung ein Stück echter, stehengebliebener Regenwald sein sollte. Und tatsächlich sah er auch ziemlich verwildert aus, hatte aber vielleicht gerade dadurch eine besondere Wirkung, die in Jack die Lust schürte, sich direkt in diesen Garten zu begeben. Vorerst jedoch gingen sie zur Rezeption. Eine junge brünette Dame stand hinter dem Tresen und sortierte gerade Flyer. Als sie die beiden jungen Männer sah, unterbrach sie ihre Tätigkeit und lächelte sie freundlich an. Dabei leuchteten sowohl ihre Augen als auch ihre Zähne auf.
„How can I help you?“, fragte sie dann in einem Ton, der in Verbindung mit ihrem hübschen Erscheinungsbild wohl jeden Mann zum Schmelzen gebracht hätte. Jack hingegen hielt sich wieder im Hintergrund und ließ Chris reden, der die englische Sprache offenbar verdammt gut beherrschte. Nicht, dass Jack das nicht auch tat, aber er würde wohl eine Weile brauchen, bis er sich auf Englisch als seine künftige Hauptsprache eingestellt hätte. Chris stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tresen ab und beugte sich leicht nach vorne. Die Dame hörte seinen Fragen aufmerksam zu und hörte kaum noch auf zu lächeln. ‚Aufgesetzt‘, dachte Jack und sah absichtlich woanders hin. Sicher lächelte sie sogar im Schlaf. Andererseits konnte er sie verstehen, immerhin war sogar er Chris‘ Lächeln bereits gefolgt. Er schien überhaupt dauerhaft gut gelaunt zu sein, soweit Jack das überhaupt beurteilen konnte, denn sie kannten sich abzüglich der Zeit in Singapur gerade einmal eine halbe Stunde. Die beiden redeten lange, immer wieder sah Jack das Aufleuchten der Augen der jungen Frau und ihr schüchternes Tippen am Computer, wobei sie immer wieder zu Chris lugte. Der hatte seinen Kopf bittend schräg gelegt, und Jack konnte sich den Hundeblick dazu geradezu bildhaft vorstellen. Er tappte vom einen Bein auf das andere, sah sich im Raum um und blieb vor einer Vorrichtung für Flyer stehen. Einer war wohl vom Hostel selber, der andere hatte die Aufschrift „Green Accommodation“ und beinhaltete wohl Tipps zum energieeffizienten und umweltschonenden Hotelgewerbe. Er spielte gerade mit dem Gedanken, sich den Flyer des Hostels mal anzusehen, als er von Chris gerufen wurde.
„Jack komm mal rüber!“
Er schlenderte zur Rezeption und blieb neben Chris stehen. Die Braunhaarige lächelte ihn nun auch mit ihrem aufgesetzten Plastiklächeln an. Sicher war sie noch neu und würde noch lernen, dass künstliches Lächeln über mehrere Stunden hinweg fürchterliche Wangenschmerzen verursachen konnte. Jack hatte diese weniger schöne Erfahrung schon einige Male gemacht, wenn er auf Geburtstagen von Verwandten oder Schulevents ständig gezwungen war, mit dauerhaft fröhlicher Miene herumzulaufen. Dabei hasste er solche Veranstaltungen und vermied es so oft er konnte, dort zu erscheinen, was aber nun mal nicht immer möglich war. Es war ihm zu laut, zu viele Leute mit denen er nichts zu tun haben wollte um ihn herum, die alle reden wollten. Er war meist der erste, der wegen Kopf-, Magen- oder anderen Schmerzen oder um zu Lernen früher den Ort des Geschehens verließ. Zwar hatten sich seine Verwandten und auch er selber über die Jahre daran gewöhnt, unangenehm war es ihm trotzdem jedes Mal erneut.
„Wir könnten die nächsten drei Nächte noch einem Zimmer für fünf Personen beitreten. Ist ein Männerzimmer, die trennen hier nach Geschlecht. Wir müssten uns zwar das Bad teilen, dafür kostet es nur 22$ die Nacht. Ist das günstigste Angebot, was sie haben.“
„Klingt gut, denke ich. Also willst du drei Tage hierbleiben?“
„Mindestens, ja. Ich bleibe erst mal in Darwin um mich einzugewöhnen, würde ich dir auch raten. Also nehmen wir das Zimmer?“
„Ich denke schon.“
„Du denkst?“
„Ja.“
„Ja oder nein?“
„Jetzt nimm das verdammte Zimmer!“
„Geht doch.“ Grinsend wandte sich Chris wieder der Frau zu und verkündete ihre Entscheidung. Sie füllten einige Formalitäten aus und bekamen dann die Schlüssel überreicht.
„Zimmernummer vierundzwanzig“, sagte Chris mehrfach vor sich hin, als sie durch den engen, hellbeleuchteten Gang liefen.
„Achtzehn, zwanzig, zweiundzwanzig, da ist es.“ Sie hielten vor der Tür, auf der in großen schwarzen Buchstaben die ihnen zugewiesene Zimmernummer stand.
„Ob da wohl jemand drin ist?“, fragte Jack sich laut.
„Würde mich wundern, es ist Mittag. Als Backpacker treibt man sich in der Gegend herum und hockt nicht auf dem Zimmer.“
„Da könntest du Recht haben“, bemerkte Jack. Chris klopfte trotzdem prophylaktisch gegen die Tür, um möglicherweise anwesende Leute vorzuwarnen. Dann steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn zwei Mal um. Ein Klicken ertönte und die Tür sprang auf. Vorsichtig schob Chris die Tür auf und sie traten ein. Jedenfalls so weit, bis der Boden es ihnen nicht weiter ermöglichte, denn jetzt sah man deutlich, dass es sich um ein Männerzimmer handeln musste. Der Boden war überzogen mit Klamotten, Flaschen, technischem Kleinkram, Taschen, Müll, Sand und Verpackungsmaterial von Nahrungsmitteln. Das Bettzeug hing von dem einen Hochbett schlapp herunter, auf einem anderen Bett war es schon gar nicht mehr drauf, sondern lag inmitten des Müllteppichs am Boden.
„Halleluja!“, lachte Chris und ließ einen ironisch anerkennenden Pfiff los. „Willkommen im Zoo, zu Ihrer Rechten sehen Sie das Affengehege, die Tiere befinden sich zurzeit wahrscheinlich auf Nahrungssuche.“
Dieser zwar vollkommen überflüssige, aber dennoch zutreffende Kommentar brachte auch Jack zum Lachen. Sie bahnten sich vorsichtig ihren Weg durch das Gewirr und fanden bald – denn das Zimmer war ohnehin nicht besonders groß – ein Stück freien Boden, auf dem sie sich vorerst platzierten. Die Dame am Empfang hatte ihnen zugesichert, dass hier drei freundliche junge Männer aus England wohnen würden. Dass es sich dabei offensichtlich um extreme Chaoten handelte, hatte sie verschwiegen, oder aber sie hatte das Zimmer einfach nicht selbst zu Gesicht bekommen, was angesichts ihrer Stellung die wahrscheinlichste Option war. Mal davon abgesehen war das größte Problem, zwischen genutzten und ungenutzten Betten zu unterscheiden, denn sie schienen alle gleich verwüstet, also im Gebrauch zu sein.
„Sicher, dass hier nicht schon alles belegt ist?“, fragte Jack, der eben genau diesem Gedankengang gefolgt war. Chris zuckte mit den Schultern, fegte mit der Hand Sand und einen Papierfetzen vom Bett hinter sich und ließ sich dann darauf fallen.
„Wenn die Frau sagt hier sei noch Platz für zwei, dann wird das wohl so sein.“ Jack nickte und stellte seinen Rucksack auf das Bett ab.
„Sollen wir nicht trotzdem vorher noch auf die Bewohner hier warten? Könnte eine unangenehme Überraschung für sie sein, wenn wir unangemeldet hier reinplatzen.“
„Ich gehe mal davon aus, dass die an der Rezeption gesagt bekommen, wenn jemand mit in ein Zimmer zieht. Ansonsten können wir ja wenigstens schon mal unsere Sachen hier lassen.“
Zwar war Jack immer noch nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass sie sich ohne Bescheid zu sagen in ein fremdes Zimmer einquartierten, andererseits hatten sie dafür gezahlt und hatten auch das Recht, sofort alle Dienste in Anspruch zu nehmen. Sie stellten ihre Sachen also neben dem halbwegs geräumigen Bett ab und verließen das Zimmer dann wieder. Im Gang sahen sie noch ein paar Mädchen in ihrem Alter, die kichernd in einem Zimmer auf der Seite gegenüber verschwanden.
„Sollen wir uns in der Zwischenzeit mal das Gebäude anschauen?“, fragte Chris, während er prüfend zur Decke sah, an der helle Leuchtstoffröhren den Gang in künstliches Licht tauchten.
„Gerne“, antwortete Jack. Er gähnte. Eigentlich hatte er vorgehabt, sofort schlafen zu gehen, aber aufgrund des Mitbewohner- und Bettenproblems würde ihm diese Option wohl erst später zur Verfügung stehen. Sie gingen den Gang entlang und die Treppe hinunter und fanden sich im Eingangsbereich wieder. Die Frau an der Rezeption verschwand gerade in dem Raum dahinter. Jack war das recht, für heute hatte er genug von ihren nach oben gekrümmten Mundwinkeln.
„Ich glaube hier geht es nach draußen“, äußerte Chris laut seine Vermutung, während er auf eine Milchglastür zuging, die grünlich schimmerte. Tatsächlich führte sie durch einen weiteren Gang, der sie zu einer Glastür führte, hinter der man eine mit runden Steinen ausgekleidete Terrasse erkennen konnte. Als sie hinaustraten, legte sich eine Woge aus tropischer, feuchtwarmer Luft über sie. Man hörte eine Komposition aus Gezwitscher verschiedenster Vogelarten, die wohl im einige Meter entfernt stehenden Waldstück beheimatet waren. Die Terrasse war ebenfalls umrandet von Palmgewächsen, deren Blätter so groß wie Regenschirme waren und die hoch hinauswuchsen, bedacht darauf, jeden Sonnenstrahl einzufangen, den sie hier erhaschen konnten. Es war ein recht großes Grundstück, in dessen Mitte hellblau der Pool aufleuchtete. Ringsherum waren ein paar Stühle und Tische aufgestellt, auch eine größere Wiese war vorhanden. Direkt neben dem Pool stand ein für Australien typischer Barbecue-Grill, der recht ansehnliche Ausmaße hatte. Langsam schritten die Jungen die rötliche Steintreppe hinunter um dann auf dem Weg zwischen Pool und Wiese stehenzubleiben und einen Rundumblick zu wagen.
„Sieht wirklich schön aus“, brachte Jack unter Staunen hervor. Vor allem die schlanken, langen Palmen überall um sie herum faszinierten ihn, er hatte ein Fable für tropische Gewächse.
„Ja, wirklich sehr geil. Ich würde sagen, das war ein Volltreffer“, antwortete Chris darauf im üblich gut gelaunten Ton, während auch er sich umsah und sein Blick am Pool hängenblieb. Dort hielten sich gerade vier Mädchen auf, die am Rand relaxten und sich bräunten. Eine nahm wohl Kenntnis von der Anwesenheit der beiden Jungs und plapperte aufgeregt etwas den anderen zu. Daraufhin setzten sich alle vier wie auf Kommando auf und gafften neugierig zu Jack und Chris herüber. Wieder tuschelten sie, dann hob eine ihre Hand und winkte ihnen zu.
„Hey guys!“
„Hey ladies“, rief Chris und hob gleichermaßen seine Hand zu einem Gruß. Auch Jack grüßte kurz und deutlich leiser, wäre aber am liebsten einfach weitergegangen. Doch schienen die Mädchen gar nicht erst daran zu denken, zwei attraktive Kerle wie sie einfach laufen zu lassen.
„Wanna come over?“, rief die gleiche erneut, was wieder zu regem Tuscheln der anderen führte, die offenbar schon irgendeinen Plan ausheckten. Chris warf Jack einen fragenden Blick zu, der wusste allerdings nicht genau, wie er reagieren sollte.
„Lust schwimmen zu gehen?“, fragte Chris dann, nachdem Jack sich immer noch nicht entschieden hatte.
„Weiß nicht, ich bin recht müde und…“
„Maybe later!“, teilte Chris sofort lautstark mit, ohne Jacks Ausrede überhaupt vollständig mitangehört zu haben. Die Mädchen strahlten und versanken alsbald wieder in Frauengesprächen.
„Was, nein, ich mein du kannst doch gehen“, druckste Jack, der von der Unterbrechung etwas baff war.
„Wenn ich da alleine reingehe fallen die über mich her wie wilde Tiere, das sind Mädchen!“, lachte Chris und schob Jack vor sich her, damit dieser weiterging. „Außerdem wollten wir uns doch erst mal das Gelände ansehen.“
„Ja, stimmt schon, aber…“
„Kein Aber junger Mann, zum Vergnügen haben wir später noch Zeit.“
Sie befanden sich schnell außer Reichweite der weiblichen Meute und gingen nun wieder langsamer.
„Wie alt bist du überhaupt? Ich weiß noch gar nichts über dich, erzähl doch mal was.“ Chris war wirklich nicht gerade die Zurückhaltung in Person.
„Ich bin neunzehn, Dezemberkind.“, antwortete Jack, der von der Wendung des Gesprächs ins Persönliche überrascht war. „Und du?“
„Wenn das so ist bin ich ein paar Monate älter als du, ich gehöre dem August. Und was treibst du so außer Lesen?“
Jack überlegte nicht lange, diese Frage stellte man ihm häufig. „Zeichnen, Zocken, Schreiben, das war es schon so ziemlich. Du zeichnest wohl auch gerne, was? Also ich mein in Singapur, da sah es zumindest so aus.“
„Jap, gut erkannt, zeichnen tu ich gerne.“
„Was denn so?“, wollte Jack wissen. Er war irgendwie plötzlich erfreut darüber, dass sie offenbar ein gemeinsames Interesse hatten.
„Unterschiedlich. Fantasy, manchmal Mangas, aber auch Tiere sehr gerne. Und wie sieht es da bei dir aus?“ Sie erreichten einen kleinen Teich, vor dem ein Geländer stand. Chris lehnte sich daran an, stützte seine Arme ab und schaute Jack aufmerksam an, als würde er jetzt eine besonders spannende Antwort erwarten. Überdimensionale Seerosenblätter glitten auf der Oberfläche dahin.
„Na ja, ich hab mich vor ein paar Jahren auf Portraits spezialisiert. Aber sonst auch gerne Fantasy. Drachen mag ich besonders gerne.“ In Jacks Stimme lag ein Hauch Verlegenheit, eigentlich ungewöhnlich für ihn. Chris‘ Augen dagegen leuchteten wieder auf und er machte einen Gesichtsausdruck, welchen Jack nicht so ganz deuten konnte. Irgendwas zwischen Freude und begeistertem Interesse.
„Du musst mir unbedingt mal was von dir zeigen wenn wir wieder im Zimmer sind!“
„Könnte problematisch werden“, sagte Jack jetzt wieder im gewohnten Ton, „dafür müsste ich erst mal etwas zeichnen. Ich hab ja nichts von zu Hause mitgenommen.“
„Macht auch nichts, wir haben ja Zeit.“
Warum sprach Chris eigentlich immer im ‚wir‘? Es klang fast so, als hätte er festgelegt, dass sie plötzlich Freunde wären. Jack wusste nicht so genau, was er davon halten sollte. Der Kerl war zwar echt ganz nett, und auch ein paar Interessen teilten sie, aber mehr war da auch nicht. Gut, er würde sich jetzt drei Tage mit ihm ein Zimmer teilen, aber auch das bedeutete nicht automatisch, dass sie gleich befreundet waren.
Seufzend ließ sich Jack auf der Bank nieder, die zu seiner Rechten stand, und fuhr sich mit den Händen durch das Gesicht und die Haare. Er war müde. Die schwere, sauerstoffarme Luft auf dem Gelände machte es auch nicht gerade besser. Er atmete tief ein, schloss die Augen und stützte seinen Kopf auf einem Arm ab. Es vergingen Minuten, ohne dass einer von ihnen etwas sagte. Die Vögel sangen ihre Lieder, das Wasser plätscherte vor sich hin und die Pflanzen wogen sich in den sachten Brisen, die als einzige Quelle kühlerer Luft fungierten.
Jack hörte, wie sich Chris aufrichtete und ein paar Schritte ging, dachte, er würde wieder reingehen oder den Mädchen einen Besuch abstatten. Doch die Schritte verstummten wieder. Ein paar Sekunden später sank die Bank ein Stück weiter runter und ein dumpfes Geräusch ertönte. Jacks Augenlider zuckten kurz, doch er öffnete sie nicht. Er spürte eine warme Aura an seiner linken Seite. Die Härchen in seinem Nacken stellten sich auf, auf seinem Arm bildete sich Gänsehaut. Er dachte an die blauen Augen dieses Typen. Des Typen, der hier neben ihm saß, ganz selbstverständlich, dessen Bein seins berührte und ein seltsames Gefühl in ihm auslöste. Jacks Atem vibrierte. Und dann, ohne sein wissentliches Zutun, drängte sich sein Bein dichter an das von diesem Kerl neben ihm. Es war warm. Chris war warm. Was war denn nur los mit ihm.

Etwas berührte ihn an der Schulter, nein, etwas rüttelte an ihm und riss ihn aus seinen Träumen. Er sah auf, erkannte jedoch nur verschwommen ein Paar Beine vor sich. Sein Kopf war schwer, seine Augen verklebt. Er war so müde.
„Jack?“ Eine Stimme, in der eine Spur Besorgnis, eine Spur Humor lag.
„Mhm?“
„Du solltest vielleicht lieber aufs Zimmer gehen wenn du pennen willst, hier draußen könnte es zu heiß werden.“
„Mhm.“ Er schloss seine Augen wieder. Er hatte doch nur kurz taggeträumt.
„Ist wohl der Jetlag. Komm, wir gehen wieder rein.“ Jemand packte in sachte am Arm und zerrte ihn von der Bank. Den Rest des Weges in das Gebäude lief er automatisch, mit halbgeschlossenen Augen, nahm kaum etwas von der Umwelt war. Die Hand, die sich um sein Handgelenk schloss war warm und stark, sie lenkte ihn gezielt die Treppen hinauf und zum Zimmer Nummer vierundzwanzig. Benebelt sank er in etwas Weiches, ein Bett, und erst jetzt ließ die Hand seinen Arm los. Dann verdunkelte sich alles vor seinen Augen und er entglitt in einen tiefen, langen Schlaf.

Als er aufwachte, war es dunkel im Zimmer. Die Luft war deutlich kühler und sein Kopf endlich wieder klar. Er richtete sich auf und sah sich um. Die anderen Betten waren leer, kein Mensch außer ihm befand sich im Raum. Er suchte nach etwas zu trinken, fand neben seinem Bett eine Flasche mit stillem Wasser. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie vorher hier gesehen zu haben. Kurz überlegte er, ob es sich nicht um eine fremde Flasche handeln könnte, doch dann siegte der Durst und er schraubte den Deckel ab. Gierig trank er Schluck für Schluck, war froh, seinen trockenen Mund befeuchten zu können. Als er fertig getrunken hatte, fuhr er mit einem Stück seines Hemds, welches er immer noch anhatte, an der Öffnung entlang, verschloss die Flasche und stellte sie wieder dorthin zurück, wo er sie hergenommen hatte. Jetzt dachte er wieder nach. Wo waren die anderen Bewohner? Wo war Chris? Wie spät war es überhaupt? Die Dunkelheit draußen verriet nur, dass es Nacht oder später Abend sein musste.
Er konnte sich kaum noch an die letzte halbe Stunde vor dem Schlafengehen erinnern. Nur ein paar farbige Umrisse tanzten schleierhaft vor seinem inneren Auge hin und her. Er schaute seine Hände an, meinte, irgendetwas wäre anders. Doch bevor er sich weiter an diesen Gedanken klammern konnte fiel ihm ein, dass er ganz vergessen hatte, sich bei seiner Familie und seinen Freunden zu melden. Sie würden sich sicher unglaubliche Sorgen machen. Aufgeregt warf er die Decke zur Seite, stand auf und sah sich nach seinem Rucksack um. Den fand er an der Stelle, an der er ihn vorhin abgestellt hatte. Nach einigem Suchen fand er sein Handy und holte außerdem seinen Laptop hervor, welchen er aus Kommunikationszwecken mitgenommen hatte. Beides schaltete er ein und wartete, bis die Gegenstände hochgefahren waren. Zuerst schaute er auf die Uhr. Kurz nach elf war es hier, was bedeutete, dass es in seiner Heimat jetzt etwa kurz nach drei Uhr mittags sein musste. Eine gute Zeit um jemanden zu erreichen.
Doch bevor er überhaupt Skype öffnen konnte, stellte er ernüchtert fest, dass er sich überhaupt nicht darüber informiert hatte, ob es hier ein WLAN Netzwerk gab. Wohl wusste er, dass irgendwo in diesem Gebäude zwei öffentlich zugängliche Computer standen, aber das garantierte noch lange keine Verbindung für andere Geräte. Gesegnet vom Glück stellte er jedoch fest, dass sein Laptop ein Signal empfing, zwar schwach, aber es war da. Und sogar nicht verschlüsselt, sodass er sich einfach einloggen konnte. Und seine Glückssträhne war offenbar noch länger, denn prompt zeigte das Programm an, dass sowohl Sascha als auch Chucky online waren. Er packte beide in eine Gruppe und wurde auch sofort von allen Seiten angeschrieben. Wie es ihm ginge, warum er sich erst jetzt melde, wie der Flug war, wie das Wetter in Australien, ob er schon Leute kennengelernt hätte und einiges mehr. Er kam kaum hinterher, beantwortete aber alle Fragen brav in chronologischer Reihenfolge und so kurz und präzise wie nur möglich. Er erzählte von Mirko und von der Zufallsbegegnung mit Chris, mit dem er nun vorübergehend in einem Zimmer untergekommen war. Dass er von dessen Augen und dem Lächeln zeitweise gefangen genommen wurde, verschwieg er natürlich.
Nach einigen Minuten des Antwortens erkundigte auch er sich endlich nach dem Befinden seiner Freunde. Wie zu erwarten ging es ihnen gut, sie lebten ihr Leben ja schließlich ganz normal weiter. Jacks Schwester kam online, sie bettelte gleich um einen Anruf, allerdings vertröstete Jack sie auf ein anderes Mal, denn das Signal würde kaum ausreichen, um einen ordentlichen Anruf zustande zu bringen und die Qualität zu halten. Stattdessen wurde er auch von ihr einem Verhör unterzogen und war froh, als er nach einer halben Stunde den Laptop beiseitelegte und sich entspannt an das Bett lehnte. Jetzt, da er sich gemeldet hatte, war sein Gewissen ein Stückchen reiner. Nun allerdings tat sich ihm erneut die Frage auf, wo all seine Mitbewohner sich herumtrieben. Wenigstens Chris hätte doch hier sein müssen. Wobei, eigentlich auch nicht. Er war ja, genau wie Jack, alleine unterwegs, warum also sollte er Zeit mit ihm auf dem Zimmer verbringen wollen.
Jack stand auf und räumte die Sachen wieder zurück. Er war hellwach. Angesichts der Tatsache, dass er fast neun Stunden geschlafen hatte, war das auch kein Wunder. Sein Hemd war durchgeschwitzt, ebenfalls nicht verwunderlich. Er trug es seit dem Hinflug, der immerhin schon dreiunddreißig Stunden zurücklag. Er öffnete die ersten beiden Knöpfe des Hemds, machte den Vorgang dann allerdings rückgängig und beschloss, dass er statt sich nur umzuziehen lieber duschen wollte. Er besaß zwar  nicht die Sicherheit, dass man um diese Uhrzeit noch duschen durfte, jetzt gerade war ihm das allerdings herzlich egal. Ein weitaus verheerender Störfaktor war, dass er nicht wusste, wo er die Duschen finden konnte. Ziellos durch das Gebäude zu rennen hielt er für unangebracht, daher entschied er sich für die sicherere Variante und sah sich im Zimmer um. Auf dem kleinen Tisch am Kopf seines Bettes fand er dann auch, was er zu finden gehofft hatte. Einen Flyer des Hostels, wie er ihn auch im Eingangsbereich gesehen hatte. Er blätterte die Seiten durch und fand zunächst nur Informationen zu Aktivitäten, Preisen, der näheren Umgebung und ökologischen Maßnahmen. Erst auf der allerletzten Seite fand er eine Abbildung des Hostels im Grundriss. Offenbar gab es sogar eine Sauna, direkt neben den Duschen. Letztere befanden sich im Keller, den man direkt durch eine Treppe auf Ebene der Zimmer erreichen konnte. So musste man nicht mit allen Waschsachen erst durch das Foyer spazieren.
Zufrieden fand Jack auch noch Angaben zu den Öffnungszeiten der einzelnen Einrichtungen. Die Sauna würde um Punkt halb zwölf schließen, während die Duschen und alle anderen Sanitärbereiche rund um die Uhr zu benutzen waren. Jack legte dankbar den Flyer zur Seite und schaute erneut auf die Uhr. Einen entspannenden Saunagang würde heute nicht mehr machen können, aber wenigstens duschen wollte er. Er packte alles Nötige in einen Kulturbeutel, legte sich zwei Handtücher um den Hals und verließ dann das Zimmer. Diesmal schlug er auf dem Gang die andere Richtung ein und fand auch unweit von seinem Zimmer um einer Ecke die Treppe, die auch ausgeschildert war und auf die Sanitäranlagen verwies.
Er schritt gemächlich Stufe für Stufe hinunter und kam in einem Raum an, der deutlich weniger hell beleuchtet war. Der Boden war aus grauem Linoleum und diente wohl eher als Mittel zum Zweck, als einem schönen Aussehen. Er passierte die Toilettenräume und bog in den Bereich für Männer ab. Ab hier war der Boden gefliest und ein weiterer schmaler Gang führte zu den Duschen. Das Licht war hier wirklich so stark gedimmt, dass alles gerade noch erkennbar war, in ein orangebraunes Licht getaucht, welches Jack an den Vorraum ihrer Sauna zu Hause erinnerte. Und bei diesem Gedanken kam ihm auch just der unverkennbare Duft einer Sauna entgegen. Sie musste sich direkt um die Ecke befinden, in die Jack nun abbog. Und er hätte wohl noch eine Weile dagestanden und diesen Duft genossen, denn er mochte ihn wirklich gerne, wenn er nicht wieder eine dieser, ihm fast schon bekannt vorkommenden Zufallsbegegnungen gehabt hätte. Aus der quietschenden Holztür, hinter der sich die heiße Oase befand, trat ein junger Kerl heraus. Als er die Tür geschlossen und sich umgedreht hatte, erkannte Jack, dass es niemand anderes als Chris war, der jetzt nur mit einem Handtuch umgebunden direkt auf ihn zukam. Weil Jack vor der einzigen Lichtquelle stand, erkannte Chris ihn erst recht spät, als Jack schon ausweichend zu den Duschen abgebogen war, in der Hoffnung, er wäre schneller weg als Chris ihn ansprechen könnte. Wieder einmal ging Jacks Rechnung nicht auf.
„Jack?“, hörte er den Blonden hinter sich rufen. ‚Verdammt nochmal‘ dachte Jack und biss sich verbittert fast auf die Lippe. Langsam drehte er sich um und setzte ein verlegenes Lächeln auf, als hätte er Chris erst jetzt bemerkt.
„Hi, ich wollte gerade duschen gehen und…“
„Wie geht es dir, alles wieder okay?“ Chris stand schon fast vor ihm, noch ein Schritt und er berührte ihn fast mit seinem Oberkörper. Jack erschauderte und kniff die Augen zusammen, als erwarte er in der nächsten Sekunde einen Zusammenstoß. Doch dem war nicht so. Stattdessen fühlte er plötzlich etwas Heißes auf seiner Stirn. Er öffnete ein Auge und starrte direkt in Chris‘ Gesicht, der eine Hand an seinen Kopf gelegt hatte. Jack wollte etwas sagen oder zumindest zurückweichen, doch blieben ihm sowohl Wort als auch Bewegung in Hals und Körper stecken. Die Augen des Jungen glitzerten besorgt und schauten erst auf Jacks Stirn, dann in seine Augen. Er lächelte nicht sondern schaute ihn nur ganz ruhig an. Jack stockte der Atem, sein Puls erhöhte sich schlagartig. Eine unglaubliche Hitzewelle durchströmte seinen Körper und ein Kribbeln durchzog seine Bauchgegend. Er schluckte, brachte es nicht fertig, Chris nicht mehr anzusehen. Eine Weile standen sie so da, sich fast berührend, die Anspannung von Jack fast greifbar machend. Dann zog Chris seine Hand zurück und setzte das bekannte Lächeln auf. Seine Augen formten dabei einen kleinen Bogen. Er wich einen Schritt zurück und betrachtete Jack, der immer noch nicht in der Lage war, eigenständig ein Wort hervorzubringen. Erst als Chris mit den Händen vor seinem Gesicht herumfuchtelte, kehrte sichtbares Leben ihn seinen Körper zurück.
„Ja, mir geht es gut“, japste Jack, so leise, dass Chris es gerade noch hörte. Dieser stemmte prüfend einen Arm in die Hüfte und legte den Kopf schief.
„Sicher? Siehst immer noch ein wenig mitgenommen aus.“ Dann grinste er. „Mach dir nichts draus, mein erster Jetlag sah nicht viel besser aus.“ Jack hörte gerade überhaupt nicht zu. Er fixierte den Körper des Jungen ihm gegenüber und war mit seinen Gedanken ganz woanders. Er sah die Muskeln sich bei jeder Geste bewegten, verfolgte die Schweißperlen auf dem Weg über den Waschbrettbauch bis hin zu den Lenden, wo sie sich im Handtuch verliefen. Die flachen Brustmuskeln, unter denen sich der Brustkorb auf und ab bewegte, bei jedem Atemzug, bei jedem Wort das er sprach. Die schmale Taille und das sich leicht abzeichnende Sixpack formten einen athletischen Körper, der weder zu muskulös, noch zu schlaff war. Das blonde Haar stand zerzaust in alle Richtungen ab, der Dreitagebart umrahmte das schmale Gesicht. Da stand er wieder, in dieser Selbstverständlichkeit vor ihm und schaute ihn an. Er war nicht einfach nur total heiß, süß und attraktiv. Er war... ‚Perfekt‘.
„Soll ich dir ein Foto schenken?“, lachte Chris, als dieser Jacks geistige Abwesenheit bemerkte. Jack schaute sofort aufgewühlt zur Seite und schüttelte den Kopf, als wollte er alles gerade Gesehene und Gedachte daraus verbannen.
„Entschuldige, ich war gerade woanders.“
„Habe ich gemerkt“, feixte Chris und machte zwei Schritte nach vorn, an Jack vorbei. „Wenn es dir nichts ausmacht, ich geh jetzt duschen. Ich glaube, du hattest dasselbe vor?“
„Ja“, stammelte Jack. „Hatte ich.“ Chris zuckte nur noch mit den Schultern und marschierte dann in eine Duschkabine. Der weiße Streifen an der Tür wurde rot und kurze Zeit später hörte man Wasser auf den Boden prasseln. Jack stand noch einige Zeit perplex da und wusste nicht, wie er das alles zu verstehen hatte. Wahrscheinlich war es einfach nur der Jetlag, wie Chris gesagt hatte, daran würde es liegen, dass er so seltsame Gedankengänge hatte. Eine heiße Dusche würde ihn sicher wieder klar denken lassen. Damit setzte er nun auch endlich einen Fuß vor den anderen und betrat die Duschkabine, die von der, in der Chris duschte, am weitesten entfernt war.

Eine gefühlte halbe Stunde hatte er das Wasser voll aufgedreht. Die Hitze von oben tat ihm unheimlich gut, und als er das Wasser abstellte, fühlte er sich wie neugeboren. Schluss jetzt mit blauen Augen und heißen Körpern, das Abenteuer wartete auf ihn!

Kapitel 7: Anfänge


Seine Mitbewohner lernte Jack kennen, als er an diesem Abend von der Dusche zurück zum Zimmer ging. Gutgelaunt kamen die drei Männer, die ein paar Jahre älter aussahen als er, aus dem Zimmer, in dem am Mittag die Mädchen verschwunden waren. Sie schienen getrunken zu haben, waren aber trotzdem freundlich und vor allem rücksichtsvoll, als sie erfuhren, dass Jack ihr neuer Zimmergenosse sein würde. Chris hatten sie wohl schon kennengelernt, denn einer erzählte eifrig von ihm und dem gescheiterten Versuch, ihn mit einem blonden, vollbusigen Mädchen zu verkuppeln. Angeblich hatte er sich vehement gegen Flirtversuche jeglicher Art gewehrt.
Allgemein waren George, Hank und Peter, so hießen die drei Briten, ein recht lustiges Völkchen, die keinerlei Problem darin sahen, dass Chris und Jack ohne auf sie zu warten eingezogen waren. Zu viert schlichen sie nach der knappen Bekanntmachung leise den Gang entlang und schlüpften dann, einer nach dem anderen durch die Tür ins Zimmer. Hier war es nach wie vor chaotisch, wofür sich die Zuständigen auch gleich entschuldigten. Chris lag bei ihrer Ankunft auf seinem Bett und las. Er hatte das Hochbett, auf dessen unterer Etage Jack schlafen würde. Dieser ging, ohne einen einzigen Blick an Chris zu richten, darauf zu und setzte sich auf die Bettkante. Weil er nicht der Einzige war, der noch nicht wirklich müde war, unterhielten sie sich noch eine Zeitlang im geschlossenen Kreise. Es stellte sich heraus, dass Peter und George einundzwanzig und Hank dreiundzwanzig war. Das Banyan war ihr sechstes Hostel und sie machten gerade eine Arbeitspause in Darwin, würden noch drei Nächte bleiben. Auch Jack stellte sich noch etwas detaillierter vor und lauschte dann gebannt ihren Backpackergeschichten. Gegen halb eins kehrte dann aber doch langsam Ruhe ein. Peter, der am meisten getrunken hatte, war einfach weggenickt. Hank saß mit geschlossenen Augen in der Runde und redete nicht mehr viel und auch Jack wurde von der Atmosphäre gepackt und die Müdigkeit zerrte an seinen Augenlidern. George hingegen plappere munter weiter, als wäre er gerade auf einer Überdosis Koffein. Was Chris tat, oder ob er vielleicht schon schlief, sah und interessierte Jack nicht. Er schlief mit dem festen Entschluss ein, nach den drei Tagen ein Einzelzimmer zu mieten oder direkt in ein anderes Hostel zu wechseln, wollte er doch weitere Unannehmlichkeiten vermeiden.

Am Morgen gegen sieben Uhr wurde Jack von dem Geräusch knisternder Tüten geweckt. Er wälzte sich im Bett herum, schirmte seine Augen mit den Händen von dem einfallenden Licht ab und blinzelte verträumt. Hank und George räumten, zwar bemüht leise zu sein, aber dennoch einen gewissen Geräuschpegel hinterlassend, den Boden frei von dem Zeug, welches jetzt schon einige Zeit hier herum lag. Die Sonne tat ihre Arbeit schon in der Früh sehr gewissenhaft. Dies geschah alles zu Jacks Missgunst, denn er wollte in diesem Moment einfach in Ruhe weiterschlafen. Der Morgenmuffel in ihm schlug Alarm und unter größter Anstrengung zog er knurrend die Decke wieder über seinen Kopf. Wenn ihm nicht danach war, würde er auch nicht aufstehen. Wann das Frühstück stattfinden würde, oder ob es überhaupt feste Zeiten gab, war ihm weder bekannt noch erschien es ihm gerade wichtig. Jacks Regel besagte stets, dass das Schlafen die höchste Priorität hatte, denn Essen fand man immer und zu jeder Zeit. Und gehorsam wie er war, tauchte er schon bald wieder hinab in das Reich der Träume.
Erst am Vormittag erwachte er wieder. Herzhaft gähnend räkelte er sich und angelte sein Handy hervor, um die Uhrzeit in Erfahrung zu bringen. Es war halb zehn, für Jacks Verhältnisse immer noch recht früh, aber er war ausgeschlafen. Zu seinen Freuden hatte sich der Boden verwandelt, nämlich in einen wieder begehbaren Boden. Die Briten hatten wohl gute Arbeit geleistet, während er geschlafen hatte. Auch hatten sie ihn nicht nochmal geweckt. Seine Mitbewohner waren nicht im Zimmer, soweit Jack das unter dem Hochbett sehen konnte. Er setzte sich auf und seufzte tief. Sein Shirt hatte er die Nacht über anbehalten, ungewöhnlich, denn normalerweise schlief er immer ohne Shirt, Sommers wie Winters. Die Temperatur im Zimmer war wieder um einige Grad geklettert, glücklicherweise hatte Jack trotzdem nicht viel geschwitzt während der Nacht. Er stellte sich in die Mitte des Zimmers, sah prüfend noch einmal auf alle Betten rauf und stellte befriedigt fest, dass er alleine war. Auf Chris‘ Bett war lediglich ein großer Deckenhaufen ausfindig zu machen, aber er schien leblos zu sein. Sicher waren er und die anderen längst zum Frühstück gegangen oder sogar schon woanders unterwegs. Aus seinem Rucksack holte er eine Dreiviertelhose und ein frisches Hemd hervor. Beides legte er auf sein Bett und fasste dann sein Shirt am unteren Rand, zog es über den Kopf und warf es daneben. Seine Haare saßen erstaunlich gut, aber er hatte ja auch erst am Abend zuvor geduscht. Die Hose war schnell angezogen und saß. Dann griff er nach dem frischen Hemd. Doch gerade als seine Fingerspitzen den Stoff berührten und sich zum Packen wieder schlossen, hörte Jack ein Rascheln. Er hielt kurz inne. Es war nur leise gewesen und kurz dachte er, er hätte sich verhört. Langsam richtete er sich wieder auf lauschte noch einen Moment. Doch es war still. Auf dem Gang hörte man ein Mädchen lachen. Jack schüttelte irritiert den Kopf und streifte sich das frische Hemd über den Kopf. Der kühle Stoff löste auf seinen Schultern eine kurz andauernde Gänsehaut aus. Er steckte gerade einen Arm durch den Ärmel und konzentrierte sich darauf, das Material nicht zu sehr zu dehnen, als es wieder ertönte. Das Rascheln. Und jetzt hob Jack seinen Kopf an, in die Richtung, aus der das Geräusch diesmal eindeutig identifizierbar kam. Vor ihm, auf dem Hochbett schien der Deckenhaufen plötzlich zum Leben zu erwachen, und ehe Jack unter Schock, denn er hatte sich alleine geglaubt, etwas sagen oder fragen konnte, streckten sich zwei Arme der Zimmerdecke entgegen und ein blonder Büschel, unter dem zwei verträumte Augen aufblitzten, schlüpfte unter der Decke hervor.
„Gudn Morgn.“ Das Wesen auf dem Bett gähnte und schälte sich dann aus der Stoffhülle, um sich anschließend im Schneidersitz vor Jacks vollends verwirrtem Blick niederzulassen. Chris saß halbnackt, er hatte jedenfalls kein Oberteil an, da und schmatzte verträumt vor sich hin, rieb sich in den Augen und legte den Kopf schief. Die schwarze Kette baumelte um seinen Hals herum und streifte seine Brust. Als er Jack sah, wie er immer noch perplex dastand, einen Ärmel im Hemd, das sonst nur auf seinen Schultern hing, kehrte ein breites Grinsen auf seinem Gesicht ein.
„G-Guten Morgen“, brachte Jack stotternd hervor. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, über die Sinnhaftigkeit dieser Erscheinung nachzudenken, sondern hastete mit dem anderen Arm so schnell es nur ging durch den anderen Ärmel und drehte sich ruckartig weg von dem Blonden. Unter das Bett kriechen konnte er schlecht, dann wäre er direkt unter ihm. In diesem Augenblick verfluchte er das kleine Zimmer, das keinerlei Möglichkeiten zum Entziehen fremder Blicke bot. Ungeachtet vom Schock spürte Jack das Blut in seinen Kopf schießen. Warum nur, warum immer dieser dämliche blonde Typ? Konnte er sich jetzt nicht einmal mehr in Ruhe anziehen? Offensichtlich nicht, denn schon wieder saß er ihm in einem ungünstigen Moment im Nacken. Buchstäblich.
„Wie spät ist es?“ Die Banalität in der Stimme dieses Kerls machte Jack wütend. Sollte er doch selber auf seine Uhr schauen. Mit zitternden Händen knöpfte er die Knöpfe seines Hemds zu. Er bemühte sich, seinen Atem ruhig zu halten, was sich in der Praxis als deutlich schwieriger erwies.
„Halb zehn.“
„Ah. Ist ja noch recht früh.“
Jack hörte, wie die Stille den Raum wieder erfüllte. Immer noch hatte er Chris den Rücken gekehrt. Ein Knopf verhielt sich widerspenstig. Jack drückte aufgebracht daran herum, bis er bemerkte, dass er einen Knopf übersprungen und deshalb die ganze Reihe falsch geknöpft hatte. Bald würde ihm der Kragen platzen. Eines seine Augenlider zuckte bereits unkontrolliert und ein genervtes Schnaufen verhalf Jack zumindest kurzzeitig zum minimalistischen Frustabbau.
„Hast du schon gefrühstückt?“
„Nein“, antwortete Jack barsch. Er sollte sich dringend zügeln, immerhin hatte Chris ihm nichts getan.
„Alles okay bei dir?“ Diese Stimme machte ihn verrückt. Er ließ von dem halbgeöffneten Hemd ab und drehte sich zu dem Blonden um.
„Ja, alles bestens.“ Ein skeptischer Blick musterte ihn.
„Du hast da, also dein Hemd…“
„Ich weiß, danke.“ Jack wandte sich wieder von Chris ab und öffnete nun alle Knöpfe wieder. Langsam beruhigte er sich.
„Du hättest ruhig sagen können, dass du auch hier drin bist. Ich hab gedacht ich wär allein.“
„Wie soll ich dir denn Bescheid sagen wenn ich schlafe?“, schmunzelte Chris, der Jacks Kleidungsprobleme amüsiert von oben beäugte. „Du hättest mich doch eigentlich sehen müssen.“
„Hab ich auch, aber ich hab dich nur für eine Decke gehalten.“ Jetzt, wo er darüber nachdachte, kam Jack sich wirklich dämlich vor. Nur aus Stolz hatte er nicht länger als ein paar Sekunden auf das Bett über seinem geschaut. Er hatte es nicht anstarren wollen, nicht so wie er denjenigen angestarrt hatte, der darin schlief. Die Situation hier hatte er einzig und allein sich selbst zuzuschreiben.
„Mich für eine Decke gehalten? Sehr charmant.“
Wieder hörte Jack ein Rascheln, gefolgt von einem dumpfen Aufschlag. Als er sich, jetzt mit richtig geknöpftem Hemd, umdrehte, stand Chris vor ihm. In dem kleinen Zimmer am Ende des Gangs war kein Platz für viele Menschen, so standen sie nur einen knappen Meter voneinander entfernt. Jack gefror in seiner Bewegung angesichts der Tatsache, dass er weder an Chris vorbei zu seinen Sachen, noch zurück und raus auf den Gang laufen konnte. Wie gelähmt stand er da, schaute abwechselnd von dem Gesicht des Jungen zu dem nackten Oberkörper, zu den blonden, strubbeligen Haaren und zurück zum perfekt proportionierten Muskelspiel, das sich unter der leicht gebräunten Haut abzeichnete. Unter der karierten Boxershorts war trotz ihrer Weite und des schlabberigen Stoffs eine leichte Wölbung zu erkennen. Die Beine standen fest auf dem Boden. Keine Windhose, kein Orkan wäre imstande gewesen, sie und das Selbstvertrauen dieses Jungen zu entwurzeln.  Vielleicht machte auch Letzteres ihn so unglaublich attraktiv. Jack tat einen Schritt nach vorn. Sein Gehirn setzte aus. Aus dem Augenwinkel nahm er noch den erstaunten Blick wahr, der ihm zugeworfen wurde. Sein Blick dagegen war gesenkt. Noch einen Schritt ging er, einen kleineren. Jetzt stand er unmittelbar vor ihm. Sein Hemd kitzelte bereits die Haut, seine Haare das rechte Ohr des Jungen. Jack sog tief die Luft ein, jedes Duftmolekül, welches von der Haut seines Gegenübers entwich, fing er auf und genoss es. Er roch nach Schweiß, aber nicht schlecht. Nein, es war dieser eine, dieser männliche Geruch, wie jeder Mann ihn besaß. Und der trotzdem genauso individuell war, wie der Mann, der ihn verströmte, der sich stets in der Note und Wirkung unterschied. Ein Rest des Parfüms von gestern Abend lag noch darunter. Jack tat nur einen einzigen Atemzug, aber dieser erschien ihm wie eine Minute voller Sehnsucht, Verlangen, Hoffnung. Hitze staute sich an jedem Kubikzentimeter seines erstarrten Körpers. Als er ausatmete, erzitterte er.
„Könnte ich kurz mal vorbei?“ Die Worte kamen klar aus seinem Mund wie keines seiner vorherigen. Jetzt war es Chris, der stutzte. Jacks Atem hatte auf seiner Haut kleine Luftpolster entstehen und ihm die Härchen zu Berge stehen lassen. Kurz war es, als würden klirrende Kälte und erbarmungslose Hitze abwechselnd im Raum zirkulieren.
„Äh, ja klar.“ Chris schob sich langsam und zögernd an Jack vorbei und verschaffte diesem damit Zugang zu dessen Sachen. Wie geistesabwesend packte er die alten Kleidungsstücke und stopfte sie achtlos in den Rucksack zurück. Chris beobachtete das Treiben seines Zimmergenossen und legte die Stirn in Falten, die gleichermaßen von Skepsis als auch deutlich von Verwirrung zeugten. In ihm brodelte die Frage, warum Jack sich so benahm, was das gerade war und wie er es deuten sollte. Ob ihn das Klima wohl leicht verstimmte? Er klang vorhin irgendwie weniger freundlich als am Vortag. Vielleicht hatte er auch schlecht geschlafen. Chris war es im Nachhinein unangenehm, dass er gerade eben nicht vorher zur Seite getreten war. Jack hatte ihn auch noch erst darum bitten müssen, da hätte er früher reagieren sollen. Während er sich dieser Selbstjustiz unterzog und dabei nachdenklich umherschaute, rauschte Jack an ihm vorbei, Kopfhörer und Zahnputzutensilien in der Hand.
„Gehst du gleich zum Frühstück?“, rief Chris gerade noch, als Jack schon dabei war die Tür hinter sich zu schließen.
„Ne, ich hab noch keinen Hunger. Später vielleicht.“
„Später ist das Frühstück aber schon vorbei“, rief Chris noch. Aber die Tür schnappte bereits ins Schloss und Jack war verschwunden, ehe er Chris zuhören, geschweige denn ihm antworten konnte.

Den Morgen verbrachte Jack, der äußerst zufrieden war, dass er, als er vom Zähneputzen zurückkam, ein leeres Zimmer vorfand, mit Planungen für diesen und die nächsten zwei Tage. Es war Mittwoch, der 24. Juni. Jack schaltete seinen Laptop an und steckte den Netzteiladapter in die Steckdose. Australische Steckdosen hatten drei Löcher, nicht wie in Europa nur zwei. Ein zusätzlicher Adapter musste also vor jeder Benutzung die beiden inkompatiblen Teile verbinden. Jack hatte sich vorgenommen ein Reisetagebuch zu schreiben, ein weiterer Grund dafür, dass er seinen Laptop mitgenommen hatte. Er schrieb anderthalb Seiten voll mit den bisherigen Erlebnissen. Auch zu Chris schrieb er jetzt mehr, als er vorher seinen Freunden oder seiner Schwester erzählt hatte. Er erwähnte die blauen Augen und ein „ganz nettes Lächeln“ dabei zwar nur kurz, aber immerhin erwähnte er sie überhaupt.
Etwa eine Stunde saß Jack da und tippte auf der Tastatur herum. Zwischendurch kamen George und Peter vorbei und holten ihre Sachen für einen kleinen Ausflug ab. Außer einem kurzen Wortwechsel mit Jack kam es zu keiner weiteren Konversation. Jack schloss das Dokument und öffnete Skype, dort war aber keiner online, mit dem er hätte schreiben wollen. Er fuhr den Laptop herunter und legte ihn zur Seite, räkelte sich ausgiebig und stand dann auf. Sein Magen knurrte. Er hatte seit gestern Vormittag nichts mehr gegessen.

‚Ich habe noch keinen Hunger, so ein Quatsch‘, dachte Jack und verpönte sich selbst dafür, dass er derartiges vorhin von sich gegeben hatte. Dann jedoch schob er es darauf, dass er wohl zu diesem Zeitpunkt wirklich noch keinen Hunger gehabt haben muss, packte den Rucksack mit Karten und anderen wichtigen Dingen voll und verließ dann reinen Gewissens das Zimmer und das Hostel.

Weil der Weg nicht weit war, lief Jack in den kleinen Vorort. Die Stadtkarte von Darwin erfüllte dabei ihren Zweck, denn hier hatte Jack kein Internet auf dem Handy, um sich per digitaler Karte zu orientieren. Es war jetzt Vormittag und die Sonne stand schon wieder hoch am Himmel. Zu allererst würde Jack sich nach Sonnencreme und einem geeigneten Sonnenhut umsehen. Sich ohne Kopfbedeckung der australischen Sonne auszusetzen war praktisch der Richtspruch und das Urteil zu Sonnenstich oder Hitzekoller. Nahezu alle Menschen, denen Jack auf der Straße begegnete, waren sich dieser Tatsache wohl bewusst und hatten sich in langärmlige Kleidung gehüllt. Große und bunte Hüte wackelten durch die Straßen. Die Sonne würde bald ihren Höchststand erreichen, zwischen elf und vierzehn Uhr brannte sie am heftigsten auf den roten Kontinent herab. Jack benötigte einige Dinge, die er aus Platzgründen nicht aus Deutschland mitgenommen hatte. Seine Sonnencreme, die er vorher schon einmal mit ihm Urlaub hatte, war auch nur noch halbvoll, die Cap, die er mitgenommen hatte, schützte gerade so seine Augen vor den beißenden UV-Strahlen. Er lief eine lange, von Palmen gesäumte Allee entlang und erreichte nach einigen Minuten, die er links und rechts nur Einfamilienhäuser ausfindig machen konnte, das erste Geschäft auf dieser Straße. Ein kleiner Elektroartikelfachmarkt. Jack erinnerte sich an ihn, bei der Hinfahrt waren sie daran vorbeigefahren. Auch andere Geschäfte, die ihm bekannt vorkamen, passierte er. Auf der gegenüberliegenden Seite eines Kiosks erspähte er einen Drogeriemarkt. Er wechselte die Straßenseite und betrat den Laden. Eine Weile irrte er orientierungslos durch den Laden, bis er sich in der Ecke mit Kopfbedeckungen wiederfand. Dort gab es zwar eine Vielzahl an Modellen, allerdings sagte ihm optisch keines so richtig zu. Entweder war die Farbe zu schrill, die Form seltsam oder die Verarbeitung mangelhaft. Seufzend stand Jack einige Minuten vor dem Regal herum und überlegte, ob er nicht aus rein pragmatischen Gründen einfach einen Hut mitnehmen sollte, der ihm wenigstens halbwegs gefiel. Eine weitere Minute stand er so da, beäugte kritisch einen hellbraunen Hut und zögerte, sich für diesen zu entscheiden.
„Looking for a hat?“
Der Mann, der zu Jacks Rechten stand, war kein Ladenangestellter. Er trug eine dunkle Weste, Stiefel und eine Art Cowboyhut. Sein Gesicht war leicht eingefallen und ein dichter Schnurrbart bedeckte seine Oberlippe. Die Stimme war  dunkel und rau, als er näher zu Jack herantrat, wehte diesem eine Wolke Nikotingeruch entgegen.
„Yeah, right“, antwortete Jack dem Fremden auf dessen Frage. Seine Kehle schnürte sich angesichts des penetranten Geruchs zusammen. Der Mann ging noch einen Schritt näher auf ihn zu. Er überragte Jack um einen ganzen Kopf, was dieser ehrfürchtig zur Kenntnis nahm. Der Mann murmelte etwas und stellte sich grübelnd vor das gleiche Regal. Dann schüttelte er den Kopf.
„If you wanna buy a great hat“, raunte er dann, „watch out for the shop near to the Darwin Cinema. It’s just five minutes walking from here.“
Jack ordnete kurz das Gesagte in seinem Kopf und merkte sich ‚Darwin Cinema‘. Durch den starken Akzent war es deutlich schwieriger den Mann akustisch zu verstehen. Dennoch bedankte er sich für den Tipp und der Alte erzählte ihm noch etwas über den besagten Laden, es handelte sich wohl um ein Geschäft für Outdoor Kleidung. Nachdem der Mann abgezogen war und Jack noch eine große Tube Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 40 gekauft hatte, verließ er den Laden und machte sich auf die Suche nach dem Outdoor Shop. Bald schon wurde er fündig und begutachtete die dort aufgeführten Kopfbedeckungen. Als Jack den Shop verließ hatte er nicht nur einen coolen Hut, sondern auch gleich die Visitenkarten von zwei anderen Australiern, die ihn noch in dem Geschäft in ein nettes Gespräch verwickelt hatten. Bei der Offenheit und Freundlichkeit, die den Australiern nachgesagt wurde, schien es sich also tatsächlich nicht um einen Mythos zu handeln, sondern um eine angenehme Tatsache.

Den Rest des Mittags zog Jack durch die Straßen Darwins. Er ließ sich in einem Fachgeschäft beraten und kaufte sich eine Prepaid Karte für sein Handy, eröffnete ein australisches Konto bei der Commonwealth Bank und fand sich nach dem geschäftlichen Teil auf einer hochgelegenen Terrasse wieder, auf der er sein erstes australisches Eis aß und entspannt auf das Meer blickte.
‚So habe ich es mir vorgestellt‘, dachte sich Jack. Vor seinen Augen schien die Sonne auf den Wellen herab, die gegen die Brandung schlugen und durch die vielen tausend Wassertröpfchen in der Luft einen schillernden Regenbogen über die Uferböschung malten. Die Palmen und Farne wiegten sich im salzigen Wind, der vom Ozean zur Küste wehte und um Jacks Nase strich. Es war wunderschön. Auch am späten Nachmittag war es immer noch sehr warm. Der Himmel war blau wie ein geschliffener Saphir und wolkenlos. Jack saß fast eine ganze Stunde auf der Terrasse. Dann erinnerte er sich an Mirko und zog sein Handy heraus, auf dem er jetzt eine brauchbare Nummer hatte, und schrieb eine SMS an ihn.

Hey Mirko, hier Jack. Alles klar? Australien ist klasse! Du wolltest meine Nummer, hier ist sie: 040/533 7625
Gruß, Jack

Er drückte auf Senden und nach wenigen Sekunden war die Kurznachricht weg. Mit seinen Eltern hatte er seit seiner Abfahrt noch gar nicht gesprochen. Seiner Schwester hatte er lediglich gesagt, sie solle schöne Grüße und die Information seines Befindens übermitteln. Er würde vielleicht trotzdem später einmal anrufen. Seine Handynummer müsste er ihnen sowieso noch geben.

Am frühen Abend kehrte Jack zum Hostel zurück. In der Lobby traf er auf George, Hank und Peter, die gerade mit Handtüchern und Badeschlappen bewaffnet strahlend die Treppe herunterkamen. Sie fingen Jack im Flur ab und klärten ihn auf, dass sie auf dem Weg zum Strand direkt hinter dem Hostel waren. Der Sandstreifen dort war zwar nicht riesig, dafür hatten nur die Hostelbesucher Zutritt dazu. Auch brannten sie darauf, dass Jack mitkommen sollte, und der stimmte prompt zu. Bestimmt würde es lustig werden, mit den drei Briten. Sie hatten sich ja bisher jedenfalls als außerordentlich freundlich und redselig entpuppt. Sie versprachen Jack zu warten und dieser huschte sogleich hoch aufs Zimmer, schloss auf, packte Badehose, Handtücher und die neue Sonnencreme ein und flitzte wieder runter zu den anderen. Diese hatten ihr Wort gehalten und zusammen verließen sie das Hostel in Richtung Küste. Der Weg war etwa zwei Minuten zu Fuß, das Meer sah man aber schon von weitem. Jack zog noch im Laufen seine Schuhe aus und konnte es kaum erwarten, den Sand unter seinen Füßen zu spüren. Sie erreichten die kleine Bucht und in einem Anfall von Nostalgie und Glücksgefühlen schritt Jack immer schneller auf das Wasser zu. Schnell cremte er sich noch ein, um sich nicht die Haut zu verbrennen und jagte dann mit den anderen drei den Wellen entgegen.
Eine Dreiviertelstunde tollten sie herum, schwammen, tauchten und ließen sich auf dem salzigen Meerwasser treiben. Die Sonne errötete bereits und senkte sich über den Horizont, als sie endlich aus dem Wasser stiegen. Nach wie vor war die Luft warm. Jack nahm sein Handtuch von dem Ast des Baums, wo er es aufgehängt hatte, setzte sich in den Sand und schlang es einmal um sich herum. George und Hank setzten sich neben ihn und schmunzelnd schauten sie zu Peter rüber, der einen Schlappen vorhin im Sand vergraben hatte und ihn nun nicht mehr wiederfand.
Sie verbrachten noch einige Zeit damit, sich Geschichten zu erzählen und über Australien, Australier und das Leben hier als Backpacker zu reden. Die Sonne wohnte ihren Gesprächen bei, verabschiedete sich dann jedoch vollständig und ließ einen violetten Farbfilm am Horizont zurück, bis auch dieser wich und einem dunkelblauen Abendhimmel Platz machte. Langsam wurde es kühler, und sie beschlossen wieder zum Hostel zurückzugehen. So marschierten sie, der arme Peter immer noch mit nur einem Schuh, den  schmalen Weg hinauf zum Banyan. Dort kamen sie genau richtig an, denn die Gemeinschaftsküche war bereits in regem Gebrauch und sie wurden auch noch miteingeplant. Jack streckte auch kurz den Kopf durch die Tür und sah eine Reihe Mädchen und Frauen, der Altersunterschied schien bei den weiblichen Gästen ein deutlich breiteres Spektrum zu haben, zwei paar Kerle, die er noch nie gesehen hatte und Chris, der mit dem Rücken zu ihm saß und von vier aufgeregt schnatternden Mädchen umringt wurde. Jack zählte elf Personen, zehn davon kannte er nicht. Obwohl, doch, die Mädchen, die Chris gerade deutlich für sich beanspruchten, waren wohl die vom Pool am vorigen Tag. Jack konnte ein schadenfrohes Schmunzeln nicht unterdrücken, als er Chris laut seufzen hörte, der von allen Seiten mit Fragen bombardiert wurde. Weil sie noch in Badeklamotten waren und Salz und Sand noch in ihren Haaren klebten, wollten er und die anderen eigentlich erst noch duschen gehen. Sie reduzierten den Vorgang wegen des Abendessens aber auf das grobe Wegrubbeln des Sandes und auf einen schnellen Kleiderwechsel, denn bei jedem von ihnen brodelte ein schwarzes Loch im Magen. Bevor sie wieder runtergingen schaute Jack noch schnell auf sein Handy. Neue Nachrichten hatte er aber keine, vermutlich war Mirko bis jetzt zu beschäftigt gewesen oder schlief. Zwischen Australien und Singapur lagen schließlich auch einige Zeitzonen. Er legte sein Handy also wieder weg und lief den anderen hinterher. In der Küche angekommen wurden bereits die ersten Würstchen und Steaks verteilt. Als Jack durch die Tür trat hatten einige schon an dem langen Tisch Platz genommen, der mitten im Raum stand. Glücklicherweise waren nicht noch mehr Leute hinzugekommen, denn es war Jack schon jetzt etwas unruhig und voll hier.
„Hey, Jack!“, rief Chris, der sich offenbar für einen kurzen Moment der Meute entledigt und umgedreht hatte. „Ich hab dir einen Platz freigehalten“, sagte er und nickte gleichzeitig zu seiner linken Seite, wo tatsächlich ein leerer Stuhl stand. Jack war sich kurz unschlüssig was er sagen sollte, schaute vorsichtshalber nochmal nach anderen freien Plätzen, als aber sein Blick an Chris‘ Augen hängenblieb, und dieser ihn mit einer Art panischen, fast schon flehenden Miene ansah, setzte Jack ein Lächeln auf und ging auf ihn zu.
„Danke, wär nicht nötig gewesen.“
Chris neigte seinen Kopf etwas in Jacks Richtung und flüsterte, mit einem verlegenen Lächeln: „Ich habe zu danken, jetzt habe ich wenigstens kurz meine Ruhe“.
„Selbst Schuld“, lachte Jack und grinste Chris hämisch an. Dieser zog gespielt beleidigt eine Schnute und murmelte noch vor sich her: „Man, Männer müssen doch zusammenhalten“.
„Sicher“, lachte Jack immer noch, denn ihn amüsierte das köstlich. Schließlich hatte Chris gestern so enthusiastisch zurückgegrüßt, da war es kein Wunder, dass er dafür nun zur Rechenschaft gezogen wurde. Die vier betroffenen Mädchen saßen alle verstreut am Tisch und schwatzten schon wieder andere Leute an. Neben Jack saß einer der Kerle, die er noch nicht kennengelernt hatte. Der Typ war breit gebaut, die Muskeln strotzten nur so hervor, das sah man sogar unter dem dünnen Pullover, den er trug. Sein Gesicht war markant und er trug einen Dreitagebart zu Gesichte. Jack hatte auch schon mehrfach mit dem Gedanken gespielt, sich auch mal eine Rasierpause zu gönnen. Zumindest hatte er jetzt schon bei einigen gesehen, dass es einen nicht nur älter wirken ließ, was aber eindeutig der Nebeneffekt war, sondern auch tatsächlich gut aussehen konnte. Jedenfalls passten die dunklen Stoppeln gut zu dem Fremden, und bei Chris war das ohnehin eine unbestreitbare Tatsache. Jack verstand irgendwie nicht, wie man so gut aussehen konnte. Zwar schaute er den Blonden neben sich nicht an, aber alleine die kurzen Augenblicke gerade hatten Jack das gute Aussehen unmissverständlich wieder ins Gedächtnis gerückt. Obwohl es vielleicht auch nur sein eigener Geschmack war, den er in dem Jungen wiedererkannte. Immerhin hatten sie eine ähnliche Statur, und auch das Gesicht war schmal, wie seines. Kurz sah Jack prüfend zu Chris, der gerade einen Teller entgegennahm. Naja, bis auf die Statur und ähnliche Gesichtszüge hatten sie doch nicht wirklich viel gemeinsam. Höchstens den Kleidungsstil. Weil Jack damit seine eigene Ausrede, er nannte es insgeheim These, selbst widerlegt hatte, gab er sich Mühe, diesen Gedankengang schnell beiseite zu schieben. Doch zuvor ertappte er sich noch bei etwas, dass ihm ein verwirrtes Lächeln über sich selbst aufs Gesicht brachte: „Obwohl Männer dies natürlich nie zugeben würden, so augenscheinlich es auch sein mochte.“ Im Zusammenhang mit seinem eigenen, guten Aussehen hatte er das mal gesagt. Jetzt merkte er, dass er ironischerweise Recht gehabt hatte. Chris sah einfach verdammt gut aus, und trotzdem schob er es auf irgendwelche Ausreden. Er war mit Sicherheit nicht der einzige Mann, der so dachte. Beruhigt von diesem Gedanken wandte er sich seinem Sitznachbarn wieder zu und bekam prompt einen Teller gereicht.
„Hier, ihr ward ja gerade weg, deshalb war ich mal so frei, ein Steak für dich zu bestellen.“
„Oh, danke. Das war…“
„Nicht nötig. Das sagst du viel zu oft“, grinste Chris und Jack stellte verdutzt fest, dass er Recht hatte. Verlegen rieb er sich mit der Hand im Nacken.
„Hehe, ja, das mag sein. Danke jedenfalls, und guten Hunger!“
„Gleichfalls“, nuschelte Chris und hatte schon ein Stück Fleisch im Mund. Auch die anderen wünschten noch einen guten Appetit und dann aßen sie. Zwischendurch unterhielt sich Jack auch mal mit dem fremden Kerl, einem Iren, dessen starker Akzent Jacks auditive Englischkenntnisse bis an ihre Grenzen brachte, und es war ihm peinlich, dass er so oft nachfragen musste, weil er etwas nicht verstanden hatte. Wie er später feststellte, war er damit aber nicht allein. Als sich eins der Pool-Mädchen mit dem Muskelprotz unterhielt, naja, unterhalten wollte, dauerte es etwa eine Minute, bis sie sich einfach wegdrehte und mit ihrer Freundin weiterquatschte, weil sie wirklich nichts verstand.
„Ich glaub die eine da ist scharf auf dich“, raunte Chris plötzlich in Jacks linkes Ohr, als dieser gerade sein Besteck niedergelegt hatte. Unauffällig deutete Chris mit einem kurzen Nicken zum Ende des langen Tisches.
„Wie kommst du denn darauf?“, fragte Jack ungläubig, obwohl  es natürlich nicht das erste Mal gewesen wäre, dass ihm eine besondere Aufmerksamkeit zuteilwurde.
„Ist doch offensichtlich. Die starrt dich schon die ganze Zeit an, und außerdem tuschelt sie ständig mit ihrer Freundin. Bei Mädchen hat das immer den gleichen Grund.“
Genervt, aber doch von Neugier getrieben wagte Jack einen kurzen Blick in die angedeutete Richtung, und tatsächlich funkelten die Augen des Mädchens ihn kurz an, bevor sie verlegen auf ihren Teller schaute und in ihrem Essen herumstocherte.
„Ach, du hast einen an der Waffel“, maulte Jack, der auch nur irgendeine Art von Interesse an dem Mädel nicht erwidern konnte. „Die schaut bestimmt zu dir. Vorhin hattest du die Weiber doch auch schon um dich geschart.“
Chris schaute ungläubig in Jacks Augen und kam noch ein Stück näher, was Jack sich leicht anspannen und automatisch ein paar Zentimeter zurückweichen ließ.
„Und wie kommst du darauf, dass sie Interesse an mir hat, und nicht an dir?“
Jack schnaubte verächtlich. „Guck dich doch mal an.“ Autsch. Fehler. Ganz dummer Fehler Jack. Erst nachdenken, dann reden. Schluckend sah er erst auf den Teller vor sich, dann auf das Wasserglas, welches er fest umklammerte und dann wieder in Chris‘ Gesicht. Der hatte plötzlich ein hochamüsiertes Grinsen auf den Lippen, und Jack ahnte, dass es nur wegen seines dämlichen Kommentars sein konnte.
“So so, verstehe“, grinste der Blonde und funkelte Jack plötzlich durchdringend an. Dieser brachte es nicht fertig wegzusehen. Dieses Blau nahm ihn einfach gefangen. Schon wieder.
“Kommst du gleich noch mit in die Sauna?“ Der fixierende Blick war verschwunden und Chris sah Jack nun fragend an. Seine Stimme war auf einmal so freundlich und sanft. Jack lehnte sich ein Stück von ihm weg, ehe er über die Frage nachdachte. “Ähm, also ich...“ “Duschen musst du sowieso noch, deine Haare sind noch voller Sand“. Mit diesen Worten hob Chris seine Hand und Jack zuckte reflexartig zusammen. Doch gleich im nächsten Moment spürte er eine warme Hand auf seiner Stirn, Finger gruben sich in sein Haar und ehe er irgendetwas sagen konnte, wuschelte Chris ihm demonstrativ durch die Haare. “Siehst du?“, lächelte der zufrieden und fegte dann die Sandkrümel vom Tisch, die Jack auf seinem Kopf eingeschleppt hatte. Jacks Herz klopfte im bis zu Hals. Er schluckte. Die Berührung von Chris' Hand hatte bei ihm ein seltsames Gefühl ausgelöst. Sein Mund war trocken, und noch immer klammerten sich seine Finger um das Glas, in welchem das Wasser unter dem Zittern seiner Finger kleine Wellen schlug.
“Also?“, hakte Chris nach.
“Also, ähm... Ja gut, meinetwegen.“
Für diese Antwort hätte Jack sich zum zweiten Mal in so kurzer Zeit ohrfeigen können. 'Du bist so ein verdammter Vollidiot Jack'. Doch es half nichts, er hatte zugesagt. Begeistert strahlte Chris ihn an. Die anderen Leute am Tisch hatten zu Jacks Beruhigung nichts von seinen seltsamen Gefühlen mitbekommen, zumindest guckte keiner ihn oder seinen Nachbarn komisch an. Außer das eine Mädchen, aber das war ihm herzlich egal. Sie saßen noch eine Weile mit den anderen zusammen und schließlich stellten sich auch noch alle gegenseitig mit Namen vor. Als sich dann George und die anderen zwei Zimmergenossen erhoben und das Geschirr wegstellten, stand auch Jack auf, dankte für das Essen und verließ dann schnell den Raum. Das Salz auf seiner Haut brannte etwas. Er musste dringend duschen. Auf dem Zimmer angekommen hatten die drei anderen das gleiche im Sinn, Jack ging allerdings nicht mit ihnen zu den Duschräumen. Er nahm sein Handy vom Ladekabel und schaute darauf. Die kleine LED Lampe blinkte grün auf, Mirko hatte zurückgeschrieben. Ein freudiges Kribbeln durchzog Jack und gespannt öffnete er die SMS. Sie war erst vor zwei Minuten angekommen.

Hey Jack! Danke für die Nummer, freut mich dass du mich nicht vergessen hast. Schön, dass du gut angekommen bist. Mir geht es auch gut, habe zwar viel zu tun und komme kaum zum Schlafen, aber der Job macht mir Spaß! Melde mich in vier Tagen nochmal, dann habe ich ein paar Tage frei, bevor es nach Deutschland zurückgeht. Mirko.

Der Länge der Nachricht konnte man entnehmen, dass Mirko sich wirklich keine Sorgen um sein Handyguthaben machen musste. Jack tippte vor sich her lächelnd eine kurze Antwort ein. Noch während er schrieb hörte er Chris hinter sich durch die Türe kommen.
“Und, bereit?“, fragte er, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte und sofort zwei Handtücher zusammensuchte. Jack nickte, war sich dann aber nicht sicher, ob Chris das gesehen hatte und stellte vorsichtshalber ein “Ja“ hinten an. Auch er packte dann seine Duschsachen ein und schließlich schlenderten sie gemeinsam den Gang entlang, gingen die Treppe hinunter und erreichten dann den Sauna- und Duschvorraum. Hier war es genauso dunkel wie zuvor, aber Jacks Augen waren gerade dankbar dafür. Müde trabte er Chris hinterher und erreichte mit ihm den Duschraum. In drei Duschkabinen prasselte bereits Wasser auf den Boden und Schaum lief in einen Abfluss, der sehr dezent an der Seite jeder Dusche verlief. George, Peter und Hank waren ihnen wohl zuvorgekommen. Weil jetzt nur noch eine Dusche frei war, schauten sich Chris und Jack gleichzeitig fragend an.
„Du oder ich?“
„Du“, beantwortete Jack die Frage genauso knapp, wie sie gestellt wurde. Er registrierte nur noch ein Nicken und sah Chris hinterher, wie er in der Duschkabine verschwand. Es dauerte noch ein paar Minuten, bis in einer anderen das Wasser abgedreht wurde. Ungeduldig lehnte Jack an einem Waschbecken und tappte von einem Bein auf das andere. Als sich dann endlich die Tür öffnete, trat George heraus. Er grüßte Jack kurz, rief den anderen beiden noch etwas zu und verschwand dann.
Als Jack auch mit Duschen fertig war und aus der Kabine trat, wartete Chris bereits mit einem Handtuch um die Hüften gebunden auf ihn und zusammen gingen sie zur Sauna. Quietschend öffnete sich die hölzerne Tür und gewährte ihnen Einlass in den dunklen, kleinen Raum. Ein Gefühl der Nostalgie breitete sich in Jack aus.
„Ist schön, mal wieder in einer Sauna zu sein.“
„Ach. Sagtest du nicht, ihr habt eine zu Hause?“
„Schon“, gab Jack zu, „aber ich habe sie schon lange nicht mehr benutzt.“
Der erste Aufguss brachte zischend eine Woge heißer Luft in Bewegung, die sich sogleich im Raum auszubreiten begann.

„Wie lange sollen wir?“
„Fünfzehn Minuten sind erst einmal gut, denke ich.“
„Willst du oben liegen?“
„Wenn du nicht möchtest, gerne.“
Jack stieg über die zwei niedrigeren Bänke, die aus abgerundeten Holzplanken bestanden, hoch zur obersten Bank. Dort, unmittelbar unter der Decke würde sich die heiße Luft sammeln und die Temperaturen ins Extrem treiben.
Die nächsten zehn Minuten war außer dem immer schwereren Atmen der beiden Jungen nichts zu hören. Auf Jacks Haut liefen Schweißperlen mit einer gewissen Regelmäßigkeit in das Handtuch unter ihm. Ab und an war ein tiefer Seufzer oder ein angestrengtes Stöhnen zu hören. Jack bewegte sich schon an der Grenze zum Einschlafen, so müde war er, als die Stimme des Blonden ihn wieder zurückholte.

„Und, hast du schon jemanden gefunden?“
„Hm? Wie meinst du das?“
„Na, jemanden mit dem du weiterreisen wirst.“
Eine ungewohnte Unsicherheit lag in Chris‘ Stimme. Jack dachte nach.
„Nein, habe ich nicht. Du?“
Er hörte wie Chris den Kopf schüttelte. Schweigen. Doch plötzlich, ohne dass Jack weiter darüber nachdachte, schlich sich ein zartes Lächeln auf seine Lippen.
„Naja, vielleicht habe ich doch jemanden gefunden.“

Kapitel 8: Morgen, Latte?


Nervös drückte Jack auf den Tasten des Telefons herum. Die Nummer, die er von der Hostelangestellten bekommen hatte, gehörte zu einer Mango Farm, die etwa eine Dreiviertelstunde südlich von Darwin lag. Jack hatte sich über alle Bedingungen im Internet informiert und sich dann entschlossen, mal dort anzurufen und nach möglichen Jobangeboten zu fragen. Doch vor seiner ersten telefonischen Bewerbung, noch dazu auf Englisch, musste er sich selbst erst einmal mehrfach beruhigen. Telefonate gehörten ohnehin nicht zu seinen Stärken. Er begegnete den Leuten, denen er etwas mitteilen wollte, lieber Angesicht zu Angesicht.
„Was ist, wenn sie nur für einen von uns einen Job haben?“
„Hm.“ Jack starrte unschlüssig auf den Hörer. „Dann suchen wir uns eine andere Farm.“
Chris gab sich mit der Antwort nicht zufrieden.
„Aber wenn du nur wegen mir den Job nicht kriegst, dann-“
„Dann ist es nicht schlimm und wir suchen trotzdem woanders weiter. Könntest du kurz woanders hingehen? Ich kann nicht gut telefonieren, wenn jemand dabei ist.“
Chris nickte mehr oder weniger befriedigt und drehte sich von Jack weg. Er hatte irgendwie ein schlechtes Gewissen. Jack hatte ihn gestern Abend gefragt, naja, um ziemlich viele Ecken herum die Frage angedeutet, ob er nicht vorerst mit ihm reisen wollte, woraufhin er zugestimmt hatte. Wenigstens die ersten paar Tage, vielleicht ja auch Wochen, würde er nicht alleine sein. Zwar hatten ihn die Mädchen vom Pool mehrfach angebettelt mit ihnen zu kommen, aber Chris hatte da so ein Gefühl gehabt. Außerdem war es anfangs sicher einfacher, mit jemandem zu reisen, dessen Sprache er teilte.
Er hörte Jack leise reden. Der machte sich ganz gut, soweit Chris das überhaupt beurteilen konnte, denn er stand zwei Ecken weiter mit gespitzten Ohren und vor der Brust verschränkten Armen an einer Wand und lauschte gespannt. Als Jack das Telefon auf die Gabel hing, trat Chris ihm entgegen und wurde von einem halb lächelndem, halb emotionslosen Blick empfangen.
„Und?“, wollte Chris wissen und positionierte sich wissbegierig vor Jack.
„Die hätten einen Job für uns beide“, teilte dieser mit, „allerdings erst in sechs Tagen. Bis dahin haben sie noch genug Arbeitskräfte. Ich hab ihnen meine Handynummer hinterlassen, die Frau sagte, dass sie sich melden werden.“
Chris schaute nachdenklich vor sich hin und schwieg.
„Sechs Tage sind recht viel. Hast du noch genug Geld, um dich solange über Wasser zu halten?“, fragte Jack, dem der Blick nicht entgangen war.
„Ja, ja klar, hab ich. Das ist nicht das Problem“, antwortete Chris.
„So? Was ist dann das Problem?“
„Wir haben noch eine Nacht, nämlich die heutige, mit den drei Engländern zusammen auf unserem Zimmer. Wenn die weg sind wird aber auch das Zimmer teurer für uns, weil es ein fünf-Personen Zimmer ist.“
„Stimmt, daran hatte ich nicht gedacht. Aber haben wir nicht sowieso nur bis morgen im Voraus gezahlt?“
Chris nickte bestätigend. „Ja.“
„Dann“, Jack zögerte kurz, „lass uns doch ein Doppelzimmer nehmen?“
Der Blonde schaute ihn mit großen Augen an. Eigentlich hatte er damit gerechnet, selbst wieder die Initiative ergreifen zu müssen, aber erstaunlicherweise war das nicht der Fall. Dem verwirrten Gesichtsausdruck folgte ein dezentes Grinsen.
„Was?“, wunderte sich Jack, der jenes Grinsen nicht deuten konnte. Er starrte kurz gebannt in die blauen Murmeln seines - vorläufigen- Reisepartners.
„Nichts“, feixte dieser und kehrte auf dem Fuß um. Ohne ein weiteres Wort verschwand er und ließ den verdatterten Jack stehen.
„Hab ich was Falsches gesagt?“, dachte Jack laut und kratzte sich nachdenklich an der Stirn. Dann wuselte er dem Strubbelkopf hinterher.

Es war zwar nicht die genialste Idee seines Lebens gewesen, aber Jacks Vorschlag, ein Doppelzimmer zu nehmen, hatte sich tatsächlich als lukrativ herausgestellt. Noch am selben Nachmittag hatten sie für weitere fünf Nächte gezahlt, was zwar ihre Budgets deutlich zusammenschrumpfen ließ, für die Zeit der Überbrückung aber dennoch günstiger war, als weiterhin im Mehrpersonenzimmer zu bleiben. Das Zimmer, welches sie am nächsten Morgen bezogen, war nochmal etwa halb so groß - oder eher klein -, wie ihr Vorheriges. Dafür stand aber auch nur ein Hochbett in dem Raum, neben dem ein kleiner Tisch mit einem Stuhl, zwei Schränke und ein Regal angebracht waren. Jack zog zunächst einmal die Vorhänge beiseite und ließ eine Lichtwoge das Zimmer fluten. Von hier aus konnte man in den Garten sehen, sogar auf den Pool und den Wald hatte man einen guten Blick. Chris stellte sich neben Jack an die Fensterbank und stützte seine Ellbogen darauf ab.
„Aha, daher weht der Wind. Jetzt kannst du nackte Haut am Pool beobachten“, lachte er dann, als er feststellte, dass Jacks Blick immer noch an dem hellblauen Becken haftete.
„Du bist wirklich nicht ganz dicht“, maulte Jack und schlug Chris neckisch auf die Schulter, auf dass er endlich Ruhe geben sollte. Stattdessen kugelte Chris sich vor Lachen und auch Jack hielt der ansteckenden Wirkung nicht lange stand.
„Neidisch?“, fragte Jack dann provokant, während er seinen Rucksackinhalt in die Schränke einzusortieren begann.
„Auf jeden Fall!“, rief Chris und ließ sich mit einem beherzten Krachen aufs Bett fallen.
„Schläfst du diesmal oben?“
„Kann ich machen. Magst du es nicht, oben zu schlafen?“
„Ist mir einerlei, aber von oben kannst du besser aus dem Fenster schauen.“
Stöhnend rang sich Jack ein Lächeln ab. Das konnte ja heiter werden.

Nach dem Frühstück verabschiedeten sich Chris und Jack noch von George, Hank und Peter. Sie tauschten noch Handynummern und Emailadressen aus und wünschten sich gegenseitig alles Gute für die weitere Reise. Die nächsten zwei Tage vergingen dann recht schnell. Jack sah sich Darwin noch genauer an, Chris unternahm mit ein paar anderen Hostelgästen einen Tagesausflug in den nahegelegenen Charles Darwin Nationalpark. Am nächsten Tag gingen sie gemeinsam in Darwins Innenstadt ein paar Klamotten einkaufen, abends gab es dann im Hostel ein Barbecue nach australischer Art. In Jacks Portemonnaie sammelten sich tagtäglich mehr Visitenkarten von Menschen an, die ihn willkürlich auf der Straße angesprochen hatten. Schon drei Mal wurde er zu einem Kaffee oder Bier eingeladen, schon zwei Mal zum Essen. Bei all der Freundlichkeit, die ihm entgegengebracht wurde, war er doch froh, als er sich um kurz vor Mitternacht in seine Kissen fallen lassen konnte. Es war ruhig im Zimmer, draußen funkelten die Sterne und ein heller Mond versilberte in sanftem Licht die Welt abseits des Fensters. Chris machte sich gerade zum Schlafen fertig. Ihm entging nicht, wie Jack schon einige Minuten in den Nachthimmel starrte.
„Hast du schon mal unter freiem Himmel geschlafen?“
Jack zuckte kurz zusammen und rückte zur Bettkante, sodass er von oben auf Chris herabsehen konnte. Statt zu antworten, sah er den Blonden nur an und nickte träge mit dem Kopf. Das Silber des Mondes strich über Chris‘ feine Gesichtszüge. Die blauen Augen des Jungen glitzerten, dann jedoch wandte er sich wieder seinem Vorhaben zu und streifte sich die Jeans von den Beinen. Jack rollte wieder auf die andere Seite seines Bettes, zum Fenster hin, starrte wieder die Sterne an. Unter ihm hörte er jetzt, wie sein Mitbewohner raschelnd unter der Bettdecke einkehrte.
„Ich auch“, teilte Chris mit, ein lautes Gähnen folgte. „Hier in Australien ist es bestimmt der Wahnsinn. Wenn die Sicht klar, das Wetter gut und es auch nachts noch warm ist.“
„Mhm“, murmelte Jack nur. Auch er bettete nun seinen Kopf in das, zugegebenermaßen nicht ganz so weiche Kissen. „Kann schon sein.“ Seine Augen fielen vollautomatisch zu. Der Tag war anstrengend gewesen. Vorhin hatte er eine kleine Auseinandersetzung zwischen Chris und einem dieser Pool-Weiber mitbekommen. Sie hatte wohl die „zufällige“ Abwesenheit ihres Freundinnenharems ausgenutzt und war extrem nah zu Chris herangerückt, hatte seine Hand berührt und war sogar drauf und dran, ihn auf die Wange zu küssen. Gar nicht begeistert davon war Chris aufgesprungen und hatte sie nicht unbedingt zimperlich zurückgewiesen. Vermutlich war das schon häufiger vorgekommen, aber Jack hatte sich schnell aus dem Staub gemacht, nachdem er sich beim ungewollten Lauschen ertappt hatte. Auch hatte er Chris später nicht noch darauf angesprochen, es war immerhin seine Sache, was er mit anderen Mädchen - nein, mit anderen Menschen anstellte. Oder auch nicht anstellte. Obwohl Jack natürlich gerne den Grund für Chris‘ extreme Reaktion gewusst hätte.

„Gute Nacht“, raunte Chris vorsichtig nach oben.
„Gute Nacht“, entgegnete Jack leise. Dann nahm ihn die Traumwelt gefangen.

Am nächsten Morgen wusste Jack zu schätzen, dass Chris, genauso wie er, ein außerordentlich überzeugter Langschläfer war. Erst um kurz nach elf öffnete er verträumt seine grünen Augen und sah erst zur Decke, dann aus dem Fenster, aus dessen Richtung die beißende Sonnenstrahlen bei ihm chronisches Blinzeln auslösten. Nur langsam und unter einigen Tränen, die durch das Zusammenkneifen der Augen ungewollt an seinen Lidern hervorquollen, gewöhnte er sich an die Helligkeit. Die saftigen grünen Farben im Garten luden geradezu ein, einen Blick dort hineinzuwerfen. Die Palmen wuchsen unmittelbar vor seinem Fenster, ein paar Meter weiter türmte sich das noch weitaus schönere Waldstück auf, in welchem Jack allein schon auf Anhieb sechs verschiedene Vögel erkannte. Nicht nur visuell, sondern auch akustisch berichteten sie von ihrer Existenz und Jack genoss das Orchester exotischer Stimmen. Unwillkürlich kroch in ihm auch der Gedanke an sein Zuhause hoch. Der Blick aus dem Fenster, der Wald dahinter und das Vogelzwitschern. Doch war dies hier eine gänzlich andere, und nach Jacks Meinung auch viel coolere Atmosphäre. Das mochte aber auch vielleicht nur daran liegen, dass es etwas Neues war. Ein Australier würde sich mit Sicherheit auch für die Singvögel in den langweiligen Laubbäumen in seiner Heimat begeistern können.
„Guten Morgen“, hörte Jack die mittlerweile vertraute Stimme des Blonden hinter sich. Er drehte sich um und robbte mit der Decke wieder zum Bettrand.
„Guten M... Morgen“. Und wieder einmal wünschte sich Jack, er hätte nicht hingeschaut. Chris, der seinen stattlichen Körper gerade ausgiebig streckte und die Hände über den Kopf warf, hatte wohl tatsächlich einen guten Übergang in den Morgen gehabt. Denn unter seiner weiten Boxershorts, die das einzig an ihm vorhandene Kleidungsstück war, zeichnete sich deutlich eine Erhebung der Freude ab. ‚Morgenlatte ahoi‘, dachte sich Jack und vergrub sein Gesicht unter Stöhnen wieder tief im Kissen. Herrje, warum hatte er auch hingesehen. Das attraktive Erscheinungsbild war ja nun nichts Neues, wenn auch nicht weniger Interessantes für ihn, aber den Schwanz des Typen der unter ihm schlief musste er jetzt nicht wirklich auch noch zu Gesicht bekommen. Chris dagegen schien das überhaupt nicht zu stören, im Gegenteil. Er sprang gleich gut gelaunt umher und erkundigte sich bei seinem Handy nach der Uhrzeit.
„Wie sieht’s bei dir mit Frühstück aus?“, fragte er dann Jack. Der brummte irgendetwas Unverständliches in sein Kissen. „Könntest du das nochmal wiederholen?“, lachte Chris belustigt über den Morgenmuffel und streifte sich bereits ein frisches Shirt über den Kopf.
„Ich komme gleich nach“, seufzte Jack und wälzte sich samt Decke wieder herum.
„Na schön, soll ich dir was mitmachen? Spiegelei zum Beispiel?“
Wieder grummelte Jack vor sich hin. Was machte sich der Kerl überhaupt für Gedanken um ihn, er war doch nicht seine Mutter. Andererseits entlockte das imaginäre Bild des blonden Jungen, wie er mit umgebundener Schürze, Topflappen und Pfannenwender bewaffnet vor einem Herd stand und doof vor sich her lächelnd in einer Pfanne herumrührte, Jack ein unfreiwilliges, vergnügtes Japsen, und er musste sich zügeln, nicht laut loszulachen.
„Hey, was ist jetzt daran so lustig?“, erkundigte sich Chris, der - glücklicherweise - von Jacks abstrusem Kopfkino nichts mitbekam.
„Nichts, schon gut“, presste Jack hinter seinem breiten Grinsen hervor, welches er von Chris abgewandt hatte. „Spiegelei klingt gut. Ich komme dann gleich.“
Etwas verwirrt, aber dennoch nicht weniger gut gelaunt verließ Chris schließlich das Zimmer und ließ den Braunhaarigen im Bett zurück. Dieser atmete laut seufzend auf und schlug nun auch seine Bettdecke zurück. Mit den Händen fuhr er sich durch das Gesicht und die Haare, bevor sie letztlich auf seinem Bauch zum Liegen kamen. Gedankenverloren fuhr er dann mit dem rechten Zeige- und Mittelfinger die Konturen seiner Bauchmuskeln ab. Hinauf zu seinen Brustmuskeln, im kleinen Kreis um seine dunkleren Brustwarzen und zurück bis zu den Lenden. Dort entstand bei der sanften Berührung seiner eigenen Hand ein leichtes Kribbeln und kurz zuckte es begehrlich in seinen Fingerspitzen. Doch war für Erleichterung jetzt weder der richtige Zeitpunkt, noch war es der richtige Ort, und so schob Jack sämtliche Gedanken beiseite und entschied sich endlich fürs Aufstehen.
Obwohl er eigentlich ein Morgenduscher war, vorzugsweise wohl auch deshalb, weil er sonst nie richtig wach wurde, zog er heute das bloße Umziehen vor. Vielleicht auch, weil er Chris nicht allzu lange warten lassen wollte. Offenbar machte er sich ja Mühe, wenngleich  Jack auch nicht wusste, wieso überhaupt. Er war sich auch nach wie vor nicht sicher, ob er den Grinsemann nun als Freund oder weiterhin als guten, oder vielleicht auch besseren Bekannten ansehen sollte. An Chucky und Sascha, seine besten Freunde, kam er natürlich nicht heran, aber er war doch ganz nett, das musste Jack zugeben, während er nach einer geeigneten Hose für den anstehenden Tag suchte. Wahrscheinlich würde es wohl beim guten Bekannten bleiben. Wer weiß, wie lange sie noch miteinander zu tun hätten. Noch ein Shirt über den Kopf gezogen, Sneaker an und schon war er auf dem Weg zur Gemeinschaftsküche.
Chris stand mit dem Rücken zu ihm und bemerkte Jack offenbar nicht, da dieser leise durch die Tür huschte und Chris über dem Herd die Abzugshaube angemacht hatte.
„So, da bin ich“, rief Jack deshalb, als er keine Reaktion auf sein Hereinkommen bemerkte. Er sah, wie der Blonde kurz zusammenzuckte, sich dann mit großen Augen zu ihm umdrehte, nur um sich dann erleichtert wieder der Pfanne vor ihm zuzuwenden.
„Schön“, war die einzige Antwort, die Jack bekam, nachdem Chris die Abzugshaube endlich ausgemacht hatte. Es duftete nach Frühstück.
„Kann ich dir irgendwie helfen?“, erkundigte sich Jack, der jetzt etwas doof zwischen fertig gedecktem Geschirr und belegtem Herd herumstand. Er konnte nur ein Kopfschütteln seitens Chris erahnen, denn seine Augen beschäftigten sich plötzlich mit etwas anderem, etwas, das ungewollt seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Der Kerl dort hatte nicht nur ein außerordentlich hübsches Gesicht und einen - mit Verlaub – verdammt heißen Oberkörper, er war offensichtlich auch noch mit einer ziemlich knackigen Rückseite ausgestattet. Der graue Stoff des T-Shirts schmiegte sich an die Schulterblätter und umrahmte die Taille, die lockere Shorts, die gerade noch die Knie verdeckte, deutete einen unverschämt leckeren…

„Auch ‘ne Latte?“
Perplex glotzte Jack in Chris‘ Gesicht. Bitte was? Pure Verwirrung kursierte in seinen Augen.
Latte?
Chris?
Er?
Einen weiteren Moment dauerte es, dann prustete er los. Quiekend und die Hände ins Gesicht schlagend ging er an dem verdattert dreinblickenden Chris vorbei, stützte sich an der Arbeitsfläche ab und grinste breit.
„Danke nein, ich nehme heute nur einen normalen Kaffee.“

Kapitel 9: Mangos und Drachen

„Chris?“
Schnarchen.
„Chris, bist du wach?“
Schnarchen.
„Es ist wichtig!“
Ein tiefer, langer Atemzug. Schnarchen.
„CHRIS, WACH JETZT AUF VERDAMMT!“
In der hintersten und dunkelsten Nische im Bett durchzuckte ein zaghaftes Lebenszeichen den dort aufgeschütteten Deckenberg. Ein genervtes Stöhnen ersetzte diesmal das Guten-Morgen-Ritual.
„Die Tante von der Mango Farm hat nochmal angerufen, morgen früh um acht Uhr sollen wir reisefertig mit unseren Sachen an dem Bahnhofsparklatz hier in der Nähe warten. Ihr Mann wird uns mit dem Auto abholen.“
„Mhm“, kam die Antwort aus der Ecke.
Jack seufzte laut und theatralisch.
„Du bist ja noch schlimmer als ich, es ist schon ein Uhr mittags. Hast du die Nacht nicht geschlafen oder was?“
Eigentlich wurde er selbst das immer gefragt, denn ein Uhr war üblicherweise eine völlig akzeptable Aufstehzeit. Aber hier war er in Australien, da wollte er etwas vom Tag haben. Außerdem war es bereits am frühen Morgen viel zu  heiß zum Schlafen.
„Hab gezeichnet“, grummelte die leicht angefressene Stimme. Chris schien die Hitze in dem kleinen Zimmer nichts auszumachen. Er zog die Decke höher und murrte vor sich hin. Jetzt entdeckte Jack auch die Bleistifte und den Skizzenblock, der neben oder eher unter dem Bett seines Nachbarn lag. Kurz zögerte er, dann bückte er sich nach dem Block und legte die Stifte auf den Tisch. Ein Blick in die Zeichnungen wär sicher interessant.
„Was hast du gezeichnet?“
Schweigen. Es war eine Zeit lang wieder still. Draußen klopfte eine Palme mit den Blättern an das Fenster. Das Wetter war stürmischer als die Tage zuvor, der Wind pfiff an den Scharnieren vorbei.
„Hab einen Wolf gezeichnet.“
Jack mochte Wölfe. Sie waren wild, frei und ungezähmt. Wenn er ein Tier wäre, dann eine Katze oder ein Wolf.
„Darf ich mal sehen?“
So schnell, wie Chris plötzlich aufrecht saß, ihm den Block aus der Hand riss und ihn dann empört anfunkelte, konnte Jack gar nicht denken, geschweige denn reagieren. Der blonde Junge saß mit völlig zerzaustem Haar da, schüttelte energisch seinen Kopf als deutliche Geste der Verneinung. Er hatte seine Augen leicht zusammengekniffen und nun sah man auch deutlich, wie gerötet sie vom dünn gesäten Schlaf waren. Jack kannte das nur zu gut. Nächte durchmachen war total sein Ding, solange er danach lange schlafen konnte. Ansonsten war das lediglich eine Tortur. Wie lange war Chris denn wachgewesen? Plötzlich senkte sich der Blick des Jungen und er starrte auf den geschlossenen Block, strich mit einem Finger darüber, als handelte es sich um ein kostbares Gut in seinen Händen. Sein Gesicht wurde seltsam emotionslos und dann flüsterte er vor sich her: „Nein. Er ist nicht gut geworden.“
Jack stutzte einen Moment, und noch einen Moment länger. Er atmete ruhig. Dann kehrte er dem Blonden den Rücken und ging zur Tür.
„Frühstück?“
Als er sich umdrehte, schaute Chris ihn überrascht an. Noch immer umklammerte er den Skizzenblock mit beiden Händen. Er nickte langsam.


Auch der letzte Tag vor ihrem ersten Job in Australien ging schneller herum als erwartet. Nachdem Jack Chris gelangweilt beim Essen zugesehen und nebenbei in einem Katalog für australische Mode geblättert hatte, waren sie auf eine Einladung der Pool-Mädels mit selbigen mit einem Bus an den Nordstrand von Darwin gefahren und hatten dort zu sechst einen netten Abend verbracht, obwohl es ziemlich windig gewesen war. Jacks Haut war schon nach den wenigen Tagen deutlich dunkler geworden. An seinem Hosenbund entstand nach und nach ein immer kontrastreicheres Bild, weil die Badehose das Sonnenlicht nicht an seinen Unterleib heranließ. Und obwohl er fand, dass es dämlich aussah, könnte er sich doch nicht helfen, denn Nacktbräunen war hier definitiv nicht möglich, aber andererseits würde es ja auch niemand außer ihm sehen. Auf dem Rückweg hatte Chris allen noch ein Eis ausgegeben, ziemlich großzügig, wie Jack fand. Die Mädchen waren zwar doch ganz nett und eine war sogar recht hell im Kopf, aber sie waren doch auch nur zufällige Bekannte. Na gut, er und Chris kannten sich in etwa genauso lange wie die Mädchen ihn, aber das war auch etwas komplett anderes. Immerhin waren sie Zimmernachbarn und zukünftige Arbeitskollegen. Zumindest auf Dauer. Machte das nicht mehr aus ihrer Beziehung als „zufällige Bekannte“? Obwohl es unweigerlich der Zufall gewesen war, der sie zusammengeführt hatte. Trotzdem, man könnte es doch wenigstens als „gute Bekanntschaft“ bezeichnen. Gute Bekannte mit temporär anhaltender Arbeitsbeziehung aufgrund von gleichem Arbeitsplatz. Ja, so war das. Mit Sicherheit.

Der nächste Morgen war stressig. Stressig, wenn man nach australischer Stressmessung geht. Um halb sieben wurde Chris von Jacks Handywecker aus dem Schlaf geholt. Orientierungslos griff er nach seinem eigenen Handy, bevor er registrierte, dass es nicht seines war. Er zog die Decke beiseite und setzte sich auf den Bettrand. Das Vibrieren des Mobiltelefons auf dem harten Holztisch hallte in seinem Kopf wider. Das erste Mal seit sie in Australien angekommen waren, hatten sie überhaupt einen Wecker gestellt.
„Jack“, maulte Chris genervt und rieb sich in den Augen. „Mach deinen Wecker aus. Ich bin wach.“
Oben auf dem Bett war ein unbeholfenes Stöhnen zu hören. Das Vibrieren wurde schneller, lauter.
„Jack! Bitte!“
Der Typ rührte sich doch tatsächlich noch nicht. Chris stand nun selber auf, wankte zum Tisch und nahm das dämliche Mobiltelefon an sich. Kurz darauf verstummte das penetrante Summen und Ruhe kehrte wieder ein. Seufzend lehnte er sich an das Hochbett und streckte sich erst einmal. Dabei knackte es ordentlich laut. Jack schien sich endlich zu rühren.
„Ich schau ja ungern auf fremde Handys, aber du hast eine Nachricht“, murmelte Chris und schielte nach oben. Eine Hand streckte sich sofort fordernd über die Matratze hinaus.
„Ha ha, sehr witzig. Steh auf und hol es dir selber, liegt hier auf dem Tisch. Ich geh duschen. Und schlaf mir nicht nochmal ein, denk dran, in zwei Stunden müssen wir aus dem Zimmer raus sein.“
„Mhm“, entgegnete Jack und drehte sich wieder herum. Er hörte, wie die Tür leise geschlossen wurde. Eine Nachricht also. Vielleicht von Mirko? Obwohl er eigentlich überhaupt keine Lust hatte, wälzte er sich aus dem Bett, stieg die Leiter herab und schaute auf sein Handy. Die Nachricht war allerdings nicht von Mirko, sondern von seiner Schwester. Er hatte seinen Eltern und ihr am Vortag die neue Nummer durchgegeben. Jack verschob das Antworten auf später und streckte sich ausgiebig. Nur noch zwei Stunden bis  zu seinem ersten Job. Er war doch etwas aufgeregt. Jetzt fiel ihm auf, dass er gar nicht gefragt hatte, wie das mit den Zimmern auf der Farm war. Ob er wohl eins für sich allein hatte? Nichts gegen Chris, er war ja ganz lieb, aber außerhalb der Arbeit ein wenig allein zu sein, würde nicht schaden.


Um Punkt acht Uhr und eigentlich sogar fünfzehn Minuten früher standen Chris und Jack mit gepackten Rucksäcken am Parkplatz. Ungeduldig und aufgeregt schauten sie ständig herum, auf der Suche nach einem Jeep mit einem Mann darin, der sie abholen kommen würde. Auf dem Parkplatz standen auch ein paar Jeeps herum. Wann immer sie ein Auto nahen hörten, streckten sie ihre Köpfe in die Höhe und horchten. Bei Fehlalarm sackten sie wieder in ihre Ursprungspositionen zurück. So ging es einige Male rauf und runter, bis eine Viertelstunde vergangen war. Und schließlich eine halbe Stunde. Jack sah Chris zweifelnd an.
„Die Australier haben es nicht so mit Pünktlichkeit, oder?“
Chris zuckte mit den Schultern. „Vielleicht legen wir in Deutschland einfach zu viel Wert auf dieses Attribut“, scherzte er. „Möglicherweise hat er uns auch nicht gesehen. Wir sollten mal versuchen auf uns aufmerksam zu machen.“
„Wir sind die einzigen zwei jungen Kerle mit riesigen Backpackerrucksäcken auf diesem Parkplatz, und so klein sind wir auch nicht.“
„Naja, du…“, grinste Chris und machte amüsiert auf ihren kleinen Größenunterschied aufmerksam.
„Ey!“, rief Jack empört, wusste aber, dass es ja eine unbestreitbare Tatsache war, dass Chris ein Stückchen größer war. Aber er würde sich anstrengen zu wachsen. Bestimmt würde er ihn dann irgendwann überragen. „Mal davon abgesehen stehen wir an der einzigen Ausfahrt, wie soll er uns da nicht sehen. Ich glaube kaum, dass er mit dem Auto über die Gleise hierherkommt.“
„Hast ja Recht. Lass uns trotzdem noch etwas warten.“
Jack nickte. „Aber ich setz mich auf den Bordstein hier, meine Beine sind nicht für langes Stehen konstruiert.“
„Mach das“, antwortete Chris. „Ich halt mal weiter Ausschau.“
Weitere fünfzehn Minuten später saß auch der Blonde neben Jack und wippte nervös mit den Beinen auf und ab.
„Ob er uns wohl vergessen hat?“
„Keine Ahnung“, brummte Jack.
„Vielleicht hatte er einen Unfall.“
„Na hoffentlich nicht.“
„Was machen wir, wenn er gar nicht mehr kommt?“
„Dann ruf ich auf der Farm an, ich hab ja die Nummer.“
„Ach ja, stimmt.“
Sie schwiegen. Von dem Jeep und dem Mann war keine Spur zu sehen. Die in den einbiegenden Autos sitzenden Fahrer beäugten zwar ab und an flüchtig die beiden Backpacker, fuhren aber ansonsten alle teilnahmslos weiter. Jack kramte eine kleine Palette Kaugummis aus seiner Hosentasche, die er noch vom Hinflug übrig hatte, stopfte sich eins in den Mund und hielt dann wortlos Chris die Packung unter die Nase.
„Danke.“

Eine weitere Minute verging. Die Sonne war hinter einer großen Wolke verschwunden. Eine frische Brise wehte den beiden Jungen durch die Haare. Aus weiter Entfernung hörte man eine Bahn anrollen. Das Geräusch wurde lauter, erstarb nach einem ächzenden Quietschen als das riesige Stahlfahrzeug stehenblieb und rauschte dann wieder lärmend in die Weite. Jack kaute missmutig auf seinem Gummi herum und pflückte Grashalme von dem Rasen neben ihm. Er ließ sie alle auf die graue Straße vor ihm rieseln. Nach und nach entstand dort ein kleiner, grüner Haufen. Entmutigt seufzend wollte sich der Braune gerade wieder zu der unglücklichen Situation äußern, als er von Chris mit dem Ellbogen angestupst wurde.
„He, Jack.“
„Hm?“
„Siehst du den Jeep da hinten? Der dunkelgrüne.“
„Ja, sehe ich. Was ist damit? Der steht schon die ganze Zeit da. Außerdem ist kein Fahrer drin und-“
Es stimmte. Es saß kein Fahrer darin. Doch neben dem Auto regte sich plötzlich etwas. Das heißt, es viel jetzt erst ins Auge. Ein Mann lehnte am Heck des Wagens, hatte seinen breitkrempigen Hut tief ins Gesicht gezogen. Man konnte nicht sehen, wohin er sah.
„Was ist das für ein Kerl, steht der schon länger da?“
„Er ist mir vor ein paar Minuten erst aufgefallen. Hat sich seit dem nicht bewegt. Aber ist ja auch egal. He, starr nicht so hin!“
„Ist ja gut“, grummelte Jack und drehte seinen Kopf wieder weg. „Obwohl ich nicht weiß, was du hast. Immerhin hast du mich auf ihn aufmerksam gemacht.“
„Hab mir wohl einfach nur was eingebildet.“

Chris streckte seine Glieder dem Himmel entgegen, seufzte und schaute Jack noch eine Weile von der Seite an. Er sah beunruhigt aus, irgendwie besorgt. Den Blonden überkam gerade das Bedürfnis danach, Jack ermutigend die Hand auf die Schulter zu legen, als beide sich wie auf Knopfdruck schlagartig nach hinten umdrehten. Schritte ertönten, wurden lauter. Wie das Klackern von Stöckelschuhen einer Frau, aber wesentlich schwerer. Die Schritte bewegten sich auf sie zu, und als die Jungs endlich den Ursprung des geräuschvollen Herannahens erblickten, schien es beiden wie ein Geistesblitz plötzlich logisch zu erscheinen.  Der Mann, der ihnen jetzt entgegenkam, war der Mann mit dem Jeep, der noch einige Sekunden zuvor am Wagen angelehnt in einiger Entfernung gestanden hatte. Jetzt kam er immer näher, und Chris und Jack standen auf, ohne dass sie sich etwas sagten, es schien fast wie automatisch. Sie standen dort neben ihren Rucksäcken und warteten darauf, dass der Mann vor ihnen stehen blieb. Und als er das tat und auch endlich den allesverdeckenden Hut von seinem Kopf zog, fanden sich die Backpacker vor einem recht kleinen, aber dennoch muskulös gebauten Mann im mittleren Alter wieder. Gebannt blickten sie ihn an.
„Good morning gentleman, I’m sorry that you had to wait for so long. Really don’t like this, but… First of all hello. My name is Bryan McKenzie, call me Bryan.”
Der Mann streckte seine Hand nach vorne aus.
„Chris.“
„Jack, hey Bryan.“
„I’ll explain everything to you later. Now let’s go”, sprach er und machte sich auf zum Wagen.
Jack und Chris sahen sich kurz etwas entgeistert an. Doch dann, ohne weiter Worte darüber zu verschwenden, schnappten sie sich ihre Gepäckstücke und liefen dem Älteren hinterher.

Die Fahrt über, die Jack auf dem Beifahrersitz und Chris hinten auf der Ladefläche verbrachte, lauschten sie hauptsächlich den Worten dieses Bryan, der offenbar der Besitzer der Farm war. Er erzählte von seiner Frau, von den anderen Arbeitern und von der Atmosphäre dort, erwähnte auch hier und da mal ein paar konkrete Fakten zu der Arbeit die die beiden Jungs erwartete und der Geschichte des Kleinunternehmens. Auch klärte er sie schließlich darüber auf, warum sie solange warten mussten. Es war nämlich keinesfalls ein Unfall oder Stau gewesen, weshalb die Jungs so lange hatten warten müssen. Laut Bryan musste jeder Arbeiter, der sich auf der Farm bewarb, eine Art Eignungstest bestehen, bevor er tatsächlich eingestellt wurde. Jedes Mal ließ man die jungen Leute also etwa eine Stunde warten und beobachtete sie in der Zeit. Blieben sie an Ort und Stelle, bestanden sie die Prüfung sozusagen. Bryan erklärte, da man als Farmarbeiter manchmal lange warten musste, wäre Geduld eines der wichtigsten Attribute. Daher diese Art Geduldprobe.
Während und nach der Erzählung des Fahrers schauten Jack und Chris begierig aus den offenen Fenstern des Jeeps und absorbierten jedes Bild, das die fremde Welt die sie nun durchkreuzten darbot. Nachdem sie Darwin hinter sich gelassen hatten und die Siedlungen immer spärlicher wurden, erreichten sie bald eine sehr ausgedehnte Straße, die sie lange geradeaus führte.
Bryan erwies sich als sehr gesprächig und neugierig, denn bis sie endlich an der Farm ankamen hatte er bereits die halbe Lebensgeschichte beider junger Männer in Erfahrung gebracht und sich so ein detailliertes Bild seiner neuen Hilfsarbeiter gemacht.

 
Das erste Wort, das Jack einfiel als sie über das Anwesen fuhren, war „gigantisch“. Und das traf es ziemlich gut. Er hatte die Hektarangaben Bryans zwar schon wieder vergessen, da man aber weit und breit nichts als grüne, saftige Mangobäume sah, war eine genaue Angabe gar nicht nötig um zu zeigen, dass das Gelände wirklich riesig war.  Die letzten Meter verbrachte Jack daher hauptsächlich mit großzügigem Staunen.

 
Der Empfang an der Farm hatte sich als sehr entspannt herausgestellt. Bryans Frau Toka, gebürtige Japanerin, war nicht nur namensgebende Mitbesitzerin der Mangofarm, sondern auch eine ausgesprochen freundliche und ruhige Zeitgenossin, wie sich wenig später herausstellte. Sofort fiel auf, dass sie das genaue Gegenstück zu dem redseligen und aktiven Bryan war. Dieser verspürte nach der Ankunft übrigens wenig Drang nach weiteren Gesprächen und verschwand alsbald lachend in einem der Gebäude.

Nach einer recht knappen Vorstellung wurden Chris und Jack von Toka auf dem Gelände herumgeführt. Sie zeigte ihnen voller Stolz die Plantagen, die Verpackungsanlage, die Waschanlagen, die speziell angefertigten Farmtraktoren und schließlich das Aufenthaltsgebäude der Mitarbeiter. Dabei erklärte sie jeweils die Aufgabengebiete an den Stationen, schilderte den Gesamtablauf und die nannte Arbeitszeiten, die die beiden zu erwarten hatten. In der Lobby angekommen setzten sie sich auf die Sofas, die in der Mitte des großzügigen Raums standen.
„So“, fing die Dame an, nachdem sie kurz verschnauft hatten. „What about your rooms?“
Jack schluckte, die Antwort auf diese Frage brannte ihm schon die ganze Zeit auf den Lippen.
„Do you want to sleep together in one room or a single room for each of you?“
Chris wollte zuerst antworten, sah dann jedoch, dass Jack schon redebereit seinen Mund geöffnet hatte und brach ab. Der Braunhaarige zögerte, dann jedoch fragte er selbstbewusst, ob er ein Einzelzimmer haben könnte. Die Frau nickte und strahlte ihn an. Jack sah Chris nicht an. Es war seltsam, immerhin hatten sie vorher auch zusammen in einem Zimmer geschlafen. Er sollte ja nicht denken, dass er Chris nicht mehr mochte oder so ähnlich. Aber es war schließlich auch völlig okay, immerhin waren sie ab jetzt nur Arbeitskollegen.
Toka wandte sich an Chris. Dieser nickte zustimmend und erwiderte noch einmal, dass auch er gerne ein Einzelzimmer hätte. Erst jetzt sah Jack zu dem Blonden rüber. Kurz hatte er das Gefühl, etwas steche in seinem Bauch, und er legte instinktiv eine Hand darauf.
„Are you alright?“, erkundigte sich die Hausherrin mit einer besorgten Miene. Jack nickte eifrig und erklärte, er hätte sich bloß den Magen etwas verstimmt.

Nach ein wenig Papierkram und der Aufklärung über die Art der Vergütung führte Toka die jungen Männer zu ihren Zimmern. Es erstaunte Jack, dass sie überhaupt ein Einzelzimmer bekommen konnten, da es normalerweise üblich war, in Zimmern mit bis zu fünf oder sogar noch mehr Leuten unterzukommen. Den Luxus eines Einzelzimmers konnte sich wahrlich nicht jede Farm leisten.
Auf dem Weg in den Wohnbereich begegneten sie keinem anderen Mitarbeiter, was Jack sich damit erklärte, dass sie bestimmt alle arbeiten waren. Immerhin war jetzt die entsprechende Zeit. Jacks und Chris‘ Zimmer lagen genau gegenüber in einem recht engen Flur. Lächelnd verabschiedete sich ihre Begleiterin vor den Türen und verschwand dann in Richtung Aufenthaltsraum. Als sie weg war, schauten die beiden Jungs kurz etwas unschlüssig zu Boden. Dann jedoch zückte Chris seinen eben überreichten Schlüssel, zwinkerte Jack an und schloss ohne weitere Worte die Tür zu seinem Zimmer auf. Jack erhaschte nur kurz einen Blick hinein, da er sich nun auch schnell umdrehte und aufschloss. Das Zimmer war klein aber geräumig. Ein Bett stand darin, ein überschaubarer Kleiderschrank, ein niedriger Tisch und ein Stuhl. Die Standardeinrichtung eben. Kein Badezimmer, auch hier gab es Gemeinschaftsduschen und Sanitär. Aber das war ein geringer Störfaktor, eigentlich gar keiner. Jack hatte sich bereits im Hostel daran gewöhnt. Nachdem er sein Gepäck erst einmal neben den Schrank stellte, setzte er sich auf das Bett und sank  prompt ein bisschen ein. Die Matratze war sehr weich, was aber nicht schlecht war. Auch das Bettzeug und das Kissen waren frisch bezogen und dufteten nach Spülmittel. Hier war wohl erst vor kurzem jemand ausgezogen.

In der nächsten halben Stunde räumte Jack seine Klamotten in den Schrank ein. Auch machte er noch ein paar Fotos der Einrichtung, zur Erinnerung.
Um halb elf verließ er sein neu bezogenes Heim und schloss ab. Als er sich umdrehte um zu gehen, öffnete  sich auch die Tür gegenüber. Chris zuckte kurz zusammen als er Jack erblickte, dann jedoch grinsten die beiden sich gegenseitig an. Irgendwie ging es auch gar nicht anders.
Auf dem nun gemeinsamen Weg zum Aufenthaltsraum quatschten die beiden etwas über ihre Zimmer – die ja weitestgehend gleich und deshalb schnell uninteressant waren – und die Erwartungen, die sie in die Arbeit hatten. Jack hoffte insgeheim, dass Chris nicht fragen würde, wieso er ein Einzelzimmer gewollt hatte. Doch schien dieser mit der Entscheidung zufrieden zu sein, denn lächelnd lief er nun neben Jack her und plapperte unaufhörlich. Sie wurden von Toka empfangen, die sich farmtauglich umgezogen hatte und nun mit halbhohen Gummistiefel und einer Capri Shorts vor ihnen stand. Was sie vergessen hatte zu erwähnen war, dass die Jungs sich auch entsprechend ankleiden sollten, weshalb jene noch einmal zurück zu den Zimmern streunten und schließlich wenige Minuten später in passender Garnitur unter Tokas Führung das Gebäude Richtung Plantage verließen.


Jack setzte die Wasserflasche an und trank. Jeder Tropfen, der an seinem Mund herunterlief, verpuffte wenige Sekunden später zu Dampf. Es war Nachmittag, die heftigste Hitze hatten Chris und Jack hinter sich gebracht, trotzdem lag die warme Luft noch über den Feldern. Nach einer Stunde Theorie und dem Bekanntmachen mit anderen Mitarbeitern waren die beiden ihre ersten Arbeitsstunden auf der Farm in Australien angetreten. Mit einem netten Kerl aus Spanien und einer amerikanischen Studentin waren sie in ein Team eingeteilt worden, das mit einem der Farmertrucks durch die Plantagen fuhr. Alles hatte auf Anhieb gut funktioniert und Jack war soweit ganz zufrieden, wenn auch ziemlich verschwitzt und kaputt. Gerade machten sie eine kleine Pause. Der Spanier unterhielt sich mit der Studentin am Truck und Jack ließ sich am Stamm eines Mangobaums auf den Boden sinken. Das dichte Blattwerk spendete wenigstens etwas Schatten. Er schloss die Augen halb und betrachtete Chris, der gerade seine Wasserflasche vom Anhänger des Fahrzeuges holte und sie zum Trinken ansetzte. Auch er sah ziemlich geschafft aus. Das Shirt war schon nach ein paar Stunden ziemlich verdreckt und gelbbraune Flecken fanden sich überall. Der Blonde senkte die Flasche, schraubte den Deckel wieder darauf und schaute dann zu Jack herüber. Ihre Augen trafen sich, und unwillkürlich musste Jack an ihre erste Begegnung am Flughafen denken. Ein leichtes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Er war ja doch irgendwie froh, ihn getroffen zu haben. Auch Chris lächelte und kam nun auf ihn zu. Einen Meter vor Jack ging er in die Hocke.
„Und, was sagst du?“
Jack schaute ihn etwas verträumt weiter an.
„Was meinst du?“
„Na der Job, wie gefällt er dir?“
„Ziemlich heiß“, grinste Jack und wedelte demonstrativ mit dem Saum seines Shirts auf und ab.
„Was du nicht sagst“, lachte Chris. „Und sonst?“
„Nett, für das Geld was wir hier machen können echt ganz in Ordnung. Und ich mag Mangos.“
„Ja ja, die guten alten Mangos.“
„Und was ist mit dir? Siehst ganz schön mitgenommen aus“, stichelte Jack und setzte ein neckisches Grinsen auf. Chris sah kurz an sich herunter und zog dann eine Augenbraue in die Höhe.
„Also im Vergleich zu dir sehe ich noch richtig frisch aus, mein Lieber.“
Jetzt war es Jack der seine Kleidung näher betrachtete. Tatsächlich hatte er einen ziemlich großen hässlichen Fleck auf seiner Brust. Er sah wieder auf und wollte gerade ein Widerwort sprechen, als Chris ruckartig die Hand hob und einen Satz nach vorne machte.
„Scht!“
Verdattert blickte Jack den Blonden an, der jetzt ganz nah vor ihm kniete.
„Was ist denn jetzt schon wie…“
„Ssscht, still! Ganz ruhig. Warte.“
Jack lief ein Schauer den Nacken herunter. Und er wusste nicht so genau, ob das von dem Gedanken herrührte, er könne eine riesige, fette Spinne auf der Schulter haben oder weil ihm Chris auf einmal so nah war. Etwas ängstlich folgten seine Augen den Händen seines Gegenüber, die jetzt langsam an ihm vorbeiglitten. Wie in Zeitlupe schlich dieser an Jack vorüber. Dann sprang er urplötzlich nach vorne, und der verwirrte Junge riss erschrocken herum.
„Ha! Hab ich dich!“
Eine kleine Staubwolke vernebelte kurz die Sicht.
„Chris, was zum… Nein. Sag bloß das ist ein…“
„Richtig, ein Bartagame.“
„Abgefahren!“, rief Jack freudig aus und seine bis gerade noch müden Augen weiteten sich voller Begeisterung für das stachelige Tier, das Chris nun zwischen seinen Händen hielt.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich mal einen in freier Wildbahn sehe“, schwärmte Chris. Das Reptil verharrte ganz ruhig und blickte neugierig umher. „Das ist so cool. Es fühlt sich an wie ein Drache. Komm mal her, das musst du mal fühlen!“
Etwas unbeholfen, aber voller Tatendrang kroch Jack an dem Stamm des Mangobaums vorbei und kniete sich neben Chris, der das Tier mittlerweile nur noch mit einer Hand unter dem Bauch festhielt und es mit der anderen vorsichtig über den Rücken streichelte. Auch Jack streckte nun zwei Finger nach dem Reptil aus und strich behutsam über die Schuppen und Stacheln an der Seite.
„Wow“, flüsterte Jack. „Das fühlt sich nicht an wie ein Drache, das ist ein Drache.“
„Ja“, seufzte Chris. „Wirklich unglaublich“
Beide streichelten langsam und sanft über das faszinierende Geschöpf, das nun gemächlich die Augen schloss, und zeitweise berührte seine Hand die von Chris.
Ein kleiner Drache, dachte Jack und lächelte.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.03.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch allen Menschen, die ihre Freiheit lieben, leben und genießen. Jeder sollte seinen eigenen Weg finden und gehen dürfen, seine ganz eigene Straße zum Glück. "The Road Goes On" ist übrigens ein wunderbares Lied der kalifornischen Rockband Toto, meiner persönlichen Lieblingsband.

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