Die erste Begegnung
Der Wecker klingelte. Ich drehte mich genervt herum und versuchte den schrillen Ton zu ignorieren – ohne Erfolg. Nach einigen Minuten gab ich auf und schwang meine Beine aus dem Bett.
Speedy, mein Terrier, winselte kurz auf, als er bemerkte dass ich mein Bett verlassen hatte und ging dann nach unten um dort auf mich zu warten – wie jeden Tag.
Verschlafen schaltete ich das Licht ein und öffnete die Tür ins Badezimmer. Ich duschte, wusch meine langen, braunen Haare und steckte sie mir mit einer großen Spange hoch. Dann kehrte ich, nur mit einem Handtuch bekleidet, in mein Zimmer zurück und begann in meinem Kasten nach Klamotten zu wühlen.
Kurze Zeit später stand ich fertig angezogen in der Küche und machte mir Frühstück.
Wie jeden Morgen war Tina, meine große Schwester, schon unterwegs zur Arbeit. Heute hatte sie mir eine Einkaufsliste auf die Theke gelegt. Etwas verärgert faltete ich den kleinen Zettel einmal in der Mitte und steckte sie in meine Hose.
Tina arbeitete zwar wirklich hart, seit unsere Eltern bei einem Unfall gestorben waren, aber immer wieder trat sie Arbeiten, auf die sie einfach keine Lust hatte, wie zum Beispiel Einkäufe, an mich ab. Und das obwohl sie sehr wohl wusste, dass ich oft für die Schule zu tun hatte.
Nachdem ich aufgegessen hatte, spülte ich schnell das bisschen Geschirr ab dass angefallen war und ging dann wieder nach oben in mein Zimmer.
Dort sammelte ich einige Schulbücher zusammen und schob sie in eine Tasche.
Auf dem Weg nach draußen, streichelte ich Speedy noch einmal schnell über den Rücken – er verabschiedete sich freudig mit dem Schwanz wedelnd von mir – und schloss dann die Tür sorgfältig hinter mir ab.
Es war noch ziemlich dunkel draußen. Und relativ kühl für diese Jahreszeit. Der Kies der Einfahrt knirschte bei jedem Schritt unter meinen Schuhen. Ich ging zu dem kleinen Schuppen – naja eigentlich war es eher ein Unterstand am Waldrand – und sperrte mein Auto, einen alten, rostigen Golf, auf. Ich stieg ein, zog die Jacke an die über Nacht am Beifahrersitz gelegen hatte und warf meine Schultasche auf die Rückbank.
Es brauchte einige Anläufe bis das Auto ansprang, doch dann parkte ich aus und kehrte der Blockhütte, die mein Zuhause war, den Rücken zu.
Langsam fuhr ich die lange, kurvige Einfahrt – es war eher ein Waldweg – entlang.
Ich kannte den Weg zwar trotzdem fuhr ich vorsichtig und behielt die Büsche in der Umgebung genau im Auge– immer auf der Suche nach Rehen, Hasen oder anderen Waldtieren die auf die aus dem Unterholz auftauchen könnten.
Hier unter dem Blätterdach der alten Bäume war von der nahenden Dämmerung nichts zu spüren. Es war stockdunkel, nur die Scheinwerfer meines Wagens erhellten den Weg vor mir.
Ich hatte keine Angst vor der Dunkelheit, nur vor den wilden Tieren die in den Schatten lebten. Und von denen gab es ausreichend: von Rehen und Hasen über Wildschweine bis hin zu Wölfen und Schwarzbären. Manchmal verirrte sich sogar ein Grizzly in diese Gegend und terrorisierte die Farmer. Dass ich mit meiner Schwester in einer Blockhütte Mitten im Wald lebte, ohne Nachbarn, führte nicht gerade dazu dass ich mich wohler fühlte.
Doch in den siebzehn Jahren, in denen ich jetzt schon hier in Ladysmith lebte, hatte ich noch nicht einmal einen Wolf gesehen und so waren die Raubtiere von Vancouver Island eines meiner kleinsten Probleme.
Als sich der Wald vor mir zu lichten begann, stand die Sonne schon blutrot am Horizont. Ihr Licht blendete mich doch ich fuhr einfach weiter.
An der Schule von Ladysmith angekommen, stellte ich meinen Wagen am Rand des Parkplatzes ab. Ich war wie
immer viel zu früh dran und wartete, an die Beifahrertür gelehnt, auf Sandra, meiner besten und einzigen
Freundin.
Ich musste nicht lange auf sie warten. Fünf Minuten nachdem ich angekommen war, stellte sie ihr Auto neben meinem ab. Breit grinsend stieg sie aus und umarmte mich zur Begrüßung.
„Hey! Guten Morgen Mars! Hast du gut geschlafen?“ fragte sie als ich mich aus ihrer Umarmung befreit hatte.
Ich nickte. „Ja sehr gut, danke! Du auch, wie ich sehe…“
Sie fing an energisch mit dem Kopf zu nicken, so dass ihre hellbraunen Locken auf und ab wippten.
„Hm… Jack hat bei dir übernachtet, stimmt‘s?“ fragte ich nach kurzem Überlegen.
Ihr Grinsen wurde noch breiter – ich wunderte mich dass das überhaupt möglich war.
„Habt ihr…“ begann ich doch sie unterbrach mich mit einem Kopfschütteln.
„Mars! Nein haben wir nicht!“ sagte sie immer noch bis über beide Ohren grinsend und zog mich an meiner Jacke in Richtung Schulgebäude. „Lass uns reingehen sonst kommen wir noch zu spät zum Unterricht.“
Ich nickte zustimmend, das wollte ich ganz bestimmt nicht riskieren.
Endlich klingelte die Schulglocke. Erleichtert stand ich von meinem Stuhl auf und begann damit, meine Bücher in meine Tasche zu stopfen. Ich hatte an diesem Tag wieder wahnsinnig viel Hausaufgaben aufbekommen und wollte eigentlich nur noch nach Hause, als ich mich daran erinnerte, dass ich vorher noch in den Supermarkt musste.
Mit Sandra an meiner Seite ging ich auf den Parkplatz hinaus. An meinem Auto angekommen, warf ich als erstes meine Schultasche auf den Beifahrersitz und presste dann beide Hände gegen meine Schläfen. Irgendwie hatte ich in den letzten Stunden Kopfschmerzen bekommen – die von der ganz üblen Sorte.
Sandra lehnte sich mir gegenüber an die Tür ihres Wagens.
„Du siehst ziemlich erschöpft aus“, teilte sie mir mit und musterte mich genau.
„Bin ich auch. Ich werde mich jetzt mal besser auf den Weg machen…“
Ich wollte mich gerade ins Auto setzten da legte Sandra ihre Hand auf meine Schulter.
„Hey, heute ist doch Freitag. Ich dachte wir könnten vielleicht zusammen ins Kino gehen? Das heißt, wenn es dir heute Abend besser geht…“ Sie schaute mich bittend an.
Ich überlegte kurz. Die Kopfschmerzen würden bestimmt verschwinden wenn ich mich etwas ausruhte und eine Tablette nahm. Ich stimmte zu: „Klar komme ich mit. Und wir Jack uns begleiten?“
Sandra schüttelte kurz den Kopf. „Nein, ich brauche mal wieder einen Mädelsabend.“ Mit diesen Worten öffnete sie ihre Autotür und legte ihre Tasche auf die Fußmatte hinter dem Fahrersitz. Ich stieg inzwischen in mein Auto ein.
„Gut dann komme ich dich heute Abend so gegen halb sieben abholen“, sagte sie, zwinkerte mir zu und ging dann um ihren Shevy herum um einzusteigen. Ich nickte.
Kurz bevor sie vom Parkplatz abfuhr, winkte sie mir noch zu und fuhr dann in die andere Richtung davon.
Ich verließ den Parkplatz kurz nach ihr.
Vor dem Supermarkt stauten sich bereits die Autos als ich dort ankam. Genervt entschied ich mich, meinen Golf auf dem Parkplatz der Tankstelle gegenüber abzustellen.
Eilig überquerte ich die Straße und betrat das Geschäft. Jetzt wo ich in dem beheizten Raum stand, fiel mir erst auf das mir in meiner dünnen Jacke eigentlich kalt war.
Ich schnappte mir einen Einkaufswagen und fuhr durch die Gänge. Immer wieder warf ich einen Blick auf die Liste, griff in eines der Regale und nahm die jeweilige Verpackung heraus.
An der Wursttheke hielt ich an und bestellte, was Tina auf die Einkaufsliste gestellt hatte. Um Zeit zu sparen, holte ich mir derweil eine Packung Kartoffelchips aus einem der Regale. Als ich wieder zur Theke zurückkehrte, stand ein fremder Junge neben meinem Einkaufswagen. Er musste ungefähr in meinem Alter sein, war jedoch einen guten Kopf größer als ich. Er hatte einen eher schlanken Körperbau und schwarze Haare. Ich hatte ihn noch niemals zuvor hier in der Stadt gesehen.
Schüchtern schob ich mich zwischen ihn und den Einkaufswagen, ohne ihn dabei richtig anzusehen. Zu meinem Unglück rutschte ich auf dem feuchten Fliesenboden aus und verlor das Gleichgewicht. Ich taumelte und stieß ihm dabei meinen Ellbogen in die Rippen. Er stieß die Luft aus und machte einen Schritt zurück. Ich verlor nochmals das Gleichgewicht, doch bevor ich mit meinem Kopf auf den Boden aufschlagen konnte, fing mich jemand auf und hielt mich an den Schultern fest. Es war der Fremde.
Ich merkte wie mir das Blut in die Wangen schoss und stellte mich auf. Er ließ eine Hand auf meiner Schulter, als hätte er Angst dass ich wieder ausrutschen könnte.
„Ähm… danke“, stotterte ich und steckte eine Strähne meiner Haare hinter mein Ohr.
Er schaute mich einen Moment lang an, dann lächelte er und ließ meine Schulter los. „Keine Ursache. Du solltest besser auf dich aufpassen.“
Wenn ich bis jetzt noch nicht knallrot im Gesicht war dann wurde ich es wohl spätestens jetzt. „Jaaa….das wäre wohl keine so schlechte Idee.“
Ich wollte mich gerade umdrehen und nach meinem Einkaufswagen greifen, da rutschte ich erneut aus. Der Junge griff nach meiner Hand und hinderte mich so daran, auf dem harten Boden aufzuschlagen.
Mir stiegen Tränen in die Augen, so peinlich war mir das Ganze.
Nun grinste er. „Ich glaube ich werde dich bis zur Kassa begleiten – nur für alle Fälle“, sagte er und legte seinen Kopf schief. „Das heißt, wenn du nichts dagegen hast…“
Ich nickte mit dem Kopf, mehr brachte ich in der Situation gerade nicht zustande.
„Gut“, der Junge strahlte mich an „Und mit wem habe ich das Vergnügen?“
„Mar-Marissa“, stammelte ich und wurde noch röter im Gesicht. „Du kannst mich Mars nennen wenn du magst…“
Jetzt lächelte er mich freundlich an. „Hey, Mars. Ich bin Duncan.“ Er schüttelte meine Hand, die er immer noch hielt.
Duncan begleitete mich also durch das Geschäft. Vor dem Ausgang verabschiedeten wir uns.
„Danke Duncan.“ Meine Stimme hatte sich wieder erholt und auch meine Gesichtsfarbe war wieder relativ normal. Er hatte mich die ganze Zeit angelächelt und war mir nie von der Seite gewichen.
„Ja gerne geschehen. War schön deine Bekanntschaft zu machen, Marissa“, sagte er und hob seine Hand.
Ich nahm sie an, schüttelte sie einmal und machte dann einen Schritt zurück. „Vielleicht sehen wir uns ja einmal wieder“, sagte ich und lächelte.
„Jaaa vielleicht“, sagte er langsam und zog die Worte in die Länge. Erst jetzt fiel mir auf, dass er sehr dunkle Augen hatte, sie wirkten fast schwarz.
Er drehte sich um und ging davon. Ich schaute ihm noch eine Weile nach und ging dann zu meinem Auto.
Auf dem Weg nach Hause bemerkte ich wie spät es schon war. Ich hatte eineinhalb Stunden beim Einkaufen verbracht. Tina war bestimmt schon zuhause und wartete auf die Einkäufe.
Um nicht noch später zu kommen, fuhr ich den Waldweg, der sich jetzt nicht mehr durch die Dunkelheit sondern durch grünes Licht, das durch die Baumkronen fiel, schlängelte, viel schneller als sonst.
Der Kies rutschte immer wieder unter den Rädern weg und in den besonders engen Kurven musste ich gegenlenken um nicht von der Straße abzukommen.
Schließlich erreichte ich die Lichtung, auf der die kleine Blockhütte stand, aber doch in einem Stück. Meinen Wagen parkte ich wieder in den Unterstand und ging dann mit meiner Schultasche und den Einkaufstüten bepackt zur Haustür.
Tina öffnete mir noch bevor ich überhaupt die kurze Treppe erreicht hatte, die zur Türe hochführte. Sie sah gestresst und verärgert aus.
„Wo warst du?“ sie schrie schon fast.
Ich schob mich an ihr vorbei, ging durchs Wohnzimmer und in die Küche, wo ich die Papiertüten auf die Theke plumpsen ließ. „Ich wünsche dir auch einen guten Tag“, begrüßte ich sie als sie mir folgte.
„Ich werde meine Frage nicht wiederholen!“ polterte Tina und verschränkte ihre Arme vor der Brust.
„Ich war im Supermarkt, genau wie du es wolltest!“ nun wurde auch meine Stimme lauter.
„Du warst mehr als eine Stunde dort! Verdammt ich habe mir Sorgen gemacht! Und eigentlich wollte ich schon längst mit dem Kochen anfangen!“
Ich hob eine Augenbraue und stemmte die Hände in die Hüften. „Aaach… Erwartest du etwa Besuch?“
Tina wich meinen Blicken aus. Das war gleichwertig mit einem Ja – einem sehr deutlichen ja.
„Mach dir keine Sorgen, du hast heute Abend das ganze Haus für dich. Ich gehe mit Sandra ins Kino und komme vor Mitternacht nicht nach Hause.“ Ich grinste sie an. Erwischt, dachte ich.
„Okay, aber pass bitte auf dich auf.“ Mit diesen Worten drehte sie mir den Rücken zu und verschwand ins Wohnzimmer.
Ich räumte das Zeug noch in den Kühlschrank und ging dann nach oben in mein Zimmer.
Speedy lag eingerollt am Fußende meines Bettes und schnarchte leise. Ich kraulte ihn kurz zwischen den Ohren und wandte mich dann zu meinem Kleiderschrank. Das Hündchen schnaufte kurz und rollte sich dann noch enger ein.
Ich ging vor meinem Schrank in die Hocke und begann ihn zu durchwühlen.
Nach einer Stunde hatte ich endlich ein passendes Outfit gefunden. Eine eng anliegende, schwarze Jeans und dazu ein weit ausgeschnittenes, weinrotes Trägertop. Um nicht erfrieren zu müssen, fischte ich noch eine Lederjacke aus einer der unzähligen Schubladen und legte sie zu den anderen Teilen aufs Bett.
Jetzt hatte ich noch knapp eineinhalb Stunden Zeit bis Sandra mich abholen wollte. Ich ging also ins Badezimmer, duschte und wusch meine Haare. Dann schnappte ich mir eine Bürste und begann sie zu föhnen bis sie fast ganz trocken waren.
In ein großes, flauschiges Badetuch gewickelt, das mir meine Mutter zu meinem dreizehnten Geburtstag geschenkt hatte, kehrte ich wieder in mein Zimmer zurück und fing an mich anzuziehen.
Ich trug gerade etwas Makeup auf, als es an der Tür klingelte. Tina öffnete. Ich stand oben am Treppenabsatz und lauschte.
„Hey Sandra“, sagte sie mit einer Stimme die einer Beleidigung gleichkam. „Marissa ist oben. Ich hole sie schnell“, sagte sie und kam zum unteren Ende der Treppe. „Marissa, Sandra ist hier!“ rief sie zu mir herauf.
Ich ging schnell in mein Zimmer, nahm meine Handtasche und polterte die Holztreppe hinunter, wobei ich fast Tina niederrannte die immer noch dort stand.
„Ciao, Tina! Warte nicht auf mich….Ach so! Das tust du sowieso nicht“, sagte ich während ich an ihr vorbei zur Haustür ging.
Ohne sie noch eines weiteren Blickes zu würdigen schlug ich die Tür hinter mir zu und begrüßte Sandra.
„Hey hey! Mann, du hast dich ja vielleicht herausgeputzt!“ sagte Sandra und musterte mich vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen.
„Danke! Du aber auch.“ Sie nahm meine Hand und führte mich zu ihrem Auto, das sie am Waldrand abgestellt hatte.
Die Fahrt dauerte noch länger, als wenn ich gefahren wäre, denn im Gegensatz zu mir kannte sie den Waldweg so gut wie überhaupt nicht. So tastete sich um jede Kurve und gab nie zu viel Gas.
Zählte man die Zeit dazu die wir brauchten um einen Parkplatz zu finden, brauchte wir eine gute halbe Stunde bis zum Kino.
Entschuldigend schaute mich Sandra mich an, doch ich zuckte nur mit den Schultern. Es machte mir nichts aus, dass wir etwas länger gebraucht hatten. Wir betraten das Kino, kauften Karten für eine neue Liebeskomödie und machten uns auf die Suche nach dem richtigen Kinosaal.
Zum Glück dauerte das nicht allzu lange. Wir setzten uns in den bereits abgedunkelten Raum und warteten darauf, dass der Film endlich anfing.
„Und? Wie hat dir der Film gefallen?“ fragte Sandra mich als wir gerade das Kino verlassen hatten.
Ich streckte mich. „Hm…nicht so mein Geschmack. Und dir?“
Sie schüttelte den Kopf. Dann fingen wir beide an zu lachen. Es war manchmal ganz schön unheimlich, fast als könnten wir die Gedanken des anderen lesen.
Wir hatten beschlossen, nach dem Film noch in eine Bar zu gehen um etwas zu trinken. Es war zwar schon halb zehn, aber als wir das Lokal betraten, war es proppenvoll.
Es fühlte sich gut an einmal wieder Zeit mit Sandra allein zu verbringen. Das letzte Mal war lange her. Normalerweise begleitete uns immer Jack oder irgendjemand anders, doch diesen Abend hatten wir endlich wieder für uns.
Wir lachten viel und hatten unseren Spaß. Einige Typen spendierten uns Drinks und wir tanzten dafür kurz mit ihnen, nur so zum Spaß.
Spät in der Nacht brachte mich Sandra wieder nach Hause. Das Licht auf der Veranda brannte zwar, aber im Haus war es stockdunkel. Leise verabschiedete ich mich von meiner Freundin und ging dann ins Haus. Speedy lag ausgestreckt vor dem Kamin, in dem gerade die letzten Holzreste verkohlten. Müde stieg ich die Treppe hoch und ging in mein Zimmer. Ich war viel zu erschöpft für eine Dusche also warf ich die Hose und das Top in die Ecke, wo sie auf meinem großen Polstersessel liegen blieben, wickelte mich in die Decke und schlief kurze Zeit später ein.
Am nächsten Morgen weckte mich nicht wie sonst das schrille Klingeln des Weckers, sondern Speedy der aufgeregt jaulte und neben meinem Bett auf und ab hüpfte.
Ich wusste sofort was er wollte. Jedes Wochenende machte ich mit ihm eine ausgedehnte Wanderung durch den Wald.
Noch etwas verschlafen stand ich auf und ging ins Bad. Ich duschte schnell und zog dann meine alten Trainingsklamotten, eine ausgewaschene, graue Hose und ein viel zu großes T-Shirt, an.
In der Küche erwartete mich ein ungewohntes Bild. Tina stand in einem kurzen Nachthemd am Herd und briet Speck mit Eiern in einer Pfanne. Am Tisch saß ein Mann der etwas älter aussah als sie. Er trug nur Shorts und lächelte mir freundlich als er mich bemerkte.
Ich hob meine Hand und winkte ihm verlegen zu dann sagte ich Tina Bescheid dass ich wohl den ganzen Tag unterwegs sein würde und sie nichts für mich zu kochen brauchte.
Sie nickte mir nur zu und kochte dann weiter.
Kurz bevor ich durch die Tür ging, schlüpfte ich noch schnell in Mamas alte Laufschuhe. Speedy folgte mir schon die ganze Zeit auf Schritt und Tritt.
Fröhlich sprang er an mir vorbei ins Freie und drehte erst einmal ein paar Runden ums Haus. Ich ging derweil los in Richtung des großen Sees der in einiger Entfernung zu meinem Haus lag.
Ich beschloss ein Stück des Weges zu Joggen um warm zu werden. Nach einem Kilometer tauchte Speedy neben mir auf. Hin und wieder machte er einen Abstecher ins Unterholz, doch meistens blieb er an meiner Seite.
Nach einer guten halben Stunde gab ich das Joggen wieder auf und ging in gemäßigtem Tempo weiter um meine Kräfte für den Heimweg zu sparen. Das grünliche Licht, dass durch die Blätter fiel, gab dem Wald eine besondere Atmosphäre – als wäre man in einer ganz anderen Zeit in der es Dinge wie Internet oder Autos noch gar nicht gab. Man könnte sagen, hier im Wald war die Zeit stehen geblieben.
Hin und wieder musste ich über umgefallene Baumriesen klettern, dann wieder über glatte Felsen oder durch schmale Bäche. Inzwischen war es Mittag geworden.
Und dann lag der See vor mir.
Weit und glitzernd lag er an diesem sonnigen Tag zwischen den hoch aufragenden Nadel-und Laubbäumen die sich auf seiner glatten Oberfläche spiegelten.
Speedy preschte los. Mit einem, für dieses kleine Tier, weitem Sprung ließ er das Ufer hinter sich und tauchte in das kalte, klare Wasser des Sees ein. Ich musste lachen als ich sah wie viel Spaß es ihm machte im Wasser zu paddeln.
Etwas erschöpft setzte ich mich auf einem großen, glatten Stein, zog die Schuhe aus und ließ die Füße ins Wasser hängen. Es war eiskalt, aber es tat gut.
Speedy schwamm ans Ufer zurück, nur um Anlauf zu nehmen und sich wieder in die Fluten zu stürzen. Er bellte, doch für mich hörte es sich an wie ein Lachen. Er war überglücklich und tollte herum wie ein kleiner Welpe.
Ich legte mich auf meinem Stein hin. Die Sonne hatte ihn erwärmt und so wurde mir nicht kalt, auch nicht als eine leichte Brise aufkam.
Ich schreckte hoch. Es dämmerte.
Ich war auf dem warmen Stein eingeschlafen und hatte die Zeit übersehen. So schnell ich konnte suchte ich meine Schuhe, was in der fortschreitenden Dunkelheit nicht wirklich einfach war. Dann endlich hatte ich sie gefunden, schlüpfte hinein und stand auf.
Speedy war nirgends zu sehen, ich vermutete dass er sich auf den Weg nach Hause gemacht hatte. Soviel zu „der Hund ist der beste Freund des Menschen“! Mein Hund hatte mich einfach in der Dunkelheit auf einem Stein schlafend zurückgelassen.
Verärgert suchte ich den Weg zurück zur Blockhütte. Bald hatte ich den schmalen Pfad gefunden, was mich sehr wunderte da ich so gut wie überhaupt nichts mehr sehen konnte.
Ich tastete mich also an den Bäumen entlang, und so kam es dass ich mir bald die Finger an der rauen Baumrinde aufgeschürft hatte. Trotzdem kämpfte ich mich weiter durch die Büsche und Farne und übersah dabei eine der unzähligen Wurzeln die, wie die Tentakel eines Kraken, um jeden Baum einen Kranz bildeten.
Ich stolperte und rollte einen kleinen Hang hinunter, kämpfte mich sofort wieder auf die Beine und bemerkte dabei die Gefahr nicht.
Ich versuchte gerade den gröbsten Schmutz von mir abzuklopfen, als ich das bedrohliche Knurren hinter mir hörte.
Ich fuhr herum und schaute in ein Augenpaar – ein rotes Augenpaar!
Ein riesiger, schwarzer Wolf stand vor mir und fixierte mich mit seinem geradezu tödlichen Blick.
Mir schoss das Adrenalin nur so durch die Adern und mein Herz klopfte als wäre ich gerade zehn Kilometer einen Berg hinaufgerannt. Ich hatte Todesangst und war wie gelähmt. Selbst wenn ich es gewollt hätte, ich hätte nicht weglaufen können. Meine Muskeln verweigerten mir den Dienst.
Und dann ertönte ein weiteres Knurren, wieder hinter mir. Ich drehte mich erst gar nicht um.
Wie wahrscheinlich jeder Mensch der sich etwas mit dem Thema Hund beschäftigte oder einen hatte, wusste ich das selbst mein kleiner Speedy von Wölfen abstammte. Und jeder halbwegs intelligente Mensch wusste auch, dass diese Tiere immer im Rudel jagten, was so viel hieß wie ich war umzingelt.
Die Sekunden verstrichen.
Das Tier mit den merkwürdigen, roten Augen war einfach riesig. Wir waren auf Augenhöhe miteinander – so etwas hatte ich noch nie gesehen! Und so etwas würde ich auch nie wieder sehen, da war ich mir ganz sicher. Innerlich schloss ich schon einmal mit meinem Leben ab.
In Gedanken verabschiedete ich mich von Sandra, die mich besser kannte als jeder andere Mensch auf diesem Planeten, auch von Tina nahm ich Abschied und von Speedy natürlich. Zuletzt dachte ich an alle Leute die mich kannten - auch an den fremden Jungen, Duncan, den ich am Tag zuvor im Supermarkt zum ersten und letzten Mal getroffen hatte.
Dann schloss ich meine Augen und wartete darauf, dass die Raubtiere ihre messerscharfen Zähne in mein Fleisch schlugen.
Ich wartete doch der Schmerz kam nicht. Trotzdem wagte ich es nicht meine Augen wieder zu öffnen.
Bis ich dieses Knurren hörte. Ich wusste nicht warum, doch es hörte sich nicht gefährlich an.
Langsam öffnete ich die Augen und was ich sah war furchteinflößend und atemberaubend zugleich…
Die Rettung
Ungefähr auf halber Höhe des Hanges, den ich vor wenigen Augenblicken hinuntergefallen war, stand ein weiterer Wolf.
Genau wie der eine mit den roten Augen war er riesig, wenn nicht noch ein ganzes Stück größer, doch im Gegensatz zu diesem Tier hatte er ein schneeweißes Fell.
Er stand in Angriffshaltung auf dem steilen Hang, fletschte die Zähne und sträubte sein Nackenhaar. Immer wieder ertönte ein tiefes Knurren aus seiner Kehle.
Mit seinen schwarzen Augen fixierte er den Leitwolf des Rudels – den Schwarzen.
Dieser hatte mir den Rücken zugedreht und auch er sträubte sein Fell.
Ich fuhr erschrocken zusammen als sich das restliche Rudel in Bewegung setzte, ohne mich eines Blickes zu würdigen an mir vorbei ging und sich links und rechts des Alphatiers aufstellte.
Sie alle waren in Alarmbereitschaft. Einige knurrten aggressiv, doch die meisten hatten ihre Schwänze eingezogen und winselten beim Anblick des großen, weißen Wolfes.
Dieser hatte sich mittlerweile zu seiner vollen Größe aufgebaut und blickte von oben auf den schwarzen Wolf herab.
Es wurde jetzt immer dunkler. Ich stand also dem weißen Wolf gegenüber, zwischen uns das große Rudel mit dem bedrohlichen, schwarzen Wolf, die mir allesamt den Rücken zudrehten.
In mir keimte Hoffnung auf. Jetzt oder nie, dachte ich und wagte einen Schritt nach hinten, ohne die Raubtiere aus den Augen zu lassen.
Die zwei riesigen Tiere traten jetzt aufeinander zu und zeigten ihre Zähne. Einige der kleineren Wölfe verließen die Formation und stoben nach links und rechts in die Dunkelheit davon.
Ich machte zwei weitere Schritte zurück. Das Laub unter meinen Turnschuhen knisterte, doch die Tiere schienen es nicht zu bemerken.
Immer mehr Wölfe rannten davon – sie spürten, dass es zum Kampf kommen würde, und zwar sehr bald.
Selbst ich bemerkte die Anspannung zwischen den Tieren und ich stand jetzt schon mehr als fünf Meter hinter den Kontrahenten. Ich ging noch weiter zurück und stieß schließlich gegen einen Felsen der sich schmerzhaft in meinen Rücken bohrte.
Die Schnauzen der beiden Riesenwölfe waren jetzt nicht mehr als einen halben Meter voneinander entfernt. Dann entfuhr dem Weißen ein Grollen. Es klang wie Donner oder als ob eine Felswand in die Tiefe stürzte.
Ich presste mich noch enger an den kalten Stein.
Nun war das ganze Rudel im Wald verschwunden - bis auf den Leitwolf und einen kleinen rötlichen Wolf der hinter dem Großen tapfer die Stellung hielt.
Ich hatte noch niemals zuvor jemanden so vor Angst zittern sehen, doch dieses junge Tier presste sich zusehends gegen den Waldboden und winselte wie ein Welpe.
Nun jaulte der schwarze Wolf auf. Das Jungtier schoss davon und verschwand ohne eine Spur im Unterholz.
Ich starrte das weiße Ungeheuer an. Eine Sekunde lang hatte ich das Gefühl dass es mir zunickte, dann stürzte es sich mit einem kräftigen Satz auf sein Gegenüber.
Von einer Sekunde auf die andere legte sich in meinem Kopf ein Hebel um. Das Nicken des weißen Wolfes war nicht einfach nur eine Zuckung gewesen! Er hatte mir ein Zeichen gegeben!
Ich verstand.
So schnell ich konnte rannte ich den Abhang hinauf. Hinter mir hörte ich ein bedrohliches Knurren, dann ein paar schwere Pfoten die auf den Waldboden aufschlugen, gefolgt von einem dumpfen Aufprall auf dem weichen Laub. Am oberen Rand der Mulde hielt ich inne und drehte mich noch einmal um.
Der Anblick war grauenvoll.
Einmal war der weiße Wolf obenauf, dann wieder der schwarze. In der Finsternis konnte ich gerade noch erkennen, wie sie sich ganze Haarbüschel ausrissen.
Entsetzt stürzte ich los. Ich konnte den Anblick der Tiere, die sich ineinander verbissen, nicht mehr länger ertragen. Immer weiter rannte ich in den Wald hinein. Irgendwann hörte ich das Knurren der beiden Bestien hinter mir nicht mehr. Ich hatte schon lange die Orientierung verloren und bekam erneut Panik.
Weder wusste ich wo ich war, noch wie lange die beiden Monster hinter mir noch miteinander kämpfen würden. Außerdem hatte ich immer das Gefühl verfolgt zu werden. Vielleicht wartete das Rudel nur auf eine weitere Chance mich zu zerfleischen.
Ich war sicher eine Stunde gerannt, als ich zwischen den Wurzeln einer mächtigen Tanne zusammenbrach.
Nach Luft ringend wälzte ich mich auf der feuchten Erde. Ich brauchte erst einmal ein paar Minuten um mich einigermaßen zu erholen.
Dann hörte ich plötzlich Schritte hinter mir. Erschrocken hielt ich den Atem an und versuchte das Zittern, das wie Wellen durch meinen Körper ging, zu unterdrücken. Ich presste die Lippen aufeinander und schloss meine Augen so fest, dass sich in den Winkeln Tränen bildeten.
Die Schritte näherten sich. Dann war es plötzlich still – totenstill.
Ich versuchte zu atmen, doch ich konnte nicht. Ich war starr vor Angst.
Als es ruhig blieb, öffnete ich meine Augen einen Spalt weit – und schloss sie sofort wieder.
Wieder ging ein Zittern durch meinen Körper.
Vor mir saß der weiße Wolf von vorhin. Soweit ich sehen konnte, hatte er vom Kampf weder Verletzungen davongetragen, noch schien er sonderlich erschöpft zu sein.
Langsam öffnete ich meine Augen. Das Tier saß mir gegenüber und beobachtete mich aufmerksam.
Ich krallte mich an den Wurzeln fest und drückte mich gegen den Baum bis es anfing zu schmerzen.
Langsam schob ich mich den Stamm hinauf bis ich schließlich aufrecht dastand. Der Wolf saß immer noch völlig entspannt vor mir.
Ich wusste nicht was dass alles sollte. Warum war er mir gefolgt wenn er mich dann doch nicht angriff?
Der Wolf erhob sich. Im sitzen war er schon gleich groß gewesen wie ich, jetzt blickte er auf mich herab.
Ich drückte meinen Körper noch fester an den Baum. Das Tier näherte sich mir langsam, einen Schritt von mir entfernt blieb es stehen.
Ich drehte meinen Kopf zu Seite. Ich wollte nicht sehen wie er sich vom Boden abstieß und mich ansprang um mich zu töten.
Zum zweiten Mal in dieser Nacht schloss ich mit meinem Leben ab.
Ich starrte in die Dunkelheit des nächtlichen Waldes. Ich hörte den leisen Atem des Wolfes.
Mein Herz pumpte wie verrückt und mein Atem ging schneller als je zuvor.
Langsam löste sich die Welt vor mir auf. Ich verlor den Boden unter meinen Füßen.
Ich war ohnmächtig.
Mein Körper fühlte sich müde an. Meine Beine schmerzten. Meine Hände und mein Rücken brannten.
Langsam kehrte die Erinnerung zu mir zurück. Ich fuhr hoch.
Ein paar Mal musste ich blinzeln, dann konnte ich in der immer noch dunklen Umgebung wenigstens etwas erkennen.
Ich sprang auf.
Der weiße Wolf war noch immer da. Er lag unter ein paar Farnen und döste vor sich hin. Hektisch schaute ich mich um. Ich hatte keine Ahnung wo ich war, dieser Teil des Waldes war mir völlig fremd.
Ich sah der Wahrheit ins Gesicht: es war hoffnungslos.
Wenn ich weglaufen würde, würde er mich einholen, oder aber ein anderes Tier würde sich über mich hermachen noch bevor ich überhaupt auch nur in die Nähe von Menschen kam.
Ich sank auf den Boden und rollte mich ein.
Was hatte ich nur angestellt dass ich so einen Tod verdient hatte? Ich war doch wirklich kein so schlechter Mensch gewesen.
Neben mir bewegte sich etwas, ich hörte wie Pfoten weich auf dem Waldboden aufsetzten und sich mir näherten.
Ich blickte auf. Der Wolf stand direkt über mir und schaute mich an.
Irgendetwas lag in seinem Blick. Es sah aus wie Mitleid oder Sorge. Als wollte er sich bei mir für etwas entschuldigen.
Langsam bückte er sich und berührte mit seiner kalten, großen Nase meine Wange. Ich stieß die Luft aus. Es war vorbei. Sollte er mich doch haben – ich hatte aufgegeben.
Der riesige Kopf bewegte sich an meinem Hals hinunter bis zu meiner Taille. Dort verharrte er kurz, dann schob er seine Schnauze unter meinen Körper.
Immer wieder stupste er mich an. Ich begriff – er wollte dass ich aufstand.
Also erhob ich mich und hielt mich dabei in seinem weichen Fell fest.
Es vergingen wohl einige Minuten, bis der Wolf sich in Bewegung setzte. Ich hatte mich inzwischen in seinen flauschigen Nackenhaaren verkrallt, so dass er mich praktisch mitzog.
Es war immer noch zu dunkel für meine Augen, auch wenn ich große Gegenstände wie Bäume oder Felsen erkennen konnte.
So kam es, dass ich oft ausrutschte oder über Wurzeln und Steine stolperte. Jedes Mal gab der Wolf ein leises Ächzen von sich, wartete bis ich wieder halbwegs auf den Beinen war und ging dann langsam weiter.
So tasteten wir uns einige Zeit durch die Dunkelheit. Irgendwann hatte mich wohl die Kraft verlassen und ich ging wieder zu Boden.
Das Tier blieb sofort stehen und setzte sich neben mich. Er stupste mich mit seiner Schnauze in die Rippen, als wollte er mich zum weitergehen ermuntern doch ich war einfach zu schwach.
Er bemerkte das wohl und machte es sich ein Stück von mir entfernt bequem.
Ich verstand die Welt nicht mehr.
Vor ein paar Stunden wäre ich fast von einem Rudel Wölfe zerfleischt worden, und jetzt führte mich einer von ihnen durch den Wald und war eigentlich ganz freundlich.
Freundlich?! Ich rieb mir mit der Hand über die Stirn. Es war ein Tier, verdammt nochmal! Tiere waren nicht freundlich! Und schon gar nicht Wölfe. Das waren Raubtiere, die zum überleben in der Wildnis bestens ausgestattet waren, aber ganz bestimmt nicht dazu, verirrte Wanderer durch den Wald zu führen.
Was war hier nur los?
Vielleicht träumte ich das alles ja nur und würde gleich aufwachen.
Aber wenn ich an das Brennen in meinen Händen dachte, dann war das wohl eher Realität als ein Traum.
Ich warf einen Blick zu dem Wolf hinüber. Er lag ungefähr drei Meter von mir entfernt unter einem kleinen Felsvorsprung und starrte mich an.
Einen Moment lang starrte ich zurück. Dann schaute ich zu Boden.
Seine Augen hatten etwas intelligentes an sich – etwas menschliches. So etwas wie ihn hatte ich noch nie gesehen.
Seine Augen kamen mir so bekannt vor, ich war mir sicher, sie schon einmal gesehen zu haben. Nur wo?
Ich schaute wieder zu ihm hinüber. Er hatte mich nicht aus den Augen gelassen, da war ich mir sicher.
Vorsichtig stand ich wieder auf. Meine Beine zitterten unter meinem Gewicht, doch fürs erste schienen sie nicht nachzugeben. Ich machte einen Schritt.
Sofort war der Wolf an meiner Seite. Es sah aus als würde er mich anlächeln.
Verwirrt runzelte ich die Stirn. Dieses Lächeln! Ich kannte es doch!
Verdammt Marissa! Wölfe lächeln nicht! Reiß dich zusammen!, ermahnte ich mich und fasste wieder in das weiße Fell des Tieres.
Er wartete diesmal viel länger bis er losging, als ob er sich nicht sicher wäre, dass ich es schaffte.
Wieder verging viel Zeit und wir kamen nur langsam voran.
Ich traute mich nicht schneller zu gehen, denn ich wollte keine weiteren Verletzungen riskieren. Auf der anderen Seite wollte ich nur noch raus aus diesem Wald.
Irgendwann hörte ich das leise Plätschern eines Baches vor mir. Mit der Zeit wurde es immer lauter.
Der Wald lichtete sich ein wenig und ein kleines Rinnsal kam in Sichtweite.
Ich entwirrte meine Finger aus dem Fell und schleppte mich zum Wasser. Gierig formte ich aus meinen schmerzenden Händen eine Art Schale und ließ Wasser hineinlaufen.
Schluck für Schluck kehrte mehr Leben in mich zurück. Als ich meinen Durst einigermaßen gestillt hatte, wusch ich noch meine Hände und spritze mir etwas Wasser ins Gesicht.
Ein paar Meter weiter trank auch der Wolf, aber er schien sich eigentlich nur die Zeit zu vertreiben bis ich fertig war.
Als ich mich wieder aufrichtete und umblickte, bot sich mir ein merkwürdiger Anblick.
Der Wolf war hinter mir ein Stückchen in die Knie gegangen und deutete mit seiner Schnauze auf seinen Rücken.
Ich musste unwillkürlich lachen, es sah einfach zu komisch aus.
Immer wieder deutete er auf seinen Rücken. Dann verstand ich endlich.
„Ich soll auf deinen Rücken aufsteigen?“ fragte ich.
Der Wolf verdrehte die Augen – er verdrehte die Augen? – und nickte dann.
So vorsichtig es ging kletterte auf seinen breiten Rücken und klammerte mich an seinem Hals fest.
Langsam trappte er los. Zuerst hatte ich Angst hinunter zu fallen und mir wieder weh zu tun, doch je länger wir unterwegs waren, desto geschmeidiger schienen seine Bewegungen zu werden und desto schneller wurde er auch.
Irgendwann rannte er durchs Dickicht. Ich hatte meinen Griff um seinen Hals etwas gelockert und saß einigermaßen aufrecht auf ihm.
Es war ein merkwürdiges Gefühl. Ich wusste dass ich gerade auf einem riesengroßen Wolf saß der mich durch den Wald trug, und doch konnte ich es nicht glauben. Es hörte sich selbst für mich verrückt an.
Aber warum tat dieses Tier das überhaupt? Es bräuchte nur einmal zuzuschnappen und es wäre mit mir vorbei!
Schön langsam fiel mir auf, dass ich eigentlich überhaupt keine Angst vor ihm hatte.
Er war wie ein Freund, den ich schon länger nicht mehr gesehen hatte, aber immer noch mein Freund.
Mit einem Mal wurde er langsamer.
Aus meinen Gedanken gerissen schaute ich mich um. Wir waren am Rand des Waldes angekommen.
Nachdem er angehalten hatte, setzte er sich auf die Hinterläufe, damit ich absteigen konnte.
Etwas benommen kletterte ich von seinem Rücken und stellte mich neben ihn.
Zuerst schaute er an mir vorbei, dann drehte er seinen Kopf, so dass ich ihm in die Augen sehen konnte.
Unsicher hob ich meine Hand und strich ihn am Unterkiefer entlang. Er schloss kurz seine Augen, als würde ihm das gefallen, öffnete sie dann wieder und nickte in Richtung Waldrand.
Ich verstand, ich sollte gehen. Ich ließ meine Hand sinken und drehte mich um und kämpfte mich durch das Gestrüpp bis ich endlich auf der Wiese hinter meinem Haus stand.
Woher hatte er gewusst wo er mich hinbringen musste? Ich drehte mich noch einmal und konnte gerade noch erkennen wie ein weißer Schatten zwischen den Bäumen verschwand.
Ich rannte, so schnell mich meine Beine noch trugen, zur Hintertür und hämmerte wie eine Irre auf sie ein.
Fast wäre ich hingefallen als jemand die Tür öffnete und mich ins Haus zog.
Es war nicht, wie ich vermutet hatte, Tina sondern der fremde Mann den ich am Morgen am Tisch sitzen gesehen hatte.
„Tina! Sie ist hier!“ rief er in Richtung Flur. Meine Schwester stand wenige Sekunden später neben mir und drückte mich energisch an sich.
„Mein Gott! Wo warst du verdammt nochmal?“ fragte sie und schob mich ein Stückchen von sich weg damit sie mich besser ansehen konnte. „Und was ist mit dir passiert?“
Tina und ihr Freund schoben mich zum Sofa und setzten sich links und rechts neben mich.
Ich hatte mich entschlossen, ihnen nicht die Wahrheit zu sagen.
„Ich….ich hab Speedy gesucht. Ich bin am See eingeschlafen und als ich wieder aufgewacht bin, war er weg…“ begann ich und schaute die beiden dabei abwechselnd an. Sie schienen mir zu glauben. Tina erklärte mir das Speedy schon vor Einbruch der Dunkelheit daheim war. Dann erzählte ich weiter.
„Es wurde immer dunkler und ich hab mich wohl verlaufen….“
Tina starrte mich an. Ich musste ein furchtbares Bild abgeben.
„Du hättest nach Hause kommen sollen du Idiot! Du hättest von irgendeinem Tier angegriffen werden können und das nur wegen deinem dämlichen Hund!“ Bei dem Wort Tier zuckte ich zusammen, sie hatte ja gar keine Ahnung.
„Ich bin okay… Ich glaub ich gehe jetzt besser ins Bett…“ sagte ich und stand auf.
Tina ließ mich gehen, sie sah mir die Erschöpfung anscheinend an. Als ich durch den Flur ging traf mich fast der Schlag!
Die Uhr die neben der Haustür hing zeigte halb vier Uhr an!
Nun beeilte ich mich noch mehr nach oben zu kommen.
Nach einer ausgedehnten Dusche fiel ich aufs Bett. Ich konnte mir noch immer nicht klarmachen was passiert war.
Mich beschlich ein merkwürdiges Gefühl. Jetzt wo der weiße Wolf nicht mehr an meiner Seite war, fühlte ich mich irgendwie angreifbar und ungeschützt.
Verwirrt und müde rollte ich mich in meine Decke ein und schlief nach wenigen Sekunden ein.
Marissa! Marissa!!!
Jemand rief mich. Ich drehte mich um.
Ich stand am Waldrand und schaute in die Schatten zwischen den Bäumen.
Marissa!
Schon wieder! Langsam setzte ich mich in Bewegung. Ich folgte dem Ruf der Stimme. Ich kannte sie nicht, doch es hörte sich an als würde mich ein Engel zu sich rufen.
Marissa!
Der Ruf war hier im Wald viel lauter und schien von allen Seiten zu kommen.
Verwirrt hielt ich an und blinzelte. Mit jedem Mal blinzeln wurde es dunkler um mich.
Dann stand ich an einem schmalen Bach. Das Wasser plätscherte leise und suchte sich seinen Weg über den
Waldboden. Ich kniete mich nieder und strich mit den Fingerspitzen über die Oberfläche. Es war ganz warm, und hatte allgemein nicht die gleiche Konsistenz wie Wasser.
Hinter mir ertönte ein vertrauter Laut - ein tiefes Knurren.
Ich drehte mich um. Auf einem Felsvorsprung wenige Meter von mir entfernt stand ein weißer Wolf. Ich trat zu ihm und streichelte ihm übers Fell.
Er schloss seine schwarzen Augen. Als er sie wieder öffnete sprang ich einen Schritt nach hinten.
Seine Augen waren blutrot!
Vor meinen Augen färbte sich das blütenweiße Fell zuerst grau, dann wurde es schwarz wie die Nacht.
Ich ging zurück. Ich hatte Angst.
Der nun schwarze Wolf rief mich: Marissa!!!
Ohne es zu wollen ging ich wieder auf ihn zu. Vor mir begann sich die Umgebung aufzulösen.
Plötzlich lag der weiße Wolf vor mir auf dem Boden. Seine Augen waren weit aufgerissen, doch er bewegte sich nicht – ich wusste sofort dass kein Leben mehr in ihm steckte.
Blut ran unaufhörlich aus einer Wunde an seinem Bauch. Entsetzt zuckte ich zusammen.
Der Bach! Kein Wasser floss in ihm, aber das Blut dieses Tieres.
Ein hämisches Lachen erklang.
Um mich wurde es wieder schwarz…
Wieder im Wald
Ich riss meine Augen auf. Tränen liefen über mein Gesicht und verloren sich in meinen Haaren.
Einige Strähnen klebten an meinen Wangen – ich war schweißgebadet.
Langsam stand ich auf, ging ins Bad und stützte mich am Rand des Waschbeckens ab.
Ich sah in den Spiegel.
Meine Haare standen in wilden Büscheln von meinem Kopf ab, meine Augen waren von den Tränen gerötet. Ich war weiß im Gesicht und Schweißperlen standen auf meiner Stirn.
Zuerst durchwühlte ich meine verfilzten Haare grob mit den Fingern. Dann duschte ich und kämmte meine Haare bis sie endlich wieder einigermaßen glatt waren.
Speedy jaulte hinter mir, also drehte ich mich zu ihm um.
Er stand neben meinem Bett und schielte über die Kante, als würde er nach mir suchen.
„Hey Speedy! Du Dummerchen ich bin doch hier!“ sagte ich und ging in die Knie als er herbei dackelte und mich mit seinen Hundeaugen begutachtete.
Ich tätschelte ihm den Rücken. Irgendwie war ich ganz froh darüber, dass er letzte Nacht abgehauen war. Er hätte den Wölfen niemals entkommen können. Vielleicht hätten sie sich viel schneller auf ihn gestürzt als auf mich, immerhin war er ein Winzling.
In Gedanken versunken streichelte ich ihm über sein Fell und bemerkte dabei gar nicht, dass ich das Wasser in der Dusche hatte laufen lassen. Erst als sich schon eine große Wasserlache über den Boden erstreckte die bis zu meinen Fersen reichte, sprang ich auf und drehte den Hahn zu.
Ich scheuchte Speedy aus dem kleinen Raum, damit er nicht in Versuchung kam in der Pfütze zu plantschen, dann nahm ich den Mob vom Hacken hinter der Tür und begann das Wasser in eine Ecke des Zimmers zurückzudrängen indem ich es vor mir herschob.
Mit einem ausgefranzten, alten Handtuch wischte ich einige Male über den Fliesenboden, bis nur noch ein paar Tropfen auf der glatten Oberfläche zu sehen war. Das Handtuch warf ich einfach in die Badewanne, ich würde es später immer noch wegräumen können.
Immer noch müde kehrte ich in mein Zimmer zurück und schaute auf die Uhr auf meinem Handydisplay.
Es war kurz nach halb neun Uhr abends. Ich ging zum Fenster und öffnete die Vorhänge einen Spalt weit.
Draußen war es schon fast ganz dunkel.
Ich rieb mir mit den Handflächen übers Gesicht, ging dann zur Tür und machte mich auf den Weg nach unten.
Die Holzdielen unter meinen nackten Füßen krachten leise als ich das Ende der Treppe erreichte.
Im Wohnzimmer flimmerte der Fernseher und in der Küche brannte Licht.
Als ich durch die Küchentür kam, stand Tina gerade am Waschbecken und trocknete einen großen Topf mit einem Geschirrtuch ab.
„Hey Schlafmütze! Du weilst also auch wieder unter den Lebenden?“ fragte sie als sie mich bemerkte hatte.
Ich nickte ihr nur zu. Sie sollte jetzt bloß nicht von Leben und Tod anfangen, sonst würde ich mich wohl oder übel übergeben müssen. „Hast du gekocht? Ich habe jetzt irgendwie Hunger“, sagte ich um das Schweigen, das zwischen uns entstanden war, zu durchbrechen.
Tina lächelte mich an. „Klar habe ich gekocht. Ich habe dir einen Teller Lasagne in den Kühlschrank gestellt, du musst es nur aufwärmen.“
Ich schaute kurz zum Kühlschrank, dann wieder zu meiner Schwester. „Ah…Danke. Soll ich dir vielleicht vorher noch mit dem Abwasch helfen?“
Tina schüttelte den Kopf. „Nein lass nur!“
Ich nahm den Teller aus dem Kühlschrank und stellte ihn in die Mikrowelle. Während das Gerät mein Abendessen aufwärmte, lehnte ich mich gegen den Türrahmen.
„Tina?“ fragte ich sie schließlich.
„Ja Mars? Was gibt’s?“ fragte sie ohne ihren Blick von dem schmutzigen Geschirr zu heben.
„Wer war der Kerl der dich besucht hat?“
Tina wurde zuerst knallrot im Gesicht, wischte noch ein paar Mal über den Boden einer Pfanne und schaute mich dann an. „Er heißt Mike. Er ist neu in der Stadt und hat in dem Büro angefangen in dem ich arbeite.“
Ich schaute sie einen Moment lang an. „Und anscheinend hast du ihn sehr gern?“ fragte ich dann.
„Ich…“, begann Tina doch die Mikrowelle piepste und zeigte mir so dass es Zeit war die Lasagne herauszunehmen. Mit dem Teller in der Hand ging ich zum Tisch, setzte mich und fing an das Zeug in mich rein zuschaufeln.
Als ich fertig gegessen hatte, blieb ich noch ein Weilchen auf dem alten Holzstuhl sitzen und starrte aus dem Fenster.
Die dunklen Wipfel der Bäume hoben sich gerade noch vom Himmel ab, der etwas heller war. Sie schwankten etwas hin und her, anscheinend wehte draußen ein leichter Wind. Ich war froh darüber, jetzt nicht da draußen sein zu müssen. Es war zwar Ende August, aber hier in der Gegend war es in der Nacht immer kalt, egal zu welcher Jahreszeit. Beim Gedanken an den eisigen Wind und die Kälte zwischen den Bäumen lief mir einen Gänsehaut den Rücken hinunter.
„Hey Mars!“ Tina riss mich aus meinen Gedanken.
„Ähm…Was?!“
„Ist dir kalt? Du zitterst ja!“ sie schaute mich an als hätte ich Antennen auf dem Kopf.
„Ja ein bisschen vielleicht“, sagte ich und schenkte ihr ein Lächeln, „Ich gehe dann sowieso wieder ins Bett. Ich bin noch immer müde…“
Tina ging ins Wohnzimmer. Ich schaute wieder aus dem Fenster. Sehen konnte ich nicht viel, aber die Dunkelheit tat gut. Im Gegensatz zu dem grellen Licht der Glühbirnen hier im Haus, brannte sie nicht in meinen Augen.
Etwas Weißes blitzte am Waldrand auf. Ich kniff die Augen zusammen.
Hatte ich mich gerade getäuscht?
Wieder blitzte es auf, dieses Mal etwas länger. Dann war es wieder weg.
Ich schüttelte meinen Kopf. Vielleicht war ich einfach nur müde und bildete mir das ein.
Aber da war es schon wieder!
Ich sprang auf und warf dabei den Stuhl, auf dem ich gerade noch gesessen hatte, um. Ein lauter Knall war zu hören als das Holz auf dem Laminat aufkam.
Tina kam herbei um nachzusehen was den Lärm verursacht hatte. Als sie sah, dass ich nur meinen Sessel umgestoßen hatte, verdrehte sie die Augen und schlenderte zum Sofa zurück.
Ich stützte mich am Fensterbrett ab und drückte meine Nase an das kalte Glas des Fensters.
Immer öfter sah ich das weiße Ding zwischen ein paar Büschen auftauchen, doch ich konnte einfach nicht erkennen was es war.
Der Wolf ist zurückgekommen, schoss es mir durch den Kopf.
Wie aus einem Reflex heraus, ging ich zur Haustür und trat ins Freie. In einiger Entfernung zum Haus blieb ich stehen und blickte in Richtung Waldrand. Die weiße Gestalt war nicht mehr zu sehen.
Jetzt ging ein Zittern durch meinen ganzen Körper.
Erstens war es eiskalt hier draußen und zweitens wurde mir erst jetzt klar, welcher Gefahr ich mich aussetzte.
Warum war ich hier heraus gegangen? Drehte ich jetzt durch? Was wenn der weiße Wolf wirklich in der Nähe herumschnüffelte? Wenn er dieses Mal nicht so viel Gnade walten lassen würde?
Ich drehte mich um und ging zurück zum Haus.
Jedes Mal wenn ich einen Schritt machte, knirschten die Kieselsteine unter meinen Fersen - ich hatte noch nicht einmal Schuhe an und trug nur meinen dünnen, kurzärmligen Pyjama.
Der Wind wehte mir meine langen, dunklen Haare vor die Augen. Sie nahmen mir die Sicht. Ich stolperte weiter.
Nicht mehr weit, dann wäre ich wieder in Sicherheit.
Ich erstarrte mitten im Schritt. Links von mir, in ein paar Sträuchern, raschelte es.
Ich drehte mich zu dem Geräusch um, und machte mich darauf gefasst wegzulaufen so schnell mich meine Beine trugen.
Wieder raschelte es. Ich wollte nur noch weg. Weg von diesem Ort, weg von diesem Wald – am besten gleich den Kontinent wechseln.
Doch mein Körper hörte nicht mehr auf mich. Anstatt zum Haus zu laufen, wie es mein Gehirn eigentlich wollte, ging er Schritt für Schritt auf das Gestrüpp zu.
Erst als die Blätter an den Ästen wieder wackelten und raschelten machte ich wieder einen Schritt zurück.
Mit dem was dann geschah hatte ich überhaupt nicht gerechnet.
Statt dass irgendein Raubtier auf mich zusprang, stand auf einmal ein Junge vor mir.
Er drückte die Büsche beiseite und trat auf die Einfahrt als wäre es das normalste auf der Welt mitten in der Nacht im Wald herumzuschleichen.
Ich ging weiter zurück. Mein Körper gehorchte mir noch immer nicht, doch selbst er bemerkte jetzt dass hier irgendetwas faul war.
Das Licht der Verandabeleuchtung erhellte diesen Teil der Einfahrt gerade noch, so dass, nachdem sich meine Augen an das spärliche Licht gewöhnt hatten, ich erkennen konnte wem ich eigentlich gegenüber stand.
Als ich ihn erkannt hatte, wäre ich fast umgekippt.
Er stand lässig in meiner Einfahrt und hatte ein schneeweißes Hemd an. Eine Hand hatte er in seiner Hosentasche, mit der anderen strich er sich eine Strähne seiner schwarzen Haare aus der Stirn. Mit seinen dunklen Augen fixierte er meine.
„Duncan?“ fragte ich ihn unsicher. Ich traute meinen Augen nicht.
„Jaaa?“ Er legte seinen Kopf schief, wie damals im Supermarkt.
„Wa….was tust du hier?“ fragte ich verwirrt und ging auf ihn zu.
Sein Gesicht verfinsterte sich etwas. Für jeden Schritt den ich auf ihn zumachte, machte er einen zurück.
Ich blieb stehen und starrte ihn an.
„Ich….“, fing er an und schaute an mir vorbei, „Ich hab mich verlaufen.“ Beim Wort verlaufen runzelte er die Stirn.
„Soll ich dich nach Hause bringen? Mein Auto steht gleich da hinten….“ Sagte ich und deutete auf den Unterstand.
Er schüttelte nur den Kopf. „Nein lass gut sein, ich komme schon klar…“ Er musterte mich und ein Grinsen stahl sich in sein Gesicht. „Und außerdem würde das sicher einen sehr merkwürdigen Eindruck auf meine…..Eltern machen wenn du so“, er machte eine Handbewegung die mein eigentümliches Outfit einschloss, „bei mir auftauchst.“
Ich blickte an mir hinunter. Es war wirklich nicht gerade das, was man anziehen sollte um sich auch nur in der Nähe von Menschen blicken zu lassen, aber zum Schlafen fand ich’s ganz okay.
„Na gut wenn du lieber zu Fuß gehst…“ sagte ich beleidigt und schaute zu Boden.
Ich glaubte ihm kein Wort. Er war nicht hier weil er sich verlaufen hatte. Er war vorhin um mein Haus geschlichen. Er spionierte mir doch nicht etwa nach oder? Aber warum sollte er das tun, er kannte mich doch überhaupt nicht!
Ich schaute ihn kurz an.
„Ich werde jetzt mal besser gehen, sonst macht sich….Mom noch Sorgen um mich.“
„Nein! Warte!“ Ich ging auf ihn zu bis nur noch ein Meter zwischen uns war. „Was willst du hier?“ fragte ich wieder.
Duncan schaute mich an, als hätte er sich verhört. „Ich habe dir doch gesagt dass ich mich verlaufen habe!“ knurrte er und betonte jedes Wort als hätte er es hier mit einem hörbehinderten Menschen zu tun.
„Ich. Habe. Schon. Verstanden!“ Der Kerl trieb mich zur Weißglut! Was zum Teufel wollte er um diese Zeit hier?
Jetzt drehte er sich um und wollte in den Wald davon gehen, doch ich ergriff ihn an der Schulte und hielt ihn zurück.
„Was ist dein Problem?“ fragte er. Zorn lag in seiner Stimme und seine Augen funkelten bedrohlich.
Ich ließ ihn los, stellte mich ihm aber vorsichtshalber in den Weg.
„Ich will die Wahrheit wissen!“ meine Stimme war jetzt so laut, dass ich Angst hatte, Tina könnte mich hören.
Duncan stieß mich leicht zur Seite, kletterte über einen dicken Ast und verschwand im Wald.
Ich stand verdutzt da.
Mein Körper machte sich wieder selbstständig. Ich lief Duncan hinterher.
Nach kürzester Zeit schmerzten meine Füße von den spitzen Steinen und Ästen die am Boden lagen schon so sehr das ich am liebsten sofort losgeheult hätte. Trotzdem ging ich, gegen meinen eigenen Willen, weiter.
Ich konnte überhaupt nichts sehen. Hier unter den Bäumen war die Dunkelheit fast spürbar. Ich wunderte mich, wie ich es geschafft hatte bis jetzt noch nicht gegen einen Baum zu laufen oder meine Schienbeine an einem Felsen aufzuschlagen.
Ich presste meine Lider aufeinander und öffnete sie wieder aber es half alles nichts – um mich herum blieb es stockdunkel.
Ich wusste nicht wie lange ich durch den Wald lief oder wo ich war. Ich wusste nur dass mein Körper seinen eigenen Willen hatte und ich einem fremden Jungen durch einen Wald voller Ungeheuer, mit Hunger auf Frischfleisch, folgte.
Ob Tina wohl schon nach mir suchte? Oder schlief sie etwa nichtsahnend auf dem Sofa?
Es traf mich wie ein Blitz – ich hatte die Haustür sperrangelweit offen gelassen!
Was wenn das Wolfsrudel sich über sie hermachte, während ich hier durch das Unterholz spazierte? Naja eigentlich war es kein Spaziergang, sondern eher eine Tortur.
Je mehr Schritte ich machte, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass mir meine Füße bald abfallen würden – was sie natürlich nicht taten.
Sehen konnte ich immer noch nichts und langsam bekam ich die Kontrolle über meinen Körper wieder.
Endlich blieb ich stehen und plumpste auf den Boden. Meine Füße waren wund gelaufen, stellenweise waren sie so aufgeschunden, dass sie bluteten.
Hinter mir knisterte es plötzlich im Unterholz.
Erschrocken sprang ich auf und blieb an einer Wurzel hängen. Mit einem Knacken traf mein Schienbein auf einem dicken Baumstamm auf.
Ich konnte den Schrei nicht unterdrücken. Mich ließ das Gefühl nicht los, dass ich mir gerade mein Bein gebrochen hatte – jedenfalls sagte mir das der stechende Schmerz in meinem rechten Bein.
Es dauerte einige Zeit bis ich wieder klar denken konnte. Ich hatte mir zwar schon öfters etwas gebrochen, doch so schlimm waren die Schmerzen noch nie gewesen.
Ich versuchte aufzustehen - ohne Erfolg. Mein rechtes Bein konnte ich nicht belasten und das Linke trug mein Gewicht nicht. Also suchte ich nach etwas, an dem ich mich hochziehen konnte, was schwer war denn ich sah überhaupt nichts.
Vor mir in der Dunkelheit waren Schritte zu hören. Sie kamen näher.
Ich versuchte so ruhig wie möglich zu bleiben und mich nicht zu bewegen. Ich sah nicht was auf mich zukam und ich wollte es auch nicht.
„Du bist ein Idiot“, hörte ich eine vertraute Stimme vor mir sagen.
Ich richtete mich etwas auf – und bereute es sofort wieder. In meinem Bein knackte es wieder und ich sank mit einem Stöhnen zu Boden.
„Hilf…mir…bitte!“ würgte ich mit Tränen in den Augen hervor.
„Warte kurz, ich mache Licht.“ Ich hörte wie die Person vor mir in einer Tasche kramte, dann klickte es kurz und das Licht einer Taschenlampe schien mir ins Gesicht. „Mein Gott was hast du den angestellt?!“
Ich blinzelte ein paar Mal, das Licht blendete mich. Mit der Zeit konnte ich etwas sehen und war zugegebenermaßen etwas verwirrt.
Duncan kniete vor mir auf dem Boden. In einer Hand hielt er eine kleine Lampe, mit der anderen griff er nach mir.
Er zog mich mit sich nach oben als er aufstand. Dann blickte er sich kurz um und wand sich mir zu.
„Ich bring dich erst einmal von diesem Hang weg“, sagte er und lächelte mir zu so dass mir sofort das Blut in die Wangen schoss – gut dass er das nicht sah.
Erst jetzt, im spärlichen Licht der kleinen Lampe, wurde mir klar, dass ich mich bis vor wenige Augenblicke in Lebensgefahr befunden hatte. Nicht einmal einen Meter von mir entfernt führte ein steiler Abhang in die Tiefe.
Duncan umfasste mit einem Arm meine Taille und drückte mich so fest wie möglich an seine Seite, so dass mein gebrochenes Bein den Boden überhaupt nicht mehr berührte.
So trug er mich einige Zeit durch den Wald, zwischendurch knipste er immer wieder die Taschenlampe aus - um die Batterie zu schonen, wie er sagte.
„Okay, wir sind da. Ich setz dich jetzt ab“, warnte er mich vor. Er ließ mich sanft zu Boden gleiten wo ich auf weich auf einem Moospolster landete. Dann setzte er sich neben mich und begann mein Bein hoch zu lagern.
„D…danke“, stotterte ich. Mir stiegen schon wieder Tränen in die Augen. Mein Bein fühlte sich an, als hätte sich ein Stahlpfosten mitten durch es hindurch gebohrt.
Duncan hatte seine Taschenlampe neben sich gelegt, so dass uns das Licht jetzt anstrahlte.
Ich beobachtete ihn, wie er vorsichtig mit einer Hand Moos und Blätter unter mein Knie schob, mit der Anderen hatte er mein Bein hochgehoben.
Es fühlte sich merkwürdig an – ich spürte seine Berührung fast gar nicht.
„So fertig, wir werden jetzt wohl hier warten müssen bis es hell wird“, sagte er. Er schaute noch einmal auf mein Bein dann schaute er mich an.
„Ich weiß nicht wie ich dir jemals danken soll…. Ich würde alleine niemals wieder aus diesem dämlichen Wald rausfinden“, sagte ich, wischte mir eine Träne aus dem Augenwinkel und versuchte zu lächeln.
„Keine Ursache. Aber warum bist du mir überhaupt gefolgt?“ fragte er mit besorgter Miene.
Ich schwieg eine Weile. „Ich weiß nicht…. Es hat sich so angefühlt, als ob mein Körper seinen eigenen Willen hat.“ Ich schaute auf mein verletztes Bein und wurde augenblicklich rot im Gesicht. Wie dumm musste diese Antwort wohl für ihn klingen…
„Ach so… Dann ist dein Körper nicht sehr intelligent. Es ist gefährlich hier“, sagte er und lächelte mich an, so dass ich von meiner Verletzung aufblickte.
„Ich weiß. Dann solltest du aber auch nicht um diese Zeit um fremde Häuser schleichen.“
Von einer Sekunde auf die andere wich sein Lächeln einem genervten Gesichtsausdruck. „Ich bin nicht um dein Haus...“
„Ja schon gut. Ich werde nicht mehr nachfragen“, warf ich etwas zu hart ein und drehte mein Gesicht weg.
Es vergingen sicher einige Minuten bis Duncan wieder sprach.
„Hey, hast du Angst im Dunkeln?“
Verwirrt schaute ich ihn an. Was sollte diese Frage? „Nein.“
„Hast du dann was dagegen wenn ich die Taschenlampe ausschalte? Sonst haben wir nämlich später kein Licht mehr.“ Ich spürte seinen Blick auf mir. Es war schwer ihn nicht anzusehen.
Duncan rutschte ein Stück näher an mich heran und schaltete dann die Taschenlampe aus.
Sofort brach die Dunkelheit über uns zusammen – wie ein Tier, das nur darauf wartet sich auf seine Beute zu stürzen. Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken.
Duncan bemerkte dass wohl, denn er fing auf einmal an sich zu bewegen, bis er schließlich etwas über meine Schultern legte.
„Hier. Nicht das du noch erfrierst“, sagte er und half mir in die Ärmel seines Hemds.
Ich zog mein gesundes Bein an mich und legte meine Arme um es. „Ist dir jetzt nicht kalt?“ Natürlich war ihm kalt – blöde Frage! dachte ich.
„Es geht schon“, seine Stimme veränderte sich – er lächelte.
„Okay…Danke.“ Ich zog das Hemd enger um meine Schultern.
Dann schwiegen wir beide wieder - diesmal viel länger.
Irgendetwas ging von Duncan aus. Wie eine magnetische Anziehung zog es mich näher zu ihm hin.
Mein Oberkörper lehnte immer weiter in seine Richtung bis die Schwerkraft schließlich ihre Arbeit erledigte und ich umkippte – und mit dem Kopf auf Duncans Schulter landete.
Er sog erschrocken die Luft ein und bewegte sich nicht. Vielleicht dachte er ich wäre eingeschlafen, denn schließlich legte er seinen Arm um meine Schulter und drückte mich an sich.
Ich traute mich nicht mich zu bewegen und irgendwann schlief ich ein.
„Marissa! Marissa! Mars, wach bitte auf!“ Duncan rüttelte an meiner Schulter.
„Wa..Was??“ ich zuckte zusammen.
„Sieh mich an bitte!“ Duncan nahm mein Gesicht in seine Hände und hielt es fest.
Ich öffnete verschlafen meine Augen. „Duncan? Was ist los? Wie spät ist es?“
Es musste schon dämmern, denn ich konnte Duncans Gesicht vor mir sehen.
„Kurz vor Sonnenaufgang. Mars, hör mir jetzt bitte zu!“
Ich schüttelte meinen Kopf. Was zum Teufel war jetzt wieder?
„Okay! Folgendes: Die Wölfe sind auf dem Weg hierher!“
Ich zuckte zusammen. Was sollte das bedeuten? Woher wollte er das wissen?
„Was?!“ meine Stimme zitterte.
„Pass auf, versteck dich da hinter den Büschen“, er zeigte auf ein niedriges Gebüsch ein paar Meter hinter uns. „Wie soll ich…?“ Eigentlich wollte ich ihn fragen wie ich denn mit meinem kaputten Bein dorthin kommen sollte, aber er hob mich an als wäre ich federleicht und trug mich wie ein Baby zu meinem Versteck.
„Was ist wenn sie aus der Richtung kommen?“ fragte ich und zeigte auf das Dickicht vor mir.
Duncan schüttelte nur den Kopf und deutete in die andere Richtung. „Sie werden von Westen kommen, ich kann es riechen…“
Er konnte es riechen?! Hatte ich mich grade verhört? Duncan konnte riechen dass ein Rudel blutrünstiger Wölfe auf den Weg hierher war? Wie?
„Wie kannst du…?“
„Nicht jetzt. Ich werde dir später alles erklären, ich verspreche es.“ Mit diesen Worten drückte er mich sanft zu Boden und ging zurück auf die kleine Lichtung auf der wir die Nacht verbracht hatten.
Ich lag jetzt flach auf einer dicken Lage Blätter, halb verborgen unter dem Gestrüpp, doch ich konnte unter den Ästen hindurchsehen.
Duncan trat mehrere Male von einem Fuß auf den anderen, dann sprang er in die Luft doch aus irgendeinem Grund kam er nicht mehr runter.
Was ging hier vor?
Gerade als ich mich aufsetzten wollte um nachzusehen wo er hingekommen war kamen vier riesige, weiße Pfoten auf dem Waldboden auf – ich konnte von meinem Versteck aus den dumpfen Aufprall hören.
Ein Zittern ging durch meinen Körper.
Was war mit Duncan passiert? Hatte sich der Wolf ihn vielleicht im Flug geschnappt?
Langsam richtete ich mich etwas auf, konnte aber nicht über die Büsche hinwegsehen also legte ich mich wieder hin. Mein Bein pochte wie wild, doch ich musste jetzt ganz ruhig bleiben.
Ich schloss meine Augen so fest es ging und biss die Zähne zusammen.
Plötzlich hörte ich ein Hecheln, nicht weit von mir entfernt.
Ich öffnete die Augen und erschrak. Der weiße Wolf der sich Duncan geschnappt hatte, stand vor meinem Versteck und schaute zu mir herab.
Flehend blickte ich zu ihm hinauf und hoffte dass er mich wieder verschonte.
Er legte seinen Kopf schief und ließ seine lange Zunge aus seinem Maul hängen. Ich konnte ein leises Lachen nicht unterdrücken. Vor mir schnitt gerade ein überdimensionaler Wolf Grimassen.
Und dann ging mir ein Licht auf!
Augenblicklich verging mir das Lachen und ich musterte das Gesicht des Tieres ganz genau.
Allgemein war es ein sehr schönes Tier, aber diese Augen kamen mir schon bei unserer ersten Begegnung bekannt vor. Jetzt wusste ich auch endlich woher!
Der Wolf hatte Duncan nicht gefressen – er war Duncan!!!
Ich merkte wie ich die Stirn in Falten legte. Der Wolf zog eine ‚Augenbraue‘ hoch.
„Duncan??“ fragte ich schließlich.
Es sah aus als würde er grinsen und dann nickte er mir zu.
Mein Gott wie konnte denn sowas sein? In meinem Kopf drehte sich alles. Es fühlte sich an, als würde man sich die Größe des Universums vorstellen – es war einfach zu viel für mein Hirn.
Duncan entfuhr ein Knurren. Sein entspannter Gesichtsausdruck war wie weggeblasen.
Von einer Sekunde auf die andere drehte er seine Ohren der Lichtung zu.
Mit einem gewaltigen Satz hatte er die Mitte der kleinen Wiese erreicht und ging leicht in die Hocke.
Ich presste mich gegen den Boden und hielt die Luft an. Trotzdem lies ich Duncan und den Waldrand auf der anderen Seite nicht aus den Augen und versuchte in den, immer noch, dunklen Schatten zwischen den Bäumen etwas zu erkennen.
Lange musste ich aber nicht warten.
Nicht einmal eine Minute nachdem Duncan sich verwandelt hatte, traten mehrere, kleinere Wölfe auf die Wiese. Sie alle wirkten verängstigt und auf jeden Fall angespannt – wie schon das letzte Mal als sie Duncan gesehen hatten.
Einige Zeit geschah überhaupt nichts. Die Tiere standen sich einfach gegenüber und bewegten sich nicht.
Ich war vom Anblick des erstarrten Wolfsrudels so in den Bann gezogen worden, dass ich gar nicht bemerkt hatte dass sich noch jemand zu uns auf die Lichtung gesellte hatte.
Erst als das kleine Mädchen nur noch ein paar Meter von Duncan entfernt war bemerkte ich sie.
Ich war geschockt – was hatte dieses Kind hier zu suchen?? Bemerkte es die Gefahr denn gar nicht?
Das Mädchen trug ein weißes, bodenlanges Kleid mit vielen Rüschen und Schleifen; dazu weiße Riemchensandalen und Handschuhe. In ihren zierlichen Fingern hielt sie etwas, dass aussah wie ein Messer – es war schwarz und leicht gekrümmt.
Ihre Augen waren geschlossen und ihr Gesicht war vollkommen ausdruckslos und schneeweiß. Obwohl kein Wind wehte, bewegten sich ihre langen, weißen Haare.
Irgendetwas stimmte doch mit der Kleinen nicht.
Ich drehte mein Gesicht weg von ihr. Je länger ich sie ansah, desto unheimlicher kam sie mir vor.
Stattdessen fixierte ich jetzt Duncan.
Er war wie erstarrt. Seine Nackenhaare waren gesträubt und ein bedrohliches Knurren stieg aus seiner Kehle.
Ich hatte das Gefühl, dass er Angst vor dem Mädchen hatte nur konnte ich mir nicht vorstellen warum.
Bis sie ihre Augen öffnete jedenfalls!
Sie waren blutrot, bedrohlich und definitiv tödlich. Mein Körper fing bei diesem Anblick unkontrolliert zu zittern an.
Ich krallte mich mit den Fingern in den Boden und versuchte still zu halten – es war ein ziemlich hoffnungsloser Versuch.
Duncan hörte inzwischen schon gar nicht mehr auf zu knurren und baute sich zu seiner vollen Größe auf – er war mindestens dreimal so groß wie das Mädchen.
Ich schielte zwischen den Blättern und Zweigen durch und beobachtete was als nächstes geschah. Aber je länger ich dieses Schauspiel mit ansah desto schlechter fühlte ich mich.
Das Mädchen strahlte etwas Böses aus – das Böse.
Mit ihren Augen fixierte sie Duncan.
Selbst aus dieser Entfernung konnte ich sehen wie sein gewaltiger Körper erbebte. Er schien leicht in die Knie zu gehen, raffte sich dann aber wieder zusammen und trat einen Schritt auf das Kind zu.
Das Mädchen reagierte überhaupt nicht auf diese Bewegung und starrte ihn einfach weiter aus ihren roten Augen an.
Ich hatte keine Ahnung wie viel Zeit so verging.
Das Wolfsrudel auf der einen, Duncan auf der anderen Seite und dazwischen das Mädchen.
Einige Male schloss sie ihre Augen für ein paar Sekunden, schaute aber sofort wieder den weißen Wolf an.
Als sie die Augen wieder einmal öffnete, erstarrte ich in meinem Versteck.
Sie schaute nicht Duncan an sondern mich!
Und damit meine ich nicht das Gebüsch hinter dem ich mich versteckte sondern mich als wäre da überhaupt nichts außer Luft zwischen uns.
So sehr ich mich auch bemühte, ich konnte meinen Blick jetzt nicht mehr von ihr abwenden.
Mir wurde kalt und meine Finger verkrallten sich noch fester im Boden.
Langsam hob das Kind einen ihrer kurzen Arme und zeigte mit ihrem weißen Zeigefinger auf mich.
Dann ging alles ganz schnell.
Duncan jaulte laut auf. Das Rudel stürzte auf mein Versteck zu.
Nicht einmal fünf Sekunden später spürte ich einen reißenden Schmerz in meinem linken Oberschenkel. Eine Sekunde hörte ich ein Knacken, dann noch eines und noch eines.
Das Rudel machte sich über mich her. Ich schlug und trat – so gut es mit meinem verletzten Bein eben ging – wie wild um mich. Ich hatte keine Chance.
Einige rissen an meinen Beinen, mindestens einer zerfleischte meinen rechten Unterarm und zwei arbeiteten sich zu langsam aber sicher zu meinen Rippen vor.
Ich versuchte mich zu wehren. Mit meiner linken Hand schlug ich auf die Schnauze eines großen, grauen Wolfes ein der mir in die Schulter biss.
Die Schmerzen wurden immer schlimmer. Ich bemerkte erst jetzt dass ich schrie und um Hilfe rief.
Die Wölfe knurrten und schlugen immer wieder ihre Zähne in mich.
Hinter mir ertönte ein Grollen. Langsam verlor ich das Bewusstsein doch kurz bevor mir ganz schwarz vor Augen wurde, sah ich noch einen verschwommen, weißen Schatten über mir.
Die ganze Geschichte
Die Dunkelheit tat gut.
Ich hatte keine Ahnung wo ich war, auf jeden Fall waren meine Schmerzen weg.
Wahrscheinlich hatten mich die Wölfe ins Jenseits befördert. Ja so musste es sein.
Mein Körper fühlte sich merkwürdig an – ich spürte ihn nicht mehr…
Naja das beschrieb meinen Zustand nicht ganz. Ich sah nichts ich hörte nichts aber vor allem fühlte ich nichts.
Darüber war ich auch froh.
Endlich musste ich nicht mehr zusehen wie die Wölfe mich bei lebendigem Leib zerfetzten und musste nicht mehr das jämmerliche Knacken meiner Knochen zwischen den starken Kiefern der Tiere hören.
Aber was für mich das aller Schönste war – ich spürte nichts mehr!
Überhaupt nichts.
Wahrscheinlich hätte jetzt jemand mit einer Kettensäge auf mich losgehen können – falls ich überhaupt sichtbar war, oder eine feste Gestalt hatte – und ich hätte es gar nicht gemerkt.
Friedlich trieb ich in meinem Himmel. Nichts und niemand hielt mich auf und niemand störte meine Ruhe.
Wenn das der Tod war dann würde ich ihn mit offenen Armen willkommen heißen.
Einige Zeit verging. Ich hatte keine Ahnung wie viel - vielleicht Minuten, vielleicht Tage oder gar Wochen.
Es war mir egal.
Ein Gefühl der Gleichgültigkeit durchströmte mich.
Doch langsam veränderte sich etwas.
Anfangs wusste ich nicht, was genau es war, ich wusste nur dass etwas anders war als zuvor.
Dann jedoch, wurde die Veränderung spürbar und ich wunderte mich, denn sie wurde auch sichtbar.
Ich sah etwas, zwar verschwommen und arg verzerrt, aber ich konnte sehen.
War das nun ein gutes Zeichen oder ein schlechtes?
Ich drehte mich. Um mich war nichts.
Es war nicht wirklich dunkel, doch auf jeden Fall auch nicht hell. Ich könnte es nie so beschreiben wie es wirklich war.
Ich streckte meine Hände nach vorne und betrachtete sie genau.
Sie waren durchscheinend wie trübes Glas und wie ich feststellte auch genauso hart und kalt.
Wieder veränderte sich etwas.
Mein Körper drehte sich schneller.
Dann hörte ich etwas. Es klang wie Vogelgezwitscher nur viel zarter.
Mit der Zeit wurde es immer lauter und kräftiger und verlor immer mehr seine eigentümliche Melodie, trotzdem lauschte ich aufmerksam.
Ich kniff meine Augen zusammen und suchte nach der Quelle des Geräusches, aber so sehr ich mich auch anstrengte, finden konnte ich nichts.
Die Töne wurden jetzt merklich tiefer und gewaltiger – mit dem Gesang meiner gefiederten Freunde hatte das nicht mehr das Geringste zu tun.
Inzwischen hörte es sich an wie das tosende Meer – und es wurde immer lauter.
Ich ertrug es nicht mehr. Es fühlte sich an als würden meine Trommelfelle platzen.
Ich wand mich und versuchte dem Ton zu entkommen aber wie jeder weiß ist das unmöglich.
Das Donnern und Tosen wurde immer lauter und lauter und veränderte seinen Klang.
Zwischen dem Krachen und toben der Wellen konnte ich jetzt immer öfter Wortfetzen hören, nur kannte ich die Bedeutung dieser Wörter nicht mehr.
Mein Körper erzitterte derweil und bebte und verbog sich in alle Richtungen.
Ich verstand nicht was das sollte! Gerade eben war doch alles noch ganz friedvoll gewesen. Was war passiert?!
Meine Gelenke krümmten sich in unnatürlich aussehenden Winkeln von meinem Körper.
Dann brach die Hölle los.
Der Lärm war keineswegs verstummt sondern schwoll noch einmal an. Zusätzlich wehrte sich mein Körper – wie es aussah gegen mich.
Schmerzen brachen über mich herein.
Zuerst spürte ich sie nur als leichtes Pieksen doch so blieb es nicht lange.
Irgendwann hatte ich wohl angefangen zu schreien – stumme Schreie die niemand jemals hören würde.
Der Ort an dem ich mich befand verschwamm. Er verzerrte und verzog sich und verschwand schließlich in einem hellen Lichtblitz.
Mein Himmel war verschwunden doch das grelle Licht blieb.
Was geschah jetzt mit mir?
Ich spürte mehrere Male einen schmerzhaften Druck auf meinem Brustkorb.
Dann Wind. Einen sehr starken Wind in meinem Mund der durch meine Luftröhre brauste und schließlich meine Lungen füllte. Jemand versuchte wohl mich wiederzubeleben.
Ich wollte schreien. Überall spürte ich nichts außer diesen entsetzlichen Schmerzen.
Ich wollte um mich schlagen aber ich konnte mich nicht rühren.
Das Licht wurde immer heller und brannte in den Augen.
Plötzlich verschwand der Wind und der Druck auf meinem Oberkörper, der Schmerz aber blieb und wurde – falls möglich - noch stärker.
Neben mir hörte ich jemanden schnaufen. Es hörte sich erschöpft an und kraftlos.
Mit einem hörbaren Japsen sog ich die Luft ein.
Tränen strömten aus meinen Augenwinkeln und nahmen mir die Sicht. Jemand beugte sich über mich – ich konnte nur den Schatten sehen der den Himmel verdeckte.
„Marissa… du lebst noch!“ Die Stimme zitterte stark. Die Person die zu dieser Stimme gehörte schluchzte – sie weinte.
Ich wollte sehen wer da mit mir sprach und versuchte mit der Hand über meine Augen zu wischen doch anstelle von gehorsamen Muskeln erwarteten mich wieder nur Schmerzen.
Mein Körper brannte und pochte und es schien als wollte er sich in seine Einzelteile auflösen. Mit größter Mühe unterdrückte ich einen Schrei nach dem anderen und biss die Zähne zusammen, doch sogar das tat weh.
Irgendwann hatte ich – innerhalb von kürzester Zeit – all meine Tränen aufgebraucht so dass sich mein Blick allmählich klärte.
Jetzt erkannte ich auch, wer bei mir war – Duncan natürlich!
Er hatte sich zurückverwandelt und kniete halb über mich gebeugt am Boden. Seine Arme zitterten als hätte er gerade zweihundert Klimmzüge gemacht.
Als er bemerkte dass ich ihn anschaute, drehte er sein Gesicht weg und wischte sich die Tränen aus den Augen. Seine Wangen röteten sich leicht.
Mit aller Kraft die ich aufbringen konnte hob ich meine zerschundene, linke Hand und griff nach seinem Unterarm.
Bei der Berührung zuckte er leicht zusammen und schaute mich dann wieder an.
„Es tut mir leid“ stammelte er und ergriff mit seiner Hand meine.
Mein Hirn arbeitete und versuchte zu begreifen, warum Duncan sich gerade bei mir entschuldigt hatte – es kam auf keine vernünftige Antwort. Je länger ich nachdachte, desto schwindliger wurde mir also ließ ich es sein.
Ich verstärkte meinen Griff und versuchte mich hochzuziehen doch Duncan drückte mich sofort an der Schulter hinunter und verhinderte so, dass ich mich aufsetzte.
Ich wusste auch sofort warum er das machte.
Erstens dröhnte mein Schädel als hätte sich gerade ein Elefant darauf niedergelassen und zweitens hatte ich jetzt einen Blick auf meinen völlig zerstörten Körper erhascht.
Ich lag zwar noch in der kleinen Mulde hinter den Büschen aber gleichzeitig auch in einem kleinen See meines eigenen Blutes. Mir wurde augenblicklich übel.
Das Blut allein anzusehen führte schon dazu dass sich meine Eingeweide schmerzhaft verkrampften, aber was noch viel schlimmer war, war der Anblick meines ohnehin schon gebrochenen Beins.
Es stand in einem Winkel von meinem Körper ab der jenseits von gut und böse war.
Ich blinzelte. Wahrscheinlich würde ich das Bein verlieren – das hieß wenn ich nicht sowieso am Blutverlust starb.
Ich drehte mein Gesicht Duncan zu. Allein diese alltägliche Bewegung kostete mich enorm viel Energie.
„Duncan…“ fing ich an und wurde durch ein gurgelndes Geräusch aus meiner Kehle unterbrochen. Ich setzte zu einem weiteren Versuch an und drückte Duncans Hand so fest ich konnte. „Duncan… ich will nicht… sterben.“
Wieder erklang das Gurgeln. Vermutlich hatte ich innere Verletzungen.
Duncan schüttelte den Kopf. Wieder kullerte eine einzelne Träne seine Wange hinunter – diesmal wischte er sie nicht weg. „Ich bring dich hier weg. Ich helfe dir… ich werd nicht zulassen das du stirbst.“
Bei den letzten Worten brach seine Stimme weg.
Meine Augen wurden müde, sie wollten schlafen – genau wie ich.
Langsam senkten sich meine Lider.
„Mars? Mars! Nein nein nein!!!“ Das war das letzte was ich hörte, dann wurde es um mich wieder dunkel, aber nicht so wie beim letzten Mal.
Diese Dunkelheit war viel schwerer und ich hatte das Gefühl dass sie mich erdrückte.
Ich war mir sicher dass ich nicht tot war, denn der Tot war, wie ich festgestellt hatte, schmerzfrei, angenehm und friedlich.
Lange Zeit lag ich allein in der Finsternis – allein mit den schrecklichen Schmerzen die immer wieder wie Blitze durch meinen ganzen Körper zuckten.
Irgendwann wurden sie aber schwächer und dumpfer.
Starb ich vielleicht gerade? Ich wusste es nicht.
Gleichzeitig fühlte sich auch die Schwärze um mich herum leichter an.
Von meiner rechten Hand aus schwappten Wellen der Wärme durch meinen Körper und erfüllten jede Zelle.
Langsam war ich mir nicht mehr sicher ob ich noch unter den Lebenden weilte.
Das Brennen, Stechen und Pochen in mir hatte aufgehört – es war alles ruhig.
Und dann war ich plötzlich wieder da!
Ich öffnete einfach meine Augen und lebte und ich sah alles!
Ich sah die dunkle Holzdecke über mir, das kleine, schmutzige Fenster in der Wand und das warme Sonnenlicht das in den Raum fiel.
Alles war so bunt und grell, ganz anders als diese Zwischenebene zwischen Leben und Tod.
Ich setzte mich auf und blickte mich um.
Ich befand mich in einer kleine Holzhütte mit nur einem Fenster, einer Tür und einen wackeligen alten Tisch mit zwei morschen Holzstühlen. Ich lag im Bett in einer Ecke auf einem weichen, kuschligen Schafsfell.
Duncan kniete neben dem Bett. Sein Oberkörper lag halb auf der Matratze, er verbarg mit seinen Armen sein Gesicht und zitterte am ganzen Körper.
Ich schaute ihn an und bemerkte erst jetzt dass er schluchzte.
Sofort streckte ich meine Hand nach ihm aus und legte sie sanft auf seine Schulter. Ruckartig hob er seinen Kopf und starrte mich aus geröteten, verweinten Augen an.
Es vergingen bestimmt einige Minuten bis irgendetwas geschah. Und das was dann geschah – mit dem hatte ich überhaupt nicht gerechnet.
Duncan umarmte mich und drückte mich an sich. Er drückte so fest zu, dass ich schon fast Angst bekam zu ersticken, trotzdem erwiderte ich seine Umarmung nach einigem Zögern.
Irgendwann löste er sich von mir und schaute mich an. „Wahnsinn! Du lebst noch!“
Auf die nächste Umarmung war ich wenigstens gefasst und konnte meine geschundenen Knochen vor dem schlimmsten bewahren.
Meine Knochen!
Ich drückte Duncan etwas zu unsanft von mir weg, so dass er am Boden landete und sprang aus dem Bett.
Nichts schmerzte! Soweit ich sehen konnte waren auch die ganzen Verletzungen verschwunden.
Verblüfft drehte ich mich um die eigene Achse.
„Wie….?“ Ich starte meine Hände an und drehte sie in alle Richtungen doch sie hatten nicht einmal einen Kratzer – nur auf der Handfläche der rechten Hand war ein kleiner, silberner Punkt zu sehen.
Duncan hatte sich inzwischen aufgerappelt und stand neben mir.
„Wie hast du das wieder hingekriegt? Ich meine schau mich an!“ ich machte eine Handbewegung auf mich, „Ich bin wieder ganz und mein Bein! Es ist nicht mehr gebrochen oder sieht aus als wäre es in einen Fleischwolf geraten!“ Begeisterte drehte ich mich wieder um mich selbst bis Duncan mich an der Schulter festhielt.
„Setz dich erst Mal. Ich weiß nicht ob es so gut ist wenn du hier herumspringst.“ Mit diesen Worten schob er mich in Richtung Bett zurück und brachte mich sanft darauf zum sitzen. Er setzte sich neben mich.
Ich kapierte nicht warum es nicht gut sein sollte. Ich fühlte mich doch großartig.
„Duncan! Ich fühle mich wie neu geboren! Wie hast du mich nur wieder zusammensetzen können? Jeder Unfallchirurg hätte wahrscheinlich kapituliert!“ Ich hatte größte Mühe nicht zu lächeln, so glücklich war ich noch am Leben zu sein.
„Ich habe dich… geheilt.“ Er legte seine Stirn in Falten und schüttelte leicht den Kopf als könnte er es selber nicht glauben.
„Ja ich weiß, aber wie? Wie hast du das gemacht??“ Ich stocherte nach.
„Okay, na schön ich erzähl es dir aber nur wenn du mir versprichst, dass du mich nicht unterbrichst und deine Klappe hältst.“ Bei diesen Worten stahl sich ein Lächeln in sein Gesicht.
Ich nickte ein paar Mal mit dem Kopf und lächelte ihn freudig an.
„Braves Mädchen“, sagte Duncan, grinste und zerwühlte mit einer Hand meine Haare – als wäre das noch nötig gewesen, sie standen sowieso schon in alle Himmelsrichtungen ab.
„Ähm also gut“, fing er an und kratzte sich kurz am Hinterkopf. „Wie du vielleicht mitbekommen hast, kann ich mich in einen Wolf verwandeln.“ Er brach ab und musterte mich. Als ich keine Anstalten machte ihn zu unterbrechen, fuhr er fort.
„In einen ziemlich großen Wolf“, er lächelte in sich hinein.
Mir brannten tausend Fragen auf der Zunge, doch ich hatte ihm versprochen ihn nicht zu unterbrechen also versuchte ich ruhig zu sitzen und biss mir auf die Unterlippe.
Duncan schaute mich wieder kurz an. „Nicht dass du jetzt glaubst ich bin so eine Art Monster, ich denke nicht dass ich das bin…“ Jetzt schaute er mich nicht mehr an und auch sein Lächeln war wie weggeblasen.
„Duncan, ich halte dich nicht für ein Monster. Das habe ich nie“, sagte ich als er weiterschwieg und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er legte in Gedanken versunken seine darauf.
Er schwieg weiter.
Zuerst wusste ich nicht was ich machen sollte oder wie ich ihn zum weiterreden bringen konnte. Irgendwann fasste ich ihm mit der freien Hand unters Kinn und zwang ihn so mich anzusehen. „Bitte rede weiter sonst drehe ich hier noch durch.“
Duncan schluckte, dann sprach er weiter: „Vielleicht denkst du jetzt ich bin ein Werwolf, aber eigentlich bin ich keiner. Ich würde mich als Gestaltwandler bezeichnen.“
„Oho… ein Gestaltwandler! Das erklärt dann einiges“, sagte ich.
Duncan grinste. „Tja einiges aber noch lange nicht alles. Ich habe diese Kräfte von meinem Vater geerbt und der von seinem und der wiederum von seinem. Das ist also so eine Vater-Sohn-Geschichte…“
„Ähm…“ die Frage brannte mir jetzt einfach auf der Zunge auch wenn Duncan die Augen verdrehte, „Sorry, ich weiß ich soll dich nicht unterbrechen“, sagte ich und setzte meinen besten Hundeblick auf – wie passend. „Du willst mir also sagen dass es mehr wie… wie dich gibt?“
„Es gab mehr von uns, ja, aber meine Spezies stirbt langsam. Wir sind nicht für ein Leben in der Zivilisation geschaffen weißt du. Naja also ich bekam meine… nennen wir es einfach Mal Magie… ich bekam sie von meinem Vater als ich ungefähr fünf war. Seitdem lebe ich immer irgendwo in der Wildnis Amerikas und streife ziellos durchs Land – bis jetzt.“ Wieder machte er eine Pause.
„Und was führt dich jetzt hierher?“
„Naja wie ich vor einer guten Stunde feststellen musste bin ich deinetwegen hier… Ich erkläre dir später warum aber zuerst musst du die ganze Geschichte kennen. Du würdest es sonst nicht verstehen.“
Ich staunte nicht schlecht. Ein Gestaltwandler, der schon jahrelang durchs Land streifte kam jetzt nur wegen mir nach Ladysmith? Ich wurde jetzt immer neugieriger und wollte unbedingt den Grund erfahren, doch wie Duncan gesagt hatte musste ich mich noch etwas gedulden.
„Okay, dann erzähl mir die ganze Geschichte“, sagte ich und lächelte Duncan an.
Er nickte einmal kurz und fuhr dann fort: „Tja also… Also ganz zum Anfang.“ Er grinste. „Bis zu meinem fünften Lebensjahr lebte ich bei meiner Mutter in New York. Wir hatten da eine kleine Wohnung und das Geld reichte gerade zum Überleben aus aber wenigstens war es ein glückliches Leben.
Mein Dad hatte uns verlassen als ich noch nicht einmal ein Jahr alt war. Er sagte dass er es nicht mehr in der Stadt aushielte – heute kann ich das verstehen, damals tat ich es nicht.
Und dann kam mein fünfter Geburtstag näher und ich merkte dass sich etwas veränderte, aber ich war noch ein Kind, ich wusste nicht was es war. Naja kurz nach meinem Geburtstag verwandelte ich mich zum ersten Mal in einen Wolf.“ Bei diesen Worten fing er an zu grinsen. Ich unterbrach ihn nicht – seine Geschichte fesselte mich jetzt schon. „Um ehrlich zu sein war ich kein richtiger Wolf sondern noch ein unbeholfener Welpe aber wenigstens etwas“, fuhr er fort. „Langsam wurde ich krank, denn wie gesagt können Menschen wie ich nicht in der Zivilisation leben ohne irgendeinen Schaden davon zu tragen. Mit sieben Jahren bin ich von daheim ausgerissen. Ich weiß dass ich meiner Mutter damit das Herz gebrochen habe, aber ich konnte so einfach nicht mehr leben.“ Hier machte Duncan eine Pause, stand auf und ging zu einem kleinen Schrank auf der anderen Seite des Zimmers. Er nahm eine große, weiße Kerze und ein paar Streichhölzer heraus.
Ich bemerkte erst jetzt wie dunkel es draußen schon wurde. Hier in der Holzhütte konnte man schon fast nicht mehr die Hand vor Augen erkennen.
Duncan hatte die Kerze auf den Boden neben das Bett gestellt und zündete sie geschickt an. Sofort erhellte ein kleiner Lichtkreis den staubigen Holzboden. Duncan setzte sich neben das flackernde Licht und lehnte sich gegen mein Bein.
„Zuerst lebte ich im Central Park, aber das war keine Lösung. Als Kind zwischen Drogendealern und Obdachlosen ist es zu gefährlich und so verließ ich die Stadt nach ein paar Wochen ganz. Es zog mich Richtung Süden, nach Georgia. Dort traf ich auf meinen Vater.“ Duncans Blick verdunkelte sich etwas. „Er lebte mit einer Frau und einem kleinen Mädchen abgeschieden von den anderen Menschen an einem kleinen Fluss. Ich erfuhr, dass das Mädchen meine Halbschwester, Ann, war.
Bei meinem Vater und seiner neuen Familie fühlte ich mich ganz wohl, also blieb ich dort – zwei Jahre lang. Mein Vater zeigte mir wie ich meine Kräfte gezielt einsetzen konnte und übte mit mir. Manchmal streifte ich tagelang allein durch die nähere Umgebung und übte die Verwandlung, oft begleitete mich Dad aber auch in Gestalt eines Wolfes oder Adlers….“
„Eines Adlers?“ Die Worte waren mir einfach entkommen. Ich schaute Duncan entschuldigend an, doch der lächelte nur und sprach dann ruhig weiter.
„Ja. Er konnte sich auch in einen silbernen Adler verwandeln – in einen ganz schön großen noch dazu. Er war ein mächtiger Gestaltwandler, viel stärker als ich es je sein werde.“
Wow, das war alles so beeindruckend! Ich stellte mir vor wie ein gigantischer, silbern glänzender Vogel sanft und lautlos durch die Lüfte glitt und auf einen halbwüchsigen, weißen Wolf hinabblickte.
„Einige Zeit lief alles gut und ich war einigermaßen glücklich, aber dann veränderte sich Ann – ihr fünfter Geburtstag nahte. Normalerweise wird die Magie nur von Vater zu Sohn weitergegeben, doch irgendetwas lief schief und Ann bekam einen Teil der Magie meines Vaters. Etwa zur gleichen Zeit spürten ich und Vater, dass eine große Bedrohung im Anmarsch war – ja so etwas können wir fühlen“, fügte er mit einem Lächeln hinzu als er mein fragendes Gesicht sah. „Tja also wenig später verwandelte sich Ann zum ersten Mal und zwar in einen pechschwarzen Wolf. Vater verschwand danach für ein paar Wochen und kam dann mit der Ausrede zurück, dass er etwas zu erledigen gehabt hätte – ich wusste dass das nicht stimmte und fragte ihn was los sei. Vater erzählte mir von einem merkwürdigen Traum: eine Wölfin würde versuchen unsere Spezies zu retten, dafür würde sie die Menschheit vernichten. Da Vater ein mächtiges magisches Geschöpf war, war diese Wölfin auf seine Kräfte aus um alles und jeden zu vernichten der sich ihr in den Weg stellt.
Er schickte mich fort und sagte ich solle mich in Sicherheit bringen, ich sei nicht mehr sicher. Außerdem musste ich ihm versprechen weiter an meinen Verwandlungsfähigkeiten zu arbeiten – was ich natürlich tat.
Ich verließ also auch diesen Ort und ging nach Alaska. Einige Zeit lebte ich dort in der Einsamkeit eines Einsiedlers und das obwohl ich inzwischen gerade einmal zehn Jahre alt war. Bis zu dieser einen Nacht…
Ich schlief unruhig, ich kann mich noch genau daran erinnern. Ich träumte, Vater würde zu mir sprechen.
‚Junge es ist soweit. Die Wölfin ist auf dem Weg um mich zu vernichten. Du musst mir ein Versprechen geben, mein Sohn. Finde die silberne Feder. Nach meinem Tod wird meine Magie in ihr gespeichert und du musst sie finden, bevor die Wölfin sie findet sonst wird es für die Menschheit ein schlechtes Ende nehmen…‘
Ich versprach ihm die Feder zu finden und zu beschützen.
Am Morgen nach diesem Traum brach ich auf. Ich wollte zu meinem Vater und sehen ob es ihm gutging doch als ich bei seinem Haus ankam war es zu spät. Er lag tot auf der Erde, genau wie seine Frau. Ann war nirgends zu finden. Ich dachte sie wäre tot. An diesem Tag schwor ich mir Rache an der Mörderin zu nehmen und sie für alle Zeiten zu bekämpfen. Ich suchte in allen Winkeln Amerikas – von Kanada bis Mexiko. Ich fand die Feder nicht. Die Jahre vergingen wie im Flug und bald wurde ich siebzehn. Ich war mal wieder unterwegs und wusste nicht genau wohin ich lief, doch meine Beine steuerten hierher. Am Stadtrand von Ladysmith verwandelte ich mich in meine menschliche Gestalt und suchte nach dem Grund warum ich hier her gekommen war.
Das war der Tag an dem wir uns zum ersten Mal im Supermarkt trafen. Irgendetwas an dir zog mich magnetisch an und ich wusste nicht was es war. Ich beschloss dich zu beobachten und schlich nachts um dein Haus. Am nächsten Morgen bist du mit deinem Hund raus gegangen und ich bin dir gefolgt. Dann bist du am Seeufer eingeschlafen und erst wieder aufgewacht als es bereits dämmerte. Ich lag die ganze Zeit hinter einem großen Strauch und wartete – und dann spürte ich, dass Ann auf dem Weg war…“
„Was wollte Ann den?“ fragte ich nichts ahnend.
Duncan erstarrte. „Ich traf sie etwas weiter im Wald. Langsam wurde mir klar, dass sie die Wölfin aus Vaters Traum war. Also versuchte ich sie zu verjagen. Ich dachte eigentlich auch, dass ich es geschafft hatte, doch dann griffen sie und ihr Rudel dich an. Wäre ich nur ein paar Sekunden später gekommen, wärst du jetzt wahrscheinlich tot. Naja den Rest kennst du ja schon...“ Duncans Blick war in die Ferne gerichtet ich wollte ihn nicht stören und trotzdem hatte ich so viele Fragen.
„Ähm…das bedeutet das kleine Mädchen, das mit dem weißen Kleid, ist Ann und sie ist böse.“
Duncan nickte einfach nur.
„Und wie genau hast du mich jetzt geheilt?“
„Ich habe deine Hand genommen und dir etwas von meiner Energie gegeben. Das bedeutet zwar dass ich jetzt etwas schwächer bin, aber es hat funktioniert – du lebst!“ Er strahlte übers ganze Gesicht.
„Ja aber was hab ich jetzt mit der ganzen Sache zu tun?“ fragte ich verwirrt.
Er drehte sich zu mir herum. „Die silberne Feder die die Magie meines Vaters beherbergt ist in dir…“
Er musterte mich genau. Ich starrte ihn einfach nur an.
In mir war doch nichts oder? Ich hatte bis jetzt noch nichts gemerkt, aber vielleicht merkte ich das auch einfach nicht…
„Und… Und wie kriegen wir sie aus mir raus?“ Ich glaubte die Antwort schon zu kennen, wollte sie aber mit eigenen Ohren hören.
„Man muss dich töten.“ Bei diesen Worten wurde Duncans Gesichtsausdruck sehr traurig und er schaffte es beinahe nicht mir in die Augen zu sehen.
Ich konnte seine Worte im ersten Moment nicht begreifen, als würde er nicht meine Sprache sprechen. Nur langsam realisierte ich, was er gerade gesagt hatte. Mein Körper erzitterte – ich wollte noch nicht sterben.
„W…warum ich?“ würgte ich schlotternd hervor.
Duncan schloss die Augen. „Ich weiß es nicht. Es tut mir leid.“
Jetzt bekam ich es langsam mit der Angst zu tun. „Duncan… musst du mich töten?“
Lange sagte er nichts, dann endlich antwortete er. „Nein. Ich muss gar nichts.“
„Aber wenn du es nicht tust, tut es Ann…“ Ich wusste nicht was ich sagte. Wäre es denn leichter wenn er mich erledigte und nicht Ann?
„Ann“, er sprach den Namen voller Verachtung aus, „wird dich nie kriegen solange ich da bin…“
Ich überlegte lange bevor ich wieder sprach.
Wenn ich starb, würde mich dann überhaupt jemand vermissen? Wenn ja, wer? Sandra wäre sicher traurig, aber sie würde auch ohne mich gut weiterleben können. Tina wäre ohne mich bestimmt besser dran und sie könnte ja auf Speedy aufpassen. Im Grunde hätte ich nichts zu verlieren…
„Du kannst nicht immer auf mich aufpassen, du musst dein eigenes Leben leben.“ Ich stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Langsam sammelten sich Tränen in meinen Augen. „Ähm, wenn die Sicherheit der Menschheit davon abhängt, dann will ich nichts riskieren…“
Duncan stand mir plötzlich im Weg und hielt mich an den Schultern fest. „Hast du eine Ahnung was du da gerade redest? Das ist Schwachsinn! Ich habe versprochen die Feder zu finden und zu schützen! Ich habe sie gefunden und jetzt muss ich sie beschützen – was bedeutet das ich dich beschützen muss.“
Ich starrte ihn an. Es wäre ganz einfach. Ich trat einen Schritt auf ihn zu.
„Duncan irgendwann wird sie mich kriegen. Und dann hat sie auch die Feder.“
Er schaute mich lange aus seinen dunklen Augen an. „Okay, hör zu.“
Er führte mich zum Bett zurück und wir setzten uns. „Ich… ich kann dich nicht töten. Das geht nicht. Ich hab dich gern und ich werde jetzt auf dich aufpassen.“
Jetzt liefen mir die Tränen über die Wangen. Nur wegen mir waren Millionen Menschenleben in Gefahr.
Duncan sah dass ich weinte und umarmte mich – das machte alles nur noch schlimmer.
Auf der einen Seite wäre ich ein kleines Opfer im Vergleich zu dem was passieren würde wenn Ann mich in die Finger bekam, auf der anderen Seite wollte ich nicht sterben – es war einfach noch zu früh.
Duncan streichelte mir mit einer Hand über den Rücken und versuchte mich zu beruhigen, doch jetzt fing ich auch noch an zu schluchzen – das war mir irgendwie so peinlich.
„Marissa, du musst nicht weinen, ich pass doch auf dich auf.“
Ich merkte dass Duncan sich hilflos fühlte. Er wollte nicht dass ich weinte, aber er konnte es nicht verhindern.
Genauso wenig wie er verhindern konnte dass ich früher oder später starb – egal durch wessen Hand.
Ich legte resignierend meinen Kopf auf seine Schulter und versaute so sein Hemd mit meinen Tränen.
Ich weiß nicht wie lange wir so dasaßen, aber mit der Zeit beruhigte ich mich wieder. Duncan versicherte mir immer wieder, dass mir nichts passieren würde und irgendwann glaubte ich ihm das schon fast.
Er stand auf um die Kerze auszumachen. Ich krabbelte auf allen vieren in die hinterste Ecke des Bettes um Duncan genug Platz zu lassen. Wenige Sekunden später kehrte er mit ein paar alten Decken zurück.
Ich kuschelte mich in den Haufen aus altem Stoff und mir wurde sofort warm.
Es war ein anstrengender und vor allem langer Tag für mich gewesen und so war ich schon nach wenigen Minuten ins Reich der Träume geglitten.
Ausreden
Am nächsten Morgen wurde ich von der Sonne geweckt.
Zwar drehte ich mich zuerst um und versuchte weiterzuschlafen, aber nachdem ich es einige Minuten vergeblich versucht hatte, richtete ich mich auf.
Ich gähnte und streckte mich ausgiebig bis ich bemerkte dass ich alleine war. Verwirrt und etwas verängstigt kroch ich aus dem Bett und schaute mich um.
Eines war klar – Duncan war nicht hier.
Die Tür stand offen und das helle Licht fiel durch die Öffnung. Etwas wackelig trat ich vor die Tür und blinzelte erst einmal. Nachdem sich meine Augen einigermaßen an die Sonne gewöhnt hatten blickte ich mich um.
Die Hütte stand auf einer kleinen Wiese auf der gerade die letzten Sommerblumen verblühten. Ein paar Meter vor dem Häuschen erstreckte sich ein länglicher Tümpel, der über einen schmalen Bach immer mit frischem Wasser versorgt wurde. Das alles war von hohen, alten Bäumen umgeben die lange Schatten auf die saftige Wiese warfen.
Duncan saß auf einem umgefallenen Baumstamm vor dem Teich. Er hatte sich etwas vorne über gebeugt und wusch etwas im glasklaren Wasser.
Ich trat hinter ihn und räusperte mich leise.
Duncan drehte sich langsam um und lächelte mich an. Ich machte einen Schritt zurück. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er sah müde und völlig erschöpft aus – fast krank.
„Hey Schlafmütze!“ Er lächelte mich fröhlich an, doch es half alles nichts – sein Anblick war alles andere als gesund.
Langsam ging ich wieder auf ihn zu und betrachtete ihn genau.
Sein normalerweise gebräuntes Gesicht war blass und unter seinen Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet.
Ich streckte meine Hand aus und berührte seine Wange – er war eiskalt.
„Was ist mit dir passiert?“ hauchte ich kaum hörbar und starrte ihn an.
Duncan legte seinen Kopf schief und schaute an sich hinab. „Was soll denn sein?“
„Du siehst furchtbar aus“, sagte ich, mit schon etwas kräftigerer Stimme und ging vor ihm auf die Knie, so dass wir nun auf Augenhöhe miteinander waren.
„Oh das meinst du. Naja ich hab dir doch erzählt wie ich dich geheilt habe..“ begann er und zog mich neben sich auf den Stamm.
Ich nickte nur und starrte weiter auf sein blasses Gesicht.
Duncan nahm meine Hände in seine und sprach weiter. „Naja um dich zu heilen musste ich dir etwas von meiner Energie geben. Das bedeutet dass ich für die nächsten paar Wochen etwas geschwächt sein werde, aber es ist nichts Ernstes.“
Er warf mir ein bezauberndes Lächeln zu und strich in Gedanken versunken mit seinem Daumen über meinen Handrücken.
Obwohl Duncan zurzeit furchtbar ungesund aussah, hatte er etwas an sich. Ich hatte bei ihm immer das Gefühl willkommen zu sein – als würde ich mit einem alten Freund sprechen.
Ich lehnte mich an seine Schulter. „Aber was ist wenn Ann jetzt angreift?“
Lange sagte er nichts, dann hob er kurz die Schultern. „Ich bin älter, erfahrener und stärker als sie. Sie wird mich nicht angreifen. Sie weiß ja nicht einmal das ich geschwächt bin.“
Wir saßen ein paar Minuten in der Sonne und blickten auf die aufgewühlte Oberfläche des Tümpels vor uns bis Duncan eine große Plastiktüte hinter dem Stamm hervorzog.
„Ich hab dir was anderes zum anziehen besorgt. Deine Klamotten sind ja nicht mehr ganz…. Ganz“, sagte er und grinste breit während er mich musterte.
Er hatte recht. Bei genauerer Betrachtung bemerkte ich, dass meine Boxershorts auf einer Seite völlig aufgerissen waren und nur noch an ein paar dünnen Fäden zusammenhingen. Von meinem T-Shirt war auch nicht mehr wirklich viel übrig geblieben. Etwas beschämt bemerkte ich wie ich rot wurde.
Duncan klopfte mir aufmunternd auf die Schulter, überreichte mir die Tüte und stand auf.
„Du kannst dich in der Hütte umziehen. Ich such uns derweil was zu essen, in Ordnung?“
Ich überlegte kurz. Dann nickte ich, obwohl ich mich unwohl fühlte wenn ich alleine war. Duncan bemerkte das.
„Ich gehe nicht weit weg, versprochen.“ Er zwinkerte mir zu und lief dann in den Wald. Ich ging mit meinem neuen Gewand in der Hand in die Hütte und schloss die Tür hinter mir so gut es ging ab. Dann ging ich in die hintere Ecke und begann mich aus meinen zerrissenen Klamotten zu schälen. Ich beeilte mich und schlüpfte sofort in die Wäsche die Duncan mir gegeben hatte – es war ein knielanges, dunkelgraues Kleid.
Verdutzt schaute ich an mir hinab. Soweit ich das beurteilen konnte, sah es schön aus – und vor allem teuer.
Ich suchte nach einem Spiegel, doch wie sich herausstellte vergebens.
Draußen vor der Tür hörte ich Schritte auf dem Gras. Ich ging zur Tür und lugte zwischen den morschen Brettern hindurch.
Duncan war zurück. Er hielt in einer Hand eine Packung Milch, in der Anderen ein paar rote Äpfel.
Ich trat ins Freie und ging ihm entgegen.
„Frühstück“, sagte er breit grinsend und warf mir einen Apfel zu.
Etwas ungeschickte fing ich ihn auf und drehte ihn in meiner Hand. „Wo hast du das Zeug denn her?“
Duncan ging zu dem Baumstamm, setzte sich und klopfte auf den Platz neben sich. „Ich war einkaufen.“
Ich runzelte die Stirn. Wie er war einkaufen? Mitten im tiefsten Wald?
Duncan fing an zu lachen als er mein Gesicht sah. „Ich war in Ladysmith drüben und hab eingekauft. Ach ja – das Kleid steht dir wirklich ausgezeichnet.“ Er musterte mich ganz genau.
Ich merkte wie ich rot wurde und senkte den Kopf. Etwas versteift nahm ich neben ihm Platz und biss herzhaft in den Apfel in meiner Hand.
„Hast du das auch in Ladysmith gekauft? Es sieht ziemlich teuer aus…“ sagte ich nachdem ich geschluckt hatte.
„Um ehrlich zu sein hab ich das Kleid nicht direkt gekauft…sagen wir ich hab es geliehen ohne zu fragen.“ Er strahlte mich immer noch an.
Ich lachte. Aus irgendeinem Grund fand ich es unheimlich komisch, das er etwas gestohlen haben sollte.
„Wie bist du eigentlich in die Stadt gekommen? Ich sehe hier gar kein Auto.“
Duncan prustete lautstark los. „Ach Mars! Ich bin ein Wolf schon vergessen?“
„Oh, stimmt ja.“ Ich starte auf den aufgewühlten Tümpel zu meinen Füßen. Die Bewegungen der Wasseroberflächen wirkten wie hypnotisch auf mich.
„Ähm Marissa…“ brach Duncan schließlich das Schweigen.
Ich schaute ihn an. „Ja, was ist?“
„Tja, also… Ich hab dir doch versprochen, dass ich auf dich aufpasse…“
„Ja ich weiß aber das musst du wirklich nicht.“
Duncan schüttelte den Kopf. „Doch muss ich. Also, als erstes müssen wir uns eine Ausrede für deine Schwester einfallen lassen warum du überhaupt verschwunden bist.“
„Wie wär’s wenn ich bei dir war? Ich mein als… deine Freundin?“ Ich wurde schon wieder rot. Es war in der Tat das einzige was mir eingefallen war. Und auch das einzige was halbwegs Sinn machte.
Duncan rutschte näher an mich heran und nahm meine Hand. „Hört sich nicht übel an – als Ausrede natürlich!“ fügte er hastig hinzu und ich bemerkte wie sich seine Wangen leicht röteten. „Wir brauchen noch eine…“
Ich schaute ihn verwirrt an. „Warum noch eine??“
Duncan überlegte kurz wie er es am besten formulieren konnte und antwortete dann. „Wenn ich dich beschützen will, dann muss ich immer in deiner Nähe sein – das bedeutet auch nachts.“
Ich begriff. Wenn er sich nicht jeden Abend in mein Haus schleichen wollte, musste ich ihn irgendwie einschleusen – nur wie?
Es dauerte eine Weile bis mir ein Geistesblitz kam. „Wir könnten die gleiche benutzen…“
Duncan runzelte nur die Stirn und schaute mich fragend an.
„Du könntest meinen Freund“, ich zeichnete mit der freien Hand Anführungszeichen in die Luft, „spielen.“
„Ach sooo… Das wär wohl am einfachsten.“
„Wie lange war ich eigentlich weg von daheim…?“ fragte ich nach ein paar Minuten Stille.
Duncan überlegte nicht lang und antwortete ruhig: „Heute ist Mittwoch.“
„Was?!“ krächzte ich ungläubig und sprang auf.
„Du bist mir am Sonntagabend gefolgt, Anns Rudel hat uns Montagmorgen angegriffen und ich habe den ganzen Dienstag damit verbracht dich wiederzubeleben.“
Ich rannte auf der kleinen Wiese auf und ab als hätte ich Hummeln im Hintern. „Du musst mich jetzt sofort zurückbringen! Tina dreht durch! Sandra dreht durch…!“ Ich lief immer noch im Zickzack über das Gras.
„Hey! Es ist alles in Ordnung, bleib ruhig!“ sagte Duncan und legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter, so dass ich stehen bleiben musste.
„Bitte bring mich zurück“, hauchte ich und er nickte mir zu.
„Hast du was dagegen wenn ich mich verwandle? Ich hab nämlich kein Auto und…“
Ich nickte nur. Ich hatte keine Angst vor seiner tierischen Seite.
Duncan nickte einfach wieder, dann trat er ein paar Schritte von mir zurück und atmete einmal tief ein.
Mit einem kräftigen Sprung stieß er sich vom Boden ab und schien reglos in der Luft hängen zu bleiben – aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Sein Körper fing an zu zittern und zu verschwimmen und dann leuchtete ein heller Lichtblitz auf.
Es war das erste Mal dass ich seine Verwandlung richtig mitbekam, was auch erklärte warum ich wie erstarrt dastand und den weißen Wolf, der inzwischen vor mir auf dem weichen Boden gelandet war, anstarrte.
Duncan kläffte. Es hörte sich merkwürdig an und passte überhaupt nicht zu seiner Gestalt. Unwillkürlich fing ich an zu kichern.
Der große Wolf verdrehte nur die Augen und deutete dann mit seiner Schnauze auf seinen Rücken. Diesmal verstand ich sofort was er mir sagen wollte.
„Duncan tu mir einen Gefallen“, sagte ich während ich mich ungeschickt auf seinen Rücken zog. „Lauf nicht so schnell sonst fall ich noch runter…“
Bei diesen Worten fing der Körper des Tieres unter mir an zu zittern – er lachte.
„Hey lach mich nicht aus, du sitzt ja schließlich nicht auf einem überdimensionalen Wolf“, sagte ich mit einem Lächeln auf den Lippen.
Als wollte er mir zeigen wie verantwortungsvoll er war, setzte sich Duncan vorsichtig in Bewegung und beschleunigte langsam. Ich krallte meine Finger in seinen Pelz und hoffte dass ich nicht abrutschte.
Ich wusste noch genau wie ich das letzte Mal auf ihm gesessen hatte, nur diesmal fühlte es sich komplett anders an. Wahrscheinlich weil ich jetzt wusste womit ich es zu tun hatte – ungefähr jedenfalls.
Es war schon ganz schön viel passiert in den letzten paar Tagen.
Zuerst lernte ich Duncan im Supermarkt kennen – nichtsahnend dass er ein pelziges Geheimnis hatte – und hielt ihn für einen total normalen, netten Typen. Dann traf ich den weißen Wolf der mich vor seinen Artgenossen rettete – nichtsahnend dass Duncan dahintersteckte. Und jetzt kannte ich sie beide und war froh dass ich sie getroffen hatte.
Duncan bewegte sich geschmeidig durchs Unterholz und wich allen Hindernissen geschickt aus. Irgendwann wurde er langsamer und hielt schließlich an – viel zu früh für meinen Geschmack.
Ich kletterte von ihm herunter und stellte mich neben ihn. Aus dem Augenwinkel bekam ich gerade noch mit dass sein Körper wieder zitterte, dann blendete mich derselbe Lichtblitz wie zuvor und ich kniff die Augen zu. Als ich sie wieder öffnete, stand Duncan in Menschengestalt neben mir und bewegte sich nicht.
„Sind wir schon da?“ fragte ich leise. Er nickte.
„Du kommst doch mit oder?“ Ich stellte es mir nicht sehr angenehm vor Tina gegenüber zu treten und wollte da auf keinen Fall alleine durch.
„Eigentlich wollte ich noch ein paar Sachen besorgen. Wenn ich jetzt bei dir „einziehen“ soll kann ich doch nicht jeden Tag die gleichen Klamotten tragen.“ Er lächelte mir unsicher zu.
„Oh verstehe. Begleitest du mich dann noch ein Stück?“
Er nickte wieder.
Ohne lange zu zögern ergriff er meine Hand und zog mich hinter sich her. Nach ein paar Minuten lichtete sich der Wald etwas und die Blockhütte kam in Sicht. Duncan hielt an. Ich stellte mich wieder neben ihn.
„Okay, ich komme zurück bevor es dunkel wird. Tu mir den Gefallen und bleib im Haus und pass auf dass die Türen und Fenster alle geschlossen bleiben“, sagte er. Etwas wie Angst lag in seiner Stimme, sein Gesicht aber war ausdruckslos geworden.
„Gut mach ich.“ Mehr sagte ich nicht und Duncan drehte sich auch schon wieder um, um im Wald zu verschwinden.
„Duncan!“ rief ich ihm hinterher.
Er blieb ruckartig stehen und schaute mich an. „Ja?“
„Mach dir keine Sorgen…“ Ich schaute ihn nicht an und drehte mich in Richtung Waldrand.
Plötzlich stand Duncan wieder neben mir und umarmte mich. Er drückte mich so fest an sich, dass ich zuerst Angst hatte zu ersticken doch je länger wir so dastanden, desto besser fühlte es sich an. Darum war ich auch so traurig als er mich losließ und ohne sich noch einmal umzudrehen verschwand.
Ich stand ein paar Sekunden wie angewurzelt da und genoss noch das leichte Kribbeln, das durch meinen Körper ging, dann lief ich zum Haus. Die Angst vor dem Wolfsrudel und Ann überfiel mich und die Schatten der Bäume schienen nach mir zu greifen.
Ich stolperte auf die Einfahrt und rannte auf die Haustür zu. Kurz bevor ich die Treppe erreichte wurde die Tür aufgerissen und Tina stand mit verweinten Augen vor mir. „Wo warst du?!“ brüllte sie und Tränen kullerten über ihre Wangen.
Ich hatte keine Zeit mehr gehabt um abzubremsen, krachte gegen sie und gemeinsam fielen wir durch die Tür.
Tina blieb wie versteinert liegen und starrte mich einfach nur an, während ich die Tür hinter uns zuschlug und verriegelte. Erleichtert lehnte ich mich gegen das raue Holz.
„Marissa Greys! Du hast Hausarrest und zwar ab heute!“ schrie meine Schwester vom Boden zu mir herauf.
Ich zuckte einfach nur mit den Schultern. Es war erstaunlich wie viel Kraft mich dieser kurze Sprint gekostet hatte.
Tina rappelte sich auf und stellte sich so nah vor mich dass ich schon fast Platzangst bekam. „Bist du verrückt geworden? Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht!“ sagte sie und umarmte mich. Ich sog überrascht die Luft ein.
„Tina…es tut mir leid. Ehrlich! Ich hätte dir sagen sollen dass ich noch weggehe…“ sagte ich als sie mich endlich wieder losgelassen hatte.
„O ja, das hättest du allerdings! Ich wollte gerade den Sheriff anrufen! Wo warst du?“ fragte sie und schob mich ins Wohnzimmer wo sie mich mit sanfter Gewalt aufs Sofa drückte, sich neben mich setzte und mich musterte. „Und wo hast du dieses Kleid her?“
„Ich sag’s dir aber bitte raste nicht gleich wieder aus.“
Tina fuhr sich mit den Fingern über die Lippen und tat so als würde sie einen Reisverschluss zuziehen.
„Okay, wo soll ich anfangen… Also du hast wahrscheinlich nicht sofort mitbekommen, dass ich weg war.“
„Nein hab ich nicht, ich hab es erst bemerkt als ich am nächsten Morgen aufgestanden bin um Speedy raus zulassen.“
„Naja ich hätte vielleicht etwas sagen sollen aber ich hatte es wirklich verdammt eilig und es tut mir wirklich leid. Ich hab mich an dem Abend noch mit Duncan getroffen…“ So jetzt war es raus. Ich schaute Tina genau an und versuchte ihre Reaktion voraus zusagen.
„Duncan?“ fragte sie als wäre sie nicht sicher ob sie sich gerade verhört hatte.
Ich nickte.
„Wer ist Duncan?“
„Er ist… mein Freund.“ Wow, es wunderte mich dass ich ihr das einfach so ins Gesicht sagen konnte ohne zu erröten.
„Dein. Freund.“ Ich hatte Tina noch nie so verwirrt gesehen wie in diesem Moment.
„Jaaaa… genau“, sagte ich langsam und stand auf.
„Seit wann ist er dein Freund?“ fragte Tina und erhob sich ebenfalls.
Ich dachte kurz nach. Verdammt, die Einzelheiten hatten wir nicht besprochen!
„Ähm, keine Ahnung. Zwei Wochen ungefähr?“ Es war mehr eine Frage als eine Antwort doch Tina schien sich zufrieden zu geben.
„Wann bringst du ihn mit?“ fragte sie nach einer kurzen Pause.
Ich setzte eine Unschuldsmiene auf. „Um ehrlich zu sein, wollte er heute hier übernachten… Ich hoffe das ist in Ordnung?“
Tina nickte nur. „Ich gehe einkaufen, soll ich irgendwas mitbringen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Pass auf dich auf“, sagte ich als ich an ihr vorbei zur Treppe ging.
Etwas steif stieg ich die Stufen bis zu meinem Zimmer hinauf und öffnete die Tür. Speedy lag eingerollt unter meinem Schreibtisch und lies sich nicht von mir stören.
Ich steuerte als erstes den großen Spiegel an meinem Kleiderschrank an. Wie schon vermutet sah das Kleid sehr schön aus – ganz im Gegensatz zu meinen Haaren. Jetzt im Nachhinein wunderte es mich wie Duncan es geschafft hatte bei meinem Anblick nicht vor Lachen umzukippen. Es sah aus als hätte ich ein Vogelnest auf dem Kopf. Ich fuhr ein paar Mal mit den Fingern durch das Wirrwarr, kapitulierte dann und beschloss eine warme Dusche zu nehmen bevor Duncan auftauchte.
Ich beeilte mich nicht im Bad. Das warme Wasser das über meinen Körper floss tat gut und es fühlte sich so an als hätte ich das schon jahrelang nicht mehr gespürt. Hier in meinem kleinen, kuschligen Badezimmer konnte ich mir schon fast nicht mehr vorstellen, dass draußen im Wald ein riesiger, schwarzer Wolf nach meinem Leben trachtete.
Als ich endlich aus der Dusche kam und auf die Uhr blickte zuckte ich zusammen – es war halb sieben Uhr abends. Duncan musste schon lange draußen warten.
Ich schnappte mir ein großes Handtuch vom Hacken hinter der Tür und wickelte es um mich. Dann stürmte ich die Treppe hinab, riss die Tür auf und trat auf die kleine Veranda hinaus.
Von Duncan war weit und breit nichts zu sehen und außerdem dämmerte es schon.
„Was machst du da?“ fragte eine bekannte Stimme hinter mir.
Ich schnellte herum. Duncan stand hinter mir und lehnte lässig im Türrahmen.
„Ich….du…wie??“ Das war alles was ich heraus brachte.
Duncan verzog sein Gesicht zu einem amüsierten Grinsen. Er trat auf mich zu und zog mich an der Hand ins Haus zurück. „Wir wollen doch nicht dass du dich erkältest“, sagte er als ich ihn fragend anblickte – immer noch mit einem Grinsen auf dem Gesicht.
„Wie bist du hier rein gekommen?“ fragte ich als ich endlich wieder die Sprache gefunden hatte.
„Deine Schwester war so barmherzig und hat mich mit rein genommen“, erklärte er und musterte mich von oben bis unten.
Augenblicklich schoss mir das Blut in die Wangen, denn ich war nur mit einem alten Badetuch bekleidet.
„Ich werde mir besser was anziehen“, würgte ich hervor und schoss an ihm vorbei zur Treppe. Hinter mir hörte ich sein leises Lachen.
In meinem Zimmer angekommen riss ich die Schubladen meines Schrankes auf und durchwühlte sie nach etwas, was gemütlich war und trotzdem einigermaßen vorzeigbar aussah.
Das einzige was ich fand war eine alte Trainingshose und ein weiter Pulli. Mit dem Gewand in der Hand stolperte ich ins Badezimmer zurück und schlüpfte so schnell ich konnte hinein.
Wie ich es schon befürchtet hatte sah es einfach nur furchtbar aus aber es war immer noch besser als ein Handtuch. Etwas außer Atem riss ich die Tür auf und erstarrte sofort.
Duncan saß wie selbstverständlich auf der Bettkante und spielte mit Speedy.
„Hey“, sagte er schlicht und klopfte auf den Platz neben sich.
Ich biss mir auf die Unterlippe. Irgendwie fühlte ich mich gerade merkwürdig…
Langsam ging ich zum Bett und setzte mich.
„Schickes Outfit“, sagte Duncan als Speedy ihn endlich in Frieden lies.
„Ähm… ja danke“, stotterte ich, „Du siehst aber auch nicht gerade schlecht aus!“
Ich schlug mir mit der Hand auf den Mund. Ja, Duncan sah in der Tat gut aus, sehr gut sogar, aber warum sagte ich ihm das eigentlich? Was war denn auf einmal los mit mir? Er war doch mein Beschützer!
„Danke. Tina hat gemeint wir sollen dann runter kommen. Sie hat gekocht“, sagte er und lächelte mich an.
Wow, seine Augen waren ja wirklich wunderschön!
Ich schüttelte den Kopf einige Male hin und her. Was sollte das denn?
„Alles in Ordnung?“ Duncan stand auf einmal vor mir und bot mir seine Hand an.
„Ja alles okay. Lass uns gehen sonst dreht Tina noch durch“, sagte ich und griff nach seiner Hand.
Ich stieg vor ihm die Stiege hinunter und spürte seinen Blick im Rücken.
Unten angekommen wies ich auf den kleinen Esstisch und er setzte sich.
Tina stand an der Anrichte und lud Steak und Kartoffeln auf drei Teller.
„Kann ich dir helfen?“ fragte ich und lehnte mich an die Arbeitsfläche.
Tina strahlte übers ganze Gesicht. „Ach, lass mal. Ich mach das schon, setz dich doch schon mal hin.“
„Okay….“ Was war denn in sie gefahren?
Ich setzte mich auf den Stuhl gegenüber von Duncan und schaute aus dem Fenster.
Erst nach einigen Augenblicken bemerkte ich, dass er mich ansah. Ich schaute ihn fragend an.
Er schüttelte nur den Kopf und starrte dann auf die Tischplatte.
Was war mit mir? Oder mit ihm? Irgendetwas war doch jetzt anders.
Endlich stellte Tina das Abendessen auf den Tisch und setzte sich dann zu uns.
Ich stocherte nur lustlos in dem Fleisch herum – Duncan tat es mir gleich. Nur Tina verschlang Stück für Stück.
„Und. Wie lange kennt ihr euch jetzt eigentlich schon?“ fragte sie nachdem sie einen Bissen hinuntergewürgt hatte.
„Seit einem Monat ungefähr“, ergriff Duncan das Wort ohne sie anzusehen.
„Ah interessant. Und wie lang bleibt Duncan?“ fragte sie nun mich.
Ich warf Duncan einen kurzen Blick zu, er zuckte kaum merklich mit den Schultern.
„Ähm er kommt aus New York als Austauschschüler… Er bleibt mindestens ein Schuljahr…“ Ich dichtete einfach irgendwas zusammen und hoffte dass es einen Sinn ergab.
„Guut dann hast du wenigstens bis nächste Woche Gesellschaft, ich muss nämlich eine Fortbildung machen und zwar in Boston...“ bei diesen Worten grinste sie mich vielsagend an.
„Oh, okay.“
Nach dem Essen half ich und Duncan Tina mit dem Abwasch.
„Duncan lass uns rauf gehen“, sagte ich nachdem alles Geschirr und Besteck verstaut war.
Duncan wandte sich zur Treppe um und ging los, ich wollte ihm folgen.
„Hey Marissa, ich muss noch kurz mit dir sprechen“, sagte Tina und hielt mich an der Schulter zurück.
„Okay. Duncan geh doch schon rauf und mach’s dir bequem ich komme gleich nach.“ Ich drehte mich wieder zum Tisch um und setzte mich.
Tina ließ sich auf den Stuhl mir gegenüber fallen.
„Was ist so wichtig, Tina?“ fragte ich fast etwas aggressiv – was mich selbst wunderte.
„Wir müssen uns unterhalten. Da du ja jetzt einen Freund hast und er bei uns übernachtet… naja“, fing Tina an und wurde leicht rot im Gesicht.
„Oh nein Tina du wirst mich doch nicht etwas aufklären wollen?“ Ich musste fast lachen, so merkwürdig kam mir allein der Gedanke daran vor.
„Eigentlich schon…“
„Nein! Nein ich weiß Bescheid, okay?“ fragte ich um endlich zum Ende zu kommen denn es zog mich in mein Zimmer.
Tina zuckte nur mit den Schultern. Man sah ihr an dass sie erleichtert war dieses Gespräch nicht führen zu müssen.
„Gut ich werde jetzt nach oben gehen und diesen… peinlichen Moment einfach vergessen.“ Ich klopfte ihr noch aufmunternd auf die Schulter, drehte mich dann um und ging hoch in mein Zimmer.
Dort angekommen schloss ich als erstes die Tür hinter mir.
Als ich mich umdrehte, machte ich vor Schreck einen kleinen Luftsprung.
In der hinteren Ecke meines Zimmers lag ein großer, weißer Wolf und schlief friedlich.
Der Anblick war irgendwie beruhigend und machte mich glücklich.
Da ich mich zuvor schon ausgiebig gewaschen hatte, schlüpfte ich einfach in meine alten Boxershorts und ein übergroßes T-Shirt, putzte meine Zähne und kroch dann unter meine kuschlige Bettdecke. Wie ich sie doch vermisst hatte – obwohl…
Die alten Decken in Duncans Hütte waren auch nicht viel schlechter gewesen. Aber wahrscheinlich empfand ich das nur so, weil Duncan in meiner Nähe gewesen war…
Schon wieder solche Gedanken! Vielleicht mochte ich ihn inzwischen schon etwas zu sehr. Vielleicht war ich drauf und dran mich in meinen Beschützer zu verlieben.
Aber wir gaben doch nur vor ein Paar zu sein um Tina zu täuschen, damit er in meiner Nähe bleiben konnte um mich vor Ann und ihren blutrünstigen Rudel zu beschützen.
Ich durfte mich nicht in ihn verlieben.
Mit diesen Gedanken schlief ich schließlich ein.
Vielleicht verliebt...
Gähnend öffnete ich meine Augen.
Ich lag auf etwas weichem, flauschigen. Verschlafen kuschelte ich mich an den großen, weißen Wolf und fuhr wenige Sekunden später, wie vom Blitz getroffen, hoch.
Warum lag ich nicht in meinem Bett sondern auf dem Boden in der hintersten Ecke meines Zimmers?
Der Wolf schaute mich an – er lächelte.
Ich versuchte sein Lächeln zu erwidern, aber es fiel mir schwer da ich nicht begriff wie ich da hin gekommen war.
„Duncan?“ fragte ich leise und der Wolf erhob sich.
Es blitzte und dann stand Duncan vor mir. „Ja?“
„Warum bin ich nicht in meinem Bett?“ flüsterte ich und fuhr mir mit der Hand durch die zerzausten Haare.
„Keine Ahnung“, sagte er und trat näher an mich heran. „Also wenn ich du gewesen wäre, hätte ich das Bett doch dem Boden vorgezogen.“ Er grinste und legte seine Hände auf meine Schultern.
„Und warum bin ich dann…“
„Ich weiß nicht, du kamst so gegen drei Uhr angekrochen“, sagte er als würde ihm der Gedanke gefallen.
„Warte! Du warst wach?“ fragte ich verwirrt. „Aber als ich aus dem Bad gekommen bin hast du doch schon geschlafen.“
„Ja das schon, aber du hast mich aufgeweckt“, sagte er und sein Grinsen wurde noch breiter. „Du hast immer wieder meinen Namen gesagt.“
Ich spürte wie mir das Blut ins Gesicht schoss, jetzt musste ich aussehen wie eine reife Tomate.
„Ich muss… wohl geträumt haben?“ versuchte ich mich zu rechtfertigen.
„Jaa und was hast du so geträumt?“ fragte er während sein Grinsen noch breiter wurde.
Mir musste wohl ein Fragezeichen im Gesicht stehen. „Ich weiß nicht…“
„Naja ist ja auch egal. Tina ist übrigens schon weg.“ Duncan ging zum Bett und lies sich drauf fallen.
„Hat sie gesagt wann genau sie wieder kommt?“ fragte ich ohne ihn anzusehen. Ich schämte mich immer noch dafür dass ich im Schlaf geredet hatte, das tat ich normalerweise nie.
„Nein, sie hat nur gesagt dass sie dich anruft sooft sie kann. Ähm Mars, was machst du da?“
Ich hatte mich neben meinem Schreibtisch niedergekniet und kramte Bücher in meine Schultasche. „Nach was sieht’s denn aus?“
„Ich will nicht dass du zur Schule gehst“, sagte Duncan knapp und starrte die Decke an.
Fassungslos stand ich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum?“
„Ich kann dort nicht auf dich aufpassen.“ Er schaute mich immer noch nicht an.
„Ich kann nicht zuhause bleiben!“ Ich schrie schon fast obwohl ich das eigentlich nicht wollte.
Duncan stand nun vom Bett auf und nahm meine Hände, mit denen ich inzwischen wie wild in der Luft herumfuchtelte, in seine. „Ich bitte dich darum hier zu bleiben und das Haus wenigstens für die nächsten drei Tage nicht zu verlassen.“
„Aber was soll ich denn Sandra erzählen?“ fragte ich und drückte seine Hände.
„Du bist krank und hast Fieber und kannst diese Woche nicht mehr zur Schule kommen, bitte Mars. Es ist wichtig dass dir nichts zustößt.“ Er schaute mich flehend an.
Ich schluckte. Wahrscheinlich hatte er recht, ich gab auf. „Okay, ich werde ihr eine Nachricht schreiben.“
Ich ging zu meinem Nachtkästchen und holte mein Handy aus der Schublade ohne Duncans Hand dabei loszulassen. Es war als wären wir an den Händen zusammengewachsen, denn selbst wenn ich es gewollt hätte, hätte ich ihn nicht loslassen können.
Ich tippte schnell die Nachricht und warf das Telefon dann auf das Kopfkissen.
„Und was machen wir dann die ganze Zeit?“ fragte ich.
„Hast du DVD’s?“ fragte Duncan und lächelte mich an. Sein Lächeln war einfach umwerfend.
„Ja hab ich, da drüben.“ Ich deutete mit einer Hand auf das oberste Fach meines überfüllten Bücherregals.
Duncan ließ meine Hand los und ging hinüber um sich meine Filmsammlung anzusehen.
Dort wo sich seine Finger kurz zuvor noch um meine geschlossen hatten, kribbelte es leicht – ein schönes Gefühl.
Ich ging ihm hinterher. Er drehte sich gerade wieder zu mir um und hielt in jeder Hand einen Film.
„Was hättest du lieber? The Ring oder 50 erste Dates?“ Sein Gesichtsausdruck sagte mir ganz eindeutig dass er den Horrorstreifen wählen würde.
Ich hasste Horror. Die DVD hatte ich von meinem Onkel bekommen als ich sechzehn war und seitdem hatte ich mir noch nicht einmal die Hülle angesehen. „Nimm was du willst“, sagte ich schließlich.
„Okay“, sagte er und strahlte übers ganze Gesicht.
„Ich hab hier oben leider keinen DVD-Player, aber wir können ihn uns im Wohnzimmer ansehen…“
„Gut“, sagte Duncan und ging mir voraus die Treppe hinunter.
Ich folgte ihm, wenn auch widerwillig. Unten angekommen ging ich in die Küche und kramte in einem Regal über der Spüle nach einer Schüssel für Chips.
Der Film lief jetzt schon eine gute halbe Stunde und ich konnte nur sagen, dass ich kein großer Fan davon war. Ich erschrak bei jeder Kleinigkeit, was Duncan dazu veranlasste in sich hinein zu lachen.
Beim nächsten Mal lachte er allerdings nicht mehr, sondern legte seinen Arm um meine Schulter und zog mich an sich.
Zuerst war ich ziemlich verwirrt, aber dann genoss ich es einfach.
Meine Befürchtung war wohl wahr geworden – ich hatte mich in Duncan verliebt.
Er strich mit seiner Hand über meine Schulter um mich zu beruhigen, denn mein Herz klopfte nun wie wild, aber nicht wegen des doofen Films, sondern wegen ihm.
Der Film zog sich scheinbar unendlich lang hin, aber das machte mir jetzt nichts mehr aus. Ich fühlte mich wohl und geborgen und nickte kurze Zeit später ein.
„Hey, Mars!“ Jemand rüttelte mich sanft an der Schulter.
„Ja?“ fragte ich und öffnete langsam die Augen. Duncan schaute von oben auf mich herab.
Ich setzte mich sofort auf und schaute mich um. „Wie spät ist es?“
„Halb 3 Uhr nachmittags. Du hast fast sechs Stunden geschlafen.“ Er lächelte mich an und lies so mein Herz höher schlagen.
„Ich hab jetzt irgendwie Hunger…“ Ich stand vom Sofa auf und ging in die Küche, nur um festzustellen, dass Duncan schon gekocht hatte.
„Es macht dir doch nichts aus, dass ich eure Küche benutzt hab oder?“ fragte er etwas zurückhaltend und stand plötzlich hinter mir in der Tür.
Ich dachte ich hätte mich verhört. „Nein natürlich nicht! Aber warum hast du das denn getan, ich hätte doch auch kochen können!“
Er zuckte nur mit den Schultern und schob dann ein Sessel für mich zurück. Ich setzte mich, wenn auch zögerlich.
„Okay, also ich hoffe du erwartest jetzt nicht zu viel von mir. Ich habe eigentlich noch nie richtig eine Küche benutzt… Normalerweise esse ich mein Fleisch roh.“ Ich konnte sehen wie er leicht rot anlief während er mir einen Schöpfer Suppe in meinen Teller lehrte.
„Wie meinst du das?“ fragte ich eine Weile nachgedacht hatte.
Duncan setzte sich mir gegenüber und starrte auf die Tischplatte. „Ich esse normalerweise im Wald. Das bedeutet ich jage kleine Tiere wie Hasen, Wildschweine und Rehe.“
Mir klappte der Mund auf. „Du bezeichnest Rehe und Wildschweine als kleine Tiere?“ fragte ich ungläubig.
Duncan lachte laut los. „Naja im Vergleich zu mir sind sie klein.“
„Duncan“, ich kratzte mich am Hinterkopf, „im Vergleich zu dir ist sogar ein Grizzly klein.“
Wieder lachte er los. „Da hast du allerdings recht, aber Pflanzenfresser schmecken besser. Ich will doch nicht zum Kannibalen werden.“ Er lächelte mich breit an und deutete auf meine Suppe, was eine Aufforderung für mich war sie zu essen bevor sie kalt war.
Es war Abend geworden als wir nach oben in mein Zimmer gingen.
Ich hatte fast alles aufgegessen, was Duncan gekocht hatte. Es hatte einfach so gut geschmeckt, dass ich nicht mehr aufhören konnte.
Nachdem ich fertig gegessen hatte, wuschen wir gemeinsam das schmutzige Geschirr ab und setzten uns dann wieder aufs Sofa.
Duncan erzählte mir von seinem Leben im Wald und dass er sich manchmal einsam gefühlt hatte. Er sagte, er hätte manchmal einen Gefährten gut gebrauchen können, hätte gerne mit einem anderen Menschen die vielen sehenswerten Orte gemeinsam besucht aber er war immer allein gewesen.
Er sah sehr niedergeschlagen aus als er das erzählte und das machte mich traurig.
„Naja ich bin eben zum Einzelgänger geboren“, hatte er dann hinzugefügt ohne mich anzusehen.
Ich wusste dass das nicht stimmte. Duncan war ganz bestimmt nicht dafür geschaffen alleine leben zu müssen, nur weil er sich in einen Wolf verwandeln konnte.
„Ja aber du hattest doch bestimmt schon einmal einen Freundin oder?“ hatte ich nach einer viel zu langen Pause gefragt.
Duncan hatte nur traurig den Kopf geschüttelt und dann gesagt: „Und du? Ich mein hattest du schon mal einen Freund?“
„Nein.“
Naja so hatten wir den ganzen restlichen Nachmittag damit verbracht uns alte Geschichten zu erzählen.
Ich schloss gähnend die Zimmertür hinter mir. „Hey, Duncan. Willst du zuerst ins Bad oder soll ich?“ fragte ich und streckte mich ausgiebig.
Duncan saß in meinem weichen Polstersessel in der Ecke und starrte mich an. Irgendwie war er mir in diesem Moment ganz schön unheimlich.
„Duncan?“ fragte ich lauter und fing an vor seinem Gesicht herumzufuchteln.
„Oh was?“
Ich verdrehte die Augen. Er hatte mir nicht zugehört. „Ich wollte nur wissen ob du vor mir ins Badezimmer möchtest…“
Er stand auf und stellte sich vor mich. „Nein schon gut, geh du zuerst.“
Ich nickte und verschwand dann im Bad wo ich mich extra beeilte und nur kurz in die Dusche hüpfte. Dann putzte ich so schnell ich konnte meine Zähne und ging in mein Zimmer zurück.
„Wow, das ist jetzt ja mal schnell gegangen.“ Duncan lag ausgestreckt auf meinem Bett und schaute die Decke an.
„Sicher“, sagte ich und warf ihm noch einen kurzen Blick zu bevor ich zum Nachttisch ging um nach meinem Handy zu sehen.
Duncan verschwand inzwischen im Bad.
Sandra hatte auf meine SMS noch nicht geantwortet, aber das war bei ihr auch nichts Neues. Sie verlor regelmäßig ihr Handy irgendwo und musste sich öfters die Nummer sperren lassen.
Ich sank aufs Bett und rollte mich zu einer kleinen Kugel zusammen ohne mich zuzudecken.
Nach weniger als fünf Minuten kehrte Duncan in mein Zimmer zurück und wollte sich gerade verwandeln.
„Duncan warte!“ Ich schrie schon fast weil ich nicht wusste ob er schon ein Wolf war.
„Ja?“ Er stand zum Sprung bereit auf dem Teppich und schaute mich fragend an.
„Du willst doch nicht auf dem Boden schlafen?“ fragte ich und setzte mich auf.
Duncan verzog das Gesicht. „Doch, das hatte ich eigentlich vor.“
„Nein, da hab ich was dagegen.“ Jetzt stellte ich mich neben das Bett.
„Und warum?“ Duncan sah jetzt einfach nur noch verwirrt aus.
„Weil es erstens total unfair wäre und…“ Ich stoppte, das würde ich jetzt nicht sagen!
Er legte den Kopf schief. „Und zweitens?“
Ich schluckte.
„….weil ich dann kein guter Gastgeber wäre“, fügte ich schließlich hinzu, obwohl mir etwas ganz anderes auf der Zunge brannte.
„Eigentlich hab ich mich selber eingeladen, da kann ich doch wohl auch auf dem Boden schlafen. Hier ist sowieso ein Teppich und als Wolf ist es mir egal wo ich…“
„Nein! Es ist nicht egal. Du schläfst am besten in meinem Bett und ich geh runter und übernachte auf dem Sofa…“ Ich zerzauste mit meinen Händen meine Haare.
„Das wäre dann aber…idiotisch“, sagte Duncan, nahm eine entspannte Haltung an und grinste. „Das wäre als würdest du Ann direkt in die Arme laufen.“
Ich dachte nach. Ich wollte mich nicht schon wieder zum Idioten machen indem ich mitten in der Nacht durch mein Zimmer wandelte nur um mich dann an Duncan zu kuscheln und im Schlaf auch noch zu reden.
„Hast du vielleicht einen besseren Vorschlag?“ fragte ich trotzig.
Duncan legte seine Stirn in Falten, überlegte kurz und antwortete dann. „Naja wenn es dir so wichtig ist dass ich nicht auf dem Boden schlafe, schlafe ich eben in deinem Bett… aber du dann auch. Ich mein es ist doch ein großes Bett da hat jeder genug Platz…“ versuchte er sich zu rechtfertigen.
„Okay.“ Das war alles was ich sagte. Mit diesem Vorschlag hatte ich zwar nicht direkt gerechnet, aber dagegen hatte ich auch nichts.
Duncan setzte sich mit einer geschmeidigen Bewegung aufs Bett und gähnte herzhaft. „Schon müde?“
Ich schüttelte den Kopf. Immerhin hatte ich den halben Tag verschlafen.
„Wir könnten noch ein bisschen fernsehen wenn du willst“, sagte er und deutete auf den kleinen Fernseher in der anderen Ecke des Zimmers.
Ich stand auf, schaltete die alte Kiste ein und setzte mich dann zurück auf die Bettkante. Irgendein bescheuerter Zeichentrickfilm lief. Ich lies mich rückwärts auf die Matratze fallen und atmete tief ein und aus.
„Kein Cartoon-Fan, was?“ Duncan lehnte lässig gegen den Kopfteil und kratzte sich am Kopf.
„Nein, das ist doch bescheuert…“
Er lachte auf. Dann griff er nach der Fernbedienung auf dem Nachttisch und schaltete auf einen anderen Sender.
Ich bekam schon gar nicht mehr mit welcher Film jetzt lief denn von einer Sekunde auf die Nächste wurde ich müde und nickte einfach weg.
Ich riss die Augen auf. Grelles Licht fiel durch das Fenster und tauchte das ganze Zimmer in seinen hellen Schein. Ich schaute mich um.
Duncan schlief friedlich auf der anderen Seite des Bettes. Der Anblick hatte etwas sehr beruhigendes und machte mich irgendwie wieder schläfrig. Gähnend zog ich meine flauschige Bettdecke enger um meine Schultern und kroch näher an ihn heran. Ich wusste nicht genau warum ich das tat, aber es fühlte sich gut an. Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter und schloss die Augen. Einschlafen würde ich in dieser Haltung ganz bestimmt nicht, aber ich fühlte mich wohl.
Irgendwann fing Duncan an sich zu bewegen aber das störte mich wenig. Er wollte sich aufrichten, doch ich blieb einfach liegen und tat so als würde ich schlafen. Als er das bemerkte legte er sanft einen Arm um meine Schulter und streichelte meinen Arm. Ich bekam sofort eine Gänsehaut.
Jetzt war es wohl irgendwie klar dass ich mich in ihn verliebt hatte, nur wusste ich nicht ob das gut oder schlecht war.
Ich hatte wohl den Atem angehalten denn Duncan fing plötzlich an, an meiner Schulter zu rütteln. Ich setzte mich langsam auf und schaute ihn verschlafen an.
„Auch schon wach?“ fragte er und grinste wieder übers ganze Gesicht.
„Wenn du wüsstest…“ Ich rieb mir einmal mit der Hand übers Gesicht und streckte mich.
„Hast du gut geschlafen?“ fragte er und schaute mich neugierig an.
„Ging so… Hätte bequemer sein können“, fügte ich spöttisch hinzu.
„Ach wirklich? Keiner hat dich dazu gezwungen auf mir zu schlafen.“
Ich spürte wie ich rot wurde. Er hatte recht, keiner hatte mich gezwungen – naja, außer meinem eigenen Körper eben.
„Ich hab wohl wieder geschlafwandelt…“
Duncan verzog ungläubig den Mund und runzelte die Stirn. „Warum tust du das?“
Ich kniff die Augen zusammen. „Warum tu ich was?“
„Du kannst mir nicht erzählen, dass du schlafwandelst… zumindest nicht immer.“
„Oh.“ Naja wo er recht hatte, hatte er recht. Ich hatte niemals in meinem Leben schlafgewandelt – bis jetzt jedenfalls. Ich wusste nicht wieso jetzt auf einmal und irgendwie war es mir auch ganz schön peinlich aber ich konnte ja nichts dafür. „Ich weiß es nicht“, log ich schließlich um wenigstens irgendetwas zu sagen.
Duncan hob eine Augenbraue. „Bist du dir sicher?“ Er schaute wenig überzeugt aus.
Ich senkte meinen Blick und starrte auf die Bettdecke.
Aus irgendeinem Grund sammelten sich Tränen in meinen Augen und stahlen sich still und heimlich aus meinem Augenwinkel. Wahrscheinlich war es das schlechte Gewissen Duncan angelogen zu haben, auf jeden Fall machte es mich tierisch fertig.
„Hey! Was hast du denn?“ Duncans Stimme war plötzlich ganz sanft. Er krabbelte quer übers Bett und setzte sich direkt neben mich um mich in den Arm zu nehmen. In dem Moment kam ich mir vor wie ein kleines Baby.
„Was ist los?“ fragte Duncan nochmals.
Ich schüttelte nur hysterisch den Kopf. Zu allem Überfluss fing ich jetzt auch noch unkontrolliert an zu schluchzen.
Duncan saß hilflos neben mir und wusste nicht genau wie er mich wieder beruhigen konnte – nicht einmal ich wusste wie das gehen sollte.
So verging einige Zeit und irgendwann lies das Zittern in meinem Körper auch allmählich nach.
„Geht’s jetzt wieder?“ fragte Duncan besorgt und hielt mich auf Armlänge von sich weg um mich genauer anzusehen.
Ich nickte.
„Erzählst du mir jetzt was mit dir los ist?“ Er schaute mich aus seinen dunklen Augen an – in ihnen spiegelte sich Sorge.
„Ich weiß es nicht“, sagte ich mit zitternder Stimme.
Warum sagte ich ihm nicht einfach die Wahrheit? Das wäre doch um einiges leichter als unter diesen Schuldgefühlen leiden zu müssen.
Duncan schloss kurz die Augen und bewegte sich nicht. Nach ein paar Sekunden fing seine rechte Hand, die immer noch auf meiner Schulter lag, an zu zittern und veränderte sich dann.
Erstaunt stellte ich fest, dass dort wo noch vor Kurzem eine menschliche Hand war, nun eine schneeweiße Pfote lag.
„Wow, wie hast du das gemacht?“ fragte ich verblüfft und nahm die schwere Pfote in beide Hände.
„Trainingssache…“, sagte er schulterzuckend und fuhr dann fort. „Ich habe dir mein größtes Geheimnis verraten, ist es da so schlimm wenn du mir sagst was dich bedrückt?“
Ich streichelte in Gedanken versunken mit den Fingerspitzen über das weiße Fell und verlor dabei komplett den Faden.
„Okay…“ Duncan wollte seine Hand – oder in diesem Fall Pfote – wegziehen und aufstehen, doch ich ließ nicht los.
„Marissa, was ist los mit dir? Ich mache mir allmählich Sorgen um dich…“
Ich konnte ihn einfach nicht ansehen – jetzt nicht.
„Seit gestern Morgen bist du so merkwürdig“, fügte er leiser hinzu. „Wenn ich irgendetwas Falsches gemacht hab, dann sag’s mir bitte!“
„Du hast nichts falsch gemacht, wirklich!“ Ich biss mir auf die Lippe. Wie konnte ich ihm denn sagen dass ich ihn nicht nur als einen Freund mochte?
„Aber?“ fügte er hinzu. Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
„Aber“, fing ich an, schluckte einmal und sah ihm dann in die Augen, „ich will dich nicht als Freund verlieren.“
Ich spürte dass das, was ich gesagt hatte wahr war. Egal ob ich mich in ihn verliebt hatte oder nicht, das spielte alles keine Rolle. Er war doch eigentlich nur hier um die Feder zu beschützen – nicht wegen mir. Ich konnte von Glück sprechen, dass er mich so behandelte, wie er mich eben behandelte und nicht wie einen Gegenstand auf den man aufpassen musste.
„Ich verstehe nicht ganz…“ In Duncans Gesicht stand eindeutig ein Fragezeichen geschrieben. Irgendwie tat er mir ja leid, aber ich konnte es ihm nicht erklären – ich war viel zu schüchtern für solche Sachen. Trotzdem startete ich einen Versuch.
„Ich mag dich…“ Mein Kopf wurde knallrot – dabei hatte ich noch längst nicht ausgesprochen gehabt.
„Ich weiß, wo liegt da das Problem? Ich mag dich doch auch“, sagte Duncan und legte den Kopf schief. Immer wenn er das tat, hatte er verblüffende Ähnlichkeit mit seiner tierischen Gestalt.
„Ich will dich nicht verlieren“, wiederholte ich und schaute wieder nur auf die Pfote in meinen Händen.
„Das hat keinen Sinn, Mars.“ Er sah jetzt nur noch verwirrt aus und doch neugierig.
Ich zerkaute mir inzwischen die Unterlippe.
Und dann hatte ich einen Geistesblitz. Es war zwar genau das Gegenteil was ich sonst machen würde, aber da Worte nicht halfen, mussten nun Taten folgen.
Ich holte also noch einmal tief Luft.
Dann beugte ich mich nach vorne und presste meine Lippen auf seine.
Sie waren weich und warm, so dass ich alles um mich vergaß. Nur er war noch da.
Entgegen meiner Vermutung erwiderte er den Kuss sogar, anstatt das Weite zu suchen.
Nur langsam lösten wir uns voneinander und auch nur einige Zentimeter.
„Sag das doch gleich“, flüsterte Duncan und strahlte über beide Ohren.
„Wie hätte ich das denn anstellen sollen?“ fragte ich, lehnte meine Stirn gegen seine und schloss die Augen.
„Ganz einfach“, fing er an, küsste mich noch einmal und sprach dann weiter. „Mars, ich glaub ich bin verliebt.“
Mein Herz machte einen spürbaren Sprung und ich bekam eine Gänsehaut.
„Ich auch…“
Der Vormittag verging schnell. Duncan hatte beschlossen, dass ich wohl auch in der Stadt sicher wäre, also gingen wir ins Kino. Der Film war grausam, aber Zeit mit Duncan zu verbringen war einfach himmlisch.
Danach gingen wir noch in ein kleines Restaurant am Stadtrand und ließen uns Pasta und Pizza schmecken.
Es dämmerte bereits als ich meinen alten Golf wieder auf den Waldweg lenkte.
Ich hatte wirklich noch niemals Angst vor diesem Wald gehabt – bis vor kurzem. Zitternd klammerte ich mich am Lenkrad fest und starrte auf den Schotterweg vor mir.
Duncans Hand ruhte währenddessen beruhigend auf meiner Schulter, doch es half alles nichts.
Irgendwann zitterte ich so sehr, dass ich den Wagen an den Wegrand fuhr und den Motor abstellte.
Die Schatten der Bäume schienen mich zu verschlingen und nach mir zu greifen.
„Beruhige dich erst einmal“, flüsterte Duncan mir uns Ohr und streichelte mir über die Wange.
„Ich kann nicht! Ich hab die Hose gestrichen voll und das macht mich ehrlichgesagt total fertig…“ Meine Stimme war schwach, gerade noch zu hören doch Duncan verstand mich.
„Dir kann nichts passieren. Soll ich das letzte Stück fahren?“
Ich nickte. Duncan öffnete die Beifahrertür, stieg aus und ging vorne ums Auto herum.
Kurz bevor er meine Tür erreichte, blieb er plötzlich stehen und schaute sich um. Dann riss er die Tür auf, ergriff meine Hand und zerrte mich ins Freie.
„Lauf!“ knurrte er und schob mich weiter den Weg entlang.
Ich war etwas verwirrt über seinen aggressiven Tonfall, tat aber trotzdem was er sagte und rannte los. Die Steinchen unter meinen Sohlen machten dies aber nicht unbedingt leichter, sondern trugen dazu bei, dass ich öfters ausrutschte und mich nur knapp auf den Beinen halten konnte.
Erst da bemerkte ich, dass Duncan gar nicht mehr an meiner Seite war - er stand immer noch am Auto und starrte in die Richtung, aus der wir gekommen waren - und verlangsamte meine Schritte bis ich mich gar nicht mehr bewegte.
Er hatte wohl mitbekommen, dass ich nicht weiterrannte und drehte sich ruckartig zu mir um.
„Marissa lauf zum Haus und sperr dich dort ein! Ich komme nach!“ Mit diesen Worten drehte er sich wieder weg und fing an sich zu verwandeln.
Ich stand noch einen Augenblick lang dort, doch dann ertönte weit hinter dem Auto ein tiefes Grollen und ich stürmte los.
Endlich am Haus angekommen, stürzte ich förmlich durch die Tür und warf sie hinter mir sofort wieder ins Schloss.
Was hatte Duncan so in Aufregung versetzt, dass er mich so anfuhr?
Ich lehnte mich gegen die Wand neben der Tür und dachte nach. Es gab eigentlich nur eine Lösung – Ann!!!
Nein!
Ich hatte Duncan da draußen allein gelassen mit diesem Monster!
Sofort fing ich an die Tür wieder zu entriegeln. Ich wollte gerade hinauslaufen als mir ein weißer Schatten entgegenflog.
Ich hatte keine Zeit mehr zu reagieren und wurde von Duncan mit in die Blockhütte gerissen. Dort landete ich hart mit dem Kopf auf dem Boden und mir wurde für kurze Zeit schwarz vor Augen.
Als das Schwindelgefühl endlich nachließ, öffnete ich vorsichtig meine Augen und blinzelte einige Male um den merkwürdigen schwarzen Nebel in meinem Blickfeld zu vertreiben.
Dann sah ich endlich was passiert war.
Duncan lag regungslos neben der Tür – in einer roten Pfütze.
Wackelig rappelte ich mich auf und ging zu ihm. Er bewegte sich immer noch nicht und langsam bekam ich es mit der Angst zu tun. Was wenn er tot war?
Sofort schlug ich mir diesen Gedanken aus dem Kopf und kniete mich neben Duncan.
„Hey! Hörst du mich?“ flüsterte ich und schüttelte ihn leicht an der Schulter.
„Mars…“ Mehr brachte er nicht hervor. Dann sagte er nichts mehr.
Ich versuchte ihn hochzuheben, doch ohne Erfolg. So gut es ging zerrte ich ihn ins Wohnzimmer und legte ihn mehr oder weniger umständlich aufs Sofa.
„Mars…“ flüsterte er wieder.
„Ja. Ich bin da. Kann ich dir irgendwie helfen?“ fragte ich verzweifelt. Tränen sammelten sich in meinen Augen und kullerten über meine Wangen.
„Gib mir Zeit…“ Das war das letzte was er sagte, dann war es still.
Ich hatte Panik. Tastend suchte ich an seinem Hals nach einem Puls und fand schließlich ein schwaches
Pochen – aber besser als nichts.
Total erschöpft sank ich neben dem Sofa auf den Boden.
Die nächsten drei Tage würden wohl zu den härtesten meines Lebens gehören – nur gut, dass ich das noch nicht wusste.
Streit
Die Zeit schien einfach nicht vergehen zu wollen.
Sekunden fühlten sich an wie Stunden. Stunden wie Tage.
Mein Körper fühlte sich taub und schwer an, als würde er sich nie wieder bewegen können.
Ich saß zusammengerollt am kürzeren Ende des Sofas. Meine Arme umschlangen meine Beine, mein Kopf ruhte auf meinen Knien.
Doch von Ruhe konnte man wohl kaum sprechen.
Jedes Knacken, jedes Rascheln lies mich zusammenzucken wie ein verängstigtes Reh.
In diesem Moment war ich das wohl wirklich – ein Angst erfülltes Reh, dass Angst vor dem großen, bösen Wolf hat.
Ein Zittern durchfuhr mich.
Ann war da draußen – ich fühlte es.
Vielleicht schlich sie gerade in diesem Moment ums Haus, vielleicht verbarg sie sich geschickt im Dickicht des Waldes. Ich wusste es nicht.
Aber was ich ganz genau wusste war, dass sie da war.
Und sie wartete auf mich.
Draußen vor dem Fenster setzte gerade wieder die Abenddämmerung ein – die zweite seit Duncan das Bewusstsein verloren hatte.
Widerwillig setzte ich mich in Bewegung und schaltete das Licht ein.
Ein letzter Blick auf Duncan, zeigte mir, dass er nach wie vor ohnmächtig war – wie die letzten drei Tage schon.
Ich drehte mich um und ging in die Küche um wenigstens etwas zu trinken. Essen konnte ich jetzt sowieso
nicht – ich machte mir einfach zu viele Sorgen.
In einem Schluck würgte ich das Wasser hinunter und stellte dann das Glas etwas zu fest auf der Arbeitsfläche ab, so dass es laut klirrte und in meiner Hand zerbrach.
Der brennende Schmerz traf mich erst, als ich das Blut über meine Handfläche laufen sah.
Leise fluchend griff ich nach einem Geschirrtuch und wickelte es mir provisorisch um die Hand. Mit der linken, unverletzten Hand sammelte ich dann vorsichtig die Scherben ein und warf sie in den Müll.
Der Schnitt schien ziemlich tief zu sein, denn nach fünf Minuten blutete er immer noch gleich stark.
Ich presste das Tuch so fest ich konnte auf die Wunde und hoffte, dass es bald aufhören würde.
Langsam kehrte ich ins Wohnzimmer zurück und lies mich auf einen der beiden großen Polstersessel fallen.
Auf meine eingebundene Hand achtend, rollte ich mich wieder zu einer kleinen Kugel zusammen und beobachtete Duncan.
Falls man das so nennen konnte, denn er war immer noch völlig regungslos.
Traurig schaute ich ihn an.
Sein Gesicht war so friedlich und ruhig.
Aber was wenn es für immer so bleiben würde? Wenn er nie wieder aufwachen würde?
Eine einzelne Träne floss über meine Wange und wurde schließlich von meinem T-Shirt aufgesogen.
Ich musste Ann stoppen.
Wenn es die einzige Chance war Duncan und alle Menschen die ich liebte zu beschützen gab es wohl keine andere Lösung als mich ihr zu stellen und mein Leben zu beenden.
Draußen war es jetzt fast vollkommen dunkel und nun wehte ein starker Wind ums Haus und brachte es zum zittern.
In Gedanken verloren starrte ich aus dem Fenster.
Und dann – was war das??
Aus dem Augenwinkel hatte ich eine Bewegung wahrgenommen.
Duncan?
Ich sprang auf, sodass mir schwindlig wurde doch ich ignorierte das unangenehme Gefühl und trat an ihn heran.
Hatte ich mich gerade getäuscht?
Aber vielleicht hatte er sich endlich doch bewegt.
Ich ging neben ihm in die Hocke und nahm seine Hand.
Nichts! Keine Regung, nicht einmal ein Blinzeln.
Enttäuscht legte ich meinen Kopf auf die Kante des Polsters und streichelte mit den Fingern über Duncans Handrücken.
Merkwürdig irgendwie.
Als er ins Haus gestürzt war, hatte er geblutet und war am ganzen Körper mit großen Biss- und Kratzwunden übersät gewesen.
Von dem war jetzt nichts mehr zu sehen – nur eine kleine Narbe auf seiner Wange war zurückgeblieben.
Es war wohl ein Wunder, denn so schwer verletzt wie er gewesen war, hätte er eigentlich innerhalb weniger Stunden sterben müssen.
Ich blinzelte. Ich hatte mich jetzt ganz sicher nicht getäuscht!
Duncans Augenlider hatten sich gerade leicht bewegt.
Ich richtete mich etwas auf, ergriff mit beiden Händen seine Schultern schüttelte ihn leicht.
Er kniff die Augen zusammen und öffnete sie dann einen Spalt breit.
Ich umarmte ihn – vielleicht etwas zu fest aber das war mir in dem Moment egal. Duncan war wieder da!
Etwas benommen erwiderte er die Umarmung und schlang seine Arme sanft um mich.
„Ich hab gedacht du stirbst!“ flüsterte ich ihm ins Ohr.
Duncan lächelte. „So schnell wirst du mich nicht los, Mars. Ich hab doch gesagt, dass ich nur etwas Zeit brauche.“
Freude überrollte mich wie eine riesige Welle.
Vor Glück vergas ich alles um mich und küsste ihn.
„Hey, nicht so stürmisch“, sagte Duncan grinsend und schob mich sanft von sich weg.
„Tut mir leid.“ Ich merkte wie ich rot wurde. „Ich freu mich nur so, dass du wieder da bist…“
Duncan runzelte die Stirn. „Ich war doch gar nicht weg. Glaubst du ich habe nicht bemerkt, dass du ungefähr alle zehn Minuten nach meinem Puls gefühlt hast um sicher zu sein das ich noch lebe? Oder dass du oft geweint hast?“
„Warum hast du dann nicht mit mir gesprochen?“ fragte ich vorwurfsvoll.
„Ich hatte nicht genug Kraft. Die Regeneration meines Körpers war schon so anstrengend genug…“
Weiter lies ich ihn nicht kommen, denn ich küsste ihn wieder.
Die Nacht war kurz.
Duncan und ich hatten gleich auf dem Sofa übernachtet, weil er sich noch zu schwach fühlte um aufzustehen.
Eng an ihn gekuschelt und unter ein paar Decken verpackt konnte ich mich seit Tagen endlich wieder einmal wohl fühlen.
„Ann hat mich überrascht“, hatte Duncan gesagt, kurz bevor ich eingeschlafen war, „Sie hat uns aufgelauert. Wir dürfen das Haus jetzt nicht mehr verlassen, bis ich wieder zu Kräften gekommen bin…“
Dann war es still und er nahm mich in den Arm.
„Und wie lange wird das dauern? Ich meine bis du wieder ganz gesund bist?“ hatte ich besorgt gefraft und mich noch enger an ihn gekuschelt.
Duncan hatte mit den Schultern gezuckt. „Eine Woche vielleicht. Sicher nicht viel mehr.“
„Was, wenn ich mich Ann stelle…“
Duncan hatte sich ruckartig aufgesetzt, sodass ich auf der Matratze landete. „Sag das nie wieder.“
Seine Stimme war hart gewesen und wütend und klang irgendwie ein bisschen wie das Knurren eines Wolfes.
Ich mein ganzer Körper hatte angefangen zu zittern.
„Ann kriegt dich nur über meine Leiche!“
Danach hatte Duncan sich wieder hingelegt und mir den Rücken zugedreht.
Langsam blinzelnd öffnete ich meine Augen.
Es das Wohnzimmer war von einem trüben Licht durchflutet – es regnete. Die großen Tropfen prasselten laut an die Fenster.
Duncan saß halb aufgerichtet auf der Couch und lächelte mich an.
„Guten Morgen. Ausgeschlafen?“ fragte er als ich gähnte.
„Ging so“, sagte ich mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Duncan verdrehte die Augen und küsste mich auf die Stirn. „Frühstück?“ fragte er schlicht und setzte sich an den Rand des Sofas.
Ich nickte und kuschelte mich noch einmal in die Decke bevor auch ich aufstand.
Gemeinsam aßen wir unser Frühstück. Lange sagte keiner etwas.
„Duncan?“
Er schluckte. „Ja?“
„Ich möchte mit dir reden, und ich möchte, dass du mir zuhörst und mich nicht unterbrichst“, sagte ich ernst und schob den Teller ein Stückchen von mir weg.
„Okay…“ sagte er misstrauisch und musterte mich genau.
„Du weißt noch über was wir gestern Abend gesprochen haben?“ fing ich zögerlich an.
Duncans Gesicht verfinsterte sich zusehends. „Nein! Mars, nein!!!“
Ich kniff die Augen zusammen. „Du hast gesagt, dass du mir zuhörst!“ ich schrie schon fast.
„Nein!“ Er duldete keine Widerrede, das war mir klar aber ich musste das jetzt mit ihm besprechen.
„Es ist mir wichtig. Ich will nicht das du noch einmal verletzt wird – oder sonst irgendwer!“
Duncan schüttelte den Kopf. Seine Augen blitzten vor Wut aber sein Gesicht war ruhig – noch.
„Es ist mir egal ob ich verletzt werde. Du wirst dich nicht für mich oder sonst jemanden opfern, verstanden?“
Seine Stimme war jetzt so bedrohlich, dass mir eine Gänsehaut über den Rücken kroch.
Ich stand auf, stützte mich mit den Händen am Tisch ab und beugte mich über den Tisch. Duncan tat es mir gleich.
„Ich kann…“
„Nein!“
„Es ist meine Entscheidung!“
„Du gefährdest das Leben aller Menschen in Amerika, vielleicht sogar auf der ganzen Welt!“
„Ich werde nicht zusehen wie du stirbst um mich zu beschützen!“ schrie ich.
„Ich sterbe lieber als dich Ann zu überlassen“, schnaubte er und in Duncans Augen loderte nun Zorn.
Einige Sekunden lang verharrten wir so, dann setzte sich Duncan wieder und verschränkte die Arme vor der Brust.
Ich blieb noch einen Moment stehen und lies mich dann hart auf meinen Stuhl fallen.
„Ich…“
„Nein!!!“
Wir starrten uns an – fünf Minuten lang.
Keiner würde nachgeben.
Das wohl merkwürdigste war, dass ich für etwas kämpfte was mich töten würde.
Ein komisches Gefühl. Ich hatte nicht direkt Angst, sondern fühlte mich eher so wie jemand, der kurz davor steht zum ersten Mal mit einer Achterbahn zu fahren. Ein leichtes Kribbeln in der Magengegend vielleicht und etwas zittrige Knie, aber sonst ganz normal.
„Marissa“, flüsterte Duncan ruhig nachdem ich nichts sagte, „ich will nicht, dass dir etwas zustößt.“
Ich schluckte und nahm eine lockerere Haltung an. „Und ich will nicht, dass dir etwas zustößt.“
Duncan schloss seine Augen. „Bitte, es geht um das Wohl der Menschen… und um deines.“
„Es ist mir egal!“ ich ballte meine Hände zu Fäusten und klopfte immer wieder auf die Holzplatte wie ein kleines, trotziges Kind.
Duncan griff über den Tisch und umfasste mit beiden Händen meine Handgelenke.
Ich hatte natürlich keine Chance und gab schließlich auf.
Tränen strömten aus meinen Augenwinkeln und rollten über meine Wangen.
Duncan öffnete seine Augen wieder. Hilflosigkeit und Angst spiegelten sich darin.
„Ich bitte dich, Mars! Ich will dich nicht verlieren!“ Er sprach so leise, dass ich mich extrem konzentrieren musste um überhaupt zu verstehen was er sagte.
Meine Tränen nahmen mir die Sicht, doch was ich sah war, dass Duncans Gesicht vor Sorge zu einer Grimasse verzerrt war.
„Duncan…ich…“ stammelte ich doch er unterbrach mich.
„Ich liebe dich“, sagte er tonlos und schaute mich aus seinen schwarzen Augen an.
Ich erstarrte. Dass er das jetzt sagte machte mich nur noch trauriger. Wie ein Sturzbach brachen meine Tränen aus mir heraus.
Duncan erhob sich, kam um den Tisch herum auf mich zu und ergriff mich an den Schultern, um mich zum Aufstehen zu bewegen.
Widerwillig erhob ich mich und schaute ihm in die Augen.
„Wir sollten von hier verschwinden“, murmelte er ohne mich richtig anzusehen.
Immer neue Tränen liefen über meine Wangen. „Nein! Ich kann hier nicht weg! Was ist mit Tina und Sandra und Speedy? Ich bringe sie alle in Gefahr!“
Duncans Gesicht war zu einer steinernen Maske geworden.
Das Telefon klingelte. Ich zuckte zusammen als hätte ich einen elektrischen Schlag bekommen.
Einige Sekunden starrte ich Duncan noch an, drehte mich dann aber um und ging um abzuheben.
„Hallo?“
„Hey, Mars!“ Tina klang fröhlich und saß anscheinend gerade im Auto – soweit ich das beurteilen konnte jedenfalls. „Ich wollt dir nur Bescheid sagen, dass ich heute Nachmittag schon zurückkomme…“
Ich unterbrach sie. „Tina, bleib nirgends stehen! Nicht in der Stadt und auf gar keinem Fall im Wald!“ schrie ich in den Hörer.
„Was ist denn mit dir los?“ fragte sie beleidigt, „Ich muss aber vorher nochmal tanken….“
„Wo bist du?“ fragte ich hektisch und winkte Duncan zu mir.
„Zur Zeit noch in Vancouver…“
„Warte einen Augenblick“, sagte ich knapp und hielt dann die Sprechmuschel zu.
„Tina ist in Vancouver, sie kommt heute Nachmittag nach Hause…. Und sie muss tanken, ist sie in Vancouver sicher?“ fragte Duncan.
Er überlegte kurz. „Ja, aber sie soll sich beeilen und auf direktem Weg hierher kommen.“
Ich nickte und sprach dann wieder in den Hörer. „Okay, beeil dich mit dem Tanken und erledige das gleich in Vancouver und dann komm so schnell du kannst heim!“
Mit diesen Worten legte ich auf.
Ich spürte wie es meinem Herz einen Stich versetzte.
Ich sank neben dem Telefon auf den Boden.
Duncan kniete sich neben mich und nahm mich beruhigend in den Arm. „Ihr wird nichts zustoßen.“
Ich brachte kein Wort heraus aber ich wusste, dass er recht hatte. Heute würde Ann sie nicht bekommen.
Es dauerte eine ganze Weile bis ich mich einigermaßen beruhigt hatte.
„Duncan, kann ich dich was fragen?“
Er runzelte die Stirn und legte den Kopf schief – wie immer wenn er verwirrt war – und nickte dann.
„Kann ich… Ich meine gäbe es eine Möglichkeit zu lernen wie ich mich in einen Wolf verwandeln kann?“ Meine Stimme zitterte. Die Idee war mir erst vor wenigen Minuten gekommen, aber falls es möglich wäre, könnte ich selbst auf mich aufpassen und müsste nicht Duncans Gesundheit aufs Spiel setzen.
Duncan kratzte sich verwirrt am Kopf. „Ich weiß nicht, darüber habe ich noch nie nachgedacht…“
Hoffnungsvoll stand ich auf, und er mit mir. Wir gingen zurück ins Wohnzimmer und setzten uns auf die Couch.
„Denk nach, bitte!“ flehte ich als ich es mir einigermaßen gemütlich gemacht hatte – er hielt meine Hände in seinen.
„Die einzige Möglichkeit die mir einfällt wie du an solche Kräfte kommst wäre, wenn dir ein Gestaltwandler seine Magie überträgt würde ich sagen… Aber das wäre dann für ihn tödlich.“ Er sah sehr nachdenklich aus.
„Und es gibt keinen anderen Weg?“ hackte ich nach und rutschte näher an ihn heran.
„Nein ich wüsste nicht, dass es noch einen gäbe, aber warum fragst du eigentlich?“ Er schaute mich fragend an, seine dunklen Augen waren zu Schlitzen verengt.
Ich schluckte. „Naja weißt du, wenn ich mich in einen Wolf verwandeln könnte, müsstest du nicht auf mich aufpassen…“
Duncan klappte der Mund auf. Wahrscheinlich hatte er mit allem gerechnet, nur nicht damit.
„Marissa, du hast keine Magie. Du kannst dich nicht einfach verwandeln. Und selbst wenn du von irgendwoher Magie bekommen könntest, würdest du Jahre brauchen bis du sie richtig beherrscht. Verstehst du was ich meine?“
Ich nickte. „Es war ja nur so ein Gedanke, damit du dich nicht immer so in Gefahr bringen musst…“ Ich wurde leicht rot im Gesicht.
Duncan presste seine Lippen auf meine um mich zum Schweigen zu bringen.
Ich genoss es zwar sehr, aber ich musste jetzt mit ihm reden.
Also drückte ich ihn sanft von mir weg und schaute ihn an.
„Ich wollte nur helfen“, flüsterte ich schließlich.
„Ich weiß, aber ich komme schon klar. Ach ja, ich habe mir das mit der Schule überlegt und ich denke wenn Tina wieder da ist könntest du wieder in den Unterricht.“
Mir klappte der Mund auf. „Wirklich?“
„Ja. Ich fahr dich jeden Morgen hin, warte vor dem Gebäude auf dich und nehme dich nach der letzten Stunde einfach wieder mit heim.“
Dankbar fiel ich ihm um den Hals.
Endlich würde ich Sandra wieder sehen.
Vorfreude durchflutete mich und schwappte in alle Teile meines Körpers.
Doch irgendwie versetze es mir einen Stich, Duncan wieder in Gefahr zu bringen.
Wenn ihm etwas zustoßen würde, könnte ich mir das niemals verzeihen.
Streit
Der restliche Tag verging schnell.
Ich hatte mich dazu entschlossen, die Schweinerei, die Duncan im Vorraum angerichtet hatte, wegzumachen bevor Tina nach Hause kam.
Duncan ging mir dabei fleißig zur Hand.
Ich schruppte mit einem alten Tuch das verkrustete Blut so gut es ging vom Holzboden und er wischte mit einem trockenen Tuch nach.
Insgesamt brauchten wir mehr als zwei Stunden bis man das dunkelbraune Blut nicht mehr sehen konnte – aber immer noch besser als wenn Tina einen Herzinfarkt kriegen würde.
Müde erhob ich mich und lies meine Gelenke knacken bevor ich nach dem Eimer und dem Lappen griff um es vor dem Haus auszuschütten.
Die Erkenntnis, dass ich das Haus besser nicht verlassen sollte, traf mich gerade noch rechtzeitig, denn ich hatte die Hand schon auf die Türklinke gelegt.
„Ähm Duncan?“ rief ich nach oben. Er wusch sich gerade die Hände.
„Ja?“ kam es dumpf zurück.
„Kannst du schnell runterkommen?“ fragte ich.
Leise Schritte waren zu hören und wenige Sekunden später stand er auch schon neben mir.
„Was gibt’s?“ fragte er ruhig.
„Trägst du den Eimer vielleicht für mich hoch ins Bad und leerst ihn in die Badewanne?“ Ich deutete mit dem Kinn auf das rötliche Wasser, das im Eimer schwappte.
Er zuckte die Schultern, griff nach dem Henkel und war wenige Augenblicke später verschwunden.
Erst wenn man ihn länger kannte, merkte man wie anders er wirklich war.
Seine Bewegungen waren kraftvoll und trotzdem manchmal kaum hörbar.
Von Zeit zu Zeit – vor allem wenn er wütend war oder Angst hatte – veränderte sich seine Stimme und wurde zu einem bedrohlichen Knurren.
Er war ein sehr ruhiger Zeitgenosse. Manchmal kam es mir fast so vor, als wäre ich allein im Haus
Naja nicht wirklich allein.
Ich wusste genau, dass ich ihn vermissen würde wenn er nicht da wäre – sehr sogar.
Aber irgendwie wünschte ich mir auch, dass er einfach wegrannte und sich vor Ann und ihrem Rudel in Sicherheit brachte.
Der Gedanke an das kleine Mädchen ließ mich kurz Erzittern.
Die Frage die ich mir jetzt schon ein paar Stunden stellte war, warum sie die Feder unbedingt für etwas Böses einsetzen wollte.
Ich war mir sicher, dass man auch Gutes mit dieser Kraft machen könnte – wenn man eben wollte.
Und ich war mir ganz sicher, dass Duncan Gutes bewirken würde.
Das wäre mein letzter Wunsch…
Ich ging die knarzende Holztreppe hinauf und traf Duncan im Bad an, wo er gerade die Reste des Wassers hinunter spülte.
„Duncan?“ fragte ich.
Er drehte sich ruckartig um und starrte mich an. Wahrscheinlich fühlte er, dass ich gleich wieder ein unangenehmes Thema ansprechen würde.
Er stand auf und stellte sich vor mir hin. „Ja, was hast du? Du siehst irgendwie…niedergeschlagen aus?“
Ich wippte nervös auf meinen Fußballen vor und zurück. Das schwierige an dem Thema, war der Anfang.
„Ich muss mit dir reden“, sagte ich, nahm seine Hand und führte ihn in mein Zimmer, wo er sich aufs untere Ende des Betts setzte. Ich kniete mich ihm gegenüber auf den Boden.
„Nicht schon wieder, Mars!“ Er glaubte wohl, ich wollte mich immer noch Ann stellen.
Irgendwie wäre das wohl auch eine Lösung gewesen, aber mein neuer Einfall würde um einiges schwieriger auszusprechen sein.
„Keine Sorge. Ich wird Ann nicht in die Arme laufen“, sagte ich und schaute ihm in die Augen. Fragend schaute er mich an.
„Ach? Über was willst du sonst mit mir reden?“ fragte er verwirrt und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Also für den Fall, dass mich Ann aus irgendeinem Grund doch erwischt…“ fing ich an doch Duncan unterbrach mich sofort.
„Das glaubst du doch wohl selbst nicht! Ich hab dir doch gesagt, dass ich das nicht zulasse!“ Seine Stimme wurde wieder bedrohlich, doch ich sprach trotzdem ruhig weiter.
„Bis vor kurzem hätte ich auch noch nicht geglaubt, dass es Gestaltwandler wie dich gibt. Und jetzt sitzt du vor mir und willst mir einreden, dass es unmöglich ist das Ann mich erwischt?“ Ich zog eine Augenbraue nach oben und schaute ihn ungläubig an. „Was ich damit sagen will“, fuhr ich langsam fort, „ist, dass immer etwas ungeplantes dazwischen kommen kann. Ich möchte dich nur um etwas bitten, falls sie mich doch kriegt…“
Duncan kniff die Augen zusammen. „Und was wäre das?“ Er war jetzt sichtlich misstrauisch und lehnte sich so weit wie möglich von mir weg – eine Abwehrhaltung.
„Ich will, dass du mich tötest bevor sie es tun kann.“ Meine Stimme war völlig ruhig, was mich selbst wunderte, denn in mir fand gerade ein Kampf statt. Mein Kopf stellte meinen Verstand in Frage, aber mein Herz wusste, dass es für alle anderen Menschen besser so wäre.
Ich wusste, dass Duncan diese Bitte unglaublich verletzten musste, denn er starrte mich nur aus weit aufgerissenen Augen an. „Das kann doch nicht dein Ernst sein“, würgte er hervor. Seine Stimme war jetzt nicht mehr das Knurren, sondern nur noch ein schwaches Piepsen.
Ich biss mir auf die Lippe und nickte. „Doch. Du hast selbst gesagt, dass Ann die Menschen damit vernichten würde. Das will ich nicht! Ich möchte, dass stattdessen du die Magie deines Vaters bekommst und Ann stoppst.
Duncan saß wie erstarrt auf meinem Bett.
Ich wollte ihn nicht noch mehr verletzten, also stand ich auf und ging hinunter ins Wohnzimmer – er folgte mir nicht.
Auf dem Sofa klappte ich schließlich zusammen.
Ich weinte – ohne Tränen. Nur ein Schluchzen stieg immer wieder mein Kehle hinauf.
Mein Körper zitterte, als würde ich auf einer Rüttelplatte sitzen. Verzweifelt verbarg ich mein Gesicht im weichen Stoff der Couch.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war aber irgendwann klopfte es an der Tür.
Erschrocken fuhr ich hoch nur um mich sofort wieder zu beruhigen.
Ann würde wohl kaum an die Tür klopfen und mich höfflich bitten zu öffnen.
Tina war da!
Ich sprang sofort auf und riss die Tür auf.
Tina stand völlig entspannt da und fummelte am Reisverschluss ihrer Regenjacke herum – unwissend in welcher Gefahr sie gerade schwebte.
Ich zog sie an der Hand ins Haus. Verwirrt starrte sie mich an. „Hey! So begrüßt man doch niemanden!“
Ich atmete tief ein – geschafft! „Hi, schön, dass du wieder da bist“, sagte ich und fiel ihr um den Hals.
Verwirrt erwiderte sie meine Umarmung.
„Was ist denn bitteschön in dich gefahren?“ fragte sie als ich sie endlich losgelassen hatte.
„Ich freu mich nur, dass du endlich wieder da bist.“ Ich war keine gute Lügnerin, das wusste ich auch, aber es reichte um Tina zu täuschen.
„Okay… Wo ist denn dein Freund?“ fragte sie als wir uns eine Weile nur angesehen hatten.
„Oben, er ruht sich nur ein bisschen aus… Ihm geht’s nicht so gut – Kopfschmerzen“, fügte ich schnell hinzu.
„Naja ich hab was zu essen mitgebracht.“ Tina hob die Plastiktüte in ihrer linken Hand und schwenkte sie leicht hin und her. „In fünf Minuten gibt’s Abendessen.“
Mit diesen Worten verließ sie mich und verschwand in der Küche.
Ich rannte die Treppe hinauf. Duncan saß noch immer auf der Bettkante – genau wie ich ihn zurückgelassen hatte.
„Hey…“ Ich versuchte so normal zu klingen wie möglich, was mir leider nicht unbedingt gelang.
Langsam drehte er sein Gesicht in meine Richtung. „Ich kann dich nicht töten.“
Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar. „Ich habe dich darum gebeten…“ flüsterte ich.
Duncan stand auf.
Zum ersten Mal seit ich ihn kennengelernt hatte, bemerkte ich wie groß und kräftig er eigentlich war.
Er überragte mich um ein ganzes Stück, was auch nicht verwunderlich war bei meiner Größe.
So wie es aussah, war jeder noch so kleine Muskel seines Körpers angespannt.
Ich trat einen Schritt zurück. Irgendwie war er mir gerade unheimlich.
„Ich kann dir diesen Wunsch nicht erfüllen.“ Seine Stimme war leise, aber dennoch kräftig. Sie wurde wieder zu diesem Knurren.
„Du wirst, wenn die Zeit gekommen ist“, flüsterte ich und nahm seine Hand. Sie war immer noch warm, aber nun zitterte sie. Ob aus Wut oder Sorge wusste ich nicht.
Duncan erstarrte wieder. Ich verstärkte den Griff um seine Hand und versuchte ihn zur Treppe zu ziehen, doch er bewegte sich kein Stück.
„Wir sollte nach unten gehen. Tina kocht…“ Er blieb an Ort und Stelle.
„Hast du eine Ahnung was du mir antust wenn du mich um so etwas bittest?“ fragte er traurig.
Ich schloss die Augen und nickte stumm. ‚Es tut mir leid‘, dachte ich.
Wieder zog ich an seiner Hand und diesmal folgte er mir auch endlich.
Tina wartete schon ungeduldig in der Küche.
„Hey, Duncan! Schön dich wieder zu sehen, wie geht’s deinem Kopf?“ Die Worte sprudelten geradezu aus ihr heraus.
Duncan warf mir einen kurzen Blick zu und setzte dann ein Lächeln auf. „Schon viel besser, danke. Es freut mich auch, dass du wieder da bist.“
Tina strahlte übers ganze Gesicht und bedeutete uns Platz zu nehmen. Wie in Zeitlupe setzten wir uns auf zwei Stühle. Duncan vermied es mich anzusehen.
Ich löffelte die Suppe langsam aus, obwohl sie schon längst kalt war brannte sie wie Feuer in meinem Hals.
Tränen schossen mir unverhofft in die Augen. Ich stand auf, entschuldigte mich und rannte in mein Zimmer.
Die Tür fiel so laut hinter mir ins Schloss, dass ich Angst hatte sie würde zerbrechen.
Weinend fiel ich aufs Bett.
In letzter Zeit hatte ich mehr geweint, als in meinem ganzen bisherigen Leben – mit gutem Grund.
Wahrscheinlich vergingen mehrere Minuten, in denen ich so auf dem Bett lag.
Dann klopfte es an der Tür.
Ich antwortete nicht. Ich wollte jetzt nur allein sein – dachte ich zumindest.
Leise knarzend öffnete sich die Tür. Ich sah zwar nicht wer herein kam, aber ich wusste es trotzdem.
Duncan.
Leise näherte er sich mir und drehte mich so um, dass ich ihn ansehen musste.
„Wie kann ich dir helfen?“ fragte er besorgt.
„Tu das, was ich dir gesagt hab“, schluchzte ich.
Duncans Gesicht wurde nur noch trauriger, trotzdem nickte er.
Ich umarmte ihn. Wenigstens müsste ich mir darum jetzt keine Sorgen mehr machen.
„Möchtest du noch aufessen?“ fragte er als ich meine Umarmung lockerte.
Ich schüttelte den Kopf. Mir war der Appetit nun wirklich vergangen.
„Okay, ich bin gleich wieder da…“ Mit diesen Worten verließ er das Zimmer und ging die Treppe hinunter.
Ich setzte mich auf und schaute aus dem Fenster.
Draußen wurde es schon wieder dunkel und anscheinend regnete es immer noch leicht.
Weiter vorne in der Einfahrt, versperrte mir eine dichte Nebelwand die Sicht.
Wie ein Geist hing er in der Luft. Manchmal wenn ein Windhauch durch den Nebel fuhr, sah es so aus, als würde er einen langen, weißen Arm nach mir ausstrecken.
Wie hypnotisiert stand ich am Fenster und spähte durch das dünne Glas hinaus.
Er formte immer neue Gestalten und irgendwann nahm er die Form eines Wolfes an.
Ich ging einen Schritt zurück, lies den Nebel aber keine Sekunde aus den Augen.
Der Wolf trat nicht aus dem weißen Schleier hervor sondern streifte hinter der trüben Wand auf und ab.
Mein Blick wanderte hin und her.
Immer mehr Wölfe erschienen im Nebel und schlussendlich auch ein riesiger – mit blutroten Augen.
Ich ging so weit wie möglich weg vom Fenster und stolperte schließlich über etwas Hartes.
Kurz bevor ich mit dem Kopf am Boden aufschlug, fing mich eine große Hand auf.
Erschrocken stieß ich die Luft aus.
„Was ist los?“ fragte Duncan leise.
Ich streckte nur meinen Arm aus und zeigte auf das Fenster.
Er zog mich auf die Beine und half mir aufs Bett.
„Was ist los?“ wiederholte er und kniete sich vor mir hin, damit wir auf Augenhöhe miteinander waren.
„Ann. Sie ist da draußen, mit ihrem ganzen Rudel. Sie wartet“, stotterte ich und zeigte immer noch aufs Fenster.
Duncan spähte in den Nebel. „Mars, da draußen ist nichts!“ Er versuchte mich zu beruhigen.
Ich schüttelte hysterisch den Kopf. „Nein! Duncan, sie wartet auf mich! Sie wartet.“
Ich versuchte aufzustehen, aber Duncan drückte mich an der Schulter zurück auf die Matratze und setzte sich neben mich.
„Was hast du gesehen?“ Seine Stimme klang besorgt. Mit seinen dunklen Augen musterte er mich genau.
„Ann.“ Mehr bekam ich nicht heraus. Mein ganzer Körper zitterte vor Angst. Ich lehnte mich an Duncans Schulter – mich verließen die Kräfte.
Er legte seinen Arm um meine Schulter und nahm meine Hand.
„Sie ist nicht da, Mars. Ich hätte sie schon längst gehört…oder gerochen.“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin mir sicher! Ich hab ihre Augen gesehen!“ Meine Stimme war schwach.
Ich hörte Schritte auf der Treppe die sich der Zimmertür näherten und schließlich stehen blieben.
„Oh, sorry! Ich wollte euch beide nicht stören!“ Tinas Stimme klang verlegen. Sie stand wie versteinert in der Tür und versuchte unauffällig zu uns herüber zu schielen.
Ich konnte mir schon denken, wie die Situation für sie aussehen musste, aber in dem Moment war es egal.
Mit gerötetem Gesicht kehrte sie uns den Rücken und ging in ihr Zimmer.
Ich atmete tief durch.
Drehte ich jetzt vielleicht durch? Hatte ich mir Ann und ihr Rudel wirklich nur eingebildet wie Duncan andeutete oder irrte er sich?
Vielleicht war er noch nicht ganz gesund und bekam nicht alles mit?
Mein Kopf fühlte sich wirr an.
„Hey. Du solltest jetzt schlafen gehen, immerhin möchtest du doch morgen zur Schule gehen oder?“ fragte Duncan und versuchte mich aufzumuntern.
Ich nickte schwach. Dann stand ich auf und ging ins Badezimmer.
Ich beeilte mich nicht extra, sondern ließ mir besonders in der Dusche viel Zeit.
Das warme Wasser tat gut und gab mir ein Gefühl der Normalität.
Warum musste mir das alles passieren? Warum nicht irgendjemand anders? Es gab doch tausende andere Menschen!
Mit diesen, und vielen weiteren Fragen kehrte ich in mein Zimmer zurück, nachdem ich mich angezogen und mir die Zähne geputzt hatte.
Duncan lag auf seiner Seite des Bettes und schaute an die Decke.
„Du…kannst dich jetzt waschen gehen…“ stotterte ich und setzte mich auf meine Seite.
Duncan nickte unmerklich und erhob sich dann. Aber er ging nicht, wie erwartet ins Bad, sondern kam ums Bett herum und setzte sich neben mich.
„Es wird alles gut, okay? Ann kriegt dich nicht und sobald sie… aus dem Weg geschafft ist verschwinde ich und du kannst dein Leben weiterleben wie vorher.“
Ich verspürte einen Stich ins Herz. Warum sagte er, dass er mich verlassen würde, wenn ich nicht mehr in Gefahr wäre?
War er etwa nur noch wegen der Feder hier?
Ich rutschte so weit wie möglich von ihm weg und starrte auf den Boden.
„Mars? Was hast du?“ fragte er und ging vor mir in die Knie.
Ich schaute an ihm vorbei, als wäre er aus Luft.
„Mars?“
Ich reagierte nicht.
Verwirrt und etwas traurig ging er ins Bad und schloss die Tür etwas zu hart hinter sich.
Ich legte mich hin und zog mir die Decke über den Kopf. Ich wollte Duncan nicht mehr sehen.
Warum tat er das nur?
War alles nur gelogen?
Mit Tränen in den Augen schlief ich ein.
Duncan rüttelte an meiner Schulter.
Widerwillig öffnete ich meine Augen, aber als ich sein Gesicht sah schloss ich sie sofort wieder.
Was er am Abend zuvor zu mir gesagt hatte, traf mich nun wie ein Schlag in die Magengegend.
Nur langsam schaffte ich es meine Augen wieder zu öffnen, doch ich sah ihn nicht an. Ich starrte an ihm vorbei an die gegenüberliegende Wand.
„Mars, du musst aufstehen wenn du heute zur Schule willst“, seine Stimme klang fröhlich – als wüsste er nicht wie sehr er mich verletzt hatte.
Ohne ein Wort zu sagen, stand ich auf und begann Jeans und einen Pullover aus meinem Schrank zu ziehen.
„Was hast du?“ Seine Stimme war direkt hinter mir, trotzdem drehte ich mich nicht um und ignorierte ihn so gut es ging.
Ich erstarrte in der gebeugten Haltung und Tränen schossen mir in die Augen – wie so oft in letzter Zeit.
„Mars, was habe ich getan? Seit gestern Abend bist du… merkwürdig“, er sprach sehr leise, doch ich spürte seinen Atem in Nacken – sein Gesicht konnte nicht weit von meinem Genick entfernt sein.
Langsam richtete ich mich auf und drehte mich um.
Unsere Gesichter waren sicher nicht weiter als fünf Zentimeter voneinander entfernt.
„Du wirst mich verlassen“, hauchte ich.
Duncans Gesicht wurde hart. „Was redest du da?“
Die Tränen, die sich in meinen Augen angesammelt hatten, rollten jetzt über meine Wangen, tropften von meinem Kinn und landeten auf meinem alten T-Shirt.
„Gestern hast du gesagt, dass du gehst wenn Ann weg ist.“ Meine Stimme war kaum noch hörbar.
Duncan schüttelte kurz den Kopf und griff mir dann unters Kinn damit ich ihm in die Augen sehen musste.
„Hey! Was denkst du dir eigentlich?“ fragte er mit sanfter Stimme.
Ich schaute ihn nur ungläubig an. Was wollte er jetzt von mir? Ich verstand überhaupt nichts mehr.
„Ich würde dich nur verlassen, wenn du es wirklich willst. Vielleicht hast du ja irgendwann die Schnauze voll von mir – oder von diesem ganzen Gestaltwandler-Scheiß!“
Ich schüttelte meinen Kopf hin und her. Was sollte das bedeuten?
Ich würde nie wollen, dass er wegging. Und er konnte doch auch nichts dafür, dass er ein Gestaltwandler war!
„Ich will nicht, dass du gehst!“ Ich sprach nun ziemlich laut – schon fast etwas zu laut, aber das war mir egal.
„Dann werde ich auch nicht gehen. Ich liebe dich doch.“ Duncans Stimme war zu einem Flüstern geworden.
Dann küsste er mich.
Es war ein sehr langer Kuss und wohl auch der schönste meines Lebens.
Nach einer gefühlten Stunde – in Wirklichkeit war nicht einmal eine halbe Minute vergangen – ließen wir voneinander ab.
„Du solltest dich jetzt wirklich für die Schule fertigmachen“, sagte Duncan, drückte mir noch einen Kuss auf die Stirn und ging dann zur Zimmertür. „Ich mach dir derweil Frühstück, okay?“
Ich nickte.
Nicht einmal fünf Minuten später folgte ich ihm fertig angezogen und mit meiner Schultasche über der Schulter in die Küche.
Ein köstlicher Geruch nach Spiegelei und Toast stieg mir in die Nase als ich den kleinen Raum betrat.
„Wow, du hast das alles gemacht?“ fragte ich beeindruckt. Der Esstisch war mit Essen und einem großen Krug Orangensaft beladen.
Duncan strahlte. „Ich hab mir gedacht du musst sicher zu Kräften kommen bevor du dich wieder in den Kampf stürzt.“
Ich setzte mich auf den erstbesten Stuhl und fing an, Eier und Brot auf meinen Teller zu laden.
Es war noch viel besser als es aussah.
„Ich habe gedacht du isst immer rohes Fleisch.“
Duncan zuckte mit den Schultern. „Naja, ich bevorzuge rohes Fleisch – meistens – aber das hier“, er zeigte auf den großen Teller mit Schinken vor ihm, „das hier sieht auch nicht gerade übel aus.“
Ich schaufelte das Essen nur so in mich rein.
So etwas Gutes würde ich wohl nicht so schnell wieder zu sehen bekommen – das Schulessen war grausam.
Nachdem ich das letzte Stückchen Schinken hinuntergewürgt hatte, half ich Duncan beim Abwasch.
„Schon gut, lass derweil Speedy raus. Ich glaub der kleine muss dringend mal, naja du weißt schon.“ Er sah immer noch so unglaublich fröhlich aus.
Ich drehte mich um und ging in den Vorraum um Speedy die Tür zu öffnen.
Der kleine Terrier kam sofort herbei und schlüpfte durch den schmalen Spalt ins Freie.
Es war eine Freude ihn draußen herumlaufen zu sehen.
Langsam zog ich die Tür ins Schloss und kehrte in die Küche zurück, wo Duncan gerade das letzte Glas abtrocknete und ins Regal stellte.
„Wie hast du das denn gemacht?“ Er hatte tatsächlich in der kurzen Zeit, in der ich weg war, das gesamte Geschirr gewaschen und abgetrocknet.
„Geheime Waschtechnik“, sagte er und zwinkerte mir zu. „Können wir dann los?“
Ich nickte, griff nach meiner Tasche, die an der Stuhllehne hing und warf mir den Tragegurt über die Schulter.
Hand in Hand verließen wir das Haus und gingen zu meinem Auto, das Duncan am Tag zuvor aus dem Wald geholt und an seinen Platz im Unterstand gestellt hatte.
Duncan setzte sich auf den Fahrersitz, während ich neben ihm Platz nahm und meine Schultasche auf den Rücksitz beförderte.
Tina schlief wahrscheinlich noch tief und fest - in Sicherheit.
Ich blickte durch die Windschutzscheibe.
Es war außergewöhnlich hell und warm heute – es würde ein sonniger Tag werden.
Nicht einmal die Schatten zwischen den Bäumen kamen mir heute dunkel vor.
„Also, ich warte dann vor der Schule“, sagte Duncan als wir auf die Hauptstraße abbogen. „Beeil dich wenn du aus dem Gebäude kommst und bleib nicht stehen.“
Ich nickte. In Gedanken ging ich alles nochmal durch.
„Okay, und wenn wir dann ankommen, gehst du schnurstracks in die Schule und setzt in den Pausen keinen Schritt vor die Tür.“
„Alles klar“, sagte ich und griff nach hinten auf den Rücksitz um meine Tasche wieder an mich zu nehmen – das Schulgebäude kam jetzt schon in Sicht.
Mit einem sanften Ruck hielt Duncan den Golf direkt vor dem Eingang, beugte sich dann zu mir herüber und küsste mich noch einmal.
Ich spürte, dass es ihm schwer viel mich allein zu lassen, aber er wusste wohl, dass ich mich nicht ewig im Haus verkriechen konnte.
Mit langen Schritten lief ich geradezu ins Gebäude und war erleichtert, als ich die schwere Tür hinter mir ins Schloss fallen hörte.
An meinem Spint traf ich auf Sandra, die mir sofort freudig um den Hals fiel und genau wissen wollte, an was ich erkrankt war.
Ich dichtete irgendwas von einer Lebensmittelvergiftung zusammen aber anscheinend glaubte mir Sandra bis aufs letzte Wort.
Als es klingelte begaben wir uns, gemeinsam mit unseren Mitschülern, in die Klasse.
Der Unterricht zog sich wie an jedem anderen Tag auch in die Länge, aber trotzdem war es eine schöne Abwechslung für mich, obwohl ich Duncan vermisste.
Immer wieder warf ich einen Blick aus dem Fenster und versuchte meinen Golf auszumachen, doch er parkte wohl am anderen Parkplatz und den konnte ich von dieser Klasse aus nicht sehen.
Etwas enttäuscht versuchte ich dem Unterricht zu folgen.
Zweite Stunde.
Dritte Stunde.
Vierte Stunde.
Auch wenn ich viel vom Stoff verpasst hatte, langweilte ich mich mittlerweile zu Tode.
Mr Greenpeace – so nannten wir unseren Biologielehrer – versuchte uns gerade den Aufbau einer tierischen Zelle einzuflößen – mit wenig Erfolg.
Gelangweilt kritzelte ich auf meinem Notizblock herum und erstarrte, als ich die beinahe perfekte Skizze eines pechschwarzen Wolfes mit roten Augen vor mir hatte.
Ich riss den Zettel heraus und stopfte ihn ins Bankfach.
Und dann läutete es endlich zur großen Pause.
Ich stand auf, streckte mich einmal ausgiebig und packte dann meine Sachen zusammen.
Sandra erwartete mich schon vor der Tür – sie war sofort nach dem Klingeln aufgesprungen und hatte den Raum wie ein gehetztes Tier verlassen.
„Mann, das war ja vielleicht mal eine Stunde! Mr Greenpeace ist eine wandelnde Schlaftablette.“ Sie grinste übers ganze Gesicht.
Ich musste fast lachen, es war schön ihr Gesicht wieder zu sehen und mit ihr über unsere Lehrer zu maulen.
Gemeinsam gingen wir in die Cafeteria, packten uns etwas zu essen auf unsere Tabletts und suchten uns dann einen Zweier-Tisch in der hintersten Ecke des quadratischen Raums.
„Und, wie ist es wieder zurück in der Schule zu sein? Du hast noch nie so lange gefehlt“, sagte sie und ihr Blick wurde irgendwie traurig.
„Tut mir leid, dass ich dich allein gelassen hab.“ Es tat mir wirklich unglaublich leid, schade ,dass ich sie anlügen musste, was den Grund meines Wegbleibens anging.
„Naja jetzt da du wieder da bist, könnten wir doch mal wieder was gemeinsam machen oder?“ Sie legte den Kopf schief und setzte eine Unschuldsmiene auf.
„Klar…“ sagte ich nach einigem Zögern. Konnte ich dieses Risiko auf mich nehmen? „Und an was hast du da genau gedacht?“ fragte ich vorsichtig nach.
„Kino?“ Ihr Hundeblick gab mir den Rest und erinnerte mich an Duncan – in diesem Moment hätte sie wohl jeder, der sie nicht so gut kannte, für Geschwister gehalten.
Ich schluckte. Mir war klar, dass ich Sandra so in Gefahr brachte, aber auf der anderen Seite war ich es ihr irgendwie schuldig weil ich sie so lange allein gelassen hatte.
Also willigte ich ein. „Wann?“
Sandra strahlte von einem Ohr zum anderen. „Morgen? Gleich nach der Schule? Ich hole dich ab.“
„Nein!“ stieß ich wie von der Tarantel gestochen hervor. „Ich werde dich abholen, okay?“
Sandra musterte mich, nickte dann aber mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Die letzten zwei Stunden vergingen wie im Flug.
Zwei Stunden Sport! Ein Kinderspiel für mich.
Ganz anders ging es Sandra dabei. Sie versuchte einer Mitschülerin den Ball zuzuspielen, verlor aber das Gleichgewicht und landete auf ihrem Hintern.
Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen und kassierte dafür von ihr einen bösen Blick, der aber sofort zu einem Lächeln umschlug.
Kurz darauf ging ich mit ihr zum Ausgang der Schule.
Heute verabschiedete ich mich gleich auf dem Flur und schlüpfte dann ohne ein weiteres Wort hinaus.
Ich spürte zwar ihren fragenden Blick im Nacken, aber ich würde noch genug Zeit haben ihr das zu
erklären – irgendwann.
Duncan wartet an der gleichen Stelle, an der ich heute Morgen ausgestiegen war.
Ich stieg schnell ein und hatte mich noch nicht einmal angeschnallt als er schon Gas gab und vom Parkplatz fuhr.
„Hi“, sagte ich und legte meine Hand auf seine, die auf dem Ganghebel ruhte.
Er lächelte mich kurz an und konzentrierte sich dann wieder auf die Straße.
„Wie war die Schule?“ fragte er als wir die Innenstadt verlassen hatten.
„Ganz okay. Sag mal, wäre es sehr gefährlich, wenn ich morgen mit Sandra ins Kino gehe?“
Er runzelte die Stirn – dachte nach – und antwortete nur langsam.
„Es ist immer gefährlich. Ann könnte genauso gut auch mitten in der Stadt angreifen, das weißt du. Es wird noch um einiges gefährlicher, weil das Kino am Stadtrand liegt.“
„Heißt das, dass es zu riskant ist?“ fragte ich nach. Ich wollte Sandra auf gar keinen Fall in Gefahr bringen.
„Ich weiß nicht.“ Ratlos starrte er auf die Straße vor uns.
„Du könntest doch vor dem Kino warten und wir steigen sofort ein wenn der Film aus ist…“
„Ich kann nur einen von euch beschützen wenn Ann angreift, verstehst du? Und du weißt auch genau wen ich verteidigen würde…“ Er klang nachdenklich und irgendwie auch traurig.
„Wie wahrscheinlich ist es, dass Ann mich in der Öffentlichkeit angreift?“ fragte ich leise.
Duncan schaute mich an. „Wie wahrscheinlich ist es, dass sie es nicht tut?“
Unvorhersehbar
Es hatte mich einige Überwindung gekostet, aber schließlich hatte ich mich doch dazu entschieden den Kinobesuch mit Sandra zu wagen.
Noch am selben Abend traf ich mit Duncan die Vorbereitung, obwohl ihm nicht ganz wohl dabei war.
Die Nacht verlief wie die meisten traumlos und relativ ruhig, nur einmal war ich aufgewacht weil Duncan das Bett verlassen hatte und ans Fenster gegangen war.
Als ich ihn fragte, was los sei, sah er mich nur traurig an und behauptete dann, dass alles in Ordnung sei.
Ich wusste dass es nicht so war.
Er vermisste ganz offensichtlich die Freiheit, die er noch hatte bevor er mich kennen gelernt hatte.
Schweren Herzen kehrte ich ins Bett zurück – Duncan folgte mir.
„Duncan?“ Ich war mir nicht sicher ob ihm jetzt zum reden zumute war, aber einen Versuch war es wert.
„Ja, was ist?“ fragte er. Seine Stimme klang sehr niedergeschlagen und war etwas zu rau.
„Du vermisst dein altes Leben oder?“ Ich sprach ganz leise, war mir aber sicher, dass er jedes Wort verstand.
Duncan rutschte näher an mich heran und legte einen Arm um meine Schulter. „Ja, sehr sogar…“
Ich hatte diese Antwort zwar erwartet, aber trotzdem tat es mir weh. Wegen mir war er eingesperrt wie ein wildes Tier – das er offensichtlich im Blut hatte – in einem Käfig.
„Dann geh, Duncan“, sagte ich leise und versuchte in der Dunkelheit seine Gesichtszüge zu erahnen – ohne Chance.
„Das geht nicht. Ich habe dir ein Versprechen gegeben und zwar dich zu beschützen. Dieses Versprechen werde ich um keinen Preis brechen.“
Ich setzte mich aufrecht hin und nahm sein Gesicht in meine Hände. „Es tut dir nicht gut immer im Haus zu sein.“
„Es tut mir nicht gut, nicht in deiner Nähe zu sein.“ Mit diesen Worten befreite er sein Gesicht aus meinem Griff und küsste mich.
Mir hatte es die Sprache verschlagen und ich brauchte einige Augenblicke um mich wieder zu fangen als wir uns voneinander lösten.
„Ich krieg schon meinen Auslauf, keine Sorge“, sagte Duncan und ein Lachen war in seiner Stimme zu hören.
„Okay…“ Ich resignierte. Wahrscheinlich hatte er recht – ich musste ja nicht wegen jeder Kleinigkeit gleich Tränen in den Augen haben.
Müde kuschelte ich mich an Duncan und schlief wenige Minuten später ein.
„Guten Morgen Schlafmütze! Zeit aufzustehen!“ Duncans sanfte Stimme weckte mich.
Langsam öffnete ich die Augen.
Mein Zimmer war von hellen, warmen Sonnenstrahlen durchflutet und eine leichte Brise bewegte den hellblauen Vorhang am Fenster – Duncan musste es wohl geöffnet hatte.
„Guten Morgen“, antwortete ich verschlafen.
Duncan drückte mir einen Kuss auf die Stirn, griff nach meiner Hand und zog mich einfach aus dem Bett.
Etwas wacklig stand ich vor ihm und zitterte – es war verdammt kalt hier drin.
„Warum hast du das Fenster aufgemacht? Bist du wahnsinnig?“ fragte ich und lächelte ihn an.
Duncan warf einen kurzen Blick über die Schulter und wandte sich dann wieder mir zu.
„Ich dachte ein bisschen frische Luft würde dir mal ganz gut tun“, sagte er und zog mich an sich.
„Wo du recht hast, hast du recht“, sagte ich und grinste. Dann küsste ich ihn kurz auf den Mund und verzog mich mit ein paar Klamotten ins Badezimmer.
Für das, dass ich einfach irgendwelche Teile – ein langärmliges, marineblaues T-Shirt und eine dunkle Jeans - aus dem Schrank gezerrt hatte, sah ich nicht einmal schlecht aus.
Hastig kämmte ich noch meine Haare, putzte mir die Zähne und spritze mir etwas Wasser ins Gesicht. Dann kehrte ich wieder in mein Zimmer zurück.
„Wow“, entfuhr es Duncan als ich mich zu ihm umdrehte.
„Was wow?“ Ich schaute an mir hinunter, fand aber nichts Außergewöhnliches.
„Du siehst… wunderschön aus!“ Er stand vom Bett auf, stellte sich vor mich und musterte mich genau.
„Übertreibst du jetzt nicht ein bisschen?“ fragte ich skeptisch und schaute noch einmal an mir hinunter.
Ich sah ganz normal aus.
„Ich meins ernst! Du bist zum anbeißen!“ Er verzog seinen Mund zu einem Lächeln und legte dann seine Arme um mich.
„Okay…danke“, sagte ich etwas verwirrt über seine Reaktion. Natürlich freute es mich, dass ich ihm gefiel, nur verstand ich es nicht ganz.
„Gut, lass uns runter gehen. Für Frühstück ist jetzt schon keine Zeit mehr – du hast geschlafen wie ein Baby“, sagte er spöttisch und führte mich zur Tür.
Ich griff auf dem Weg dahin nach meiner Tasche, die mir Duncan sofort abnahm.
Er war heute so viel aufmerksamer als sonst, warum bloß?
Vor der Haustür ließ er mich kurz allein um draußen nachzusehen ob die Luft auch rein war.
Nach wenigen Augenblicken kehrte er zurück.
Auf dem Weg zum Auto, war er sehr aufmerksam und löste seinen Griff niemals von mir.
Erst im Inneren des Golfs entspannte er sich ein wenig.
Wie am Tag zuvor warf ich auch heute meine Tasche achtlos auf die Rückbank und beobachtete Duncan.
Er konzentrierte sich weniger auf die Straße, als auf das, was links und rechts zwischen den Bäumen geschah. Anscheinend nichts allzu bedrohliches, denn sein Blick hellte sich zusehends auf.
Wir schwiegen uns die ganze Fahrt über an.
Duncan hielt wieder an der gleichen Stelle direkt vor dem Eingang.
Ich küsste ihn noch einmal kurz, schnappte mir meine Tasche und ging im Laufschritt ins Gebäude.
Man merkte sofort, dass ich heute später dran war – die Gänge waren sehr viel voller als gestern.
Ich schlängelte mich zwischen einigen Schülergruppen hindurch, bis endlich mein Spint in Sicht kam.
Sandra lehnte nervös an der Tür ihres Kästchens.
„Hey, auch schon da?“ fragte sie mich etwas zu heftig für meinen Geschmack.
„Jaa…“ murmelte ich und schaute sie fragend an. Was sie wohl hatte?
„Also ich hab da heute etwas erfahren und ich bin sehr enttäuscht, dass du mir es nicht selbst gesagt hast!“ Wieder dieser leicht abweisende Tonfall. Was war bloß in sie gefahren?
Ich holte ein paar Bücher aus meinem Spint und schaute sie immer noch an. Ich hatte sowas von überhaupt keinen Plan von was sie gerade sprach, aber so wie es aussah würde ich es sicher jeden Moment erfahren.
„Du bist heute nicht selbst zur Schule gefahren, hab ich gehört?“ Sandra starrte geradewegs an mir vorbei. Darauf wollte sie also hinaus.
„Ja genau. Warum?“ Ich sprach gerade laut genug, damit sie mich in dem Gemurmel der Anderen verstand.
„Du hättest mir ruhig sagen können, dass du einen Freund hast“, fuhr sie mich nun direkt an. In ihrem Gesicht stand Enttäuschung und auch ein bisschen Wut.
Mir klappte der Mund auf. Darum veranstaltete sie dieses Theater?
„Ja, ich hatte doch keine Ahnung, dass das so wichtig für dich ist“, versuchte ich mich zu rechtfertigen.
„Ach! Nicht so wichtig was?! Hab ich dir etwas verschwiegen, dass ich mit Jack zusammen bin? Nein ich denke nicht!“
Ich senkte den Blick. Irgendwie hatte sie recht. Ich hätte es ihr sagen sollen.
Aber mir wurde doch selbst erst jetzt klar, dass ich mit Duncan zusammen war.
„Es… tut mir leid“, sagte ich immer noch mit gesenkten Blick.
Aus dem Augenwinkel bekam ich mit, dass Sandras Miene sich schlagartig aufhellte.
„Gut“, sagte sie mit einem breiten Grinsen im Gesicht. „Und ab jetzt keine Geheimnisse mehr! Versprochen?“
Sie hielt mir die Hand hin.
Ich biss mir auf die Unterlippe. Wie konnte ich ihr das versprechen?
Ich würde ihr nie erzählen können, dass Duncan kein normaler Mensch war.
Trotzdem schlug ich nach einigem Zögern ein.
Der Unterricht war lahm und zog sich wie ein alter Kaugummi hin.
Nach der zweiten Stunde wäre ich am liebsten nach Hause gefahren, was aber irgendwie auch wieder blöd gekommen wäre.
Also saß ich eine Stunde nach der anderen ab.
Nicht einmal die Mittagspause sorgte heute für Auflockerung – ganz im Gegenteil.
„So! Jetzt erzähl schon!“ sagte Sandra nachdem wir uns einen Tisch gesucht hatten.
„Was genau soll ich erzählen?“ fragte ich etwas abwesend – in Gedanken war ich gerade bei Duncan, der geduldig auf mich wartete.
„Dein neuer Freund, oder besser gesagt dein erster Freund! Wie ist der so? Wie lange läuft das schon? Wo hast du ihn kennen gelernt?“ Sie überschüttete mich nur so mit Fragen.
Ich biss in einen Apfel, den ich mir vom Buffet mitgenommen hatte, schluckte und antwortete dann. „Sein Name ist Duncan. Ich habe ihn im Supermarkt getroffen und seit ungefähr einer Woche bin ich mit ihm zusammen. Noch Fragen?“ Ich sollte Sandras Neugier lieber nicht noch mehr herausfordern und bereute den letzten Satz sofort.
„Wow. Und wie alt ist er? Sieht er gut aus?“ Die Befragung ging weiter. Oh Gott!
„Er ist im gleichen Alter wie wir, Sandra. Und ja er sieht unglaublich gut aus“, sagte ich mit einem schmachtenden Unterton.
So setzte Sandra die Fragerei fort, als würde sie eine unsichtbare Liste abhacken.
Erst am Ende der Pause konnte ich durchatmen – Sport!
Das würde Sandra eine Weile in beschäftigen und ich konnte mich etwas entspannen.
Tatsächlich kam sie bis zum Ende der beiden Stunden nicht mehr dazu, mich über Duncan auszufragen, was ich natürlich toll fand.
Als es zu Unterrichtsschluss läutete, machte ich mich schleunigst auf den Weg in die Umkleidekabinen und schaffte es sogar Sandra fürs erste zu entkommen.
„Wir sehen uns um halb vier! Ich komme dich abholen!“ rief ich ihr noch zu als ich die Kabinen verlies – sie war immer noch damit beschäftigt, sich aus ihren Sportklamotten zu schälen.
Schnellen Schrittes ließ ich die Turnsäle hinter mir und bewegte mich auf den Ausgang zu.
Duncan wartete – wie nicht anders zu erwarten gewesen war – vor der Tür.
„Hey!“ begrüßte er mich freudig als ich mich auf den Beifahrersitz setzte.
„Hi, wow! Was ist denn mit dir los?“ fragte ich etwas verwundert über seinen gute Laune.
Duncans Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. „Ich freue mich nur so, dich wieder zusehen!“ In seiner Stimme schwang echte Freude mit.
Er beugte sich über den Schalthebel und küsste mich, bevor er den Motor startete und Richtung Blockhütte fuhr.
Die Landschaft schoss nur so vor dem Fenster dahin.
Ich beobachtete Duncan. Wie heute Morgen schon, war auch jetzt noch sehr gut aufgelegt.
Er pfiff vor sich hin und seine Augen strahlten.
„Was ist los mit dir? Es kann doch nicht nur sein, weil ich wieder da bin“, stellte ich misstrauisch fest.
„Okay, ich gebe es zu. Du bist nicht der einzige Grund.“ Er warf einen flüchtigen Blick zu mir herüber.
„Sondern…“ fragte ich vorsichtig nach.
„Ich hab heute eine Runde um die Stadt gedreht. Von Ann keine Spur. Anscheinend hat sie sich weiter nach Norden zurückgezogen“, sagte er und lächelte mich an.
Nun musste auch ich unwillkürlich lächeln. Das waren ja vielleicht einmal gute Nachrichten.
„Das ist gut!“ Ich konnte meine Begeisterung schon fast nicht mehr unterdrücken.
„Ja, ist es. Aber es bedeutet noch lange nicht, dass sie aufgegeben hat“, fügte er ernst hinzu.
Das war mir egal.
Ich war nur erleichtert, dass Ann sich wenigstens ein Stückchen zurückgezogen hatte.
Ich legte meine Hand auf Duncans.
Etwas weniger nervös als noch heute Morgen, führte er mich ins Haus und schloss die Tür sorgfältig ab.
„Ich bring nur schnell meine Sachen nach oben“, sagte ich und hob meine Jacke und meine Schultasche, die ich jeweils in einer Hand hielt.
„Geht klar“, sagte Duncan und strahlte mich an. „Ich bin in der Küche.“ Er zwinkerte mir zu und ging davon.
Irgendwie war ich neugierig, wie er es immer in Rekordzeit schaffte Sachen sauber zu machen oder wegzuräumen, aber ich wollte ihm seine Geheimnisse lassen und ging die Treppe hinauf.
Irgendwann würde er es mir sagen, da war ich mir sicher.
Meine Tasche warf ich einfach neben den Schreibtisch und die alte Regenjacke, die ich nur vorsorglich ins Auto gelegt hatte, hing nun auf einem Kleiderhacken in meinem Schrank.
Ich beeilte mich und kehrte in die Küche zurück wo Duncan – welch ein Wunder – schon fertig gekocht hatte.
„Mmmh…riecht gut! Was gibt’s?“ fragte ich und beugte mich über ein paar Kochtöpfe.
„Spaghetti“, sagte Duncan und lächelte mich an. Er deutete auf einen Stuhl – ich setzte mich ohne ein weiteres Wort.
Duncan servierte mir mein Mittagessen und setzte sich mir dann gegenüber.
Mir entging nicht, dass er mich beobachtete während ich die Nudeln in mich hinein stopfte.
„Was?“ fragte ich als ich endlich geschluckt hatte.
„Du siehst süß aus wenn du isst“, sagte er und legte den Kopf schief um mich noch besser betrachten zu können.
Ich merkte wie ich rot wurde. Wahrscheinlich hatte mein Kopf jetzt die Farbe einer sonnengereiften Tomate.
„Oh, danke“, murmelte ich nur und wandte mich wieder meinen Spaghetti zu – nur dass ich jetzt keinen Bissen mehr runterbrachte.
„Du solltest dich beeilen wenn du dich noch umziehen möchtest bevor wir Sandra holen gehen“, sagte er nachdem ich immer noch nicht weiter aß.
Schnell würgte ich noch den Rest hinunter, sprang dann auf und rannte in mein Zimmer.
Er hatte recht!
Es war schon halb vier.
Ich kramte eine Weile in den Schubladen meines Schrankes. Schließlich tauchte ich mit einer engen, schwarzen Jeans und einem weinroten Trägertop wieder auf. Dazu fand ich noch eine lässige schwarze Jacke.
Eilig huschte ich damit ins Bad und kämmte meine Haare.
Es sah durchschnittlich aus – wie immer. Perfekt!
Mit einem letzten Blick in den Spiegel verließ ich das Badezimmer und ging wieder hinunter.
Die Küche war, dank Duncans kleinem Geheimnis, blitzblank und strahlte wie neu.
„Du solltest echt einer Putzgenossenschaft beitreten“, sagte ich spöttisch und lehnte mich an den Türrahmen.
„Ach wirklich? Und du solltest lieber einer Modelargentur beitreten anstatt dich mit der Putzfrau zu unterhalten“, konterte Duncan und umarmte mich.
„Übertreib es nicht Casanova“ flüsterte ich ihm ins Ohr.
Er grinste nur und küsste mich.
Wie schon die letzten Male, brauchte ich auch diesmal einen Augenblick um mich wieder zu fangen.
„Komm schon“, rief Duncan mir aus dem Vorraum zu – ich hatte nicht einmal gemerkt, dass er nicht mehr vor mir stand.
Ich beeilte mich und schlüpfte in meine Turnschuhe.
Wie jedes Mal, wenn ich aus dem Haus ging, kontrollierte Duncan aus diesmal ob alles sicher war.
Nach wenigen Sekunden kam er wieder und zog mich an der Hand zum Auto.
Die Fahrt zu Sandras Haus war um einiges entspannter, als die restlichen Autofahrten mit Duncan, was wahrscheinlich daran lag, dass Ann nicht mehr vor der Haustür herumstreunte.
Auch wenn ich wusste, dass sie einige Kilometer Abstand hielt, lief mir beim Gedanken an sie eine Gänsehaut den Rücken hinunter.
Sandras Haus war mitten in der Stadt und sie wartete schon vor ihrer Haustür, was meinen Puls erhöhte. ‚Sie könnte tot sein‘, schoss es mir durch den Kopf.
Duncan nickte mir zu, als Zeichen, dass ich ohne Gefahr aussteigen konnte.
Ich öffnete die Beifahrertür und ging den kurzen Weg bis zur Treppe. Sandra kam mir entgegen und begrüßte mich mit einer Umarmung.
„Ich hab schon gedacht du kommst nicht mehr!“ sagte sie freudig. „Uhh, ist das dein Freund im Auto?“ fügte sie hinzu, nachdem sie einen Blick über meine Schulter geworfen hatte.
„Er fährt uns nur, keine Sorge.“
„Och, ich hab nichts dagegen.“ Sandra strahlte und hackte sich bei mir ein. Gemeinsam gingen wir zurück zum Wagen.
Erst als alle Türen geschlossen waren, beruhigte sich mein Herzschlag wieder.
Die Fahrt zum Kino dauerte nicht lange, obwohl Sandras Haus im Herzen der Stadt stand. Das zeigte einmal wieder, wie winzig Ladysmith doch war.
Duncan parkte das Auto direkt neben dem Eingang, gab mir dann einen Kuss auf die Stirn und blickte dann starr durch die Windschutzscheibe hinaus.
Sein Blick war wachsam und suchte nach Anzeichen für Gefahr.
Ich stieg aus, Sandra war direkt hinter mir.
Ich ergriff sie am Arm und beeilte mich ins Kino zu kommen.
Als wir die Eingangshalle betraten, ließ ich sie los und wandte mich direkt an den Ticketschalter.
„Was willst du sehen, Sandra?“ fragte ich und warf einen Blick auf die Tafel mit den Filmvorschauen.
„Wie wär’s mit…Alice im Wunderland?“ fragte sie unsicher.
Ich nickte, sollte mir nur recht sein.
Ein Film, bei dem ganz sicher keine Wölfe vorkamen.
Ich bezahlte die Tickets und wir machten uns auf die Suche nach dem richtigen Saal, was nicht sehr schwer war, denn dieses Kino hatte nur drei davon.
Schließlich, nachdem wir uns mit Popcorn und Getränken ausgerüstet hatten, ließen wir uns in Saal zwei in unsere Stühle sinken und warteten auf den Beginn des Films.
Naja, ich tat das zumindest. Sandra hingegen, war total aufgewühlt und warf mir aus dem Augenwinkel immer wieder vielsagende Blicke zu.
„Sandra, was ist?“ fragte ich nachdem sie angefangen hatte mich anzustarren.
„Duncan ist ja echt ein ganz Süßer“, sagte sie und zwinkerte mir zu.
Ich verdrehte die Augen – nicht schon wieder dieses Thema!
Egal wie sehr ich auch in Duncan verliebt war, ich war nicht eines dieser Mädchen, die gerne mit anderen über ihr Liebesleben redeten.
Zu meinem Glück ging eben in diesem Moment das Licht aus.
Ich seufzte erleichtert.
Fürs erste war ich diesem Gespräch entgangen – wer wusste wie lange.
Ich hatte Märchen noch nie besonders gemocht, was auch erklärte, dass ich nicht besonders begeistert vom Film war.
Ich ließ es mir so wenig wie möglich anmerken, denn anscheinend hatte Sandra ihren Spaß.
Endlich, nach Stunden – wie es sich für mich zumindest angefühlt hatte – endete der Film.
Erleichtert erhob ich mich aus dem weichen Sessel und streckte mich erst einmal.
„Und wie hat er dir gefallen?“ fragte Sandra begeistert als wir den Saal verließen.
„Naja, hab schon bessere gesehen“, murmelte ich etwas gelangweilt. Sandras Strahlen wich nicht aus ihrem Gesicht. Ihr war es sowieso egal was die anderen Leute über sie dachten – mich eingeschlossen.
Fröhlich hüpfte sie neben mir her.
Am Eingang wartete Duncan bereits lässig gegen die Fahrertür meines Golfs gelehnt.
„Hey!“ begrüßte er uns und stieg ein.
Ich setzte mich neben ihn, Sandra nahm hinter mir Platz.
Duncan fuhr nun etwas langsamer durch die Straßen, da es bereits dämmerte.
„Und wie war der Film?“ fragte er, als er bemerkte, dass ich ihn ansah.
„Ging so“, sagte ich und schaute durch die Windschutzscheibe.
„Er war fantastisch! Einfach toll! Großartig!“ Sandra beugte sich zwischen den Sitzen nach vorne und hatte immer noch ein breites Grinsen im Gesicht.
Ich verdrehte wieder die Augen – typisch Sandra. Sie war so leicht zu begeistern.
Duncan hielt vor ihrer Auffahrt.
Ich stieg aus und hielt Sandra die Tür auf.
Mit einem Lächeln auf den Lippen stieg auch sie aus.
„War ein schöner Abend“, sagte sie und umarmte mich zum Abschied.
„Ja, das sollten wir wiederholen“, ich lächelte sie an.
„Okay, wir sehen uns morgen.“ Sandra drehte sich um und ging zur Tür. Ich setzte mich wieder ins Auto.
Nicht einmal eine Sekunde nachdem ich die Tür zugezogen hatte, wurde Sandra von einem dunklen Schatten niedergerissen.
Ich stieß einen Schrei aus und riss die Tür auf um ihr zur Hilfe zu eilen.
Duncan stand bereits draußen. Mit einem hellgoldenen Lichtblitz verwandelte er sich in den schneeweißen Wolf und stürmte auf das dunkelbraune Tier zu, das sich über Sandra hermachte.
Sie schrie nicht einmal – ich befürchtete schon das schlimmste.
In der Hoffnung, dass sie beim Aufprall auf den Steinboden nur das Bewusstsein verloren hatte, rannte ich auf sie zu.
Duncan schleuderte den sehr viel kleineren Wolf in hohem Bogen auf die Wiese neben das Haus, doch dieser Wolf schien zäh zu sein. Mit einem Knurren rappelte er sich wieder auf und stürzte sich auf seinen riesigen Rivalen.
Ich musste mir um Duncan wohl keine großen Sorgen machen.
Zitternd fiel ich neben Sandras regungslosem Körper auf die Knie und rüttelte an ihren Schultern.
Kein Lebenszeichen.
Blut schoss wie eine Fontäne aus einer großen Platzwunde an ihrem Kopf. Ich zog meine Jacke aus und drückte sie so fest es ging auf die Wunde, doch irgendwann konnte der Stoff das viele Blut nicht mehr aufnehmen.
Meine Hände zitterten als ich an ihrem Hals nach einem Puls suchte.
Keine Spur davon.
Verzweifelt schüttelte ich sie wieder.
Erst jetzt bemerkte ich das riesige Loch in ihrem Hals.
Ich versuchte den Ärmel meiner, mit Blut getränkten Jacke, um das Loch zu legen.
Duncan zerlegte den kleinen Wolf gerade in seine Einzelteile – soweit ich das beurteilen konnte.
Tränen strömten mir über die Wangen.
So laut ich konnte rief ich nach Sandra, doch sie rührte sich nicht.
Ich hörte Schritte hinter mir – Duncan.
Er hatte sich zurückverwandelt und kniete sich neben mich.
Eine Hand legte er auf Sandras Stirn, mit der anderen hielt er ihre.
Ein hellblaues Leuchten, dort wo er sie berührte, erschien und blendete mich. Ich hielt mir die Hand vor die Augen.
Duncan seufzte.
Ich wusste sofort, dass das nur eines bedeuten konnte – er konnte sie nicht mehr retten.
Um mich herum wurde alles schwarz.
Ich verlor den Halt und kippte nach hinten um.
Das letzte was ich mitbekam war, das Duncan mich hochhob.
Dann wurde es dunkel.
„Sandra! Lauf! Lauf!“ Ich schrie sie an.
Sie stand vor mir.
Wir waren im Wald, auf einer Lichtung – ich war schon einmal dort gewesen.
Sandra war wie erstarrt.
Ich lief auf sie zu und wollte sie wegziehen – egal wohin.
Sie bewegte sich nicht von der Stelle.
Die Lichtung veränderte sich und im nächsten Moment standen wir vor Sandras Haus.
Sie verabschiedete sich von mir und drehte sich um.
Ich wusste was geschah, noch bevor ich es sah.
Der Wolf riss sie zu Boden – ich schrie.
Aber es war ein stummer Schrei, keiner würde ihn hören oder meiner Freundin helfen.
Wie ein Film lief alles noch einmal vor meinen Augen ab.
Duncan der sich verwandelte.
Ich, weinend neben dem reglosen Körper meiner besten Freundin.
Ich fasste mir an den Kopf. Das konnte alles nicht wahr sein!
Ich kniff die Augen zusammen.
Im nächsten Moment war ich in meinem Zimmer und schlug wild um mich.
Duncan kniete neben mir auf dem Bett. Vergeblich versuchte er mich zu beruhigen und drückte meinen, sich windenden Körper gegen die Matratze.
Mein Gesicht war aufgeschwollen – genauso wie meine Augen – von den Tränen, die ich in dieser Nacht vergossen hatte.
„Hey, Mars! Mars, bitte beruhige dich!“ Duncan schaute sich hilfesuchend im Zimmer um.
Er hatte recht. Wenn ich weiter so einen Lärm machen würde, würde früher oder später Tina kommen um nachzusehen was los war.
Nach Luft schnappend starrte ich Duncan an, in der Hoffnung, dass ich alles nur geträumt hatte.
Sein Gesichtsausdruck sagte jedoch etwas ganz anderes.
Er wirkte besorgt und traurig zugleich. Dazu kam noch, dass ihm Schuldbewusstsein ins Gesicht geschrieben war.
Ich atmete nun ruhig ein und aus obwohl immer wieder ein Schluchzen den Rhythmus meiner Atemzüge störte.
„Sag mir bitte, dass ich alles nur geträumt hab“, flehte ich ihn mit zitternder Stimme an.
Er senkte den Blick.
Ich setzte mich auf und griff nach seinen Händen, doch er zog sie einfach weg.
„Es tut mir leid“, flüsterte er, dann stand er auf.
Ich erstarrte.
Sandra war tot.
So sehr ich mich auch bemühte, ich schaffte es nicht diese Tatsache zu verarbeiten.
Genauso gut hätte ich mir sagen können, dass Wasser aufwärts floss.
„Nein“, stieß ich hervor und sprang vom Bett.
Duncan stand mit dem Rücken zu mir und blickte aus dem Fenster. Draußen schien die Sonne – es war mitten am Tag.
Ich stellte mich hinter ihn und drehte ihn mit aller Kraft die ich aufbringen konnte zu mir um.
Sein Blick war verschleiert. Seine sonst schwarzen Augen hatten eine milchige, dunkelgraue Farbe angenommen.
Erschrocken nahm ich sein Gesicht in meine Hände und starrte ihn einfach nur an.
„Was ist mit dir?“ fragte ich besorgt. Sandras Tot rückte für einen Moment in den Hintergrund.
„Ich habe… versagt“, stotterte er und versuchte sich wegzudrehen doch ich hielt ihn fest.
Ich schüttelte den Kopf. Er konnte nichts dafür!
Der Angriff kam völlig überraschend! Niemand hätte das vorhersagen können!
„Du bist nicht schuld an ihrem Tod!“ Ich wunderte mich, dass meine Stimme so kräftig war.
Duncan sah mir in die Augen. Er gab sich die Schuld an dieser Tragödie, dass sah man ihm an.
Ich wusste nicht wie ich ihm helfen konnte, denn plötzlich überrollte mich eine Welle der Trauer und des Schmerzes.
Meine Knie gaben nach und ich sackte zusammen.
Duncan griff blitzschnell ein und hielt mich an den Schultern, so gut es ging, aufrecht.
„Mars, was hast du?“ Er zog mich zum Bett.
Mein Kopf fühlte sich an, als würde jemand mit einem Hammer darauf einschlagen.
Ein Mix aus den verschiedensten Gefühlen übermannte mich mit einem Mal.
Hass, Wut und Abscheu sowie Trauer und Angst.
Mein Körper zitterte, als würde ich frieren. Doch das tat ich nicht.
Im Gegenteil – mir war sogar heiß.
Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn und Wangen und vermischten sich mit meinen Tränen.
Duncan hielt mich im Arm – als wäre ich ein kleines Kind.
„Sie ist tot“, wiederholte ich immer wieder und merkte wie Duncan jedes Mal zusammenzuckte und mich noch fester an sich drückte.
Wahrscheinlich vergingen Stunden, bis sich mein Blick wieder klärte. Tränen waren keine mehr übrig geblieben aber meine Hände zitterten nach wie vor – genauso wie der Rest von mir.
Irgendwann kam Tina herein und setzte sich zu uns.
Sie hatte im Radio gehört, dass Sandra von einem tollwütigen Wolf angefallen und getötet worden war.
Tröstend legte sie mir eine Hand auf den Arm, doch ich schüttelte sie ab.
Duncan und sie wechselten ein paar Worte, dann ging sie wieder.
Mit der Zeit wurde es dunkel in meinem Zimmer, aber mir war zurzeit sowieso alles egal.
Ich rollte mich so klein wie möglich zusammen und legte meinen Kopf auf die Bettdecke.
Duncan war aufgestanden und machte etwas Licht, damit wenigstens er noch etwas sehen konnte, dann kam er zu mir zurück.
„Hast du Hunger?“ fragte er vorsichtig und streichelte mir über den Rücken.
Ich schüttelte nur den Kopf und drückte mein Gesicht in den Stoff.
„Ich bin gleich wieder da“, flüsterte er und gab mir einen Kuss aufs Haar. Dann verschwand er die Treppe hinunter.
Ich sank noch tiefer in meine Trauer.
Meine beste und gleichzeitig einzige Freundin auf dieser Welt war weg – für immer!
Ich versuchte mich aufzurichten, aber ich konnte nicht. Meine Arme und Beine trugen mein Gewicht nicht.
Endlich kehrte Duncan zurück.
In einer Hand hielt er einen kleinen Teller mit Reis und Hühnchen und in der anderen ein Glas Wasser.
Er stellte das Essen auf das Nachttischchen, setzte sich neben mich, sodass ich mich bei ihm anlehnen konnte und drückte mir dann das Wasser in die Hand.
Obwohl ich eigentlich keinen Durst hatte, trank ich das Glas mit einem Zug leer.
Duncan nahm mir das leere Glas wieder ab und stellte es neben das Teller.
„Bitte iss ein paar Bissen.“ Sein Blick lag auf mir – er machte sich Sorgen um mich.
Er hielt mir den Reis vor die Nase.
Zuerst hatte ich überhaupt keinen Appetit, aber je länger ich das dampfende Gericht ansah und mir der Geruch in die Nase strömte, desto hungriger wurde ich.
Schließlich gab ich auf und aß.
Es schmeckte nicht halb so gut wie es aussah, trotzdem würgte ich alles hinunter – bis aufs letzte Reiskorn.
Zufrieden streichelte mir Duncan über den Rücken.
Sofort wurde sein Gesichtsausdruck wieder traurig.
Ich schaute ihn an.
Wenigstens hatten seine Augen wieder ihre normale Farbe.
Ich legte meine Hand in seine.
„Es tut mir leid. Ich konnte nichts tun!“ Er versuchte sich irgendwie vor sich selbst zu rechtfertigen.
Ich strich mit meinen Fingerspitzen über seine Wange. „Du kannst nichts dafür, Duncan.“
Er schüttelte den Kopf. „Ich hätte merken müssen, dass wir nicht allein waren. Was ist bloß los mit mir?“
Ich schaute ihn verwirrt an. „Wie meinst du das? Jedem hätte das passieren können! Du trägst keine Schuld.“
Er schaute mich an – sehr lange.
Ich schaute zurück. Die Sekunden verschmolzen zu Minuten.
Plötzlich sprang Duncan auf. Ich zuckte erschrocken zusammen.
„Ich muss Ann finden!“ Seine Stimme zitterte leicht, doch sein Blick war entschlossen.
„Nein! Du gehst nirgendwo hin! Sie könnte dich umbringen!“ Ich stellte mich ihm in den Weg und breitete die Arme aus, damit er nicht einfach um mich herumlaufen konnte.
„Was soll das, Mars?“ fragte er etwas zu aggressiv.
„Ich werde dich nicht gehen lassen!“ Ich konnte nicht zulassen, dass er sich auch noch in Gefahr begab. Die Erinnerung an den letzten Angriff auf ihn war noch zu lebhaft.
Duncan kniff die Augen zusammen. „Geh aus dem Weg.“
„Nein.“ Ich versuchte ruhig zu bleiben aber sein Blick versetzte mich in Aufregung.
Das war nicht mehr Duncan, das war ein wildes Tier das auf Rache aus war.
Duncan biss die Zähne zusammen und lies die Schultern hängen.
Ich entspannte mich ein wenig.
„Wir müssen uns unterhalten“, sagte ich und zeigte mit der Hand aufs Bett – das war keine Einladung sich zu setzen, sondern ein Befehl.
Zu meiner Verwunderung setzte er sich wirklich hin, ich lies mich neben ihm nieder und nahm seine Hand.
„Du solltest nichts Überstürztes tun…“ Ich biss mir auf die Unterlippe.
„Das muss jetzt ein Ende haben! Sie wird nicht aufhören bis sie tot ist oder dich kriegt und eins schwöre ich dir - Sie wird dich niemals bekommen.“ Duncans Gesicht war immer noch nicht ganz das seine, aber wenigstens klang er jetzt wieder einigermaßen normal.
„Ich will dich nicht auch noch verlieren. Die Sache mit Sandra… Du wirst nicht so enden“, flüsterte ich und lehnte meinen Kopf an seine Schulter.
„Ich möchte nicht, dass du morgen zur Schule gehst“, sagte Duncan leise und schaute mich an.
Ich nickte. Ich wäre nicht zur Schule gegangen – so oder so.
Zum einen traute ich mich nicht mehr einen Schritt aus dem Haus zu tun und zum anderen würde ich das nicht überstehen ohne Sandra. Der Gedanke daran sie nie wieder lachen zu hören brach mir das Herz.
Schwer atmend griff ich nach seiner Hand um sie mit meinen Fingern zu umschließen.
„Ich habe Angst“, flüsterte ich.
„Ich weiß.“ Er schaute auf unsere Hände, die sich ineinander verschlungen hatten. „Ich auch.“
Ich drückte seine Hand. „Kannst du sie besiegen?“ Ich war mir nicht sicher ob ich darauf eine Antwort haben wollte, aber ich musste wissen wie die Chancen waren.
Duncan schwieg lange. „Ja, ich werde sie besiegen und dann können wir endlich wieder ein normales Leben führen.“
Bei den Worten ‚normales Leben‘ bekam ich eine Gänsehaut.
Ich konnte nie ein normales Leben führen, solange Duncan in meiner Nähe war denn an ihm war nichts normal. Er war ein Gestaltwandler und ich nur ein Mensch.
Wir waren nicht normal – jedenfalls nicht wenn wir zusammen waren.
„Wirst du… gehen wenn Ann weg ist?“ Ich starrte auf den Boden.
Duncan hob mit seinem Zeigefinger mein Gesicht an, damit ich ihn ansehen musste. „Nein, ich bleibe bei dir.“
Nachricht
In dieser Nacht schlief ich unruhig.
Immer wieder erwachte ich aus Träumen, an die ich mich nicht mehr erinnern konnte.
Und jedes Mal wenn ich aus einem dieser unbekannten Träume hochschreckte, saß Duncan hellwach neben mir und starrte mich an.
Ich wusste, dass er mir zusah, wenn ich schlief.
Ich wünschte ich hätte ihm etwas Schlaf schenken können.
Der Morgen näherte sich in großen Schritten.
Und immer wieder wiederholte sich dasselbe Schema.
Ich wachte auf. Duncan hockte neben mir. Dann schlief ich wieder ein.
Irgendwann ging endlich die Sonne auf.
Immer noch müde lehnte ich mich an Duncan.
„Du hast nicht geschlafen.“ Stellte ich mit geschlossenen Augen fest.
„Nicht eine Sekunde“, murmelte Duncan. Er klang nicht müde, nur niedergeschlagen.
Er umarmte mich von hinten und legte seinen Kopf auf meine Schulter.
„Hunger?“ fragte ich schlicht.
Er nickte, stand auf und zog mich mit sich.
Arm in Arm gingen wir in die Küche, wo zu meiner Verwunderung Tina saß und in der Tageszeitung las.
„Guten Morgen ihr zwei“, sagte sie leicht lächelnd. Ihre Augen waren leicht gerötet – auch sie hatte geweint.
Sandra und Tina hatten sich immer gut miteinander verstanden, auch wenn sie sich nicht oft sahen.
Ohne ein weiteres Wort zu wechseln nahmen wir uns etwas zu essen aus dem Kühlschrank und setzten uns zu ihr an den Tisch.
Keiner sprach – weder Duncan, noch Tina.
Ich fühlte mich, als hätte mir jemand etwas Wichtiges gestohlen, das ich nie wieder bekommen würde.
Zwei ganze Tage verstrichen.
Wir alle waren in eine Art Trance verfallen.
Wir sprachen so gut wie gar nicht miteinander und sahen uns auch nicht wirklich an.
Duncan fühlte sich immer noch schuldig und irgendwann gab ich es auf, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
Tina verschwand oft stundenlang in ihrem Zimmer und machte keinen Mucks – auch nicht als ihr neuer Freund vorbei kam um nach ihr zu sehen.
Ich saß öfters wie ein Häufchen Elend im Polstersessel in meinem Zimmer und starrte die Wand an.
Am dritten Tag kam Tina in mein Zimmer und setzte sich neben Duncan auf die Bettkante.
„Heute Nachmittag ist Sandras Begräbnis. Ich werde hingehen, du musst nicht, wenn du nicht willst.“ Mehr sagte sie nicht. Dann stand sie auf und ging in die Küche.
Duncan kam zu mir herüber und half mir beim Aufstehen.
„Wirst du hingehen?“ fragte er und drückte mich an sich.
Ich überlegte kurz. Es würde wahrscheinlich alles noch schlimmer machen, aber sie hatte es verdient, dass man ihr die letzte Ehre erwies.
„Ja, sie war wie meine Schwester.“ Ich vergrub mein Gesicht an seinem Hals.
„Dann komme ich mit dir. Immerhin ist es meine…“
„Nein“, unterbrach ich ihn und drückte ihn gleichzeitig von mir weg damit ich ihm in die Augen sehen konnte.
„Ich weiß nicht, wie ich dich von deinen Schuldgefühlen befreien kann, aber du hast getan was du konntest um sie zu retten.“
Duncan senkte den Blick. „Ich hätte ihn kommen sehen müssen…“
„Du bist nicht Gott! Du kannst Fehler machen, genauso wie jeder andere Mensch auch.“
Ich drehte mich um und kniete mich vor meinem Schrank nieder.
Nach wenigen Minuten zog ich ein knielanges, schwarzes Kleid hervor und legte es auf das Fußende meines Bettes.
„Ich muss nachher kurz weg und mir was zum anziehen besorgen.“ Duncan ging zur Tür.
Ich schaute ihm nach als er nach unten ging.
Es war Mittag, als er wieder zurückkehrte.
Tina kochte gerade eine Suppe für uns.
Duncan legte seinen neuen Anzug neben mein Kleid und ging dann mit mir in die Küche.
„Hey, ihr beiden“, sagte Tina mit wenig Begeisterung. „Habt ihr euer Gewand schon?“
Wir nickten gleichzeitig, nahmen uns dann einen Teller und setzten uns.
Tina tat es uns gleich.
Schweigend aßen wir und hingen unseren Gedanken nach.
Nachdem wir fertig waren, stand ich auf und stellte die Teller ins Waschbecken.
Duncan stand schon hinter mir und nahm meine Hand.
Er zog mich die Treppe hinauf.
In meinem Zimmer angekommen nahm ich mein Kleid und ging ins Badezimmer.
Duncan zog sich im Zimmer um.
Ohne einen Blick in den Spiegel zu werfen schlüpfte ich in mein Kleid und ging dann zurück.
„Kannst du mir bitte helfen den Reißverschluss zuzumachen?“ Ich drehte Duncan den Rücken zu und hob meine Haare hoch, damit sie nicht im Weg waren.
Mit ein paar sicheren Handbewegungen zog er an der kleinen Metalllasche und schloss den Verschluss.
Ich drehte mich zu ihm um und umarmte ihn.
Er legte seine Arme um mich – als wollte er mich beschützen.
Einige Minuten vergingen so.
Dann sagte mir ein Blick auf die Uhr, dass wir los mussten.
Wir gingen hinunter. Tina wartete bereits im Vorraum auf uns.
Duncan trat nicht, wie sonst immer, zuerst vor die Tür um nach Gefahr Ausschau zu halten.
Er legte einfach seinen Arm um mich und führte mich zum Auto – sein Blick war wachsam.
Tina nahm auf der Rückbank Platz.
Die Fahrt zum örtlichen Friedhof dauerte nicht lange, doch es reichte um mir die Tränen in die Augen zu treiben.
Tröstend legte Duncan seinen Arm um mich als wir ausstiegen. Tina ging zu Sandras Mutter – einer guten Freundin von ihr.
Die Beerdigung selbst war grauenvoll.
Sandras Mutter war nur ein Häufchen Elend. Sie musste von zwei ihrer Freundinnen gestützt werden um nicht umzukippen.
Jack, Tinas Freund, ging es ganz ähnlich. Obwohl er schon neunzehn war, liefen ihm die Tränen in Strömen über die Wangen. Er wagte es nicht einmal, Sandras Sarg anzusehen.
Ich konnte nicht anders, als die ganze Zeit zu heulen und mich gegen Duncan zu lehnen.
Keiner kann sich vorstellen wie froh ich war endlich wieder nach Hause zu kommen.
Tina war bei ihrem Freund geblieben.
Schon als ich die Treppe zur Haustür hinauf ging, merkte ich, dass meine Beine nachgaben.
Duncan stand mir Gott sei Dank zur Seite und verhinderte so, dass ich die paar Stufen rückwärts hinunterstürzte.
Er trug mich ins Wohnzimmer und legte mich vorsichtig auf die Couch. Ich merkte gar nicht, dass er sich zu mir setzte.
„Mars?“
Ich drehte meinen Kopf etwas zur Seite, damit ich ihn besser sehen konnte. „Ja, was ist?“ Meine Stimme zitterte.
„Ich muss Ann aufhalten und zwar jetzt sofort. Sie hat dir schon genug Schmerzen zugefügt.“
Sofort schrillten bei mir sämtliche Alarmglocken. Ich schnellte geradezu in die Höhe und griff nach Duncans Händen, damit er nicht abhauen konnte.
„Nein!“ Meine Stimme zitterte kein bisschen mehr. Es schien sogar so, als würde Duncan zusammenzucken.
„Sie tut das, um dich zu zwingen dich ihr zu stellen, verstehst du was ich meine?“ Er drehte sich mir zu. In seinen Augen spiegelte sich nichts als Angst, nicht um sich selbst, sondern um mich.
„Du hast doch gesagt, dass sie mich nicht kriegt. Ich werde nicht zulassen, dass sie die Feder bekommt“, sagte ich und drückte seine Hände fest.
„Du hast noch keine Ahnung, zu was Ann im Stande ist. Sie würde die ganze Stadt auslöschen, nur um an dich ran zu kommen!“ Seine Stimme war aufgebracht aber trotzdem leise.
„Das soll sie mal versuchen…“ Ich war mir jetzt nicht mehr so sicher, ob sie nicht doch die Macht dazu hätte mich einfach dazu zu zwingen zu ihr zu kommen.
Leise prasselten Regentropfen gegen das Fenster. Ich hatte vorhin nicht einmal mitbekommen, dass Wolken aufgezogen waren, doch jetzt fing es an wie aus Eimern zu schütten.
Ich lehnte mich an Duncans Schulter und versuchte zu schlafen obwohl es erst vier Uhr war.
Irgendwann schaffte ich es tatsächlich, in einen leichten, unruhigen Schlaf zu sinken.
In meinen Träumen rauschten die verschiedensten Bilder an mir vorbei.
Von mir und Sandra, als wir noch kleine Kinder waren und im Sandkasten spielten. Unserem ersten Schultag. Die Geburtstagsparty, die sie für mich organisiert hatte als ich fünfzehn wurde.
Unser letzter, gemeinsamer Kinobesuch…
All das würde ich für immer in meinem Kopf abspeichern – das wusste ich.
Obwohl Sandra nun weg war und mir nie wieder zur Seite stehen konnte, würde ich sie niemals vergessen.
Sie war wie meine Schwester gewesen.
Ich würde alles tun um Sandras sinnlosen und brutalen Tot zu rächen.
Schwer atmend öffnete ich meine Augen.
Ich merkte, dass ich nicht einmal geweint hatte – was mich sehr wunderte.
Ich schwor mir in genau diesem Moment, Ann zur Strecke zu bringen – und wenn es das letzte war, was ich in meinem kurzen Leben tat.
Nach ein paar Minuten in der Dunkelheit, bemerkte ich, dass ich nicht mehr im Wohnzimmer war. Ich drehte mich zur Seite und knipste die Lampe auf meinem Nachttischchen an.
Mein Wecker zeigte kurz nach halb sieben morgens an.
Duncan lag neben mir in einer ziemlich unbequemen Haltung – wie ich fand.
Er saß halb und lehnte mit den Schultern am Kopfende des Bettes.
Ich wollte ihn nicht wecken.
So leise wie möglich öffnete ich die Schublade und holte mein Handy heraus.
Sehr ungewöhnlich – zwei neue Nachrichten.
Eine war von Sandra.
Sie hatte mir auf mein letztes SMS mit: Ich wünsche dir eine gute Besserung! Hab dich lieb!!!; geantwortet.
Schweren Herzens schloss ich diese Nachricht und öffnete die nächste von einer unterdrückten Nummer. Sie war erst vor wenigen Minuten angekommen.
Ich dachte mir nichts dabei, es war wahrscheinlich wieder so eine Kettennachricht oder Infos über meinen Tarif – nichts Ungewöhnliches.
Erst als ich die erste Zeile überflog, bemerkte ich wie sehr ich mich doch geirrt hatte.
Liebe Marissa,
es tut mir im Herzen weh deiner lieben Schwester Schmerzen zuzufügen,
aber solltest du nicht innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden zu mir kommen
werde ich wohl keine andere Wahl haben.
Du findest mich auf einer kleinen Lichtung in der Nähe des Sees.
Ich werde warten!
Du solltest dich besser beeilen, immerhin hängt das Leben deiner Schwester davon ab.
Liebe Grüße, Ann
Mir wurde augenblicklich übel. Ich steckte das Handy unter mein Kopfkissen und rannte ins Badezimmer, wo ich es gerade noch zur Toilette schaffte bevor ich erbrach.
Nicht einmal eine Sekunde später stand Duncan hinter mir und hielt mich an den Schultern fest.
Ich kotzte mir förmlich die Seele aus dem Leib und zurück blieb nur das Gefühl der Hilflosigkeit und purer Angst.
Mein Blick war verschwommen, obwohl ich keine einzige Träne in den Augen hatte.
Das Badezimmer schien sich um mich zu drehen.
Erst jetzt realisierte ich, dass dies der Anfang vom Ende meines Lebens war.
Zitternd stütze ich mich am Rand der Badewanne ab und versuchte wieder auf die Beine zu kommen, was mir nur mit Duncans Hilfe gelang.
Gemeinsam gingen wir zurück in mein Zimmer. Mein Magen verkrampfte sich immer noch, doch es war nichts mehr da was er hätte herauf würgen können.
Ich lies mich aufs Bett fallen.
Duncan setzte sich auf die Bettkante und streichelte meine Hand. „Kann ich dir irgendwas bringen?“ fragte er. Besorgnis schwang in seiner Stimme mit.
Ich dachte nach. „Ja, kannst du mir vielleicht einen Tee machen?“
Er nickte und verließ den Raum.
Ich beeilte mich, zog das Handy unter dem Polster hervor und warf es in die Schublade zurück.
Wie sollte ich es nur schaffen, Duncan klarzumachen, dass ich Tina retten musste?
Ich durfte es ihm nicht sagen. Er würde das niemals zulassen und nur noch mehr auf mich aufpassen – dann wären meine Chancen zunichte gemacht.
Ich grübelte und zerbrach mir den Kopf. Irgendwann kam mir die zündende Idee.
Duncan kehrte gerade mit einer Tasse dampfenden Tees zurück.
„Was hast du?“ fragte er und schaute mich genau an.
„Mir ist auf einmal übel geworden“, meine Stimme hörte sich an, als hätte ich jahrelang nicht mehr
gesprochen – rau und kratzig.
Er nickte verständnisvoll und setzte sich dann auf seine Seite des Bettes.
„Hey, Duncan?“ Ich sprach so leise, dass ich nicht sicher war ob er mich verstand.
„Ja?“
„Könntest du heute ein paar Einkäufe erledigen?“ Ich biss mir auf die Lippe. „Tina kommt erst morgen wieder heim, sie braucht ein bisschen Abstand.“
„Ja sicher. Schreib mir einfach eine Liste, ich mache das schon.“
‚Operation Selbstmord‘ lief nach Plan.
Ich wickelte die Decke so eng wie möglich um mich und schlief wieder ein –auch wenn es nur für eine halbe Stunde war.
Schläfrig öffnete ich meine Augen.
Ich erinnerte mich sofort daran, was ich heute vorhatte – an meinem Todestag.
Vorsichtig schwang ich meine Beine aus dem Bett und ging ans Fenster.
Die Sonne schien, es würde ein wunderschöner Tag werden.
Duncan saß im Polstersessel in der Ecke und lächelte mich an.
Gut dass er keine Ahnung hatte was ich vorhatte.
Ich ging zu ihm und setzte mich auf seinen Schoss.
Ich wusste, er würde mich vermissen, wenn ich nicht mehr da war, aber ich musste Tinas Leben retten.
Sie hatte sich nach dem Tod unserer Eltern um mich gekümmert als wäre sie meine Mutter und nun lag es an mir mich dankbar zu zeigen.
Abschied
Gemeinsam gingen wir in die Küche und machten uns Frühstück.
Ich aß langsam und genoss jeden Bissen.
Es war wohl das letzte Mal in meinem Leben, dass ich Toast essen würde und auch wenn es nichts Besonderes war, kam es mir gerade vor wie das beste Gericht auf der ganzen Welt.
Wie würde ich es wohl vermissen, wenn ich nicht mehr da war.
Und wie würde ich jeden Atemzug der meine Lungen füllte vermissen.
Oder würde ich überhaupt etwas vermissen?
Vielleicht war ich einfach nicht mehr da.
Einfach von der Bildfläche gelöscht.
Ich nahm einen Schluck von dem Orangensaft in meinem Glas.
Wie schade, dass ich erst jetzt bemerkte, wie gut etwas so einfaches wie Orangensaft schmecken konnte.
Traurig stellte ich das Glas zurück.
„Was hast du?“ Duncan saß auf der anderen Seite des Tisches und beobachtete mich.
Er sah mir wohl an, dass mich etwas bedrückte. Sollte er nur glauben, dass es um Sandra ging.
„Das Begräbnis macht mich immer noch fertig“, log ich halbherzig.
Irgendwie hoffte ich wohl, dass er etwas bemerkte und nicht einkaufen fuhr.
„Oh“, war alles was er dazu zu sagen hatte. Dann senkte er den Blick und starrte die Tischplatte an.
Ich erhob mich um das Geschirr wegzuräumen. Anders als sonst half mir Duncan aber nicht sondern verschränkte die Arme vor der Brust und schaute ins Nichts.
Auch wenn ich die Arbeit allein machte, brauchte ich nicht viel länger als zehn Minuten.
Als ich mich wieder umdrehte, war Duncan weg.
Ich vermutete ihn in meinem Zimmer – und ich sollte recht behalten.
Er saß im Polstersessel und schien auf mich zu warten.
„Du hast gesagt ich soll einkaufen“, murmelte er ohne mich anzusehen.
Ich setzte mich ihm gegenüber auf die Bettkante. „Ja wenn du nichts dagegen hast…“
Er warf mir einen flüchtigen Blick zu. Mein Gesicht verriet wohl nichts.
„Liste?“ fragte er nach ein paar Minuten. Irgendwie klang er unfreundlich, ich konnte mich aber auch getäuscht haben.
Ich stand auf und ging zum Schreibtisch, wo ich mir einen kleinen Zettel und Bleistift schnappte und einfach irgendwelche unwichtigen Dinge aufschrieb.
Letztendlich landete sogar Schuhcreme und Shampoo für Speedy auf der Liste.
Ich faltete das Blatt einmal in der Mitte und hielt es dann Duncan vor die Nase, doch anstatt den Zettel zu nehmen zog er mich an meiner Hand zu sich.
„Mars.“ Er schaute an mir vorbei, sein Blick war unergründlich.
„Ja?“ fragte ich unsicher. Auf der einen Seite hoffte ich, dass er meinen Plan doch durchschaut hatte aber auf der anderen Seite wollte ich nur noch Tina in Sicherheit wissen.
„Ich möchte dir was schenken.“ Nun endlich schaute er mich an und in seinen Augen spiegelte sich so viel Liebe wider, dass es mir fast das Herz brach.
„Warum?“ hauchte ich.
„Weil du wichtig für mich bist.“ Seine Lippen formten ein kleines Lächeln und ich konnte nicht anders, als zurückzulächeln.
„Was ist es?“ fragte ich neugierig und traurig.
Duncan zog ein Lederband unter seinem T-Shirt hervor. Ich hatte bis jetzt noch nicht bemerkt, dass er eine Halskette trug.
Am Ende der Schnurr hing ein kleiner, glänzender Ring.
Mir klappte der Mund auf. In das rötlich schimmernde Metall waren hunderte, winzige Kristalle eingelassen.
„Wow…“ Mehr brachte ich nicht heraus.
Duncan nahm den Ring von dem Band herunter und legte ihn in meine Hand.
Er war so filigran und fein gearbeitet, dass ich Angst hatte ihn einfach mit meinen Fingern zu zerbrechen.
Vorsichtig drehte ich ihn zwischen Zeigefinger und Daumen.
Auf der Innenseite war ein Datum eingraviert.
„Was war am 17.12.?“ Meine Stimme zitterte leicht als ich mit meinem Zeigefinger über die Zahlen fuhr.
Duncan legte seinen Arm um mich. „Mein Geburtstag“, flüsterte er mir ins Ohr.
Ich erstarrte. „Aber dann gehört er dir!“
Er schüttelte nur den Kopf. „Nein. Er gehörte meinem Vater vor seinem Tod. Als ich bei ihm lebte, hat er dieses Datum eingravieren lassen und ihn in der Größe geändert – er müsste dir passen.“
„Er ist ein Familienerbstück“, sagte ich protestierend und hielt ihm die Hand mit dem Ring hin.
„Der Ring war als Glücksbringer für mich gedacht und ich will, dass er dir Glück bringt“, sagte er ruhig und schloss mit seiner Hand meine Finger wieder um das kleine Stück Metall.
Wir saßen gut fünf Minuten so da und lauschten dem Herzschlag des anderen.
Dann nahm ich den Ring aus meiner Hand und steckte ihn mir an. Duncan hatte recht – er passte wie angegossen.
Ich fiel ihm um den Hals. Tränen liefen über meine Wangen und verloren sich in meinem T-Shirt.
„Danke“, schluchzte ich.
Duncan drückte mich nur an sich.
Ich schloss meine Augen.
Wie konnte ich ihn nur fortschicken, um mich dann von seiner Schwester töten zu lassen?
Es war dieser Moment, in dem mein Herz brach.
Fast spürbar schien es in meinem Inneren zu knacken und zu brechen.
Ich schluchzte wie wild, lies Duncan aber nicht los. Er sollte mein Gesicht nicht sehen.
Der bronzene Ring schien sich enger um meinen Finger zu schließen. So eng, dass es schmerzte.
Aber wenigstens erinnerten mich die Schmerzen daran, dass ich noch lebte – noch.
Ich habe keine Ahnung, wie lange wir so dasaßen und eigentlich war es mir auch egal. Ich hätte noch stundenlang so weitermachen können, aber mein Verstand erinnerte mich daran, dass Tinas Zeit ablief.
Ich drückte Duncan sanft von mir weg und schaute ihn an.
Ich prägte mir alles ein.
Seinen Mund. Seine Nase. Seine wunderschönen, schwarzen Augen. Seine Haare. Ja, sogar seinen Geruch versuchte ich mir zu merken.
Dann drückte ich ihm die Einkaufsliste in die Hand.
Kurz berührten meine Finger dabei seine und ich hätte am liebsten aufgeschrien, so weh tat es mir nie wieder seine Berührung zu spüren.
Duncan stand auf und ich mit ihm.
Er steckte den Zettel in seine Hosentasche und umarmte mich. Mit einem letzen Kuss verabschiedete er sich und ging dann nach unten.
Die Nachwirkungen dieses Kusses wurden zur Folter für mich.
Am liebsten hätte ich geschrien und ihm gesagt er solle mich nicht in den Wald gehen lassen. Er sollte hierbleiben und auf mich aufpassen.
Aber ich hielt den Mund – so schwer es mir auch fiel.
Für einen kurzen Moment schien es, als würde mein Herz überhand nehmen. Ich drohte zusammenzubrechen wie ein altes Haus, doch ich ermahnte mich.
Ich musste mich jetzt beeilen. Duncan würde sicher nicht länger als eine Stunde weg sein.
Bevor ich das Haus meiner Eltern gleich zum letzten Mal verlies um ihnen zu folgen, ging ich noch einmal zum Schreibtisch.
Mit zitternden Händen schrieb ich:
Duncan,
es tut mir leid, aber Ann hat Tina.
Ich kann nicht zulassen, dass ihr etwas passiert.
Ann wird die Feder bekommen – sie wird gewinnen.
Es ist alles meine Schuld, es tut mir leid.
Ich liebe dich,
Marissa
Eine Träne fiel neben meinen Namen auf das Blatt Papier – wie ein Schlusspunkt.
Ich faltete den Abschiedsbrief und ging die Treppe hinunter.
Nachdem ich den Brief auf den Küchentisch gelegt hatte, zog ich die Haustür hinter mir zu.
Speedy schlief auf der Veranda. Ich ging, ohne das Hündchen zu wecken – ich wollte nicht, dass er mir folgte.
In einiger Entfernung zum Haus fing ich an zu rennen. Duncan sollte mich nicht einholen können.
Er sollte nicht kämpfen.
Der Kies unter meinen Schuhen knirschte, aber ich hörte es eigentlich gar nicht.
Ich hörte nur meinen Herzschlag und meine Gedanken.
Würde es sehr weh tun zu sterben?
Was würde danach kommen?
Und würde Ann die Feder wirklich für die Zerstörung der Menschheit einsetzen?
Wenigstens auf die letzte Frage hatte ich eine Antwort – ja.
Nach zehn Minuten schmerzten meine Lungen schon so sehr, dass ich glaubte auf der Stelle tot umfallen zu müssen.
Trotzdem zwang ich mich weiterzulaufen.
Eine halbe Stunde lang kämpfte ich mit meinem Körper.
Er gewann.
Ich verlangsamte meine Schritte ein wenig, aber nur für ein paar Minuten.
Dann spurtete ich wieder los.
Den Weg, den ich schon so gut kannte, legte ich ausgerechnet heute in Rekordzeit zurück.
Als hätte ich es eilig zu sterben.
Der See kam langsam in Sicht.
Wie schon bei meinem letzen Besuch, glitzerte er auch heute wie ein riesiger Kristall.
Ich näherte mich dem Ufer, für meinen Geschmack viel zu schnell.
Eine leichte Brise bewegte die Oberfläche.
Erschöpft und verängstigt kniete ich mich nieder.
Die kleinen Steinchen drückten sich gegen meine Schienbeine und hinterließen Abdrücke auf meiner Haut.
Ein paar Mal sog ich die Luft gierig ein, bis ich wieder richtig Atmen konnte.
Mein Puls aber wollte sich einfach nicht mehr beruhigen.
Mein Herz wollte pumpen und pumpen und niemals aufhören zu schlagen – was es nicht wusste: bald hatte unser beiden Stündchen geschlagen.
Langsam richtete ich mich wieder auf.
Wenn ich schon sterben musste, dann wenigstens mit Würde.
Ich klopfte mir den Schmutz von der Jeans und fuhr mir mit den Fingern durch die Haare.
Noch ein letztes Mal schloss ich meine Augen bevor ich dem Tod gegenüber trat.
Ich rief mir Duncans Gesicht in Erinnerung.
Je länger ich es vor meinem inneren Auge hatte, desto schöner fand ich es und desto näher kam ich den Tränen.
Plötzlich riss mich ein Knurren aus meinen Gedanken.
Ich wirbelte herum, öffnete meine Augen und starrte in die eines dunkelgrauen Wolfes.
Mein Atem raste wieder. Ich machte einen Schritt rückwärts aufs Wasser zu.
Der Wolf blieb an Ort und Stelle.
Nur langsam verstand ich was hier vor sich ging.
Ich machte einen Schritt auf das Raubtier zu und dann noch einen, bis ich nur noch einen Meter von ihm entfernt war.
Er drehte sich um und trottete in den Wald, in der entgegengesetzten Richtung aus der ich gekommen war.
Ich versuchte mit ihm mitzukommen, was mir aber nicht wirklich gelang.
Während der Wolf elegant über jegliche Art von Hindernissen hinwegsprang, landete ich mindestens zweimal mit dem Gesicht auf dem Waldboden.
Soviel also zum Thema mit Würde sterben.
Mein Magen kribbelte als mich der Wolf immer tiefer in den Wald führte. Unwillkürlich musste ich an Rotkäppchen und den bösen Wolf denken.
Ich durchquerte gerade ein Dickicht, als ein Stich in die Seite mich taumeln lies.
Der Wolf hatte wohl bemerkt, dass ich nicht mehr hinter ihm war und blieb ungeduldig stehen.
Ich konnte keinen einzigen Schritt mehr machen.
Dieser Schmerz war schlimmer, als alles was ich bis jetzt je erlebt hatte.
Nicht einmal mein gebrochenes Herz hatte mich so gequält.
Ich rang nach Luft und schnaufte.
Die Sekunden verrannen und ich versuchte weiterzugehen.
Sehr langsam schlängelte ich mich zwischen ein paar Büschen hindurch.
Nun, da ich nicht mehr so schnell unterwegs war wie vorhin noch, bekam ich es mit der Angst zu tun.
Angst, dass Duncan sich schon auf die Suche nach mir gemacht hatte oder noch schlimmer!
Dass er mir schon dicht auf den Fersen war.
Obwohl ich nicht einmal gerade stehen konnte, beschleunigte ich ein wenig.
Der Wolf mit dem, wie mir schien, gelangweilten Gesichtsausdruck schlich jetzt nur noch durchs Unterholz.
Immer mehr Zeit verging und ich hatte nur noch Duncan im Kopf.
Egal wie sehr ich auch versuchte ihn aus meinen Gedanken zu verbannen, er schlich sich immer wieder zurück.
Wie ein Gespenst das einem den Atem raubt.
Nach einem gefühlten Kilometer lichtete sich vor mir der Wald.
Entgegen meiner Vermutungen, schoss meine Herzfrequenz nicht wieder in die Höhe.
Ich zwang mich noch zwischen zwei Dornenbüschen hindurch und stand dann auf einer Wiese.
Wegen einer kleinen Anhöhe in der Mitte konnte ich den gegenüberliegenden Waldrand nicht sehen, aber ich spürte dass Ann da war.
Und ich wusste auch, dass sie mich sah – genau in diesem Moment.
Ich hätte gedacht, dass meine Knie zittern würden oder ich nicht mehr richtig stehen konnte, aber nichts von beidem war der Fall.
Es war, als würde ich einkaufen gehen, oder mit Speedy einen Spaziergang unternehmen.
Ich hätte Angst haben sollen, das wusste ich, aber ich konnte nicht.
All die Angst und Panik war einfach weg.
Ich wartete jetzt nur noch auf das Ende, das unausweichlich kommen würde.
Und dann kam sie.
Sie trat mit kleinen Schritten in ihrem blütenweißen Kleidchen auf die Lichtung – flankiert von zwei dunkelbraunen Wölfen.
Nichts lies darauf schließen, dass sie mich töten würde. Wie denn auch?
Ann war nicht als Wolf gekommen, sondern in ihrer, mehr oder weniger, menschlichen Gestalt.
Ich wusste zwar, dass sich das binnen weniger Sekunden ändern konnte, aber ich wusste auch, dass sie sich nicht verwandeln würde – noch nicht.
Ihre Augen waren weit aufgerissen. Das rot schien, hier unter den Bäumen, geradezu zu leuchten.
Ich konnte nicht anders, als sie anzustarren.
Sie sah, abgesehen von den Augen, so unschuldig aus – wie ein kleines Engelchen.
‚Todesengel‘, schoss es mir durch den Kopf.
Ann hielt und die Wölfe setzten sich zu beiden Seiten hin.
Ein paar Minuten vergingen so.
Ich war immer noch nicht in der Lage, Angst oder Furcht zu empfinden doch bewegen konnte ich mich auch nicht mehr.
Es war als wäre ich erstarrt – eingefroren.
Ann beobachtete mich.
„Du hast es also gewagt in meinen Wald zu kommen.“ Anns Stimme passte überhaupt nicht zu ihrem Körper.
Es war vielmehr die Stimme einer boshaften Frau im mittleren Alter, als die eines kleinen Mädchens.
Unwillkürlich schreckte ich zurück.
„Du bist mutig, das muss man dir schon lassen. Zu schade, dass ich dich töten werde.“ Ann schloss die Augen.
Ich musste blinzeln, denn für einen Moment schien es, als würde sie sich vor meinen Augen verändern.
Und tatsächlich stand wenige Sekunden später ein Mädchen in meinem Alter vor mir.
Jetzt erst bemerkte mein Körper in welcher Gefahr er schwebte. Seine natürliche Reaktion – ein ungewöhnlich starker Schüttelfrost.
Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen. Ann sollte meine Schwäche nicht sehen.
„So, jetzt sind wir ja ebenbürtig“, sagte sie mit einem teuflischen Grinsen im Gesicht, das mich noch mehr erzittern lies.
„Warum?“ Meine Stimme hätte stark und unerschrocken klingen sollen, aber das tat sie ganz und gar nicht.
„Weil ich euch Menschen hasse wie die Pest! Und eure ganze unnötige Technik!“ Ihr Gesicht verzog sich in eine Grimasse, die mir das Blut in den Adern gefrieren lies. „Ihr zerstört den Lebensraum meiner Spezies!“
Ich wusste nicht was ich darauf sagen sollte. Sie hatte recht und das wusste ich. Ich wusste es seit ich Duncan so gequält am Fenster stehen gesehen hatte.
Duncan…
Sein Gesicht stieg in meinen Gedanken hoch. Fast als würde er vor mir stehen.
Ich wollte meine Hand ausstrecken und seine Wange berühren, aber ich wusste, dass er nicht da war. Ich würde ihn nie wieder sehen.
Auf einmal wurde ich von einer riesigen Welle aus Wut und Zorn überschwemmt.
Es würde ihm wehtun wenn ich starb.
Dafür würde Ann büßen, auch wenn ich noch nicht wusste wie.
Und wenn es sein musste, würde ich sie als Geist heimsuchen…
Genau in diesem Moment entschied ich bis zum Schluss zu kämpfen.
Sie würde gewinnen, das war klar, aber sie würde Verluste zu beklagen haben.
Ich merkte wie ich meine Hände zu Fäusten ballte.
„Etwas angespannt, wie?“ fragte sie mit einem süßlichen Unterton in der Stimme. Mit großen Schritten kam sie auf mich zu und begann mich zu umkreisen wie ein Raubtier seine Beute. Seine hilflose Beute.
„Wo ist Tina?“ fragte ich aggressiv und musste mich zurückhalten um sie nicht auf der Stelle anzuspringen.
„Keine Sorge, sobald mich mein kleiner, pelziger Freund“, sie zeigte auf den grauen Wolf der mich hierher geführt hatte, „ informierte hatte, dass du auf dem Weg bist, habe ich sie nach Hause geschickte. Sie wird sich an nichts mehr erinnern.“ Ihre Augen blitzen, irgendetwas war hier faul.
„Schwöre es!“ fauchte ich sie an und drehte mich halb um, denn sie ging weiter ihre Kreise um mich.
„Ich schwöre“, sagte sie mit einer heuchlerischen Stimme.
„Lügnerin!“ Ich drehte mich ruckartig zu ihr um.
Überraschung war in ihren todbringenden Augen zu sehen. Sie hatte wohl eher damit gerechnet, dass ich zittern und kein Wort sagen würde, aber sie hatte sich geirrt.
Lange währte dieses Erstaunen aber nicht, dann fingen ihre Augen bedrohlich an zu funkeln.
„Du wagst es, mich eine Lügnerin zu nennen?“ Selbst wenn sie sich zur vollen Größe aufrichtete, überragte ich sie noch um ein ganzes Stück – was nicht verhindern konnte, dass ich zusammenzuckte.
„Wenn du Tina etwas tust dann…“
„Du willst mir drohen? Ist ja niedlich.“ Ihr Gesicht verzog sich zu einer breiten, bösartigen Grimasse. „Hast du überhaupt bemerkt in welcher…Situation du gerade steckst?“
Sie hatte recht – und wie! Ich konnte hier gar nichts tun, außer auf meinen Tot zu warten.
Ich biss die Zähne zusammen und starrte sie trotzig an. „Monster!“ fauchte ich.
Um Ann fing es an zu flackern. Erst dachte ich, ich hätte mich getäuscht, doch dann wurden die schwarzen Flecken langsam zu einer Art Schatten der sie wie ein Schutzschild zu umgeben schien.
„Okay, ich denke wir haben genug geredet.“ Anns Grinsen wurde noch breiter – und gefährlicher.
„Warum tust du das?“ Ich bemerkte wie die Angst zurückkehrte und versuchte sie so gut es ging zu verstecken.
„Ich brauche diese verdammte Feder! Bedank dich bei meinem Vater! Hätte er sie mir gleich überlassen, hätten wir uns niemals getroffen, aber so hat er dein Schicksal besiegelt – sorry.“
‚Dann hätte ich auch Duncan nie getroffen‘, schoss es mir durch den Kopf. Ich wusste, dass ich es nicht anders gewollt hätte.
Lieber ein kurzes, glückliches Leben als ein langes ohne ihn je gekannt zu haben.
Alle Muskeln in meinem Körper spannten sich an, als der Rest des riesigen Rudels zwischen den Bäumen hervortrat.
Es waren inzwischen mehr als dreimal so viele wie bei unserer ersten Begegnung, aber das fiel mir erst jetzt ein.
Sie stellten sich am Waldrand auf – um mich herum. Wie eine Schlinge.
Auch wenn ich weglaufen wollte, hätte ich jetzt keine Chance mehr gehabt.
„Bringen wir’s hinter uns.“ Meine Stimme war schwach und leise.
Ich schloss die Augen.
Ich konnte jetzt nichts mehr sehen, aber hören konnte ich immer noch.
Das Knurren der Wölfe die mich in meine Einzelteile zerlegen wollten.
Anns viel zu schnelle Atmung.
Das Rascheln des Windes in den Baumkronen und das Knacken der Äste und Zweige.
Ich atmete langsam und genoss jeden Zug.
Mein Herz beschleunigte, wenn auch langsam.
Ich spürte wie es das Blut durch meine Adern pumpte – wer wusste wie lange noch.
Sekunden verronnen.
Ich wartete.
Nichts veränderte sich, nur das Pfeifen des Windes schien zuzunehmen.
Ich traute mich nicht meine Augen zu öffnen.
Vielleicht setzte Ann gerade zum entscheidenden Sprung an.
Doch dann erklang ein tiefes Donnern.
Ein Stromschlag durchfuhr mich und ich riss die Augen auf.
Es schien, als hätte sich die Lichtung verdunkelt.
Meine Augen wanderten über die Reihen der Wölfe.
Sie waren alle angespannt und blickten auf etwas hinter mir.
Ich drehte mich um.
Dann wieder Donner.
Und ich erstarrte mitten in der Bewegung.
Ein unerwartetes Opfer
Von einer Sekunde auf die andere schlug mir eiskalter Wind in wilden Böen ins Gesicht.
Meine Augen brannten und ich musste mich extrem anstrengen um irgendetwas sehen zu können.
Der Himmel hatte sich sichtbar verdunkelt.
Schwere, schwarze Wolken spannten sich über mir auf.
Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln bis die ersten Regentropfen herab prasseln würden.
Gelegentlich erschienen Lichtflecken auf der Wolkendecke – Blitze, die tief im Inneren der Wolken eingeschlossen waren – gefolgt von dumpfem Donner.
Doch dieser Donner war anders. Tiefer und um einiges bedrohlicher ertönte er hinter mir.
Ich brauchte einige Sekunden bis ich endlich wieder klar sehen konnte, doch als ich wieder sah, wünschte ich mir ich wäre blind.
Pures Entsetzen durchflutete mich. Mein Körper erstarrte zu einer unbeweglichen Statue.
Einzige meine Augen bewegten sich immer noch hektisch über das Geschehen.
Die Spannung war förmlich in der Luft spürbar – wie ein elektrisches Flirren.
Der Wind wehte immer heftiger.
Durch das Rudel ging ein Knurren – ängstlich und trotzdem tödlich.
Ich wusste was diese Reaktion auslöste, bevor ich es sah – bevor ich ihn sah.
Duncan stand auf einem riesigen Felsbrocken am östlichen Ende der Lichtung.
Ich hatte den Fels zuvor nicht einmal bemerkt, doch jetzt erschien er wie das Zentrum des Sturms.
Der Wind wehte Duncans Fell in alle Richtungen, was ihn noch größer wirken lies.
Etwas Bedrohliches ging von ihm aus.
Selbst ich, die nichts von ihm zu befürchten hatte, hatte in diesem Moment richtige Angst vor ihm.
Er fletschte seine Zähne. Fingerlange, weiße Fangzähne.
Ich bemerkte erst jetzt, wie riesig sie überhaupt waren.
Seine Nackenhaare waren gesträubt und er stand in einer geduckten Haltung auf dem schroffen Stein.
Ein Blitz zuckte über ihm auf. Ich taumelte vor Schreck einen Schritt zurück und fiel über einen kleinen Ast.
Mit offenem Mund starrte ich zu Duncan hinauf.
Kurz trafen sich unsere Blicke.
Seine Augen waren erfüllt mit Wut und Sorge.
Ich hatte sofort das Gefühl ihn verraten zu haben.
Ich senkte den Blick. Ich konnte ihn nicht mehr ansehen.
Genau das wollte ich verhindern: dass er für mich in den Kampf zog.
Er würde sich verletzen, wenn nicht noch schlimmeres.
Ich drehte mich zu Ann um.
Auch sie war wie erstarrt.
Ihre Gesichtszüge verrieten nichts davon, was in ihr vorging und genau das war das furchtbare.
Ich wandte mich wieder Duncan zu.
Er stieß sich kräftig ab und landete dann ein paar Meter von mir entfernt auf dem Boden.
Die Erschütterung konnte ich bis zu mir spüren.
Immer noch in seiner Angriffshaltung näherte er sich mir, ohne mich jedoch anzusehen.
Ein weiterer Blitz lies mich aufschrecken.
Ich sprang auf und drehte mich Ann zu.
Ihre Gestalt schien zu erglühen – in schwarzem Feuer!
Das Glimmen wurde immer stärker und irgendwann konnte man von ihrer eigentlichen Form nichts mehr erahnen.
Mit einem schwarzen Blitz verwandelte sie sich, genau in dem Moment, in dem ein weiterer Donnerschlag die Luft erbeben lies.
Meine Atmung beschleunigte.
Ich stand zwischen Ann und Duncan und wusste nicht was ich tun sollte.
So absurd es auch klang, ich wollte Duncan nicht in ihrer Nähe wissen. Ich wollte mich zwischen ihn und seine wahnsinnige Schwester stellen und ihn beschützen.
Und ich wusste, dass das nicht möglich war.
Zitternd starrte ich in Anns rote Augen.
Reiner Hasse spiegelte sich in ihrem Blick, der immer wieder zwischen mir und Duncan hin und her huschte.
Duncan stand nun neben mir.
Rund um uns ertönte das gefährliche Knurren des Rudels, der Donner des Gewitters und das Heulen des eiskalten Windes.
Ich warf einen flüchtigen Blick über meine Schulter.
Einige Wölfe näherten sich von hinten. Einer von ihnen setzte zum Sprung an.
Ich wirbelte herum und stieß dabei Duncan mit dem Ellbogen an.
Blitzartig drehte auch er sich um und erwischte den kleinen, grauen Wolf mit seiner riesigen Pfote.
Das Tier wurde gegen den Felsen geschleudert und blieb dort reglos liegen.
Duncan wandte sich nun den beiden anderen zu und lies ein kehliges Knurren hören.
Auch der braune und dunkelgraue Wolf wichen nun zurück und gesellten sich zu ihrem Rudel.
Eine Gänsehaut lief mir über den Rücken.
So hatte ich Duncan noch nie gesehen. Nicht einmal als Sandra angegriffen wurde hatte er so verbissen durchgegriffen wie jetzt.
Einen Sekundenbruchteil später drehte sich Duncan wieder zu Ann um und entblößte sein tödliches Gebiss.
Anns Nackenhaar sträubte sich.
Mit einem kurzen Blick zu ihrer Rechten, signalisierte sie ihrem Rudel, dass sie den Kreis enger ziehen sollten.
Sofort trat jeder einzelne Wolf einen guten Meter auf mich und Duncan zu.
Ich drückte mich mit dem Rücken gegen seine Schulter.
Ich wusste, dass dieses Verhalten feige war, doch ich konnte es nicht unterdrücken.
Ich hatte die Kontrolle über mich verloren.
Am ganzen Körper zitternd presste ich mich noch fester gegen Duncan und versuchte das Geschehen im Blick zu behalten.
Auch Ann näherte sich uns jetzt, wenn auch viel vorsichtiger.
Sie wusste sehr wohl, dass Duncan immer noch geschwächt war, aber trotzdem wollte sie kein Risiko eingehen.
Ich spürte wie sich Duncans Muskeln anspannten.
Entsetzte starrte ich ihn an.
Je näher Ann uns kam, desto mehr richtete er sich auf.
Nur noch zwei Meter trennten die beiden riesigen Wölfe mehr voneinander.
Ich konnte kaum noch gerade stehen, so sehr zitterte ich.
Duncan trat einen Schritt auf Ann zu, sie erstarrte.
Es war genau der Moment, in dem ich mich an das Versprechen erinnerte, das ich mir selbst gegeben hatte.
Ich würde jetzt nicht aufgeben, egal wie schlecht die Chancen auch standen hier wieder lebendig raus zu kommen.
Ich merkte wie sich meine Hände zu Fäusten ballten. Mein Körper spannte sich an. Ich war bereit.
Aus Duncans Richtung ertönte ein Knurren, aber es war nur leise und dumpf – als würde irgendjemand gerade den Ton leiser machen.
Irgendwann nahm ich die Geräusche nur noch sehr leise wahr.
Die Zeit schien langsamer zu vergehen.
Wie in Zeitlupe drehte ich mich Ann zu.
Sie starrte mich an.
Ich konnte förmlich fühlen wie sehr sie sich beherrschen musste um sich nicht sofort auf mich zu stürzen.
Vermutlich hielt sie nur Duncans Anwesenheit davon ab mich in Stücke zu reißen.
Immer noch stark verlangsamt, wehte mir der Wind meine Haare in die Augen und nahm mir die Sicht.
Ich konnte Ann nur noch hassen – für alles was sie angerichtet hatte.
Eine Sekunde verging.
Dann ohne Vorwarnung, preschte Ann los und stürzte sich auf Duncan.
Kurz bevor sie ihn erreichte, stieß mich Duncan zu Seite.
Ich flog in hohem Bogen über die Wiese und kam am Waldrand, in der Nähe von zwei dunkelbraunen Wölfen zum liegen.
Ich hatte nicht einmal Zeit, wieder aufzustehen, denn die beiden Tiere warfen sich auf mich.
Ich war hart mit meiner Schulter auf dem Boden aufgeschlagen und konnte so meinen rechten Arm nicht bewegen, trotzdem trat und schlug ich wild um mich.
Tatsächlich gelang es mir, den Größeren in die Knie zu zwingen.
Er taumelte und fiel dann ein paar Meter von mir entfernt ins Gras.
Der andere jedoch, versuchte unbeirrt weiter mir das Fleisch von den Knochen zu reißen.
Gegen ihn hatte ich keine Chance.
Er biss mir in den Unterarm und zerrte daran bis ein lautes Knacken zu hören war.
Auf der anderen Seite der Lichtung, konnte ich Duncan mit Ann kämpfen sehen.
Das Kräfteverhältnis schien ausgeglichen zu sein. Zuerst war Ann oben auf, doch im nächsten Moment riss Duncan ihr große Büschel ihres rabenschwarzen Fells aus.
Ich konnte nicht lange sehen wie sie miteinander kämpften, denn nur eine Sekunde später fiel das restliche Rudel über mich her.
Wie schon beim letzten Angriff auf mich, hatte ich auch diesmal nicht die geringste Chance mich zu wehren.
Von allen Seiten zogen und zerrten sie an mir.
Wundersamer Weise, schaffte ich es noch drei weitere Wölfe kampfunfähig zu machen, bevor mich der Rest des Rudels gegen den Boden drückte.
Ich wartete nur noch auf den einen, tödlichen Biss, doch er kam nicht.
Es schien so, als wollten sie mich nicht töten, sondern nur festhalten.
Ich versuchte mit aller Kraft mich loszureißen, aber es half nichts.
Jeweils ein Tier hielt meinen rechten und linken Unterarm fest, ein paar andere verbissen sich in meine Beine und Kleidung.
Am liebsten hätte ich geschrien, jedes Mal wenn sie ihren Griff fester um mich schlossen, aber so wollte ich nicht enden.
Ich wollte nicht schwach sein.
Die Zeit schien wieder normal weiterzulaufen, als wäre all das niemals passiert.
Der Wind hatte etwas nachgelassen, doch die schwarzen Wolken über mir öffneten nun ihre Schleusen und ließen große Tropfen herab prasseln.
Von meinem Platz aus, konnte ich nun nicht mehr sehen wie es Duncan ging, doch ich hatte ein schlechtes Gefühl.
Es war viel zu ruhig. Kein Knurren mehr.
Mehr und mehr Angst stieg in mir hoch.
Was, wenn ihm etwas zugestoßen wäre? Oder noch schlimmer?
Es wäre meine Schuld! Ich könnte mir das nie verzeihen.
Endlich trat der sandbraune Wolf, der mir die Sicht versperrt hatte, aus meinem Blickfeld.
Entsetzt schrie ich auf.
Der weiße Wolf lag reglos neben dem Felsen.
Große Wunden an seiner Schulter und Flanke, aus denen Blut tropfte, ließen mir einen Schauer über den Rücken laufen.
Plötzlich waren meine Schmerzen nebensächlich.
Es war mir egal, ob ich gerade in der Gewalt eines riesigen Wolfrudels war und eigentlich nur auf den Tod warten musste.
Ich versuchte mich immer noch loszureißen, aber chancenlos.
Ann trat aus dem Schatten eines alten Baumes hervor.
Auch sie war arg gezeichnet.
Ihr linkes Ohr schien nur noch an ein paar Fasern zu hängen und sie hinkte.
Langsam kam sie auf mich zu.
Ich konnte keine Angst mehr verspüren.
Ohne Duncan war mein Leben sowieso sinnlos.
Hass durchflutete mich.
Ich musste mir größte Mühe geben, Ann nicht in ihr tierisches Gesicht zu spucken.
Sie stand jetzt nur noch einen Schritt von mir entfernt.
Das Rudel wich vor mir zurück.
An ihrer Stelle fixierte mich nun Ann selbst am Boden indem sie ihre riesigen Vorderpfoten auf meine Schultern stellte.
Ein erbärmliches Knacken war zu hören, als ihr Gewicht auf meinen geschundenen Knochen drückte.
Ich biss mir auf die Lippe, um nicht loszuschreien.
Überall am Körper spürte ich Verletzungen.
Ich wollte lieber nicht wissen, wie schlimm es mich erwischt hatte.
Anns Schnauze näherte sich meiner Kehle.
Ich versuchte, mich unter ihr hindurch zu winden, was wegen meiner Schulter nicht wirklich gelang.
Ich spürte Anns Atem auf meiner Haut und musste unwillkürlich zittern.
Ihre langen Zähne näherten sich mir immer weiter. Ich drehte meinen Kopf zur Seite um etwas Platz zu gewinnen.
Anns Kiefer spannte sich an, dann öffnete sie ihr Maul und legte ihre langen Fangzähne um meinen Hals.
Ich war immer noch nicht in der Lage Angst zu haben.
Nicht einmal jetzt, so kurz vor meinem Tod, hatte ich Angst zu sterben.
Wahrscheinlich drehte ich gerade durch.
Ich schloss meine Augen.
Tina war in Sicherheit.
Sandra war tot.
Duncan war schwer verletzt oder noch schlimmer.
Ich war schuld daran, dass zwei geliebte Menschen getötet oder schwerstens verletzt worden waren.
Ann verstärkte den Druck um meinen Hals merklich – sie wurde ungeduldig.
Sie wollte es hinter sich bringen und die Feder an sich reißen.
Ich merkte wie sich mein Körper entspannte – total verrückt.
Jeder halbwegs normale Mensch würde um sein Leben kämpfen.
Ich hatte gekämpft – und verloren.
Ich hatte alles verloren.
Mein Leben, meine Freiheit, meine Liebe.
Es war an der Zeit zu gehen.
Anns Augen waren geschlossen.
Sie schien es zu genießen Macht über mich zu haben. Sollte sie ihren Spaß haben, irgendwann würde sie bekommen was sie verdiente.
Ich biss die Zähne zusammen und wartete während die Luft knapp wurde.
Ein schwaches Jaulen ertönte – wahrscheinlich einer der kleinen Wölfe die ich erwischt hatte.
Es kümmerte mich nicht.
Ein letztes Mal schloss ich die Augen.
Ich würde sie niemals wieder öffnen, das war mir klar.
Und was würde jetzt mit Duncan geschehen?
Falls er, was ich sehr hoffte, überlebt hatte, würde sich Ann als nächstes ihm widmen.
Wut durchströmte mich.
In meinem Kopf bildeten sich unzählige Bilder und jedes zeigte das gleiche – Duncan in seinem eigenen Blut liegend.
‚Wie in meinem Traum‘, schoss es mir durch den Kopf.
Unterbewusst hatte ich wohl schon immer gewusst, dass es so enden würde.
Ich hatte geahnt, dass Ann ein übermächtiger Gegner war.
Warum hatte ich nicht gleich aufgegeben? Dann hätte ich Duncan einiges an Schmerzen erspart – und Sandra wäre noch am Leben.
Ich merkte, wie meine Lungen nach mehr Luft verlangten, aber Anns Kiefer sperrte die Zufuhr völlig ab.
Gegen meinen Willen fing ich an hektisch ein und aus zu atmen.
Schwarze Flecken bildeten sich am Rand meines Sichtfeldes, vergrößerten sich und tanzten wie ein Schwarm Mücken vor meinen Augen.
Keine Sekunde später fing mein Kopf, wegen des Sauerstoffmangels, wie wild an zu pochen, so dass ich Angst hatte, dass er explodieren würde.
Ich versuchte mit meinen Händen nach meinem Hals zu greifen, aber die schweren Pfoten machten das unmöglich.
Ich fühlte mich immer schwächer und müder.
Mein Arme sanken schlaf neben mir zu Boden.
Mein Herz pumpte kraftlos weiter.
Mit jedem Schlag strömte mehr Energie aus meinem Körper.
Schwere dehnte sich in meinem Kopf aus.
Eine Sekunde verging.
Dann noch eine.
Plötzlich war der Druck weg.
Ich schnappte nach Luft und hustete.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich Richtung Himmel.
Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass es immer noch regnete.
Meine Kleidung klebte, mit Schmutz vermischt, an mir wie eine zweite Haut.
Aus meinen Haaren ran mir das Wasser ins Gesicht.
Ich keuchte und versuchte so viel Luft wie möglich auf einmal einzusaugen.
Alle Muskeln in meinem Körper verkrampften sich, so dass mein Körper sich unnatürlich krümmte.
Ich lag in einer riesigen Schlammpfütze. Das schmutzige Wasser mischte sich mit meinem Blut.
Ann stand mit dem Rücken zu mir und schaute auf etwas, dass ich nicht sehen konnte.
Ich richtete mich so gut es ging auf und krabbelte ein Stückchen die Anhöhe hinauf, um wenigstens aus dem Wasser raus zu kommen.
Von diesem Platz aus konnte ich auch sehen, was Ann abgelenkt hatte.
Duncan stand auf zittrigen Beinen am Waldrand und hatte größte Mühe sich aufrecht zu halten.
Ich kroch weiter durch das hohe Gras bis ich ungefähr auf halber Strecke zwischen Duncan und Ann liegen blieb.
Duncans Körper bebte.
Sein sonst schneeweißes Fell war mit Schmutz und seinem eigenen Blut verklebt.
Ich stieß erschrocken Luft aus als ich die klaffende Wunde an seinem Hals sah.
Ich setzte mich schwerfällig auf und versuchte auf die Beine zu kommen – ohne Erfolg.
Meine Knie gaben immer wieder nach. Ich fühlte mich wie Bambi auf dem Eis.
Nach ein paar Versuchen gab ich auf, weil mir einfach die Kraft fehlte es noch einmal zu probieren.
Nach Luft ringend stemmte ich die Arme gegen die Oberschenkel und ließ den Kopf kurz nach unten hängen.
Nicht einmal eine Sekunde später riss ich ihn wieder nach oben und starrte Ann an.
Ihr Blick wanderte nun wieder zwischen mir und Duncan hin und her.
Durch den vielen Regen war auch ihr Fell klatschnass und dreckig.
Ihre Augen drehten sich noch einmal zu Duncan und blieben dann an mir hängen.
Sie zeigte ihre Zähne, duckte sich und spannte ihre Muskeln an.
Ich erstarrte.
Sie setzte zum Sprung an und schoss wie eine Gewehrkugel auf mich zu.
Ich sah nur ihre Zähne immer näher kommen und war nicht in der Lage mich zu rühren.
Plötzlich war Ann weg – verdeckt von einem weißen Fleck der blitzschnell herbeiflog und ebenso schnell auch wieder außer Sicht war.
Aber nicht lange, denn Duncan setzte zu einem zweiten Angriff an und fasste Ann im Nacken.
Ihr Knurren war erschütternd.
Duncan hingegen schien zu wissen was er tat.
Er hielt sie fest und drückte sie zu Boden.
Einen Moment sah es so aus, als könnte er es schaffen.
Tatsächlich fingen ihre Knochen an zu knacken. Sie erstarrte und alles Leben wich aus ihren Augen.
Duncan stolperte rückwärts von ihr Weg und humpelte in meine Richtung.
Einen halben Meter vor mir brach er zusammen.
Ich arbeitete mich zu ihm durch und hob seinen gewaltigen Kopf mit meinen Händen an.
Seine Augen waren trüb, müde und halb geschlossen.
Mit zitternden Fingern fuhr ich seine Schnauze entlang.
Ihn hatte es schlimmer erwischt als mich, das war klar.
Die Frage war nur, wie schlimm.
Ich sollte nicht lange auf eine Antwort warten müssen.
Duncan schloss die Augen. Dort wo meine Hände ihn berührten erschien ein hellblaues Glühen.
Ich wusste sofort, was geschah – er heilte mich.
Ich drehte seinen Kopf leicht zu Seite und wollte ihn loslassen aber ich hatte keine Chance.
Nach einer guten Minute wurde das Leuchten dunkler und gleichzeitig wärmer.
Ich hatte keine Ahnung was er tat.
Nur eine Sekunde später hatte ich eine buchstäbliche Erleuchtung.
Er übertrug mir seine Magie.
Ich wollte nur noch weg. Irgendwohin, nur nicht hier sein.
Das Licht nahm jetzt eine meerblaue Farbe an. Es schien durch meine Hand direkt in meinen Körper zu wandern.
Und ich spürte, dass sich etwas änderte.
War ich bis vor ein paar Sekunden noch erschöpft und müde, kehrte jetzt in rasantem Tempo die Lebenskraft in mich zurück.
Unablässig prasselte der Regen auf uns nieder.
Meine Augen füllten sich langsam aber unaufhaltsam mit Tränen.
Ich würde Duncan verlieren, dass wusste ich.
Mein gebrochenes Herz drohte nun endgültig zu zerbersten.
Ich spürte wie es feine Risse bekam, die sich immer mehr vergrößerten, bis sie endgültig aufbrachen.
Nach fünf Minuten lies das dunkelblaue Licht nach, wurde heller und verblasste sich bis es ganz verschwand.
Der weiße Wolf rührte sich nicht mehr.
Panisch wog ich seinen Kopf in meinen Händen – keine Reaktion.
Ich tastete an seinem Hals nach einem Puls. Wahrscheinlich suchte ich sowieso an der völlig falschen Stelle, trotzdem brach ich in Tränen aus als ich nichts spürte.
Ich drückte Duncans leblosen Körper an mich.
Nur langsam realisierte ich, dass er mich nie wieder anlächeln würde, mich nie wieder küssen würde.
Am liebsten hätte ich mich selbst geschlagen.
Es war alles meine Schuld!
ICH hätte sterben müssen, nicht ER!
Und jetzt war alles anders gekommen.
Ich hatte mich damit abgefunden diese Welt zu verlassen, um Duncan von Ann fernzuhalten.
Ich hatte mich auch damit abgefunden allein zu sterben und niemanden mit hinein zu ziehen.
Jetzt war Duncan tot – statt mir.
Ich warf einen Blick über meine Schulter.
Anns Brustkorp hob und senkte sich leicht – sie lebte noch.
Wut stieg in mir auf. Ich hasste sie, für das, was sie gemacht hatte.
Sie hatte mir zwei meiner liebsten Menschen auf diesem Planten genommen, dafür sollte sie bezahlen.
Ich schaute mich um.
Am Waldrand, in meiner Nähe, lag ein großer, dicker Ast. Er sah ziemlich robust aus.
Rache.
Ich wollte mich nur noch rächen.
Ann schien geschwächt. Ich richtete mich wacklig auf und stolperte zu dem Stück Holz.
Mir fiel auf, dass das Rudel verschwunden war. Wahrscheinlich hatten sie gefühlt, dass das Leben ihres Leittiers zu Ende ging. Und zwar genau jetzt!
Zitternd legte ich meine blutenden, schmutzigen Hände um die raue Rinde.
Mit aller Kraft hob ich den, wie es sich herausstellte, kleinen Baumstamm hoch und schleppte ihn hinter mir her auf die Lichtung.
Ann lag auf der Seite, ihre Augen waren geschlossen.
Ich hob den Stamm hoch und holte aus.
„Mars, tu das nicht!“ Eine kräftige Stimme hinter mir ließ mich erstarren.
Langsam lies ich das Holz sinken und drehte mich um.
Duncan lag immer noch dort, wo ich ihn zurückgelassen hatte.
Traurig betrachtete ich ihn.
Er hätte das nicht gewollt, das wusste ich.
Trotzdem drehte ich mich wieder um und holte erneut zum Schlag aus.
„Marissa! Das macht mich nicht wieder lebendig.“
Erschrocken fuhr ich herum.
Die Lichtung war bis auf mich, Ann und Duncans Körper völlig leer und trotzdem hörte ich Duncans Stimme.
Ich ließ den Stamm fallen und eilte zu ihm zurück.
Er war tot – eindeutig und unwiderruflich.
Nichts an ihm bewegte sich, bis auf sein Fell das vom Wind hin und her gewogen wurde.
Der Regen hatte nachgelassen, doch die Wolken überzogen immer noch den Himmel.
Ich kniff die Augen zusammen, denn das Dämmerlicht unter der Wolkendecke machte mir die Sicht immer schwerer.
Egal wie sehr ich mich auch bemühte, Duncan blieb regungslos.
Ich ließ den Kopf hängen und streichelte mit einer Hand über seinen Kopf.
Ich würde ihn vermissen.
Sofort kehrte dieses Rachegefühl in mich zurück.
Wie ferngesteuert drehte ich meinen Kopf zu Ann.
Vollkommen hilflos lag sie da – ein leichtes Opfer.
Wie ein Zombie stand ich auf und ging zu ihr zurück.
Ich wollte das jetzt endlich zu Ende bringen.
Erneut ergriff ich das Holzstück und hob es.
„Marissa! Hör jetzt sofort auf damit!“ Die Stimme war jetzt nicht mehr ruhig, so wie vorhin, sondern streng und befehlend.
Wieder drehte ich mich zu Duncan um – es war seine Stimme, da war ich mir ganz sicher.
Mein Kiefer klappte nach unten und ich riss ungläubig meine Augen auf.
Egal was ich bis jetzt erlebt hatte, das übertraf alles noch bei weitem…
Kriegserklärung
Der Stamm fiel mir aus der Hand und landete mit einem dumpfen Aufschlag auf dem niedergetrampelten Gras.
Ich konnte einfach nicht anders als staunend da zustehen.
Ein goldenes Leuchten, dort wo gerade noch der weiße Wolf gelegen hatte, blendete mich und zog mich gleichzeitig wie magnetisch an.
Langsam stolperte ich auf es zu und streckte eine Hand danach aus.
Es fühlte sich warm an – vertraut.
Je länger ich es ansah, desto mehr gewöhnten sich meine Augen an das Licht.
Erschrocken machte ich einen ungeschickten Satz zurück und landete auf meinem Hintern.
„Steh schon auf.“ Die Stimme gehört zu dem Licht.
Das hätte mich aber noch lange nicht so sehr erschrocken, wie die Tatsache, dass Duncan im Inneren dieses Lichtes war.
„Duncan?“ flüsterte ich und stand schnell wieder auf.
Er schenkte mir ein Lächeln.
Ich griff wieder nach ihm, doch er wich zurück.
„Ich muss jetzt gehen, Mars.“ Sein Blick wurde traurig.
Ich schüttelte den Kopf und griff wieder nach ihm. Er war nicht mehr aus Fleisch und Blut, soviel stand fest, denn dort wo meine Hand eigentlich seinen Oberarm berühren hätte müssen, fasste sie in einen kühlen Nebel.
Verblüfft und gleichzeitig geschockt zog ich sie zurück.
Die Haut kribbelte und bei genauerer Betrachtung sah es so aus, als wäre sie von einem Goldstaub überzogen.
„Das hättest du nicht tun sollen.“ Duncans Stimme war so klar und ruhig wie immer, nur schien sie jetzt nachzuklingen wie ein Echo.
„Was passiert jetzt mit dir?“ fragte ich verzweifelt.
„Ich weiß es nicht, aber ich muss bald gehen. Mars, vergiss mich nicht.“
Tränen rollten wie von selbst über meine Wangen. „Das könnte ich nicht.“
Duncan lächelte. „Es wird Zeit.“
„Nein! Warte!“
Er hatte sich bereits umgedreht und drohte zwischen den Bäumen zu verschwinden. „Ich muss.“
„Nein! Gibt es keine Möglichkeit, dich zurückzuholen?“ Verzweifelt schaute ich ihn an. Meine Knie würden mich nicht mehr sehr viel länger tragen.
Duncan versteckte seine Trauer hinter einer Maske aus Belustigung. „Gibt es eine Möglichkeit dem Tot zu entkommen?“ fragte er und legte den Kopf schief.
„Ich… es hat noch niemand versucht!“ Ich wollte vor allem mich selbst überzeugen, dass es einen Weg gab.
Duncan schüttelte nur langsam den Kopf.
Dann ging er ein paar Schritte auf den Wald zu und hielt noch einmal an.
Mit einem letzten Blick auf mich, begann er sich aufzulösen.
Zuerst zerbarsten seine Beine in tausende von goldenen Kristallen, die sich in der Luft verteilten und irgendwann verblassten.
Zuletzt blieb nur noch sein Gesicht und mit trauriger Miene löste auch es sich auf und schwebte in Form von Goldfunken in der Luft um mich.
Ich kam mir vor wie in einem Traum. Einem furchtbaren Albtraum.
Weinend brach ich zusammen und fiel auf die Knie.
Duncan hatte mir meinen körperlichen Schmerz genommen, aber es war, als hätte mir jemand mein Herz herausgerissen.
Die Minuten verronnen und ich konnte immer noch nicht aufstehen, wohl wissend, dass Ann nur ein paar Meter hinter mir im Gras lag und jeden Moment wieder zu sich kommen würde.
Trotzdem blieb ich sitzen und verbarg mein Gesicht in meinen Händen.
Duncan war weg, einfach so.
Er war der erste, den ich jemals geliebt hatte und würde vielleicht auch der letzte sein, denn das Loch, dort wo mein Herz gewesen war, vergrößerte sich allmählich und schien all meine Liebe in sich aufzusaugen.
Mir wurde kalt, dann wieder heiß.
Ein Beben ging durch meinen Körper, aber ich wollte es nicht aufhalten – es war mir sowieso egal.
Meine Gefühle schienen langsam aber sicher zu verschwinden, als hätte es sie nie gegeben.
Egal ob Liebe, Hass oder Angst, es war alles wie ausradiert.
Mehrere Stunden mussten vergangen sein, denn als ich mich endlich umblickte, hatten sich die Wolken fast vollständig verzogen und die Sonne tauchte die Baumspitzen in ein abendliches Gold.
Auch das war mir egal.
Gleichgültigkeit breitete sich wie ein Schleier über mir aus.
Wahrscheinlich war es auch besser so, als ewig zu trauern.
Jetzt würde ich nie wieder verletzt sein müssen – weil ich nichts mehr fühlte.
Keine Schmerzen und keine Qualen.
Etwas Metallisches an meinem Finger weckte schließlich meine Aufmerksamkeit.
Und die Gleichgültigkeit, die mich noch bis vor einer Sekunde umhüllt hatte, verschwand auf einen Schlag.
Duncans Ring glitzerte in den letzten Strahlen der Sonne und brach das Licht in die schönsten Farben.
Ich drehte meine Hand und starrte das Schmuckstück an.
Der Ring war wunderschön, genau wie er war, als Duncan ihn mir heute Vormittag geschenkt hatte. Jetzt überlagerte aber ein grauer Schleier seinen Glanz.
Ich versuchte ihn wegzuwischen, aber vergebens.
Selbst der Ring schien zu trauern.
Langsam stand ich auf und drehte mich Richtung Norden, wo ich mein Zuhause vermutete.
Nur nebenbei registrierte ich, dass Ann nicht mehr da war.
Sie war einfach verschwunden, fast als hätte ich alles geträumt.
Nur der Bronzering an meinem Finger erinnerte mich daran, dass Duncan einmal da war, es aber nie wieder sein würde.
Mit müden Schritten stapfte ich durch den Wald.
Tatsächlich fühlte ich mich leer und unvollständig, als würde mir ein wichtiger Teil fehlen.
Und ich wusste ganz genau, was mir fehlte: mein Herz, das Duncan mit sich genommen hatte.
Stundenlang war ich in eine Richtung gelaufen und wusste nicht einmal, ob es überhaupt die richtige war.
Selbst als die Dunkelheit einbrach, ging ich weiter.
Vor Ann hatte ich jetzt keine Angst mehr, auch nicht vor ihrem Rudel.
Mir war zu viel Schlimmes widerfahren, in zu kurzer Zeit.
Nur schleichend kehrte die Gleichgültigkeit zurück. Ich war überaus dankbar dafür, denn bis zu diesem Zeitpunkt wollten meine Tränen einfach nicht verebben.
Also war ich weitergegangen und anscheinend sogar in die richtige Richtung.
Nach wer weiß wie vielen Kilometern kam der See, als schwarzer glitzernder Fleck, in Sicht.
Ich konnte keine Erleichterung verspüren.
Es war mir sogar egal, dass ich so weit gekommen war.
Ich kannte den Weg um den See auswendig – selbst im Dunkeln. So war es für mich auch kein Problem die Abzweigung zur Blockhütte zu finden.
Nach einer weiteren Stunde Fußmarsch tauchte die Hütte auf.
Es brannte kein Licht, ich glaubte Tina würde schon schlafen.
So leise wie möglich nahm ich den Schlüssel vom Fensterbrett neben der Tür und wollte aufschließen. Zu meiner Verwunderung war nicht abgeschlossen.
Misstrauisch schob ich mich in den Vorraum und knipste das Licht an.
Alles war beim Alten – wenigstens hier.
Ich ging in die Küche und warf unterwegs einen Blick ins Wohnzimmer, doch weder dort noch am Küchentisch war Tina zu finden.
Ich schlich die Treppe hinauf und drückte die Klinke zu ihrem Schlafzimmer so leise wie möglich hinunter.
Ich hörte nichts, aber Tina war auch nicht dafür bekannt, dass sie schnarchte.
Mit zitternden Fingern schaltete ich auch hier das Licht ein und musste enttäuscht feststellen, dass das Zimmer leer war.
Das Bett war nicht einmal angerührt worden.
Ich sah urplötzlich rot, als hätte jemand die Glühbirne gegen eine mit roter Tönung ausgetauscht.
Mir wurde heiß, ich konnte nicht mehr klar denken und bekam schwer Luft.
Ann hatte mich angelogen, diese verdammte Schlange!
Wie von selbst ballte ich meine Hände zu Fäusten und versuchte das Zittern, das wie Wellen durch meine Gliedmaßen ging, zu unterdrücken.
Nachdem mir das halbwegs gelungen war musste ich mich vor Erschöpfung an der Kommode abstützen.
Ann würde bezahlen. Diesmal konnte Duncan mich nicht mehr besänftigen.
Meine Beine gaben nach und ich rutschte zu Boden.
Immer noch ein wenig zitternd versuchte ich mich zu beruhigen.
Vielleicht war Tina bei ihrem Freund? Nein, war sie nicht!
Ann hatte gesagt, sie habe sie nach Hause geschickt.
Verdammte Lügnerin. Was hatte ich mir nur dabei gedacht ihr zu glauben?
Ich hatte größte Mühe nicht mit den Fäusten auf den Boden zu trommeln.
Sie hatte es nicht anders gewollt.
Sie wollte also unbedingt zerstören, was ich liebte.
Gut, das sollte sie noch einmal versuchen.
Ich würde sie töten.
Ich wusste, dass sie ein Gegner war, mit dem nicht zu spaßen war, aber sie forderte ihr Glück ja förmlich heraus.
Egal wie sehr mich Duncan davon abhalten wollte sie zu töten, es würde ihr nicht helfen.
Wenn es sein musste, würde ich sie bis ans Ende der Welt verfolgen, wenn nicht noch weiter.
Und ich würde sie für ihn töten, auch wenn es ihn mir nicht zurückbringen würde.
Von diesem Zeitpunkt an herrschte Krieg.
Ein Krieg, den Ann heraufbeschworen hatte.
Ich würde sie töten.
Ich musste sie töten.
Für Duncan.
Und für mich.
Tag der Veröffentlichung: 25.01.2011
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