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Schwere Zeit



Ich hatte wirklich alles versucht.
Ich hatte versucht zu vergessen.
Aber ich konnte ihn nicht vergessen.
Ich fühlte mich nur noch leer und einsam.
Die Blockhütte, die einmal mein Zuhause gewesen war, machte mir jetzt nur noch Angst.
Alles hier erinnerte mich an Duncan.
Das Ledersofa, mein Zimmer, die Küche.
Es war nicht zum aushalten.
Kopfschmerzen plagten mich jeden Morgen wenn ich meine Augen öffnete.
Manchmal öffnete ich sie aber auch gar nicht.
Es gab Tage, die ich einfach in meinem Bett verbrachte, mir die Decke über den Kopf zog und versuchte den Schmerz in meiner Brust zu ignorieren.
Erfolgreich waren diese Versuche bei weitem nicht, denn egal an was ich auch dachte, Duncan schlich sich immer in meinem Kopf wie ein Phantom.
Ich sah sein Gesicht vor mir, als könnte ich ihn anfassen.
Seine schwarzen Augen musterten mich neugierig und sein Mund formte das wunderschönste Lächeln auf der Welt.
In solchen Momenten hatte ich das Gefühl, dass ich zerbersten müsste.
Nur schwer konnte ich die Tränen zurückhalten, die an die Oberfläche drangen.
Drei Tage nach Duncans Tod hatte ich mir selbst ein Versprechen gegeben.
Ich würde nie wieder weinen, egal wie schwer es mir viel.
Ich hatte in der Zeit, die ich mit Duncan verbracht hatte, viel zu oft geweint – das reichte für mein ganzes, sinnloses, restliches Leben.
Heute war einer der Tage, an denen ich genug Kraft fand um aufzustehen und die Vorhänge zu öffnen.
Es war schon spät – halb zwölf.
Die Sonne schien und tauchte die Auffahrt in ein warmes Licht.
Mir sollte es nur recht sein, ich würde das Haus ja sowieso nicht verlassen.
Müde schlurfte ich zur Zimmertür und ging die Treppe hinunter.
Das alte Holz knarrte unter meinen nackten Füßen – wie immer.
Ich hörte es eigentlich schon gar nicht mehr, es war nur ein Nebengeräusch in meiner leeren Welt.
Unten angekommen, steuerte ich auf die Küche zu.
Es war ein trostloser Raum geworden, in letzter Zeit. Oft war ich nicht mehr hier, was auch deutlich zu sehen war.
Schon jetzt lag eine dünne Staubschicht auf der Arbeitsfläche.
Mehr als zwei Wochen lang lebte ich jetzt schon allein hier.
Tina, meine Schwester, war nie gekommen. Ann hatte gelogen – wie ich es gleich vermutet hatte.
Einsam fühlte ich mich auch schon lange nicht mehr.
Irgendwann, im Laufe der zweiten Woche, hatte ich mich weitgehend daran gewöhnt und noch dazu sämtliches Gefühl für Raum und Zeit verloren.
Manchmal wachte ich mitten in der Nacht auf und saß dann stundenlang auf meinem Bett.
Einmal hatte ich sogar im Schlaf gesprochen und war davon aufgewacht.
Es war wie in einem Traum. Zuerst war meine Stimme dumpf und leise – wie in weiter Ferne – aber mit der Zeit kam sie immer näher und wurde lauter und unangenehmer.
Und so war ich dann auch aufgewacht. Schweißgebadet, meine kurzen Haare – ich hatte sie einfach mit einer Schere abgeschnitten – klebten mir in Gesicht und Nacken und mein Herz pochte wie wild.
Seitdem schlief ich zwar etwas ruhiger, aber mein Herz funktionierte einfach nicht mehr.
Ich konnte mich für nichts mehr interessieren.
Dass Speedy, mein Hündchen, nicht mehr da war, bemerkte ich erst eine Woche nach Duncans Tod und das Schlimmste daran war, dass es mir egal war.
Ich vermisste den kleinen Fellknäuel nicht einmal.
Mein Leben war ein graues, tristes und eintöniges Gebilde, das jeden Moment in sich zusammenbrechen konnte.
Ein einziger, zu starker Windstoß hätte genügt und es wäre eingebrochen.
Dass ich nie wieder wie ein normaler Mensch sein konnte, war mir ab dem ersten Moment klar. Ich glaube sogar, dass es mir schon bewusst war, als ich Duncan das erste Mal sah.
Er war immer etwas ganz besonderes gewesen – für mich zumindest.
Früher, vor ein paar Wochen, hätte ich nicht einmal die Vorstellung ertragen, dass er irgendwann nicht mehr da sein könnte.
Jetzt, wo er wirklich weg war, schaffte es mein Gehirn einfach nicht dieses wichtige Detail zu verarbeiten und zu verstehen.
Ich hatte wirklich einiges probiert um es mir endgültig klar zu machen. Ich hatte ganze Seiten mit Briefen an Duncan geschrieben, in denen ich ihn bat, dass er wieder zurückkehrte, an meine Seite, wo er hingehörte.
Natürlich bekam ich keine Antwort auf mein Flehen und irgendwann ließ ich es einfach bleiben.
Es hatte alles ja doch keinen Sinn.
Warum sollte ich also meine Zeit sinnlos verschwenden, wenn ich doch genauso gut vor mich hin trauern konnte?
Und warum sollte ich trauern, wenn es doch nichts brachte?
Dieser Tag, würde wieder furchtbar werden, genauso wie alle anderen bis jetzt.
In den letzten Tagen ging es mir wieder schlechter.
Ich hatte keinen Appetit mehr, wollte nicht mehr aufstehen und nichts mehr sehen.
Trotzdem tat ich es, weil ich wusste, dass ich Nahrung und Licht brauchte um irgendwann wieder einigermaßen normal leben zu können.
Meine Hände zitterten, als ich sie nach dem Griff des Kühlschranks ausstreckte um diesen zu öffnen.
Mit einem leisen Quietschen schwang die Tür auf und grelles Neonlicht blendete mich.
Meine Augen wanderten über die leeren Regale.
Es war wirklich nichts Essbares mehr in diesem Kühlschrank.
Als wollte er meinen Hunger unterstreichen, knurrte mein Magen in eben diesem Moment so laut, dass ich im ersten Augenblick erschrocken zusammenzuckte.
Ich musste etwas essen, und zwar sehr bald.
Erst jetzt wurde mir klar, dass meine letzte, feste Mahlzeit, mehr als drei Tage zurücklag.
Getrunken hatte ich mindestens gleich lang nichts mehr.
Ich bekam Angst. Was wenn ich irgendetwas in mir kaputt machte, nur weil ich einfach nur noch vor mich hinvegetierte?
Das wollte ich auf keinen Fall!
Ich ging zum Waschbecken, drehte den Hahn auf und führte meinen Mund an den kühlen, glasklaren Wasserstrahl.
Nun bemerkte ich auch das raue Gefühl in meiner Kehle und die Trockenheit in meinem Mund. Das Wasser vertrieb dies aber sofort, als ich es schluckte.
Es war, als hätte ich pure Energie getrunken.
Auf einmal fühlte ich mich wieder wie jemand, auch wenn dieser Jemand starke, seelische Schäden davongetragen hatte.
Wieder knurrte mein Magen, nun noch lauter als vorhin.
Mit der einen Hand strich ich über meinen rebellierenden Bauch, mit der anderen stieß ich den Kühlschrank wieder zu.
Ich musste etwas zu essen auftreiben und zwar so schnell wie möglich.
Ich tapste am Wohnzimmer vorbei, auf die Treppe zu. Diese ließ ich erstaunlich schnell und leichtfüßig hinter mir und betrat mein Zimmer.
Hier hatte sich nichts verändert, auch wenn ich innerlich gehofft hatte, Duncan auf meinem Bett sitzend vorzufinden.
Ich sollte mir nichts vormachen – ich hatte ihn verloren.
Für immer.
Ich steuerte auf den Kleiderschrank zu und riss eine Schublade etwas zu grob heraus.
Mit einem lauten Knacken gab die mir zu verstehen, dass ich besser aufpassen musste, was ich tat.
Meine Hände durchwühlten wie von selbst die Lade und fanden schließlich auch zwei ordentlich wirkende Kleidungsstücke – eine schlichte, dunkelblaue Jeans und ein olivgrünes T-Shirt mit Straß-Steinen.
Ich machte mir nicht die Mühe, ins Bad zu gehen und mich dort umzuziehen, immerhin war ich sowieso allein hier.
Schnell schlüpfte ich aus meiner ausgewaschenen, viel zu großen Hose und dem dunkelgrünen T-Shirt.
Ein Blick in den Wandspiegel ließ mich allerdings erstarren.
Auch wenn ich jetzt vernünftige Kleidung trug, sah ich krank und schwach aus.
Ich hatte schon lange nicht mehr geweint und trotzdem waren meine Augen gerötet und leicht angeschwollen. Mein Gesicht war viel zu blass und meine Wangenknochen schienen jeden Moment durch meine Haut hervorzutreten.
Entsetzt über diesen Anblick, strich ich mit den Fingern einer Hand über meine Gesichtszüge.
Wie lange ich das wohl schon nicht mehr gemacht hatte?
Es fühlte sich genauso an, wie es aussah: krank.
Meine Haut war eisig kalt, aber daran hatte ich mich inzwischen schon so gut gewöhnt, dass ich nicht einmal mehr zitterte.
Auch meine Haare waren alles andere als schön anzusehen, was vielleicht auch von meiner selbstgemachten Frisur kam.
Die Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab und sahen stumpf und strohig aus.
Ich versuchte etwas Ordnung in das Chaos auf meinem Kopf zu bringen. Viel half das zwar auch nicht, aber es sah doch besser aus als zuvor.
Meine Haare waren jetzt etwa so kurz, wie Duncans vor seinem Tod.
Warum ich sie abgeschnitten hatte, wusste ich nicht genau. Ich wusste nur, dass ich es nicht mehr aushielt.
Lange Haare erforderten so viel Arbeit und Pflege. Außerdem erinnerten sie mich zu sehr an die Zeit mit Duncan.
Obwohl ich den Schnitt selbst vorgenommen hatte, musste ich zugeben, dass es nicht einmal so schlecht aussah.
Sandra hätte es gefallen, wenn sie noch am Leben gewesen wäre.
Aber sie war nicht mehr am Leben, genauso wie alle anderen Menschen die ich liebte.
Zuerst starben meine Eltern bei einem Autounfall. Das konnte ich akzeptieren und damit war ich auch ganz gut klar gekommen.
Tina, Sandra und Duncan aber, starben durch die Hand eines anderen Menschen – falls man Ann so nennen konnte.
Ich konnte sie nur noch von ganzem Herzen hassen, dafür, was sie mir angetan hatte.
Soviel Leid und Schmerz innerhalb von so kurzer Zeit über jemanden zu bringen, konnte nur ein wahres Monster.
Ich biss die Zähne zusammen. Meine Augen wurden zu Schlitzen. Der Hass spiegelte sich in meinem Gesicht, jedes Mal wenn er hervortrat.
Ich schüttelte den Kopf.
Duncan hatte nicht gewollt, dass ich seine Schwester töte. Er hatte es einmal verhindert, doch sollte ich je wieder die Chance bekommen sie auszulöschen, würde ich sie ganz bestimmt nicht ungeschoren davonkommen lassen.
Warum auch immer er es nicht zulassen wollte oder konnte, ich hatte damit nichts mehr zu tun.
Ich war nicht wie er.
Er war stark gewesen – als Mensch und als Wolf.
Ich war es nicht.
Ich war als Mensch ein wahrer Schwächling und obwohl ich wusste, dass ich mich in einen Wolf verwandeln könnte, wenn ich mich anstrengte, versuchte ich es niemals.
Ich hatte Angst, dass mich die Erinnerung zu plötzlich und stark treffen würde.
Also ließ ich die Gelegenheit verstreichen, Duncan noch ein letztes Mal nah zu sein.
Ich wandte mich von meinem Spiegelbild ab und ging die Treppe hinunter in die Diele.
Mein Autoschlüssel lag auf dem Schränkchen im Vorraum.
Mit zitternden Fingern nahm ich ihn an mich und trat vor die Haustür.
Es war das erste Mal seit siebzehn Tagen, dass ich das Haus verlassen würde.
Ich schluckte einmal geräuschvoll und drückte dann die Klinke hinunter.
Eine warme Brise wehte mir ins Gesicht.
Ich kniff die Augen zusammen. Ich war es nicht mehr gewohnt, Wind auf meiner Haut zu fühlen. Mit kleinen, vorsichtigen Schritten ging ich hinaus, hielt dabei aber die Augen immer offen.
Wer wusste schon, ob nicht Ann vielleicht hier irgendwo in der Gegend herumlief?
Immer wieder drehte ich meinen Kopf nach links und dann wieder nach rechts, um die Umgebung besser im Blick zu haben.
Nirgendwo regte sich etwas, aber durch meine lebhafte Fantasie wurde alles viel schlimmer, als es eigentlich war.
Immer wieder stieg das Bild in mir hoch, wie Ann die niedrigen Büsche am Waldrand mit einem einzigen, gewaltigen Sprung überwand und auf mich zustürmte.
Ich schüttelte den Kopf – wieder einmal.
Wäre sie hier, hätte sie nicht so lange gewartet.
Das war nicht ihr Stil.
Eher wäre sie ins Haus eingedrungen und hätte versucht mich dort zu erwischen.
Langsam entspannte ich mich.
Der Weg zum Auto war zwar nicht weit, aber für meinen Geschmack schon wieder etwas zu weit.
Ich öffnete die Fahrertür und schmiss mich geradezu auf den Sitz. Dann zog ich die Tür sofort wieder zu und schloss von innen ab.
Erst jetzt konnte ich mich sicherer fühlen.
Ich umklammerte das Lenkrad mit einer Hand, drehte mit der anderen den Schlüssel um und startete den Motor.
Obwohl der Wagen sehr lange stillgestanden hatte, sprang er gehorsam an.
Ich stieß erleichter die Luft zwischen meinen Zähnen hervor.
Dann parkte ich aus und lenkte den Golf auf den Waldweg zu.
Früher hatte ich keine Angst davor gehabt, hier entlang zu fahren.
Das hatte sich allerdings geändert – wie so vieles.
Ich hatte größte Schwierigkeiten das Lenkrad gerade zu halten und nicht zu sehr zu zittern.
Irgendwann kroch ich nur noch sehr langsam über den Weg, während ich mit den Augen die Umgebung nach Gefahr absuchte.
Auch wenn ich keine Anzeichen für einen bevorstehenden Angriff fand, kam ich nicht ganz zur Ruhe.
Trotzdem beschleunigte ich den Wagen etwas, um keine ganz so leichte Beute abzugeben.
Die Fahrt dauerte viel länger als sonst.
Ich musste mich extrem konzentrieren und war deshalb erleichtert, als die Bäume immer kleiner wurden und weniger dicht beinander standen.
Ich hatte den Waldrand erreicht.
Ein Seufzer entfuhr mir.
Die Sonne blendete mich zwar, aber eigentlich war es mir egal.
Ich war einfach nur froh, dass ich aus diesem verdammten Wald herausgekommen war.
Nun fiel mir auch das Lenken des Autos um einiges leichter.
Ann würde mich nicht am helllichten Tag mitten in der Stadt angreifen, dafür hatte sie zu viel Hirn.
Den Weg zum Supermarkt kannte ich immer noch. Wahrscheinlich hätte ich ihn sogar blind und mit gefesselten Armen und Beinen gefunden.
Er lag genau im Herzen der Stadt, wohl behütet von vielen anderen Gebäuden und eingebettet in vier Straßen, die den Parkplatz umschlossen.
Immer auf den Verkehr achtend, bog ich auf den ziemlich leeren Parkplatz ab und schaltete den Motor aus.
Heute war wohl nicht besonders viel los, zumindest sah es ganz danach aus.
Was heute wohl für ein Tag war?
Doch nicht etwas Sonntag, oder?!
Ich suchte die Anzeigen auf dem Armaturenbrett nach dem heutigen Datum ab, aber alles was ich fand, waren ein paar Zahlen. Das half mir nicht weiter, ich brauchte den verdammten Wochentag!
Nirgendwo ein Tipp, Mist!
Okay, dann eben bei einem anderen Problem ansetzten.
Hatte ich überhaupt Geld mit?
An das Wichtigste hatte ich natürlich wieder nicht gedacht, vor lauter Angst angegriffen zu werden!
Schnell durchsuchte ich den gesamten Innenraum des Autos und fand tatsächlich meine Geldbörse im Handschuhfach. Was noch besser war: darin befand sich mehr als genug Geld um sich eine gute Mahlzeit kaufen zu können.
Mit dem Portmonee in der Hand stieg ich aus dem Auto und schloss ab.
Obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass Ann mich zumindest hier nicht angreifen würde, konnte ich nicht anders, als immer wieder einen Blick über meine Schulter zurück zu werfen.
Je näher ich dem Eingang des Geschäfts kam, desto mehr beschlich mich das Gefühl, dass doch Sonntag war.
Kurz bevor ich die Tür erreichte, öffnete sie sich aber dann doch.
Ich atmete tief ein und ging dann hinein.
Hier war es eindeutig kühler, als draußen auf dem Parkplatz, der von der Sonne bestrahlt wurde.
Als erste Reaktion bildete sich eine Gänsehaut auf meinen Unterarmen, doch dann gewöhnte ich mich schnell an die kühle Luft.
Ich steuerte zu aller erst die Obst- und Gemüseabteilung an. Überall lagen bunte Früchte auf den Ablagen. Am liebsten hätte ich mich sofort auf sie gestürzt, doch das musste leider noch ein Weilchen warten.
Stattdessen suchte ich mir ein paar schöne, rote Äpfel und packte sie in eine Plastiktüte.
Mit der Tüte in der einen und der Geldbörse in der anderen Hand ging ich weiter.
Ich wollte gerade in einen Gang einbiegen, da verlor ich den Halt, meine Beine rutschten unter mir weg und ich landete unsanft auf dem Hintern.
Ich realisierte das aber gar nicht richtig, denn das, was gerade in meinem Kopf geschah, war sehr viel interessanter.
Ich sah Duncan, der mich auffing, kurz bevor mein Kopf auf den harten Fließen aufschlug.
Ich sah sein bezauberndes Lächeln, als er mein Gesicht gesehen hatte.
Und ich sah seine atemberaubend schönen Augen, als wäre er in dieser Sekunde neben mir.
Mit einem Schlag verblasste die Illusion und ich saß wie ein hilfloses, kleines Kind auf dem Boden neben dem Kühlregal.
So schnell ich konnte stand ich wieder auf und zupfte meine Kleidung zu Recht, immerhin wollte ich hier nicht wie ein Obdachloser durch die Gegend laufen.
Schnell schaute ich mich noch um, ob auch ja niemand meinen peinlichen, lächerlichen Stunt gesehen hatte, dann bog ich in den Gang ein.
Hier stapelten sich Nudeln und Reis.
Ich nahm gleich ein paar Packungen und klemmte sie mir unter den Arm, dann ging ich weiter zur Fleischtheke.
Dort bestellte ich alles, was ich für eine Lasagne noch brauchte und ging dann gemächlich zur Kassa.
Es war das erste Mal seit langem, dass ich wieder einigermaßen entspannt war. Trotzdem fühlte ich mich immer noch nicht ganz. Ich merkte zwar, dass sich mein Zustand deutlich gebessert hatte, seit ich das Haus verlassen hatte, aber es war nicht mehr mein altes Leben.
Mein altes Leben würde ich nämlich nie wieder zurückbekommen.
Das Piepsen der Kassa riss mich aus meinen Gedanken. Meine Einkäufe lagen bereits auf dem Band und wanderten automatisch nach vorne zu der Kassiererin, einer älteren Dame mit blonden Haaren.
Sie lächelte mich freundlich an und wünschte einen guten Tag.
Ich nickte bloß, mehr brachte ich nicht zustande.
Mit einem breiten Lächeln nahm die Frau das Geld, das ich ihr gab, legte es in eine Schublade und reichte mir ein paar Münzen Wechselgeld.
Ich versuchte ihr Lächeln zu erwidern, war mir aber nicht ganz sicher ob es mir auch gelungen war als ich den Laden verließ.
Sobald ich keine schützenden Wände mehr um mich herum hatte, war das entspannte Gefühl wie weggeblasen.
Meine Instinkte übernahmen die Überhand und kontrollierten die Gegend um mich ganz genau.
Bis sie schließlich zu dem Schluss kamen, dass ich außer Gefahr war, verging nicht einmal eine halbe Minute. Und dann saß ich auch schon wieder im Auto und startete den Motor.
Der Heimweg würde mir schwerfallen, noch schwerer, als der Weg hierher.
Aber ich musste zurück zur Blockhütte.
Ich hatte hier in der Stadt niemanden mehr und das Geld, das ich bei mir hatte reichte nicht für eine Nacht im Hotel.
Die Umgebung schoss an den Fenstern vorbei, doch ich starrte nur geradeaus durch die Windschutzscheibe.
Es war das Normalste auf der Welt hier entlang zu fahren und trotzdem fühlte es sich so falsch an.
Als die Sonne gerade von einer kleinen Wolke verdeckt wurde, bog ich auf den Waldweg ein.
Na super, jetzt war es hier noch dunkler als vorhin!
Ich hatte noch nicht einmal ein Achtel der Strecke hinter mich gebracht, als die Wolke sich auch schon wieder verzog und die Sonne erneut auf die Erde herab strahlte.
Die alten Bäume bildeten allerdings ein beinahe durchgängiges Dach über mir, sodass nicht viel Licht den Boden erreichte.
Die Schatten hier waren, für meinen Geschmack, viel zu dunkel. Sie machten mir Angst.
Angst, weil ich nicht wusste, was sich in ihnen verbarg, Angst vor dem Ungewissen.
Diesmal fuhr ich viel schneller.
Ich wollte diese Fahrt einfach nur noch hinter mich bringen. Dafür nahm ich auch in Kauf, dass das Heck des Autos bei manchen Kurven ausbrach und ich riskierte die Kontrolle zu verlieren.
Zu meiner eigenen Verwunderung kam ich dann aber doch in einem Stück bei der Hütte an.
Ich packte die Lebensmittel zusammen und lief förmlich zur Haustür.
Nur gut, dass ich nicht abgeschlossen hatte.
Ohne größere Probleme schaffte ich es in die Küche, kehrte dann aber augenblicklich zur Haustür zurück um abzuschließen.
Ein Zuhause war normalerweise ein Ort, an dem man sich geborgen fühlen konnte. Mein Zuhause, war keiner dieser Orte. Es war ein Ort, an dem ich Angst hatte, zu vergessen und mich gleichzeitig vor Erinnerungen fürchtete.
Mein Herz klopfte ohne Unterlass, als ich den Schlüssel umdrehte. Wie so oft, wollten sich die Tränen, die ich mühsam zurückhielt, befreien. Und wieder einmal gewann ich diesen Kampf.
Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen das glatte Holz der Tür und rutschte zu Boden.
Immer wieder erschütterte ein Zittern meinen Körper, doch ich ließ nicht zu, dass es die Oberhand gewann.
Solange ich das schaffte, konnte ich auch die Tränen zurückhalten, und genau das war mein Ziel.
Dieses Versprechen würde ich nicht brechen, weil ich wusste, dass es mir sonst das Herz abermals brechen würde.
Und ob ich das ertragen hätte, wusste ich nicht.
Mein armes Herz. Es war noch so jung und trotzdem völlig kaputt.
Ob es sich wohl jemals wieder reparieren ließ?
Nein, diesen Schaden konnte man niemals beheben, nicht mit Magie und nicht mit Liebe.
Es würden immer Narben bleiben. Hässliche, tiefe Narben, die immer an diese, schwere Zeit in meinem Leben erinnern würden.
Doch genau das wollte ich nicht.
Auf der einen Seite wollte ich Duncan einfach nur vergessen, damit ich den Schmerz vergessen konnte. Auf der anderen Seite liebte ich ihn zu sehr, als das ich ihn mit Absicht vergessen konnte. Was mir aber wirklich Angst machte war, dass ich ihn irgendwann vergessen würde – es war vorprogrammiert.
Die Zeit heilt zwar alle Wunden, doch leider verschwimmen wegen ihr auch Erinnerungen und verblassen solange, bis sie schließlich ganz verschwinden.
Und ich hatte keine Fotos, die mir halfen die Erinnerung an Duncan zu bewahren.
Wahrscheinlich hätte ich es auch nicht ertragen sein Gesicht auf einen Stück Papier zu sehen.
Manche Dinge, wie seine Stimme, oder sein Geruch aber, waren schon fast verblasst.
Es tat einfach nur weh, und zwar körperlich und seelisch.
Obwohl man meiner Seele wohl keinen großen Schaden mehr zufügen konnte.
Wäre sie ein Spiegel gewesen, wären jetzt nur noch Scherben und Staub von ihr übrig.
Was auch immer ich in meinem letzten Leben angestellt hatte, so schlimm konnte es nicht sein, dass ich das hier verdiente.
Ich hatte nicht verdient, dass man mir alles nahm, was ich liebte.
Das verdiente niemand und ich wünschte es auch keinem.
Außer einer Person und ihr Name war Ann.
Sie musste bestraft werden und früher oder später würde das auch ohne Zweifel passieren.
Und zwar durch meine Hand, etwas anderes würde und konnte ich nicht akzeptieren.
Ich stand auf und ging in die Küche um die Lebensmittel einzuräumen.
Ann würde bezahlen und zwar schon sehr bald.
Und sie würde den höchsten Preis bezahlen, den es auf dieser Welt gab.


Zurück ins Leben?



Die Lasagne war einfach köstlich gewesen. Wie man so schön sagt: der Hunger ist der beste Koch.
Und hiermit hatte ich bewiesen, dass dieses Sprichwort wirklich stimmte.
Ich war bei weitem keine gute Köchin. Meine Speisen waren allenfalls genießbar, doch diese Lasagne war das Beste was ich in meinem Leben je gegessen hatte – dachte ich zumindest.
Nachdem ich das Geschirr gewaschen, abgetrocknet und weggeräumt hatte, widmete ich mich den Resten des Nudelgerichts.
Ich hatte eindeutig zu viel gekocht. Mit dem, was übrig geblieben war, würde ich locker eine Woche lang auskommen.
Und das bedeutete, dass ich eine Woche nicht durch diesen furchtbaren, unheimlichen Wald fahren musste.
Fast hätte ich mich über diese Tatsache gefreut, aber etwas in mir blockierte den Reflex zu lächeln.
Unbewusst zuckte ich mit den Schultern und nahm dann einen von den Äpfeln die ich zuvor gekauft hatte.
Ich machte mir gleich gar nicht die Mühe ihn zu schälen, sondern hielt ihn nur kurz unter fließendes Wasser und verputzte ihn gleich im Stehen.
Nur ein abgeknabberter Stummel blieb von der Frucht übrig, den ich ein paar Mal zwischen meinen Fingern drehte und dann im Mülleimer entsorgte.
Zuerst bemerkte ich es gar nicht, aber dann sah ich den Wald und die Bäume hinter dem Haus.
Ich stand zum ersten Mal seit Wochen wieder am Fenster und schaute hinaus!
Für die meisten Menschen war dies das normalste auf der Welt, aber nicht für mich.
Ich hatte bisher nicht den Mut gefunden hinauszublicken.
Aber jetzt wo ich es endlich tat, sah ich die Welt wieder.
Es war später Nachmittag und die alten Bäume wiegten sich sacht im Wind.
Eigentlich ein sehr schöner Anblick, aber irgendwie doch beunruhigend. Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken. Daraufhin drehte ich mich um und ging nach oben.
Es war gut, dass ich mir einmal wieder in Erinnerung gerufen hatte, dass es mehr als nur das Innere dieses Hauses auf der Welt gab. Trotzdem wollte ich mein Glück nicht gleich überstrapazieren und kehrte der Idylle lieber den Rücken.
In meinem Zimmer war extrem stickige Luft. Kein Wunder! Ich hatte keine Ahnung wann ich zuletzt gelüftet hatte.
Etwas zögerlich öffnete ich das Fenster einen Spalt breit und ließ frische Luft hereinströmen.
Die Brise traf mich im Gesicht und ich konnte nicht anders, als meine Augen zu schließen und es, so gut es ging, zu genießen.
Ein paar Sekunden lang stand ich völlig reglos am Fenster und atmete tief ein und aus.
Irgendwann löste ich mich aber doch wieder aus meiner Starre und schaute mich im Zimmer um.
Um ehrlich zu sein sah es hier drin mehr als furchtbar gewesen.
Der Raum erinnerte nicht mehr an mein Zimmer, sondern eher an einen Stall.
Die Schubladen der Kommode waren herausgezogen und Gewand hing heraus. Es sah ein bisschen aus, als würde mir das Möbelstück die Zunge rausstrecken.
Ich steckte den Stoff so gut es ging in die Lade und machte sie dann zu.
So begann ich langsam aber sicher Ordnung in den Raum zu bringen.
Ich schüttelte die Bettdecke aus und faltete sie dann ordentlich, um sie zurück aufs Bett zu legen.
Als nächstes holte ich den Staubsauger von unten und entfernte den Staub. Auch meine abgeschnittenen Haare, die in der hintersten Ecke lagen, verschwanden im Inneren des Geräts.
Nun, wo mein Zimmer wieder einigermaßen nach etwas aussah, beschloss ich mich im Badezimmer weiter auszutoben.
Auch hier herrschte das reinste Chaos. Handtücher, Zahnpastatuben und Haarbürsten lagen über den ganzen Boden verstreut. Ich konnte mich nicht einmal richtig daran erinnern so gewütet zu haben.
Im Schrank unter dem Spülbecken fand ich ein paar Müllsäcke und fing an, den Unrat einzusammeln, der überall verteilt war. Auch die Dusche und Toilette säuberte ich, bis sie glänzten als wären sie neu.
Ich war mir sicher, Tina wäre stolz auf mich gewesen. Sie hatte es geliebt, wenn alles sauber war.
Ich atmete tief ein, packte dann die Müllsäcke – es waren tatsächlich fünf – und den Staubsauger und ging nach unten.
Tinas Schlafzimmer wäre sicher auch noch aufzuräumen gewesen, aber ich wollte es so lassen, wie es war. So erinnerte es mich wenigstens an sie.
Dagegen hatte ich nichts, das mich an Duncan erinnerte.
Ich hatte weder Bilder, noch Briefe von ihm.
Endlich im Waschraum angekommen, stellte ich den Staubsauger auf seinen Stammplatz in der Ecke und stapelte die Säcke - so gut es ging – daneben.
Erst jetzt fiel mir auf, dass ich einen Ring trug.
Ich drehte meine Hand so, dass ich ihn in dem spärlichen Licht, das hier unten herrschte, besser sehen konnte. Mit einem Schlag kam die Erinnerung wieder!
Es war Duncans Ring!
Sofort rannte ich nach oben und hielt ihn in die letzten Sonnenstrahlen, die durch das Küchenfenster fielen.
Er funkelte und glänzte und war einfach wunderschön.
Mindestens zehn Minuten stand ich da und betrachtete den Ring, dann ging die Sonne unter und mit ihr verschwand das Licht.
Anstatt aber eine Lampe einzuschalten, setzte ich mich an Ort und Stelle auf den Boden und schaute einfach den Ring an, der in meiner Handfläche lag und immer noch leicht schimmerte.
Als ich aufstand um in mein Zimmer zu gehen, war es bereits halb zehn.
Ich hatte geschlagene fünf Stunden auf das bronzene Metall des Schmuckstücks gestarrt, auch wenn ich bald gar nichts mehr sehen konnte weil es einfach zu dunkel war.
Ich steckte mir den Ring wieder an den Finger und ging nach oben, um noch eine Dusche zu nehmen bevor ich zu Bett ging.
Gähnend drehte ich den Wasserhahn auf und hörte nicht einmal eine Sekunde später millionen Wassertropfen hinab tropfen.
Dabei war meine letzte Dusche gar nicht lange her – erst einen Tag.
Auch wenn ich mich richtig gehen hatte lassen, so hatte ich nie vergessen, dass Hygiene wichtig war.
Nach ein paar Minuten war das Wasser warm und ich stieg in die Kabine.
Das erste Mal seit langem fühlte ich wieder etwas. Das Wasser tat gut und entspannte allmählich all meine Muskeln. Dampf stieg auf und umrahmte mein Gesicht wie eine warme, wohltuende Wolke.
Nach einer halben Stunde zog ich mich wieder an und ging in mein Zimmer.
Das Fenster war immer noch leicht geöffnet und ließ die Nachtluft herein. Ich spannte sofort wieder sämtliche Muskeln an und schaute mich im Raum um. Auch wenn der Gedanke noch so abwegig war, so hatte ich trotzdem Angst, dass Ann sich hereingeschlichen hatte.
Nachdem ich nichts entdeckte hatte, schloss ich das Fenster, zog die Vorhänge zu und legte mich aufs Bett.
Der Tag war sehr viel anstrengender gewesen als alle anderen, die ich seit Duncans Tot erlebt hatte. Kein Wunder!
Es hatte mich viel Überwindung gekostet das Haus zu verlassen. Als ich das aber hinter mich gebracht hatte, war alles nur noch halb so schlimm – naja fast.
Es fiel mir jetzt viel leichter über Duncan nachzudenken. Ich musste nicht gegen Tränen ankämpfen weil ich keine Angst haben musste ihn zu vergessen.
Der Ring an meinem Finger würde mich immer an ihn erinnern. Auch wenn die Erinnerung mir wehtat, irgendwann würde der Schmerz vorbeigehen und vielleicht konnte ich in zehn Jahren wieder ein normales Leben führen.
Aber noch befand ich mich auf dem steinigen Weg zurück ins Leben und musste hart dafür kämpfen.
Ich schloss die Augen und atmete ruhig.
Duncan hätte nicht sterben müssen. Ann hätte mich einfach nur schnell töten müssen.
Aber sie hatte es nicht einfach erledigt, sondern mit mir gespielt wie eine Katze mit ihrer Beute.
Deswegen war Duncan jetzt nicht mehr hier bei mir.
Ein wütendes Zittern ging durch meinen Körper, legte sich aber bald wieder.
Ich wischte mir mit der Hand übers Gesicht und fuhr in die Haare. Irgendwie war es ungewohnt, so kurze Haare zu haben. Andererseits standen sie mir gar nicht so schlecht und der Schnitt an sich war nicht einmal so hässlich wie ich befürchtet hatte.
Ein letztes Mal gähnte ich noch, dann schlief ich friedlich ein.

Verschlafen rieb ich meine Augen. Allmählich wurde mein Blick wacher. Ich gähnte und schwang meine Beine aus dem Bett. Ich war wohl etwas zu schnell aufgestanden, denn der Raum um mich herum drehte sich plötzlich.
Ich streckte meine Hände nach vorne aus bis meine Fingerspitzen die Wand berührten. Langsam beruhigte sich das Rauschen in meinen Ohren wieder und ich konnte einigermaßen gerade stehen. Vorsichtig ging ich aus meinem Zimmer, die Treppe hinunter und in die Küche, wo ich nach etwas zu essen suchte.
Alles was ich fand war aber ein Apfel, also machte ich diesen zu meinem Frühstück.
Auch jetzt blieb wieder nur ein kümmerlicher Rest übrig und wieder verschwand er im Müll.
Ich gähnte.
Was sollte ich heute machen?
Mich wieder im Bett verkriechen und hoffen dass die Zeit vorbei ging?
Mein Blick fiel auf den bronzenen Ring an meinem Finger. Nein, heute würde ich etwas Sinnvolles machen und nicht mehr meine Zeit verschwenden.
Ich ging wieder nach oben und zog die Schubladen der Kommode so weit wie möglich heraus.
Ich hatte doch gewusst, dass noch etwas zu tun gewesen wäre. Na, dann machte ich das eben heute – meine Kommode aufräumen.
Zuerst suchte ich mir bequeme Sachen und schlüpfte hinein.
Dann warf ich sämtliches Gewand, das in den Laden war, auf den Boden und begann es zu sortieren.
Ich machte drei Stapel: einen mit der Wäsche, die noch passte; einen mit alten Sachen, die ich sowieso nicht mehr anzog; einen mit Klamotten die mir einfach nicht mehr passten.
Insgesamt arbeitete ich den ganzen Vormittag in meinem Zimmer und war recht zufrieden mit mir, als ich die Kommode schloss und durchatmen konnte.
Meine Gelenke knackten und beschwerten sich als ich aufstand und mich streckte.
Es war Zeit zum Mittagessen.
Fast sah es so aus, als würde eine gewisse Routine einkehren, aber ich traute dem ganzen nicht so richtig.
Vielleicht fiel ich wieder zurück in dieses tiefe, dunkle Loch aus Depressionen und Angst. Ich war mir sicher, dass ein falscher Gedanke oder eine unüberlegte Bewegung sofort dazu geführt hätten.
Also versuchte ich so wenig wie möglich zu denken und ließ den Dingen einfach ihren Lauf.
Und so verging die Zeit.
Der Tag verstrich viel schneller, als alle bisherigen und auch die folgenden rasten geradezu an mir vorbei.
Tatsächlich verliefen die Tage alle ähnlich, nur das sich die Tätigkeiten änderten.
So wusch ich einmal die Wäsche, putzte am nächsten Tag das Wohnzimmer und säuberte das ganze Haus. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gesagt, dass ich einen Putzfummel hatte. Dabei versuchte ich mich nur irgendwie zu beschäftigen.
Ich verdrängte mehr oder weniger, dass ich allein war. Aber abends, wenn ich dann im Bett lag, merkte ich wieder wie einsam ich wirklich war. Darum war der Abend auch die Tageszeit, die ich am wenigsten mochte.
Aber noch war es ja nicht Abend.
Die Sonne war gerade erst aufgegangen und ich öffnete meine Augen und streckte mich.
In meinem Zimmer war es ungewöhnlich warm. Ich warf die Decke zur Seite und sprang aus dem Bett.
Der Vorhang versperrte mir die Sicht auf die Einfahrt, also zog ich ihn kurzerhand zur Seite.
Die Sonne berührte gerade noch die Baumspitzen und tauchte alles in ein frühmorgendliches, goldenes Licht.
Die hellen Kieselsteine in der Einfahrt schimmerten leicht.
Ich gähnte noch einmal und drehte mich dann zur Tür um, um nach unten zu gehen. In der Diele war es um einiges kühler als oben, was dazu führte, dass ich leicht fröstelte. Nach ein paar Sekunden legte sich die Gänsehaut aber wieder und ich trat vor den Kühlschrank.
Gähnende Leere schlug mir entgegen als ich die Tür öffnete.
Tja, es war wohl wieder einmal soweit. Meine Vorräte gingen zur Neige, was bedeutete, dass ich spätestens morgen wieder in die Stadt musste.
Schließlich fand sich aber doch noch ein Apfel, den ich eilig verspeiste.
Der kümmerliche Rest landete, wie nicht anders zu erwarten, im Müll.
Immer noch etwas müde ging ich zurück in mein Zimmer, suchte mir etwas zum anziehen und schlüpfte hinein.
Dann stand ich allerdings vor der Frage, was ich mit diesem Tag anfangen wollte.
Das Haus war blitzblank geputzt, also schied das schon mal aus.
Ich warf mich rücklings aufs Bett und starrte die Decke an.
Mit den Augen fuhr ich die Linien der Holzbretter an der Decke nach.
Mit der Zeit fiel mir auf, dass einige Linien nicht parallel zu den anderen verliefen. Ich stellte mich aufs Bett und untersuchte die Decke genauer.
Jetzt sah ich auch zwei Einbuchtungen, die ungefähr die Größe einer Münze hatten.
Ich fuhr mit den Fingern über das Holz und drückte leicht dagegen.
Als nichts geschah wandte ich mehr Kraft auf und diesmal bewegte sich sogar etwas.
Die Holzbretter klappten auf und eine Leiter glitt zu Boden.
Ich stand im ersten Moment völlig verdutzt da und schaute immer wieder vom Boden auf die Decke und wieder zurück. Irgendwann begriff ich aber, dass ich die Treppe zum Speicher gefunden hatte.
Dabei hatte ich bis zu diesem Tag noch nicht einmal gewusst, dass es so etwas in diesem Haus gab.
Ich sprang vom Bett und stellte mich vor die Leiter. Auch wenn sie ziemlich stabil aussah, traute ich dem Holzgerüst nicht ganz. Was, wenn ich eine der Sprossen lostreten würde?
Nicht gut!
Ich umrundete die Leiter und testete mit den Fingern, ob die Schrauben richtig festgedreht waren. Als ich nichts fand, was darauf hindeutete, dass ich abstürzen würde, stellte ich einen Fuß auf die unterste Sprosse. Diese knarrte bedrohlich, aber ich ließ mich davon nicht täuschen und begann zu klettern.
Während ich immer höher stieg schaute ich kein einziges Mal nach unten und konzentrierte mich ganz und gar auf die schwarze Öffnung vor mir.
Meine Eltern mussten vom Dachboden gewusst haben, immerhin hatten sie das Haus gebaut.
Warum hatten sie mir und Tina dann nie etwas davon erzählt?
Am oberen Ende der Leiter hielt ich mich fest und steckte meinen Kopf durch das Loch. Hier war es stockdunkel und roch nach Staub. Mit aller Kraft zog ich mich nach oben und saß schließlich auf einem unebenen Holzboden.
Nur leider konnte ich nichts sehen. Das bedeutete, dass ich noch einmal hinunter musste und mir eine Taschenlampe oder ein Feuerzeug holen musste.
Der Abstieg war um einiges leichter als der Weg hinauf. Bald stand ich in der Küche und durchforstete die Schubladen und Schränke nach einer geeigneten Lichtquelle. Das Resultat der Suche war zwar nicht ganz, was ich wollte – ich hatte nur eine Packung Streichhölzer gefunden – aber wenigstens etwas.
Mit der kleinen Schachtel in der Hand kehrte ich in mein Zimmer zurück und kletterte wieder die steile Leiter hinauf.
Als ich wieder oben saß, entzündete ich eines der Hölzchen, das ein leises Zischen von sich gab und dann in hellem Licht erglühte. Ein kleiner Lichtkreis bildete sich um mich.
Ich stand auf, immer darauf achtend, mir nicht den Kopf an der schrägen Wand zu stoßen, und ging ein paar Schritte. Bald musste ich das nächste Streichholz anzünden. Nachdem das erledigt war, ging ich wieder ein Stückchen weiter und schaute mich um.
Alles war verstaubt. An den Wänden standen niedrige Regale und Schränke.
Gerade als ich mich umdrehte, drohte das Streichholz zu verlöschen, also musste ich erneut eines anzünden.
Als ich mich umdrehte, erschrak ich zuerst.
Eine Schnurr hing vor meiner Nase von der Decke. Verwundert folgte ich ihr nach oben. Als ich sah, dass sie an einer Glühbirne hing, zog ich kurz daran und das Licht ging an – wenn auch zögerlich und flackernd.
Nun brauchte ich wenigstens diese nervenden Zündhölzer nicht mehr. Ich legte sie auf das nächst Beste Regal und schaute mich dann weiter um. Im Raum fand ich noch zwei weitere Glühbirnen, die ich einschaltete.
Jetzt konnte ich auch einigermaßen sehen und drehte mich ein paar Mal im Kreis um mir einen Überblick zu verschaffen.
Tja, das Haus hatte einen Speicher, jetzt stellte ich mir nur noch die Frage, warum mir meine Eltern das verheimlicht hatten.
Hier war doch rein gar nichts, was es zu verheimlichen gab, oder doch?
An der Stirnseite des Raums fand ich einen bulligen Schrank. Ich öffnete ihn, wenn auch etwas umständlich, da er entweder verschlossen war oder einfach klemmte, und riss erstaunt die Augen auf.
Ich hatte einiges erwartet, aber das ganz bestimmt nicht!
In dem rechteckigen Holzkasten hing ein Bogen, der beinahe gleich groß war wie ich. Daneben baumelte ein Köcher mit mindestens zehn Pfeilen. Aber damit noch nicht genug! Ich ging in die Knie und durchforstete einige der unteren Fächer. Darin fand ich zwei gefährlich aussehende Messer und noch mehr Pfeiler. Außerdem einen kleinen Werkzeugkoffer mit den verschiedensten Utensilien zur Holzbearbeitung wie Sägen und Feilen.
Ich schnappte mir das ganze Zeug ohne groß nachzudenken was ich eigentlich tat und ging damit zu der Öffnung im Boden.
Dort stellte ich es ab, dann kletterte ich ein Stück hinunter und nahm die Teile einzeln an mich, um sie neben oder auf mein Bett zu legen.
Wie gesagt hatte ich überhaupt keine Ahnung warum ich das tat, es war einfach ein Reflex.
In Gedanken versunken strich ich mit den Fingerspitzen über das Holz des Bogens und zupfte dann leicht an der gespannten Sehne. Ob der wohl noch funktionierte?
Nun ja, es gab nur einen Weg um das herauszufinden.
Probieren geht über studieren.
Just in diesem Moment knurrte mein Magen und unterbrach meinen Plan, mit dem Bogen und ein paar Pfeilen hinters Haus zu gehen.
Stattdessen ging ich in die Küche und riss den Kühlschrank auf.
Es war immer noch genug Lasagne übrig. Ich bereitete eine Portion vor und schob sie in die Mikrowelle, wo ich sie ein paar Minuten erwärmte.
Ein Piepsen signalisierte mir schließlich, dass mein Mittagessen fertig war. Gierig wie ich war aß ich sie gleich im Stehen.
Dann wusch ich den Teller ab und trocknete ihn mit einem Geschirrtuch und stellte ihn zu den anderen in den Hängeschrank.
Mit eiligen Schritten kehrte ich in mein Zimmer zurück. Der Bogen zog mich wie magisch an.
Ich nahm ihn in die Hand, klemmte mir ein paar Pfeile unter den Arm und war auch schon wieder auf dem Weg nach unten.
Anstatt das Haus, wie sonst, durch die Haustür zu verlassen, ging ich heute einmal durch die Hintertür. Diese war schon viel zu lange nicht mehr geöffnet worden und gab deshalb ein erbärmliches Quietschen von sich als sie aufschwang.
Ich übersprang geschickt die paar Stufen, die zur Tür führten und landete mit einem dumpfen Aufprall auf der Wiese, die mein Gewicht leicht abfederte.
Als nächstes legte ich mir einige Pfeile auf dem kleinen Klapptisch zurecht und versuchte den Bogen richtig zu halten.
Das war allerdings gar nicht mal so einfach, denn erstens hatte ich so etwas noch nie in meinem Leben in der Hand gehabt und zweitens war die Sehen extrem stark gespannt, so dass ich mich sehr anstrengen musste um sie auch nur ein bisschen zu dehnen.
Mit der Zeit gelang mir das aber immer besser. Ich machte noch ein paar weitere Trockenübungen ohne Pfeil und merkte, wie mich langsam die Kräfte verließen.
Etwas erschöpft setzte ich mich auf den Boden und schloss kurz die Augen. So verharrte ich ungefähr zehn Minuten und versuchte meine angespannte Armmuskulatur etwas zu entspannen. Dann stand ich wieder auf und nahm Pfeil und Bogen. Und mit dem Pfeil war das Dehnen der Sehne um einiges schwieriger. Immerhin musste ich jetzt auch noch aufpassen, dass der dünne Holzstab nicht zu Boden fiel und möglicherweise zerbrach. Nach einer gefühlten Viertelstunde hatte ich es endlich geschafft.
Jetzt brauchte ich nur noch ein geeignetes Ziel. Und auch das war bald gefunden.
In einiger Entfernung zum Haus stand eine alte Eiche. Als ich noch klein war, hatte mein Vater ein lachendes Gesicht in die Rinde geschnitzt. Ich wusste nicht mehr warum er das getan hatte, aber auf jeden Fall hatte ich es damals lustig gefunden.
Jetzt bot mir dieser Baum aber das ideale Ziel für meine Schießübungen.
Ich konzentrierte mich, behielt die Mitte des Stammes im Auge und zog gleichzeitig die Sehne so weit wie möglich in meine Richtung. Dann ließ ich los.
Wie nicht anders erwartet ging der Pfeil weit daneben. Nicht, dass er am Baum vorbeigeflogen wäre, nein, er landete einen guten Meter vor diesem in der Wiese.
Und was lernte ich daraus? Ich hatte mich noch nicht genug angestrengt.
Den ganzen Nachmittag schoss ich weiter auf den Baum, der aber nicht einen Kratzer davontrug – ich hatte ihn nicht einmal getroffen. Nur einmal verfehlte die Metallspitze des Pfeils die Rinde um ein paar Zentimeter.
Gegen vier Uhr unterbrach ein Donnergrollen mein Training. Eilig warf ich einen Blick zum Himmel – er war tiefschwarz – und sammelte meine Sachen ein.
Nicht einmal drei Minuten, nachdem ich die Tür hinter mir ins Schloss gezogen hatte, prasselte auch schon ein Regenschauer auf die die Erde nieder.
Ich hatte die Schusswaffe inklusive Munition auf den Küchentresen gelegt und rollte mich nun auf dem Sofa zu einer Kugel zusammen.
Warum hatte ich eigentlich mit dem Bogen trainiert? Was hatte ich mir davon denn bitteschön erwartet?
Ich zerbrach mir lange den Kopf über diese Fragen und kam schließlich zu dem Schluss, dass es etwas mit Ann zu tun hatte.
Wahrscheinlich hatte ich gehofft, ihr mit dieser Waffe ebenbürtig zu sein. Naja, in Wirklichkeit war ich das bei weitem nicht. Vielleicht brauchte ich einfach etwas mehr Übung. Auf jedem Fall würde ich weitertrainieren, denn der Gedanken mich schützen zu können, behagte mir sehr.
Nachdem ich meine Überlegungen beendet hatte, tat ich etwas, was ich schon sehr lange nicht mehr getan hatte: ich schaltete den Fernseher ein und zappte durch die Kanäle.
Es war mehr als fünf Wochen her, seit ich das zum letzten Mal getan hatte.
Vielleicht schaffte ich es doch irgendwann, wieder ein normales Leben zu führen. Ich machte mir wirklich Hoffnungen, denn ich hatte keine Lust, mein Leben lang zu trauern, auch wenn Duncans Tot mich sehr verletzt hatte und mir wohl für immer etwas fehlen würde.
Ach Duncan! Wenn er jetzt nur hier wäre! Ich hätte alles getan um ihn bei mir zu haben.
Auch jetzt fühlte ich mich einsam und ungeschützt. Ich vermisste ihn wirklich so sehr, aber ich konnte ihn nicht wieder haben – nie wieder.
Dieser Gedanke brachte mich zum zittern. Ich kämpfte gegen die Tränen an und schaffte es gerade so sie zurückzuhalten.
Langsam senkten sich meine Augenlider. Der Kampf gegen meine Gefühle war immer sehr anstrengend. Ich gähnte noch einmal und sank dann in einen tiefen und traumlosen Schlaf.


Aufeinandertreffen



Die Wochen schwammen an mir vorbei. Ich bekam immer noch nicht viel von der Außenwelt mit, außer, dass ich manchmal den Wald verließ um meine Vorräte aufzufüllen. Ansonsten hatte sich allerdings nicht wirklich viel verändert. Oder?
Oh doch!
Erstens wurde das Wetter langsam wirklich unangenehm und kalt. Die braunen, roten und gelben Blätter der Bäume taumelten zusehends zu Boden und jeden Morgen wenn ich aufwachte, hingen weniger an den dürren Ästen draußen vor dem Haus. Früher, als ich noch ein Kind gewesen war, hatte ich oft mit meiner Mutter und meiner Schwester kleine Männchen aus Zapfen und Blättern gebastelt und dann überall im Haus aufgestellt. Klar, meinen Vater hatte es nicht gerade gefreut, dass er sich hin und wieder auf unsere kleinen Lieblinge gesetzt hatte, aber er hatte sich auch nie darüber beschwert.
Es war inzwischen schon Anfang Oktober und im Haus wurde es immer kälter. Das lag wohl daran, dass ich noch immer nicht herausgefunden hatte, wie ich die Heizung zu bedienen hatte. Ich hatte es ein paar Mal versucht, aber schließlich aufgegeben weil das Risiko, das ganze Haus in die Luft zu jagen, einfach zu groß war.
Also fror ich mir hier drin praktisch den Hintern ab und konnte mich nur mit Decken vor der beißenden Kälte in den Nächten schützen.
Das schlechter werdende Wetter zwang mich außerdem dazu, die Tage im Haus zu verbringen, anstatt weiter mit Pfeil und Bogen zu üben. Irgendwie tat mir das leid, denn ich hatte wirklich Spaß daran – und war gar nicht mal so unbegabt wie ich zu Anfang geglaubt hatte!
Schon eine Woche nachdem ich mit dem Üben angefangen hatte, zeigten sich die ersten Erfolge. Ich traf immer öfter und musste bald anfangen, selbst Pfeile zu basteln, weil mir die alten ausgingen – ich hatte sie entweder irgendwo in den Wald geschossen oder sie waren zerbrochen als sie das Ziel trafen. Auch darin stellte ich mich recht geschickt an. Falls dieser Bogen wirklich einmal meinem Vater gehört hatte, musste ich es also praktisch in den Genen haben.
Tja, und jetzt zum zweiten Punkt der sich eindeutig und radikal verändert hatte.
Ich selbst!
Meine Trauer um Duncan, Sandra und Tina war langsam aber sicher einer unbeschreiblichen Wut gewichen. Immer öfter ertappte ich mich dabei, wie ich unbewusst meine Hände zu Fäusten ballte, wie sich alle Muskeln in meinem Körper spannten oder wie ich wütend mit den Zähnen knirschte, wenn etwas einmal nicht so lief wie ich es gern hätte. Ich kannte mich so selbst nicht!
Normalerweise war ich total friedlich und hielt nicht viel von Gewalt. Naja, so hatte ich zumindest gedacht, bevor Ann mir alles genommen hatte. Jetzt hatte ich allen Anscheins meine Meinung geändert und das merkwürdige daran war, dass es mich nicht einmal störte.
Ich wollte wütend sein. Ich wollte sie hassen.
Mit diesem Sinneswandel war es aber noch lange nicht getan. Mein Körper schien sich verändert zu haben. Es kam mir fast so vor, als wäre ich stärker geworden. Damit meine ich jetzt nicht, dass ich zugenommen hatte, sondern dass ich einfach mehr Kraft hatte als früher.
Außerdem hatten sich mein Seh- und Geruchsinn und mein Gehör verbessert, was mir zuerst ganz schön Angst eingejagt hatte. Ich war eines Nachts aufgewacht und wurde geradezu überrollt von viel zu lauten Geräuschen, viel zu scharfen Bildern und viel zu starken Gerüchen.
Ab diesem Zeitpunkt hörte ich alles was rund ums und im Haus geschah. Ich hörte jedes noch so leise Krachen der Holzdielen, jedes ächzen der alten Bäume hinter dem Haus wenn der Wind gegen sie drückte und sogar das Krabbeln einer Spinne an der Wand.
Alles in allem war ich mit dieser Wendung nicht einmal unzufrieden. Naja, fast wenigstens. Denn der Geruchssinn war mir in den meisten Situationen alles andere als hilfreich oder gar nützlich gewesen. Mehr als einmal musste ich in der ersten Woche auf die Toilette rennen um mich nicht an Ort und Stelle zu übergeben weil die normalsten Gerüche einfach viel zu kräftig waren. Das trieb mich ziemlich in den Wahnsinn, aber auch daran gewöhnte ich mich nach einiger Zeit.
Diese ganzen Veränderungen ließen mich gleichzeitig meine Angst vergessen, selbst zu Anns Opfer zu werden. Mir war zwar durchaus bewusst, dass ich nach wie vor in höchster Gefahr schwebte, aber ich versuchte es so gut es ging zu verdrängen – und das gelang mir ehrlich gesagt auch richtig gut.
Trotz allem bereitete es mir doch jeden Tag Kopfzerbrechen woher meine überragende Wandlung plötzlich kam, und vor allem warum gerade jetzt.
Erst einige Tage nachdem sich mein Leben, wieder einmal, radikal verändert hatte, kam ich auf den eigentlich naheliegendsten Gedanken. Es musste etwas mit Duncans Magie zu tun haben, die er mir kurz vor seinem Tod übertragen hatte. Aus welchem Grund er das getan hatte, wusste ich selbst nicht und leider würde ich auch nie die Chance haben ihn zu fragen.
Ich saß am Fenster, einmal wieder, und schaute hinaus in den Nieselregen. Wie schon seit Tagen war der Himmel wolkenverhangen und grau. Nebel hing zwischen den dunkelgrünen Ästen der Nadelbäume und sah aus wie flauschige Watte.
Vollkommen in Gedanken versunken rührte ich in meiner Tasse mit dampfenden Früchtetee. Der süßliche Duft des Getränks stieg mir in die Nase und verursachte dort ein leichtes Brennen. Wenn ich mich zurückerinnerte: noch vor etwa zwei Wochen hätte ich den Tee nicht trinken können, ohne mir die Nase zuzuhalten. Alles, egal ob es nun etwas zu essen war oder das Ledersofa im Wohnzimmer, hatte seinen Geruch verändert. Alles roch kräftiger – es war einfach extrem.
Gut, dass ich mich relativ schnell daran gewöhnt hatte. Jetzt war alles wieder halbwegs normal – das hoffte ich zumindest.
Es war schon ungefähr eine Woche her, seit ich das letzte Mal in der Stadt war um einzukaufen, aber derweil reichte das Essen noch aus, also musste ich mir wenigstens darüber keine Gedanken machen.
Worüber ich mir sehr wohl Gedanken machte, war Ann.
Ja, sie war so gut wie immer in meinem Kopf, es war zum durchdrehen!
Ich versuchte sie aus meinen Gedanken zu verbannen, aber ich schaffte es nicht, so sehr ich mich auch bemühte. Wieder und wieder tauchte ihre dämliche Fratze vor meinen Augen auf und ließ mich unbewusst zusammenzucken. Vielleicht grenzte mein Zustand inzwischen ja wirklich schon an Geistesgestörtheit?
Naja, wenn dem wirklich so war, störte es wenigstens keinen.
Ich nahm einen Schluck und verbrannte mir dafür prompt die Zunge – super!
Den heutigen Tag konnte ich glatt auf meine Top-Ten-Liste der beschissensten Tage meines Lebens setzen! Es hatte schon am Morgen so mies angefangen. Als ich aufstand und die Treppe hinunter gehen wollte, rutschte ich aus und landete mit meinem Hintern auf den Stufen. Das war ja vielleicht mal ein Spaß gewesen, oh Mann!
Am Nachmittag wollte ich dann wieder einmal Pfeile anfertigen, da ich meine letzten am Tag zuvor – der Regen hatte für ungefähr eineinhalb Stunden aufgehört - verschossen hatte. Nachdem ich zirka zehn Pfeile geschnitzt hatte, passierte mir dann aber doch noch ein Unglück. Ich war unvorsichtig und rammte mir die Klinge des Messers in die Hand. Ja okay, das hört sich jetzt vielleicht schlimmer an als es ist, aber ich konnte mir einen Schrei dennoch nicht verkneifen.
Komischerweise hatte es nicht einmal fünf Minuten gedauert, bis die Blutung nachgelassen hatte, und das, obwohl der Schnitt doch ziemlich tief war – ich hatte im ersten Augenblick sogar befürchtet, dass die Wunde im Krankenhaus genäht werden müsste. Als ich mir dann aber einen Verband anlegen wollte, sah ich, wie sich der Schnitt vor meinen Augen selbst heilte. Ich war zuerst völlig baff deswegen!
Jetzt war es Abend und von meinem kleinen Missgeschick war nur noch eine längliche Narbe auf meinem Handrücken zurückgeblieben.
Und was hatte ich daraus gelernt? Erstens sollte ich eindeutig besser auf meine Hände aufpassen und zweitens war damit für mich bewiesen, dass Duncan mir wirklich seine Magie übertragen hatte, denn auch er hatte sich selbst heilen können.
Wieder rührte ich den Tee um und blickte dabei unentwegt weiter aus dem Fenster.
Ich könnte mich wohl in einen Wolf verwandeln, wenn ich wollte, so viel stand fest. Nur war jetzt die Frage wie das ging – und ob ich es überhaupt wollte! Denn dabei war ich mir ganz und gar nicht sicher.
Was wenn es mich nur wieder zurückwerfen und ich dann wieder um Duncan trauern würde weil es mich zu sehr an ihn erinnerte? Oder was wenn ich mich dabei verletzte?
Erst jetzt viel mir auf, dass ich so gut wie gar nichts über Duncan oder Gestaltwandler allgemein wusste. Anscheinend hatte er mir absichtlich nichts darüber erzählt, als wollte er mich von diesem Thema so gut es ging fernhalten und schützen. Tja, nur leider konnte er damals noch nicht ahnen, dass es mir jetzt nützlich gewesen wäre. Im Bezug auf meine Kräfte war ich nämlich total hilflos und somit auch im Kampf unterlegen.
Ich hatte einen Bogen und ein paar Holzpfeile um mich zu verteidigen, da fragte ich mich nur, ob das denn überhaupt genügte?
Ann war mächtig, auch wenn sie die silberne Feder nicht bekommen hatte. Sie hatte ihren stärksten Gegner, ihren eigenen Bruder, aus dem Weg geschafft und das bedeutete, dass sie mich nun ohne großen Aufwand töten konnte. Klarerweise warf dass aber wieder Fragen auf. Zum Beispiel, warum sie mich dann nicht schon längst angegriffen hatte? Warum sie sich so viel Zeit ließ? Warum sie nirgends zu sehen war?
Ich hatte mehr als einmal versucht im Garten hinter dem Haus ihre Witterung aufzunehmen, aber anscheinend hatte der Regen alle Spuren weggewaschen, als hätte es sie nie gegeben. Manchmal glaubte ich das sogar schon fast, wäre da nicht Duncans Ring gewesen der mich daran erinnerte, was wirklich passiert war.
Ich hob die Tasse an meine Lippen und startete einen zweiten Versuch zu trinken. Diesmal war der Tee – Gott sei Dank – weit genug abgekühlt, dass ich mich nicht daran verbrannte. Die warme Flüssigkeit rann mir die Kehle hinab und erfüllte mich von innen heraus mit Wärme. Wenigstens für eine Sekunde konnte ich all die Fragen, die in meinem Kopf herum spuckten, vergessen und einfach das Gefühl genießen am Leben zu sein.
Wie gesagt währte dieses Gefühl leider nur kurz. Umso härter wurde ich anschließend auch wieder in die Realität zurückgeworfen.
Es schien draußen bereits zu dämmern, denn es wurde immer dunkler und dunkler. Die Baumriesen des Waldes verschmolzen zusehends mit dem abendlichen Himmel, bis sie sich schließlich kaum noch von ihrer Umgebung abhoben und Teil der Dunkelheit wurden.
Eine durchgehende Schwärze hüllte nun das Haus meiner Eltern ein, in dem ich allein wohnte. Ich schloss meine Augen und lauschte den Geräuschen der Nacht. An das zeitweise Krachen des Holzes und die natürlichen Geräusche des Waldes hatte ich mich in der Zwischenzeit schon reichlich gewöhnt. Es war auch nicht das leise Säuseln des Windes, das meine Aufmerksamkeit an diesem Abend auf sich zog. Nein.
Ein, durch die Holzwände dumpf gewordenes, Knirschen ließ mich aufspringen, so dass ich beinahe meinen Tee über den Tisch verschüttet hätte. Sämtliche Muskeln in meinem Körper spannten sich im Bruchteil einer Sekunde an. Gleichzeitig hatte ich meine Augen aufgerissen und starrte Richtung Diele.
Ich fühlte sofort, dass etwas nicht stimmte, nur konnte ich nicht riechen, was es war.
Auf Zehenspitzen schlich ich aus der Küche, vorbei am Wohnzimmer und blieb dann vor der Haustür stehen um erneut zu lauschen.
Das Geräusch war noch da und es hörte sich ganz so an, als würde jemand vor dem Haus hektisch auf und ab laufen. Als würde ein Wolf auf und ab laufen!
Blitzschnell griff ich nach Pfeil und Bogen, die ich gleich neben dem Eingang in einem alten Regenschirmständer deponiert hatte. Mit einer geübten Bewegung legte ich den Pfeil auf die Sehne und spannte sie leicht an, während ich mich gegen die Wand presste und mich langsam dem Fenster neben der Tür näherte. Mit zusammengekniffenen Augen spähte ich durch die Glasscheibe hinaus und versuchte etwas zu erkennen. Nur schemenhaft zeichneten sich die Umrisse verschiedener Büsche, Bäume und Sträucher voneinander ab. Von einem Wolf oder etwas ähnlichem war aber nirgends etwas zu sehen.
Abwartend hielt ich inne und ließ meine Waffe etwas sinken. Hier drin war ich ohnehin sicher – das hoffte ich zumindest – außerdem sah ich draußen nichts oder niemanden der mir etwas antun wollte.
Klar, ich sah sie zwar nicht, aber ich spürte dass sie da war und auch, dass sie mich beobachtete. Sie war da und sie wartete auf einen Fehltritt von mir!
Da stellte sich natürlich die Frage, ob es nicht vielleicht ein Fehler von ihr gewesen war in die Nähe des Hauses zu kommen, immerhin konnte sie ja nicht wissen, dass ich inzwischen nicht mehr ganz so wehrlos war wie früher.
Wieder versuchte ich ein Geräusch auszumachen und ohne mich groß anstrengen zu müssen, gelang es mir tatsächlich. Das Schaben und Kratzen kam jetzt von der anderen Seite des Hauses. Von meinem Standort aus war es also völlig unmöglich meinen nächtlichen Besucher zu sehen – falls überhaupt jemand hier war und mir nicht mein überstrapaziertes, müdes Gehirn einen Streich spielte.
Mein Herz schlug wie wild und meine Atmung war flach und viel zu laut. Ich hatte mich entschlossen. Wahrscheinlich würde ich meine Entscheidung in wenigen Sekunden sowieso schon wieder bereuen, aber falls es wirklich Ann war, die da draußen herum streunte, war es vielleicht meine einzige Chance sie zu erledigen.
Mit einer Hand hielt ich den Pfeil und den Bogen, mit der anderen schloss ich zittrig die Haustür auf und drückte so leise wie möglich die Klinke hinunter. Dann wartete ich wieder ab.
Das Scharen war noch dort, wo ich es zuletzt gehört hatte – gut so!
Auf wackligen Knien und dank der Dunkelheit so gut wie blind, schob ich mich hinaus ins Freie und drückte mich so eng es ging an die Wand.
Wieder spannte ich die Sehne und zielte mit dem Bogen ins nichts. Einzig und allein mein Geruchssinn und mein Gehör konnten mich jetzt davor bewahren, einfach überfallen zu werden und so ein leichtes Opfer abzugeben. Dazu kam auch noch, dass meine Gegnerin, und ich hoffte doch, dass es sich bei der Person, die mein Haus umschlich, um Ann handelte, nichts davon wusste, dass ich nun die Sinne eines Wolfes hatte – ihr in dieser Hinsicht ebenbürtig war.
Ich hatte also auf jeden Fall den Überraschungseffekt auf meiner Seite und das war doch gut, oder?
Langsam bewegte ich mich vorwärts. Ich achtete auf jeden meiner Schritte und war immer darauf bedacht, bloß keine Geräusche zu verursachen. Alle paar Meter blieb ich stehen, witterte und lauschte. Leider hatte ich Ann noch nie mit meinen Wolfssinnen wahrgenommen, weshalb ich auch nicht wissen konnte, wie sie roch. Als ich mir aber der Hausecke näherte, wehte mir der Wind eine leichte Brise entgegen.
Sofort versteifte ich mich und spannte den Bogen etwas mehr. Es roch tatsächlich nach Hund und dass der Wind mir diese Botschaft zugetragen hatte, konnte nur bedeuten, dass der ‚Besucher‘ mich zumindest noch nicht gewittert haben konnte.
Immer weiter pirschte ich mich an und spähte schließlich so vorsichtig wie es nur irgend möglich war um die Ecke. Viel konnte ich auch auf dieser Seite des Hauses nicht erkennen, aber ich konnte vermuten wo was war. Aus meiner Erinnerung baute ich im Bruchteil einer Sekunde das Stückchen Rasen vor meinem inneren Auge nach, das auf einer Seite vom Wald, auf der anderen vom Haus abgegrenzt war. Würde ich über die längliche Fläche gehen, würde ich hinter das Haus kommen, müsste aber vorher einen kleinen, kreisrunden Beet ausweichen, das hier schon war, seit es dieses Haus gab.
Mit diesem Wissen und dem Bisschen, das ich sehen konnte, konnte ich auch beinahe sofort ausmachen, was hier eindeutig nicht hingehörte.
Ein riesiger Schatten, hoch und bullig, bewegte sich zitternd immer wieder leicht vor und zurück, wobei ein Bein – oder sollte ich lieber Pfote sagen? – an der Hausmauer hinunter kratze und am Boden mit einem dumpfen Aufprall aufkam. Bei dieser Bewegung entstand auch das Schaben und Kratzen, das ich schon im Haus gehört hatte. So wie es aussah, machte sich das Ding, von dem ich vermutete genau zu wissen was es war, an dem schmalen Fenster zu schaffen, das normalerweise dazu diente, Tageslicht in die Waschküche zu lassen.
Aha, also Ann wollte in mein Haus eindringen und mich allen Anscheins nach da drinnen fertig machen! Aber so leicht würde ich es ihr diesmal bestimmt nicht machen!
Erstens passte sie in Wolfsgestalt ohnehin nicht durch die viel zu kleine Öffnung, und zweitens wäre das Haus leer – immerhin stand ich direkt hinter ihr!
Ich trat aus meiner Deckung heraus und ging leicht in die Hocke, um ein kleineres Ziel für ihre spitzen Zähne abzugeben.
Ein Knacken ließ mich zusammenzucken. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich auf den schemenhaft erkennbaren Zweig, auf den ich gerade getreten war. Scheiße!
Sofort richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf den Schatten vor mir. Und dieser seine auch auf mich! Verdammt, jetzt hatte sie mich entdeckt!!!
Ich kniff die Augen zusammen und machte mich schon mal auf das Schlimmste gefasst.
Der schwarze Wolf drehte sich mir zu, zog die Lefzen hoch und entblößte so eine Reihe rasiermesserscharfer Zähne, die selbst in der Dunkelheit zu glänzen schienen.
Langsam und in geduckter Haltung kam sie auf mich zu. Ich reagierte auf diese Bewegung und stolperte rückwärts zurück vor das Haus.
Mein Gegenüber folgte mir und untermalte ihre Bewegungen mit tiefem Grollen. Ich kannte dieses Geräusch nur zu gut. Auch Duncan hatte oft so geklungen, kurz bevor er sich in den Kampf stürzte.
Die Sehne des Bogens war inzwischen schon so fest gespannt, dass ich mich wunderte sie überhaupt noch festhalten zu können. Da kann ich nur sagen: danke dir Adrenalin!
Immer noch folgte mir die geradezu gigantische Gestalt, bis ich schließlich direkt vor dem Haus zum Stehen kam. So!
Jetzt reichte es aber! Ich wollte sie umbringen, nicht vor ihr davonlaufen! Wie oft war ich schon nachts wachgelegen und hatte mir vorgestellt, wie es sein musste, wie es sich anfühlen würde, sie endlich auszulöschen?! Wozu hatte ich mich vorbereitet und die Trauer hinuntergeschluckt?
Ich biss die Zähne zusammen und richtete mich zur vollen Größe auf. Meine Gegnerin tat es mir gleich. Jetzt überragte sie mich wieder um ein gutes Stück und ich musste zu ihr aufblicken – in ihre stechend roten Augen.
Wieder entfuhr ein bedrohliches, beinahe schon tödliches Knurren ihrer Kehle.
„Warum bist du hier?“ Meine Stimme war viel lauter und kräftiger, als ich gedacht hätte. Immer noch zielte ich auf Ann – genau zwischen ihre leuchtenden Augen.
Ein helles Jaulen gefolgt von einem tiefen Knurren war Antwort genug. Auch wenn sie nicht als Mensch zu mir sprach, wusste ich genau, dass sie immer noch die gleichen Absichten hegte wie bei unseren letzten Aufeinandertreffen – sie wollte immer noch die silberne Feder.
Dazu kam auch, dass ich jetzt noch um einiges interessanter für sie war, weil ich ja auch noch Duncans Magie hatte – sie würde mit mir also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
„Ich werde dich töten!“ knurrte ich zurück.
Für einen Moment sah es fast so aus, als würde Ann mich auslachen – auf Wolfsart.
Hatte sie etwa noch nicht bemerkt, dass ich bewaffnet war? Anscheinend nicht!
Sie stand vor mir, hoch wie ein Pferd, muskulös wie ein Bär und mit der Intelligenz eines Menschen gesegnet – das perfekte Raubtier! Und ich als schmächtiger Mensch auf der anderen Seite.
Und plötzlich wurde mir klar, warum Ann so gar keine Angst vor mir hatte. Ich war ihr hoffnungslos unterlegen! Was hatte ich mir bloß dabei gedacht, hier heraus zu gehen? Hatte ich wirklich und allen Ernstes geglaubt, dass ich gegen jemanden wie SIE eine Chance hatte? Sie sogar besiegen konnte?
Ein Zittern ging durch meinen Körper als mich die Erkenntnis traf. Jetzt war es wohl doch so weit.
Ich hatte mit dem Bogen geübt und war trotzdem ein armseliges Opfer und eine leichte Beute. Nichts konnte mich jetzt mehr retten! Es war zu spät!
Ich hätte nicht so naiv sein sollen. Jetzt würde Duncan umsonst gestorben sein – Ann war dabei zu gewinnen, in diesem Moment!
Als das Zittern verebbte, verkrampften sich wieder all meine Muskeln. Ich musste mich wenigstens wehren! So konnte ich nicht aus der Welt gehen!
Und ich wehrte mich auch!
Wie aus einem Reflex heraus, ließ ich den Pfeil los. Ab da lief alles in Zeitlupe ab. Ann spürte wahrscheinlich, dass ich geschossen hatte und versuchte auszuweichen. Der Pfeil sauste mit einem leisen Zischen durch die Luft. Gerade als der schwarze Wolf einen Satz zur Seite machen wollte, traf ihn das Geschoss am Hinterbein. Ein markerschütterndes Jaulen war zu hören. Ich kniff die Augen zusammen. Soweit ich das beurteilen konnte, steckte mein Pfeil nun bis zur Hälfte im Fleisch meiner Rivalin.
Aus dem schmerzerfüllten Heulen wurde einen Wimpernschlag später ein aggressives Knurren. Ich ging leicht in die Hocke, als ich sah, wie der Schatten auf mich zuflog.
Mit einem verzweifelten Sprung zur Seite rettete ich mich aus der Reichweite ihres tödlichen Gebisses, knallte dafür aber mit voller Wucht gegen die unterste Stufe der Treppe. Mein Schädel fühlte sich an, als hätte jemand mit einem Hammer kräftig darauf eingedroschen.
Wankend richtete ich mich wieder einigermaßen auf und umklammerte dabei den Bogen mit einer Hand. Eigentlich wunderte es mich ja schon, dass ich ihn bei meinem Sprung nicht verloren hatte, aber es war gut, dass ich ihn noch hatte.
Ann setzte wieder zum Angriff an. Dank des Pfeils in ihrem Hinterbein war sie um einiges langsamer und auch weniger exakt was die Attacke anging. So schaffte ich es noch zwei weitere Male mich im letzten Moment zur Seite zu werfen. Obwohl die Luft recht kühl war, schwitzte ich schon nach ein paar Minuten wie nach einer anstrengenden Sportstunde und schnappte immer wieder erschöpft nach Luft.
Dem Wolf schien es nicht viel anders zu ergehen. Immer lauter wurde das Hecheln, das aus seiner Richtung kam. Mein Kopf und meine Sinne arbeiteten auf Hochtouren, um das Fehlen des Sehsinnes in dieser Situation irgendwie auszugleichen.
Wieder preschte Ann auf mich zu. Ihre Augen fixierten mich. Ich wollte mich abermals durch einen gewagten Sprung in die Dunkelheit retten, doch diesmal war ich es, die zu langsam reagiert hatte.
Anns lange Eckzähne bohrten sich in meinen Unterschenkel. Ein Schrei entkam meiner Kehle. Ich drehte mich halb zu meiner Rivalin um, holte mit dem Bogen aus und schlug zu, ohne genau zu wissen wohin ich schlug.
Anscheinend traf ich trotzdem, denn wieder war ein Aufjaulen zu hören. Mit einem ekligen Krachen ließ Ann mein Bein los, was aber nicht hieß, dass die Schmerzen verschwanden.
Ich ging in die Knie und rollte mich auf den Rücken. So wie es aussah, hatte ich Ann am Auge erwischt, denn sie schüttelte den Kopf wie wild hin und her und winselte wie ein kleiner Welpe.
Immer noch vor Schmerzen gelähmt, kroch ich los. Ich zog mich an allem, was auch nur annähernd in der Nähe meiner Hände war, weg von dieser Bestie. Das Haus war hinter mir. Wenn ich es schaffte, dort hinein zu kommen, und die Tür zu verschließen, hätte ich eine Chance.
Mit größter Mühe richtete ich mich halb auf und stürmte humpelnd und taumelnd auf die Haustür zu.
Ann schien mein Vorhaben zu durchschauen, denn sie wandte sich wieder mir zu und nahm die Verfolgung auf, obwohl auch sie mehr hinkte, als das sie wirklich rannte.
Nur noch zwei Meter.
Nur noch ein Meter.
Mit einem Sprung, den ich mir in dieser Verfassung niemals zugetraut hätte, flog ich die drei Stufen zur Veranda hinauf und durch die Tür ins Haus. Keuchend schlug ich die Tür zu und schob den Riegel vor.
Wie sich herausstellte gerade noch rechtzeitig!
Mit einem Kracken und Bersten krachte Ann gegen das Holz der massiven Haustür und wurde zurück auf den Rasen vor dem Haus geworfen. Den Aufschlag ihres Körpers auf dem Gras konnte ich selbst durch das heftige Pochen meines Herzens und das Rauschen meines Blutes in den Ohren genau hören.
Nach Atem ringend, sank ich zu Boden zitterte am ganzen Körper. Mir war es egal, ob sie noch einmal versuchte in das Haus einzudringen. Der Schmerz, der von meinem Bein ausging übertönte alles und machte mich seltsam schläfrig.
Auf allen Vieren kriechend, schleppte ich mich ins Wohnzimmer, wo ich schließlich auf dem Teppich vor dem Sofa liegen blieb. Den Bogen meines Vaters hielt ich immer noch in der Hand.
Obwohl in diesem Raum das Licht brannte, wurde mir schwarz vor Augen und ich bemerkte nur noch schwach, wie ein weiterer Angriff die Haustür erschütterte.
Das letzte was ich hörte, war ein klagendes Heulen, dann schaltete sich mein Kopf aus.


Ziellos



Mein Kopf! Mein armer Kopf!
Es fühlte sich an, als würde er in der Mitte zerspringen, wenn ich mich nur zu hastig oder unvorsichtig bewegte. Beide Handflächen gegen meine Schläfen pressend, drehte ich mich auf den Rücken und starte hinauf zur Holzdecke. Es dämmerte anscheinend, denn gedämpftes, graues Licht fiel durch die Wohnzimmerfenster und erhellte spärlich den Raum.
Ich versuchte mich aufzurichten, brauchte aber mehr als doppelt so lang für diese gewöhnliche, schlichte Bewegung wie sonst, weil meine Muskeln nicht ganz mitspielten.
Außerdem protestierte mein Schädel bei jeder noch so kleinen Erschütterung indem er mich mit einer neuen Welle aus Schmerzen überschüttete. Na da konnte man ja wirklich nur danke sagen – und zwar danke für NICHTS!
Eine Hand ruhte immer noch an meinem Kopf, während ich mich mit der anderen am Sofa abstütze und umständlich aufstand. Gleichzeit versuchte ich auch noch festzustellen, ob es Abend oder Morgen war.
Tja, dass hätte ich mal lieber lassen sollen.
Schwindel überfiel mich und ich hatte plötzlich größte Mühe überhaupt aufrecht stehen zu bleiben. Es fühlte sich fast so an als hätte jemand freundlicherweise meinen Magen aus meinem Bauch geschnitten und würde jetzt damit Fußballspielen. Das dazu passende Bild bildete sich gerade in meinen Gedanken, als mir speiübel wurde und ich in die Küche stolperte um mich ins Waschbecken und nicht auf den Holzboden zu erbrechen.
Immer wieder würgte ich und beförderte meinen gesamten Mageninhalt innerhalb von zehn Minuten aus meinem Körper.
Und als ich dann endlich fertig damit war, all das gute Essen wieder ans Tageslicht zu befördern, überkam mich ein Schüttelfrost der ganz üblen Sorte. Von der Nasenspitze bis zu den Zehen schien alles an mir zu zittern.
Mit kleinen, wackligen Schritten kehrte ich ins Wohnzimmer zurück, stolperte dabei fast über den Holzboden, der auf dem Teppich lag und wickelte mich dann auf dem Sofa so eng wie möglich mit einer flauschigen Decken ein.
Dabei fiel mein Blick auf eine Reihe hellrosa Flecken auf meinem linken Unterschenkel. Obwohl ich zitterte wie Espenlaub, schob ich die Wolldecken nochmal beiseite und begutachtete die Stelle genauer.
Wie ein Schlag ins Gesicht traf mich die Erkenntnis, dass der Abend zuvor beinahe mein letzter gewesen wäre.
Ich sprang vom Sofa und lief zur Haustür, die ich ohne lange nachzudenken aufriss und hinaus trat.
Alles schien genauso zu sein wie immer. Fast alles!
Ein merkwürdiger Geruch hing in der Luft. Es roch extrem nach Hund, gemischt mit Blut und etwas was ich nicht richtig einordnen konnte. Angstschweiß? Ja, das war es wohl.
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, als ich den aufgewühlten Kies der Einfahrt sah, wo der Kampf stattgefunden hatte. Mir ging es nicht gerade besser als ich mich zum Haus umdrehte und sah, was Ann mit der Tür angerichtet hatte.
Sie hing zwar noch in den Angeln, war aber stark verbeult und das war eine Holztür verdammt noch mal! Holztüren ließen sich nicht einfach verbeulen!!!
Die massiven Eichenbretter – zumindest vermutete ich das es Eichenbretter waren – waren gesprungen und sahen aus, als hätte sich jemand mit einer Spitzhacke oder Axt daran zu schaffen gemacht. Mehrere bedrohlich wirkende Spieße standen von der einst glatten Fläche ab.
Und auch auf dem Rest der Veranda hatte Ann sich tüchtig ausgetobt.
Der Boden war total zerkratzt – und damit meine ich richtig zerkratzt! Bis zu fünf Zentimeter tief waren die Furchen, die Anns Krallen in die Bretter geschlagen hatten. Und damit noch nicht genug!
Bei genauerer Betrachtung stellte ich fest, dass zwei Bretter nur noch notdürftig am Rest der Konstruktion hingen.
Um ehrlich zu sein – ich war mehr als entsetzt über diesen Anblick. Immer hatte ich gedacht, dass ich hinter den Mauern dieses Hauses, wenigstens dort, sicher vor Ann wäre. Was ich hier gerade sah, zeigte mir aber, dass ich in trügerischer Sicherheit gehaust hatte. Nicht mehr viel hätte gefehlt und die Tür wäre vor Anns geballter Kraft in die Knie gegangen und hätte ihr den Weg frei gemacht. Und dass ich hilflos da drin gelegen hatte, machte diesen Gedanken nicht gerade angenehmer.
Mit hastigen, langen Schritten kehrte ich zurück ins Haus und knallte die Tür hinter mir zu. Ich fühlte mich nicht mehr sicher. Nicht hier!!! Nicht jetzt wo ich wusste, welche Kraft wirklich in meiner Feindin steckte!!!
Mit einer Geschwindigkeit, die ich mir selbst nie zugetraut hätte, rannte ich die Treppe hinauf in mein Zimmer und zog meinen alten, riesigen Wanderrucksack unter dem Bett hervor.
Mein Entschluss war mehr als spontan gefallen, aber ich würde mich nicht mehr davon abbringen lassen – ich ging weg von hier! Weg von diesem furchtbaren Ort, der so leer war. An dem ich so einsam war als stünde ich auf einem Friedhof.
Ich leerte die Schubladen meines Kleiderschranks aufs Bett – alle, ausnahmslos. Die Auslese der Kleidung die ich mitnehmen würde, war ziemlich einfach. Bequem mussten die Klamotten sein, sie mussten etwas aushalten und für jedes Wetter taugen. Mehr als die Hälfte der Wäsche konnte ich also schon mal ausschließen. Die Sachen, die hier bleiben würden, landeten neben dem Bett auf dem Fußboden. Den mickrigen Rest, für den ich mich entschieden hatte, im Rucksack.
Anschließend schnappte ich mir noch die Werkzeuge – und auch ein paar Pfeile -, die ich brauchte um neue Munition für meinen Bogen herstellen zu können und verfrachtete auch die in der überdimensionalen Tasche.
Suchend blickte ich mich im Raum um. Konnte ich hier noch etwas mitnehmen? War noch etwas zu gebrauchen?
Mein Blick wanderte über Regale und Schränke und blieb schließlich an einem eingerahmten Bild auf meinem Nachtkästchen hängen. Es war ein Familienfoto, geschossen, als ich und Tina noch kleine Mädchen waren. Darauf wirkten wir alle so fröhlich und überglücklich – weil wir noch nicht wussten, was auf uns zukam. Ohne groß zu zedern, warf ich den Rahmen zu Boden, der auf der Stelle in die Brüche ging. Das Foto selbst blieb unbeschadet. Ich hob es auf, faltete es einmal in der Mitte und steckte es in ein kleines Fach des Rucksacks.
Mehr wollte ich hier nicht mehr mitnehmen. Ich wollte endlich weg von diesem Haus, diesem Grundstück und dieser beschissenen Kleinstadt.
Ich trampelte die Stufen der Treppe hinunter in die Diele, warf den Rucksack zu Boden und stürmte in die Küche. Dort angekommen, riss ich sämtliche Schubladen auf und durchsuchte sie nach ihrem Inhalt.
Viel von dem Kramm war nicht zu gebrauchen – zumindest nicht für das, was ich vorhatte. Trotzdem fand ich einige Dinge, die ich auf die Arbeitsplatte legte und beschloss sie mitzunehmen, wie zum Beispiel ein paar scharfe Fleischmesser- irgendwie musste ich mich ja schließlich auch verteidigen können, oder? -, zwei Schachteln Zündhölzer, einen Karton mit Verbandszeug, Salben und Medikamenten – was die hier unten zu suchen hatte wusste ich nicht – und noch so manchen Kleinkramm der mir vielleicht nützlich werden könnte.
All das Zeug fand seinen Platz in einem der Fächer des Wanderrucksacks, den ich inzwischen auf einen der Küchenstühle gestellt hatte, um ihn leichter zu befüllen.
Selbst im Kühlschrank fand ich Dinge, die ich einpackte. Klarerweise machte es nicht viel Sinn, Tiefkühlkost mitzunehmen, aber ein paar andere Nahrungsmittel landeten im Rucksack.
Mit in die Hüften gestemmten Händen, stand ich schließlich in der Küche und schaute mich um. Wirklich alle Laden, Fächer und Schränke standen sperrangelweit offen – auch die Tür des Kühlschranks – und boten ein Bild des Chaos. Mit den Augen durchsuchte ich noch einmal flüchtig die Kästen, wandte mich aber zum Gehen als ich nichts Brauchbares mehr entdeckte.
Mit dem Rucksack über einer Schulter ging ich ins Wohnzimmer, wo ich noch eine Decke meinem Gepäck hinzufügte und den Bogen, der immer noch am Boden lag an mich nahm, dann wandte ich mich zur Haustür.
Klar, ich würde alles hier vermissen.
Meine Kindheit hatte ich hier verbracht, und es war eine schöne gewesen. Alte Erinnerungen schwappten über mich hinweg. Mich als Kleinkind, wie ich meine ersten Schritte in der Diele machte. Meinen Vater und meine Mutter, wie sie mir versuchten beizubringen auf Tinas Fahrrad zu fahren. Die Trauer in den Augen meiner Mutter, als sie mir erklärte, dass Grampa tot sei – da war ich zehn gewesen. Tina, wie sie bei einem ihrer ersten Kochversuche fast die Küche in Brand gesteckt hätte. Die Trauer, die dieses Haus erfüllt hatte, als meine Eltern starben.
Zuletzt tauchte noch Duncans Gesicht auf.
Ich biss die Zähne zusammen und stapfte durch die Tür. Dann zog ich sie hinter mir zu und blickte nicht mehr zurück. Ich sparte es mir abzusperren.
Mit langen, ausgreifenden Schritten bewegte ich mich auf meinen Golf zu. Der Rucksack und der Bogen landeten auf der Rückbank während ich den Motor anmachte. Mit einem tiefen Brummen sprang das alte Auto an.
Ich schaute nicht einmal in den Rückspiegel als ich auf den Waldweg abbog um, vielleicht für immer, zu gehen.
Ein bisschen Kleingeld und Tinas Kreditkarten befanden sich in meiner Geldbörse, die ich nach meinem letzten Einkauf auf dem Beifahrersitz liegen lassen hatte.
Stur starrte ich durch die Windschutzscheibe und ignorierte mein pochendes Herz. Wahrscheinlich würde mir erst später klar werden, dass ich richtig gehandelt hatte, als ich das Haus verließ.
Mein Weg führte mich in die Ferne. Ich wollte einfach nur so weit wie möglich weg von meiner alten Heimat, die mit so vielen schönen, aber noch viel mehr schlechten Erinnerungen behaftet war.
Ich fuhr viel zu schnell, aber kein einziger Streifenwagen schien heute auf den Straßen zu sein – als wollten sie mir die Chance geben zu verschwinden.
Ich fuhr nach Norden, einfach immer weiter. Selbst als es Mittag wurde und mein Magen allmählich anfing protestierend zu knurren hielt ich nicht an um zu Essen.
Erst als ein kleines, oranges Symbol vor dem Lenkrad aufleuchtete und mir so sagte, dass der Benzin knapp wurde, hielt ich an einer heruntergekommenen Tankstelle mitten im Nirgendwo.
Lange hielt ich mich dort allerdings auch nicht auf. Anstatt etwas Richtiges zu mir zu nehmen, kaufte ich mir zwei Müsliriegel und einen Eistee und weg war ich wieder.
Erst als das Licht immer spärlicher wurde hielt ich wieder an. Diesmal auf einem überwucherten Forstweg.
Mit ein paar einfachen Handbewegungen verwandelte sich der Fahrersitz in meine Schlafstelle für die Nacht. Mit der Decke aus dem Wohnzimmer wickelte ich mich ein und starrte noch eine Weile aus dem Fenster.
Der Himmel wurde mit jeder Sekunde dunkler – so schien es zumindest. Rund um mich reckten Nadelbäume ihre Spitzen gen Himmel. Langsam wie zäher Teig zogen dort oben die Wolken weiter. Fast immer bildeten sie eine geschlossene Decke, doch an manchen Stellen sah es so aus als hätten Tiere ein Loch in diese gefressen. Dort blinzelte der orange-rote Himmel zu mir herab.
Nicht einmal zehn Minuten, nachdem ich mich für die Nacht bereit gemacht hatte, war es stockdunkel vor dem Fenster. Auch hier, im Innenraum des Autos war es so finster, dass ich nicht einmal meine eigene Hand sehen konnte, selbst wenn ich sie mir direkt vors Gesicht hielt.
Ich fühlte mich merkwürdig unwohl in meiner Haut. Das Haus war nicht sicher gewesen, obwohl es aus massiven Baumstämmen errichtet worden war. Dieses alte, langsam vor sich hin rostende Auto erschien mir da allerdings auch nicht sehr viel besser. Für meinen Geschmack bestand es aus zu viel, zu dünnem Glas und Blech.
Immer wieder rannen mir Schauer über den Rücken. Zuerst dachte ich, es wäre aus Angst, aber irgendwann realisierte ich, dass es die Kälte war, die mich zum Zittern brachte. Wie lange, kalte Finger schlich sie langsam aber sicher durch die Dichtungen der Türen und Fenster herein und umgab mich.
Als ich endlich einschlief, zitterte ich schon stark, dass meine Zähne aufeinander schlugen.

Mehr als nur einmal war ich in der Nacht erwacht, weil ich geglaubt hatte, Geräusche von draußen zu hören. Immer wieder beruhigte ich mich dann damit, dass es wahrscheinlich nur Rehe oder andere Waldtiere waren, die des Nachts aus ihren Verstecken kamen um nach Nahrung zu suchen.
Jedes Mal wenn ich erwachte, sehnte ich den Morgen herbei, aber jedes Mal schien er nur noch weiter in die Ferne zu rücken.
Als es dann endlich dämmerte, war ich völlig fertig. Mein Rücken war von meiner unbequemen Schlafgelegenheit steif und verkrampft – genau wie auch der Rest meines Körpers. Vor allem mein Genick hatte gelitten.
Meine Zehen und Finger fühlten sich in etwa so an, als hätte ich sie zu lang unter kaltes Wasser gehalten. Mir war immer noch kalt und dass ich die Tür öffnete um mir ein wenig die Füße zu vertreten half da auch nicht.
Anstatt mich nachher besser zu fühlen, zitterte ich wieder und wünschte mir nichts sehnlicher als wieder in meinem Bett zu liegen – zuhause.
Ich schüttelte, verärgert über mich selbst und meine Gedanken den Kopf. Ich konnte nicht zurück. Ann würde sicher nicht lange brauchen um sich von unserem Kampf zu erholen und dann würde sie einen neuerlichen Versuch starten.
Schon nach ein paar Metern die Straße hinauf kehrte ich um und stieg wieder ins Auto. In meinem Rucksack wühlte ich nach einem Pullover. Als ich ihn fand streifte ich ihn über. Viel hatte das zwar nicht gebracht, aber sobald ich fuhr konnte ich ja die Heizung einschalten. Ich durfte nur nicht den Fehler machen sie über Nacht laufen zu lassen, sonst hätte ich die Autobatterie in kürzester Zeit geleert und würde ohne Auto in der Pampa stehen.
Mein Frühstück an diesem Morgen bestand aus einer Scheibe Toastbrot ohne Belag und dem Rest des Eistees vom Vortag. Etwa eine halbe Stunde nachdem ich aufgewacht war, startete ich den Motor und fuhr auf die Hauptstraße zurück.
Flankiert von großen Nadelbäumen und dichtem Unterholz führte die Straße eine Weile gerade aus.
Müde wie ich war, fiel es mir schwer mich auf die Fahrt zu konzentrieren. Das einzige Gefährt, das mir entgegen kam war ein Truck, beladen mit nackten Holzstämmen, der hupte als ich in Sichtweite kam.
Ich grüßte den Fahrer so freundlich ich konnte, verstand aber den Sinn hinter der Sache nicht ganz. Wahrscheinlich freute der Kerl sich einfach jemanden anderen als sein Spiegelbild in dieser Gegend zu treffen.
Ich fuhr immer weiter nach Norden und je weiter ich fuhr, desto seltener bekam ich Menschen oder ihre Bauwerke zu Gesicht. Nur manchmal konnte ich in der Ferne eine Farm oder eine Ortschaft ausmachen.
Wieder wurde es Mittag, wieder knurrte mein Magen und wieder ignorierte ich ihn.
Am späten Nachmittag überquerte ich die Grenze zum Yukkon Territory. Die Straße wurde zunehmend schlechter – wahrscheinlich hatte ich mich verfahren. Aber andererseits konnte ich mich nicht verfahren, weil ich ja gar kein Ziel hatte.
Ich fuhr durch ein relativ breites Tal. Links und rechts von mir ragten Berge in den Himmel, die Gipfel von Wolken verdeckt.
Ich hatte kein Auge für die Landschaft. Auch den Seen in denen sich wohl im Frühjahr das Schmelzwasser aus den Bergen sammelte, schenkte ich keine Beachtung. Das einzige was wichtig für mich war, war zu fahren – egal wohin.
Es war sieben Uhr abends, als ich wieder anhielt. An einem kleinen Fluss stellte ich den Motor ab und kurbelte das Fenster eine Hand breit hinunter.
Es war fühlbar kälter geworden, je weiter ich von Süden Richtung Norden kam. Wie viel Grad es hier waren wusste ich nicht genau, aber auf jeden Fall nicht mehr als zehn.
Wahrscheinlich fühlte es sich noch kälter an, weil ein spitzer Wind wehte und alles, egal ob Baum oder Grashalm, zum Wanken brachte. Eilig schloss ich das Fenster wieder, um nicht noch mehr Kälte herein zu lassen. Die Aussicht auf die kommende Nacht war alles andere als verlockend. So wie es jetzt gerade aussah, würde ich mir den Arsch abfrieren!
Widerwillig öffnete ich die Fahrertür und stieg aus. Heute wollte ich auf keinen Fall auf dem Sitz schlafen. Ich ging nach hinten, öffnete die Heckklappe und versuchte die Rücksitze umzuklappen. Das ganze dauerte dann insgesamt mehr als zehn Minuten, mit dem Resultat, dass die Rückbank zwar nicht mehr im Weg und eine ebene Fläche entstanden war, ich mir aber drei Finger eingeklemmt hatte. Leise vor mich hin fluchend kroch ich in den Kofferraum und zog die Klappe hinter mir zu.
Hier hatte ich immerhin mehr Platz als auf dem Fahrersitz und musste nicht in dieser gekrümmten Haltung schlafen, weil sich der Sitz nicht ganz umklappen ließ.
Das löste jetzt zwar das Problem mit den Rückenschmerzen, aber die Kälte würde trotzdem kommen – und gegen die war ich gänzlich ungeschützt. Vorsorglich kramte ich meinen Rucksack unter dem Sitz hervor und stöberte darin nach warmen Klamotten. Zusätzlich zu dem, was ich sowieso schon anhatte streifte ich mir noch einen Pulli, eine Weste, zwei weitere Paar Socken und einen Schal über. Vielleicht übertrieb ich es ja, aber ich wollte auf Nummer sicher gehen. Es wurde schon merklich dunkler draußen.
Mit dem letzten Tageslicht, suchte ich mir noch einen Happen zum Abendessen und verschlang ihn gierig. Und dann war es plötzlich auch schon stockdunkel. So gut wie blind legte ich die Decke über mich und rollte mich zu einer kleinen Kugel zusammen, um so viel Wärme bei mir zu behalten wie möglich.
Nicht einmal fünf Minuten später war ich eingeschlafen.

Ich riss die Augen auf. Das Auto wackelte!!!
In Panik setzte ich mich auf und schlug mir den Kopf an der Decke. Es war noch ziemlich dunkel und ich konnte nicht erkennen was draußen vor sich ging. Das einzige was ich wusste war, dass irgendetwas, oder irgendjemand, den Wagen zum beben brachte. Ich krallte mich an der Rückseite der Sitze fest und zog mich nach vorne auf den Fahrersitz. Gott sei Dank steckte der Schlüssel noch.
Mein Puls raste und ich rang um Atem als ich den Schlüssel umdrehte und die Scheinwerfer angingen.
Im ersten Moment durchzuckte mich ein Blitz als ich das nachtschwarze Monster sah, dass seine Vorderläufe auf die Motorhaube gestellt hatte und mich aus seinen großen Augen ansah!
Zu meinem Glück waren diese allerdings weder rot, noch sahen sie so aus, als würde sich allzu viel Hirn dahinter verbergen.
Der Schwarzbär, der für seine Gattung doch ziemlich groß war, warf sich immer wieder mit aller Kraft gegen das Blech des Autos und brachte es so zum Schaukeln.
Im ersten Moment atmete ich erleichtert aus. Ich hatte schon damit gerechnet, dass Ann mir gefolgt war und mich nun, mitten in der Nacht, fertig machen wollte.
Ich legte den Rückwärtsgang ein und fuhr langsam von dem Tier weg, das das Geschehen neugierig verfolgte. Der Bär machte keine Anstalten mir zu folgen als ich wieder auf die Straße fuhr.
Ein Blick auf die Digitaluhr im Armaturenbrett zeigte, dass es fast vier Uhr war. Ich schwankte zwischen: mir einen anderen Parkplatz suchen und noch ein paar Stunden schlafen; und: den Rest der Nacht durchzufahren und dafür später am Tag eine Pause einzulegen.
Nach einigem Hin und Her entschied ich mich dann doch dafür, noch einmal anzuhalten und auszuschlafen. Wenn ich auch sonst nichts mehr hatte, außer den paar Habseligkeiten in meinem Rucksack, so wollte ich doch wenigstens meinem normalen Schlafrhythmus treu bleiben.
An einer geeigneten Stelle am Waldrand – eigentlich war ich sowieso von Wald umgeben, aber naja – hielt ich und kletterte nach hinten um mir noch eine Mütze Schlaf zu holen.
Autofahren war um einiges anstrengender als man vielleicht glaubte. Auf einmal hatte ich schon fast etwas wie Respekt für die Typen, die mit ihren Wagen tagelang durch die Wüste fuhren und immer konzentriert sein mussten wenn sie nicht irgendwo im nirgendwo verrecken wollten.
Mit noch mehr absurden Gedanken von dieser Sorte schlief ich erneut ein.

Mein Schlaf blieb ungestört – wenigstens diesmal.
Richtig erholsam waren die drei Stunden zwar auch nicht mehr gewesen, aber ich war mir sicher, dass das was ich getan hatte, das Richtige war.
Ich schälte mich wieder aus meinem Zusatzgewand und merkte, dass es tatsächlich geholfen hatte. Zwar war mir an den Beinen und Armen etwas kalt geworden und meine Finger waren der nächtlichen Kälte schutzlos ausgeliefert gewesen, aber ich fror zumindest in diesem Moment nicht.
Auch meinem Rücken und Genick hatte der Wechsel des Schlafplatzes genützt – sie schmerzten nicht. Dafür war mir der rechte Arm eingeschlafen, weil ich wohl darauf gelegen hatte, während ich schlief.
Ohne zu frühstücken setzte ich mich hinter den Lenker. Wie ich aussah, wollte ich gleich gar nicht wissen, also mied ich den Blick in irgendeinen Spiegel und schaute einfach nur auf die Straße vor mir. Diese hatte sich übrigens in der Zwischenzeit in eine holprige Schotterpiste verwandelt bei deren Anblick ich mich fragte wie lange es noch dauern würde, bis mein Golf auseinanderfiel.
Mit beiden Händen musste ich das Lenkrad umklammern um nicht durch den unebenen Grund von der Straße abzukommen. Meine heimliche Befürchtung, dass die Straße bald ein Ende haben könnte, bewahrheitete sich je, als vor mir ein See auftauchte. Ich fuhr noch bis an den Rand des Gewässers und stieg dann aus dem Wagen.
Das glasklare und – wahrscheinlich - eisig kalte Wasser war umrandet von einem schneeweißen Kiesstreifen. An manchen Stellen grenzte der Wald auch direkt an den See und spiegelte sich auf der Oberfläche.
Ich war ziemlich beeindruckt von diesem Anblick, zumal ich so etwas in dieser Form noch nie gesehen hatte. Klar, Seen hatte ich schon gesehen, aber nicht einen so schönen.
Auch die steil aufragenden Wände der Berge, die den See einkreisen zu schienen spiegelten sich im Wasser.
Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und tapste langsam auf das Ufer zu wo sich sanfte Wellen zwischen den Kieseln verloren.
Schnell streifte ich mir die Schuhe von den Füßen, krempelte die Hose bis zu den Knien auf und wagte mich dann in die Fluten. Wie ich schon vermutet hatte, war es kalt – sehr kalt sogar. Trotzdem tat es mir gut und weckte ganz neue Lebensgeister in mir. Ich hatte mich noch selten so erfrischt und frei gefühlt wie in diesem Moment.
Mit geschlossenen Augen stand ich im seichten Wasser und ließ die Seele baumeln, bis die Kälte mich dazu zwang doch an Land zurückzukehren. Sobald ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, begannen meine Zehen wie wild zu kribbeln und wurden anschließend ganz heiß – ein merkwürdiges Gefühl.
Ich setzte mich nahe des Wassers auf einen großen Stein und blickte hinauf zum Himmel. Zum ersten Mal seit Wochen war der Himmel wolkenfrei – bis auf ein paar Schäfchenwolken die wie Zuckerwatte am Himmel hingen. Die Sonne schien auf mich herab, entfaltete aber nicht mehr dieselbe Kraft wie im Sommer. Obwohl es nicht annähernd so warm war, wie ich es gerne gehabt hätte, genoss ich die Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Sie kitzelten meine Wangen und erfüllte mich mit Wärme. Zumindest so lange, bis eine sanfte Brise mich zum erschauern brachte. Eine Gänsehaut kroch mir über Rücken, Arme und Beine. Der Wind wehte mir die Haare um den Kopf und da bemerkte ich, wie lang sie eigentlich schon wieder waren. Einige Strähnen reichten mir bereits wieder bis zwischen Ohr und Schulter und kitzelten sacht meinen Hals.
Ein schönes Gefühl, wenn man wusste, dass alles irgendwann seinen Lauf nahm und das Leben weiterging.
Als meine Füße wieder trocken waren, zog ich mir meine Schuhe an und ging zum Auto zurück.
Stellte sich natürlich die Frage, was ich jetzt machen sollte. Umdrehen, oder zu Fuß weiter? Während ich mir etwas zu Essen aus dem Rucksack fischte, zerbrach ich mir weiter den Kopf darüber.
Ich hatte nicht lange nachgedacht, als ich entschied mein Haus zu verlassen. Auch die Fahrtrichtung hatte sich wie von Geisterhand ergeben, ich war einfach immer weiter gefahren.
Und jetzt?
Bei all dem, was ich schon durchgemacht hatte, konnte ich auch gleich das Schicksal entscheiden lassen, oder?
Schlimmer als es ohnehin schon war, konnte es doch sowieso nicht mehr kommen.
Ich biss in Gedanken versunken auf der Unterlippe herum.
Sollte ich vielleicht eine Münze werfen?
Ja, das würde ich machen – aber nicht jetzt. Noch nicht.
Ich aß den Apfel und das Stück Brot, das ich gefunden hatte gleich im Stehen und schaute mir dabei die Umgebung an.
Hier schien alles geradezu perfekt zu sein. Wie viele Menschen wohl schon hier gewesen waren, an diesem See? Sicher nicht sehr viele. Alles sah so unberührt und total natürlich aus.
Langsam verstand ich, warum Duncan in dieser abgelegenen Hütte mitten im Wald gelebt hatte. Ganz einfach: weil es seiner Natur entsprach so zu leben. ‚UNSERER Natur‘, korrigierte ich mich selbst.
Ich warf den kümmerlichen Rest von dem Apfel in ein Gebüsch in der Nähe und trat dann ein Stück vom Auto weg. Irgendwie musste das mit der Verwandlung ja gehen, oder?
Ich konzentrierte mich. Zuerst versuchte ich es mit Bildern von Wölfen, die ich mir irgendwann einmal angesehen hatte, aber mein Körper zeigte keinerlei Reaktion auf meine Bemühungen.
Und so ging es den ganzen Nachmittag weiter, bis mich schließlich ein Regenschauer überraschte und ich ins Innere des Wagens flüchten musste, um nicht bis auf die Knochen nass zu werden. Ich schaute den Tropfen noch sehr lange beim Fallen zu und war einer Trance schon sehr nahe.


Zuflucht



Die Regentropfen trommelten unaufhörlich gegen das Blech des Autodaches und erzeugten so ein ohrenbetäubendes Geräusch. Inzwischen saß ich schon gute drei Stunden auf meiner Schlafstätte im hinteren Teil des Wagens und starrte die Kopfstütze des Fahrersitzes an. Es war stockdunkel, aber das war mir egal.
Meine Gedanken waren weit weg – in der Vergangenheit.
Ich dachte über mein Leben nach, wie es früher gewesen war und wie es sich so schlagartig geändert hatte. Alles hatte angefangen, als ich Duncan das erste Mal getroffen hatte. Von da an ging es eigentlich nur noch bergab, und trotzdem würde ich diese Zeit nie wieder vergessen wollen. Ich wusste zwar, dass er für immer weg war und ich nie mehr sein Lächeln sehen würde, aber trotzdem spürte ich, dass er mich nicht ganz verlassen hatte.
Der kleine Ring an meinen Finger erinnerte mich an ihn – immer noch. Jedes Mal wenn ich das glänzende Metall sah, sah ich sein Gesicht vor mir und vermisste ihn noch mehr.
Schon mehrmals an diesem Abend hatte ich mit dem Gedanken gespielt, den Ring einfach im Rucksack verschwinden zu lassen und mit ihm auch meine Vergangenheit. Aber ich brachte es einfach nicht über mich ihn abzunehmen. Das kühle Metall schien mich zu beruhigen, und so wäre es wenig sinnvoll gewesen, wenn ich ihn nicht mehr getragen hätte.
Ich saß also einfach da und starrte in die Dunkelheit. Immer noch stand die Frage im Raum – oder besser gesagt im Auto – ob ich den Golf hier stehenlassen und mich zu Fuß auf den Weg machen sollte, oder ob ich umkehrte und weiterfuhr. So sehr ich mich auch bemühte und mir das Hirn zermarterte, ich konnte mich nicht entscheiden. Jedes Mal wenn ich glaubte endlich zu einem Entschluss gekommen zu sein, vielen mir wieder Dinge ein, die gegen mein Vorhaben sprachen.
Eine weitere Stunde verstrich, ohne dass ich es wirklich bemerkte.
Nicht einmal als der Regen aufhörte legte ich mich zum Schlafen nieder, denn ich wusste, dass das so ohnehin nichts werden würde. Solange mein Hirn so intensiv arbeitete, war mir kein Schlaf vergönnt.

Alles um mich herum wurde langsam grau – erst dunkel und dann immer heller. Die Umgebung nahm langsam Gestalt an. Die Bäume hoben sich vom Himmel ab. Der Innenraum des Wagens wurde wieder zu einem verwundbaren Ort. Ich verharrte in meiner Position, zusammengekauert, die Arme um meine Beine geschlungen, das Kinn auf den Knien.
Am Horizont formten sich Wolken aus der Dunkelheit und wurden nach einiger Zeit von der aufgehenden Sonne angestrahlt. Die Strahlen verteilten sich fächerförmig über der ganzen östlichen Hälfte des Himmels und tauchten ihn in ein zartes Orange.
Endlich schien ich aus meiner Trance zu erwachen. Meine Starre löste sich langsam auf und ich fühlte, wie angespannt die Muskeln in meinem Rücken und Genick waren. Mein Gesicht war spürbar angeschwollen und meine Augen brannten.
Ich war die ganze Nacht wach gewesen und hatte verzweifelt versucht eine Lösung zu finden. Bis jetzt hatte ich sie allerdings noch nicht gefunden.
Gähnend kroch ich ein Stückchen nach vorne und griff nach meinem Rucksack, um mir mein Frühstück zu angeln. Meine Finger griffen oft daneben, aber irgendwann hielt ich einen Apfel und eine Flasche Cola in der Hand. Zwar war das kein traditionelles Frühstück in dem Sinne, aber es würde meinen knurrenden Magen besänftigen. Herzhaft biss ich von dem Obst ab, so dass ein lautes Krachend zu hören war.
Der Apfelgeruch stieg mir in die Nase und entlockte meinem Magen noch ein letztes Grummeln, dann erreichte ihn auch schon der erste Bissen und er verstummte.
Ohne auch nur einmal aufzuschauen, stopfte ich meine karge Mahlzeit in mich hinein. Anschließend trank ich die Cola in einem Zug aus und hielt mir den Bauch. Es war nicht viel gewesen, aber ich war satt geworden und das war alles was gerade zählte.
Rückwärts krabbelte zur Heckklappe und öffnete sie von innen. Langsam klappte sie auf und ein frischer Lufthauch wehte mir entgegen und wühlte meine Haare auf. Es roch nach Wald, feuchtem Stein und Wildblumen. Mit geschlossenen Augen sog ich die natürlichen Gerüche auf wie ein Schwamm. Erst eine knappe Minute später hob ich die Lider wieder und blinzelte in die aufgehende Sonne. Rot und strahlend stand sie inzwischen über den Baumwipfeln und schien mich anzulächeln.
Langsam schwang ich meine Beine über den Rand des Kofferraums und stand auf. Wieder umhüllte mich eine kühle Brise. Der leichte Wind war nicht unangenehm und erstaunlicherweise auch nicht wirklich kalt, aber ich wusste schon jetzt, dass ich in der Nacht wieder zittern würde wie Espenlaub. Mit kleinen Schritten näherte ich mich dem Ufer des Sees, der heute wieder völlig ruhig dalag, als hätte es keinen Regenschauer gegeben, der seine Oberfläche aufwühlte.
Die hellen Steine unter meinen Füßen knirschten wieder, aber alles was ich wahrnahm war das rötliche Glitzern, das vom glasklaren Wasser ausging.
Am Rand des Gewässers ging ich in die Knie und formte meine Hände zu einer Schale, in die ich dann Wasser laufen ließ. Es war immer noch eisig kalt, aber genau das war es, was ich gerade brauchte.
Ich tauchte mein Gesicht in die kleine Pfütze, die in meinen Händen entstanden war und wollte am liebsten zurückzucken. Klar, schon in den Händen hatte es sich kalt angefühlt, aber als das Wasser meine Wangen benetzte merkte ich erst wie kalt es wirklich war.
Nach meiner Katzenwäsche erhob ich mich langsam wieder, den Blick immer auf dem See. Wasser hatte mich schon immer fasziniert. Als ich klein war, hatte mein Vater in einem lichten Waldstück hinter unserem Haus einen kleinen Bach umgeleitet und einen künstlichen Tümpel damit gefüllt. Das war damals mein Swimming Pool gewesen.
Je länger ich auf die spiegelnde Oberfläche sah, desto mehr formte sich in meinem Kopf ein Gedanke. Ich konnte ihn noch nicht greifen, und trotzdem wusste ich ganz genau, dass er da war.
Wie lange war es jetzt eigentlich schon her, dass ich mein altes Zuhause verlassen hatte?
Drei Tage? Vier? Weniger? Oder vielleicht doch mehr?
Unbewusst zuckte ich mit den Schultern. Dort erwartete mich sowieso niemand, also war es egal wie lang ich weg war oder wann ich zurückkam – falls ich das überhaupt jemals tat.
Vielleicht fand ich einen anderen Ort an dem ich wieder glücklich werden konnte und nicht in der ständigen Angst leben musste angegriffen zu werden und dann schuld daran zu sein, dass tausende Menschen starben.
Ich drehte mich um und ging zurück zum Auto. Wenn ich es mitnehmen könnte, würde ich sofort und ohne zögern in den Wald hinein marschieren und nicht zurück blicken. Aber irgendwie bot dieses alte Gefährt doch einen gewissen Schutz, den ich unmöglich zurücklassen konnte.
Ich kaute auf meiner Unterlippe und fuhr mir mit einer Hand durchs Haar. Es fühlte sich schon etwas verfilzt an, bald würde ich es waschen müssen wenn ich verhindern wollte, dass es zu einem Vogelnest mutierte.
Und dann kam die Idee, die sich vorhin schon in meinem Hinterkopf gebildet hatte endlich an die Oberfläche.
Wer sagte denn, dass ich weit in den Wald hinein gehen musste?
Wer sagte, dass es nicht hier irgendwo in der Nähe einen alten Forstweg gab oder eine Schneise zwischen den Bäumen, die ich als Fahrbahn verwenden konnte?
Ich musste den Wagen ja wirklich nicht zurücklassen, wenn ich mich nicht weit von ihm entfernte. Vielleicht fand ich einen Ort, der geschützter war, als diese offene Fläche an der Nordseite dieses Sees. Vielleicht einen Felsvorsprung den ich als natürliche Garage und Unterschlupf verwenden konnte.
Entschlossenen Schrittes ging ich am Auto vorbei auf den Waldrand zu. Ich wollte zuerst doch unbedingt eine befahrbare Strecke für meinen alten Wagen finden.
Ich ging ein Stück am Seeufer entlang und ließ meinen Blick dabei über die Bäume wandern, die den Waldrand bildeten.
Nach ungefähr einem Kilometer, fand ich ein Bachbett, in dem nur wenig Wasser floss. Somit hatte ich ja schon einmal eine ‚Straße‘ gefunden. Ich bog in den Wald ein und ging dem Wasserlauf nach.
Lange versperrten keine Felsen den Weg. Nur hin und wieder musste ich einen fußballgroßen Findling zur Seite rollen.
Der Bach wand sich durch den Wald und ich war mehr als dankbar, dass es ihn gab. Ansonsten hätte ich meinen Plan gleich wieder vergessen können.

Drei Stunden waren vergangen. Ich war inzwischen längst wieder zum Auto zurückgekehrt und lenkte ihn auf das Bachbett. Ich hüpfte auf dem Sitz auf und ab während die Reifen Halt auf den größeren und kleineren Steinen suchten. Einmal schlug ich mir fast den Kopf an der Windschutzscheibe, als ich über eine glatte Steinplatte fuhr und zwei Räder unerwartet durchdrehten.
Mein Schrecken war bald überwunden und ich konzentrierte mich wieder ganz darauf, das Lenkrad fest zu halten.
Langsam arbeitete ich mich weiter vor in den Wald – hangaufwärts. Je weiter ich fuhr, desto schwieriger war es, nicht die Kontrolle über den Wagen zu verlieren. Die Reifen rutschten immer öfter durch und fanden auf den, teilweise meterbreiten, Steinen nicht genug Halt. Zweimal musste ich aussteigen um Felsbrocken aus dem Weg zu räumen, die ein Weiterkommen unmöglich gemacht hätten. Gott sei Dank war ich jetzt ja stärker als früher, so dass diese Arbeit schnell und ohne große Probleme erledigt war.
Eine gute Stunde ging das so. Inzwischen hatte sich das Bachbett eher in eine Schotterhalde verwandelt, die ungefähr so breit war wie ein halbes Fußballfeld. Im Zickzack arbeitete ich mich über das lose Gestein voran, was stellenweiße sogar ziemlich gefährlich schien. Einmal bekam ich es tatsächlich mit der Angst zu tun, weil das Auto seitlich ein paar Meter absackte und ich logischerweise mit ihm.
Von dieser Stelle an war ich wachsamer und stieg lieber aus um die Situation zu checken bevor ich weiterfuhr. Ich hatte es nicht einmal für möglich gehalten, dass diese alte Rostlaube so eine Tortur überhaupt überstehen würde, aber als ich endlich eine ebene Fläche erreichte, war ich mehr als erleichtert. Die Frage war allerdings, ob ich da irgendwie wieder runter kam, falls es notwendig war.
Mit pochendem Herz und vor Aufregung zitternden Händen schaltete ich den Motor aus und lehnte meinen Kopf gegen das Lenkrad.
Eins musste ich schon zugeben: ich machte Sachen die extrem dämlich waren! Ich hätte auf dem Weg hier herauf sicher ein paar Mal ins Gras beißen können, aber das kapierte ich erst jetzt, wofür mein Körper von einer Welle der Angst überrollt wurde.
‚Okay, es ist alles gut! Nichts passiert!‘, redete ich mir in Gedanken ein und es funktionierte! Ich beruhigte mich schneller, als ich selbst geglaubt hatte.
Als ich mich umsah, klappte mir vor erstaunen der Mund auf.
Ich befand mich immer noch im Wald, um genau zu sein auf einer Geröllhalde im Wald. Rund um mich ragten Bäume in den Himmel. Blattloses Gebüsch streckte seine kahlen Zweige in alle Himmelsrichtungen von sich und schmiegte sich an die Baumstämme. Schwarzbeeren überwucherten links von mir eine riesige Fläche.
Ich stieg aus und witterte aufmerksam. Als ich nirgendwo Gefahr wahrnehmen konnte, ging ich ein paar Schritte. Auch wenn ich sicher nicht mehr als dreihundert Höhenmeter überwunden hatte, war die Luft hier spürbar kühler und roch nach Waldboden und Moos. Ich fühlte mich auf Anhieb wohl und drehte mich übermütig einmal um mich selbst. Was auch immer es gewesen war, dass mich hierher geführt hatte, ich war froh, dass es so gekommen war. Dieser Ort schien so friedlich zu sein, weit entfernt von den Menschen und allem Bösen. Ich ging weiter.
Je weiter ich mich vom Wagen entfernte, desto deutlicher wurde ein Tosen und Rauschen, wie von einem Wasserfall. Ich wandte mich in die Richtung, aus der das Geräusch kam und achtete dabei darauf, nicht über das Gestrüpp am Boden zu stolpern.
Der Hang stieg sanft an und ich erklomm den bewaldeten Buckel ohne große Anstrengung. Von diesem erhöhten Platz aus konnte ich den Wasserfall auch schon sehen. Wie ein weißes Band fiel das Wasser ungefähr zehn Meter über einen Felsvorsprung in die Tiefe und sammelte sich dann in einem großen Becken, von dem mehrere Rinnsale ausgingen und den darunter liegenden Hang zu teilen schienen.
Langsam ging ich weiter. Eine durchsichtige Wolke umhüllte den untersten Teil des Wasserfalls. Hier und da rannen dünne Wasserläufe über den hellen Stein und ließen Moose und Flechten wachsen.
Am Rand des Beckens fand ich einen verrottenden Baumstamm, der mir als Sitzgelegenheit diente. Ich schlüpfte aus meinen Schuhen und Socken und ließ meine Zehen ins Wasser hängen.
Aufmerksam schaute ich mich um. Die Bäume standen hier nicht ganz so dicht und ließen genug Licht durch, damit gelbe und weiße Wildblumen und Gräser wachsen konnten.
Auf der anderen Seite des Tümpels befand sich eine strahlend weiße Sandbank, die leicht schimmerte und ganz von Wasser umgeben war. Dahinter war noch ein schmaler Streifen Waldboden – Moose, heruntergefallenen Nadeln und feuchte Erde – der dann in die Felswand überging.
Einen guten Meter über dem Boden, konnte ich eine Einbuchtung in den Felsen erkennen. Zuerst glaubte ich, ich hätte mich getäuscht, doch je länger ich die Stelle ansah, desto sicherer war ich mir, dass mir meine Augen keinen Streich spielten.
Ich stand auf, ließ meine Schuhe an Ort und Stelle zurück und durchquerte das Becken an einer seichten Stelle um auf die andere Seite zu kommen. Mit den Armen versuchte ich Gleichgewicht zu halten, was angesichts der, doch relativ starken Strömung, gar nicht so einfach war wie ich es mir vorgestellt hatte.
Endlich am anderen Ufer angekommen, waren meine Zehen total taub und schmerzten wie wild. Ich musste einen Augenblick warten, bis sich mein Körper wieder einigermaßen beruhigt hatte. Erst dann konnte ich weitergehen und die Wand genauer untersuchen.
Die spitzen Nadeln piksten in meine Fußsohle, aber ich versuchte es so gut wie möglich zu ignorieren – ansonsten wäre ich nämlich keinen Meter weitergekommen.
Und dann stand ich schließlich vor dem blanken Stein und suchte ihn mit meinen Augen ab.
Die Einbuchtung, die ich gesehen hatte, stellte sich als kleine Höhle heraus. Probehalber setzte ich mich auf die Kante und legte mich auf den Rücken. Ja, wenn man hier etwas Laub oder Moos reinpackte, die Öffnung mit Ästen und Zweigen gegen den Wind und den Regen verschloss und eine kleine Stelle für ein Feuerchen offen ließ, könnte man hier bestimmt gut leben.
Ich schaute mich nochmals genauer um. Ob hier schon jemals ein Mensch gewesen war? Wahrscheinlich nicht. Auf jeden Fall sah es nicht danach aus.
Ich richtete mich auf und krabbelte auf allen vieren – obwohl ich mich sicher auch größer machen hätte können – in den hinteren Teil der Höhle. Diese wurde hier nochmal um einen guten halben Meter höher. In Gedanken sah ich hier schon ein kuschlig, warmes, Moos-Laub-Bett. Davor, in einer Vertiefung mit ungefähr einem Meter Durchmesser, die Feuerstelle, auf der ich Essen kochen und mich wärmen konnte. Und mit dem vorderen Teil der Höhle könnte ich bestimmt auch noch etwas anfangen.
Ich weiß, diese Gedanken und Fantasien waren ganz schön abenteuerlich, aber immerhin war mein ganzes Leben nicht gerade normal gewesen – wieso also jetzt damit anfangen?
Das einzige, was mir in dem Moment leichtes Kopfzerbrechen bereitete, war der nahende Winter. Ich wusste, dass es hier eisig kalt werden würde. Ob ich das überleben konnte?
Ja, ganz sicher! Ich war kein gewöhnliches Menschemädchen mehr, ein Teil von mir war ein Wolf. Und Wölfe waren bekanntlich an raues Klima gewöhnt.
Ich nickte, machte Kehrt und krabbelte zurück zum Eingang – oder Ausgang, wie man’s nahm. Die Sonne sandte immer noch wärmende Strahlen herab, obwohl sie längst nicht mehr so kräftig war wie noch vor ein paar Wochen. Ich konnte schon fast den Schnee riechen, der in den höheren Regionen gefallen war.
Das bedeutete, dass ich mir meinen neuen Unterschlupf so schnell wie möglich einrichten musste!
Viel unvorsichtiger als auf dem Hinweg, durchquerte ich diesmal den Bach. Das Wasser spritzte zu allen Seiten und machte den Rand des Beckens noch rutschiger, als er ohnehin schon war. Als ich bemerkte, dass meine frierenden Füße auf dem glatten Stein keinen Halt fanden, wagte ich kurzerhand einen Hechtsprung nach vorne und krallte meine Hände in den Waldboden. Zuerst drohte ich zurück zu rutschen, denn ich schaufelte nur haufenweise Blätter und abgefallene Nadeln beiseite, ohne mich aber richtig halten zu können. Auch meine Beine wirbelten wie wild durch die Luft, auf der Suche nach etwas, an dem ich mich abstützen konnte.
Einen Augenblick lang dachte ich, ich würde klatschnass im Bachbett enden, doch dann fanden meine Finger eine dicke Wurzel und umklammerten diese mit aller Kraft die ich aufbringen konnte. Auch mit meiner zweiten Hand griff ich nach dem knorrigen Stück Holz und dann zog ich.
Im ersten Moment war ich so verwundert darüber, dass ich es tatsächlich schaffte, dass ich fast losgelassen hätte. Endlich waren meine Füße aus dem Wasser, doch jetzt breitete sich wieder der Schmerz aus, den die Kälte verursachte. Leicht zitternd – vor Anstrengung und Kälte – legte ich mich neben dem Becken auf den Rücken.
Okay, bevor ich hier irgendetwas einrichten konnte, brauchte ich eine Brücke oder etwas ähnliches, es sei denn, ich wollte jedes Mal so ein Theater haben wie gerade eben. Und um eine Brücke zu bauen, brauchte ich Werkzeug - also zurück zum Wagen und mein Zeug hierher schleppen.
Der Weg zurück zum Auto war beschwerlich. Meine Füße, die übrigens immer noch nicht in Schuhen steckten, fühlten sich taub an, aber wenigstens spürte ich so nicht, wenn ich auf irgendetwas Spitzes trat.
Als der Golf in Sicht kam, legte ich einen Sprint zurück, der sich sehen lassen konnte. Hundert Meter hatte ich im Nu hinter mir gelassen, ohne auch nur außer Atem zu kommen.
Verwundert packte ich meinen Kram zusammen, stopfte ihn in den Rucksack und legte ihn neben dem Hinterreifen auf den Boden. Dann kroch ich noch einmal in den Kofferraum, um den Bogen und die Pfeile heraus zu holen.
Genau in diesem Moment, kam mir noch eine Idee. Warum sollte ich mein Auto hier einfach Wind und Wetter überlassen und die Polsterung und Sicherheitsgurte mit ihm, wenn ich sie doch für andere Dinge gebrauchen konnte? Zum Beispiel zum Bau eines Bettes.
Ich zog eines der Messer, die ich eingepackt hatte, aus dem Rucksack und begann, den Innenraum des Autos damit zu bearbeiten. Zugegeben, schön sah das dann nicht mehr aus, aber das musste es auch nicht.
Mit einigem Gezerre schaffte ich es schließlich – nach einer halben Stunde Arbeit – die Schaumstofffüllung mitsamt Überzug von den Sitzen zu lösen und durch Türen oder Kofferraum ins Freie zu schaffen – ebenso wie die Gurte. Ich folgte, nachdem ich das Messer in die Tasche zurückgesteckt hatte.
Jetzt, wo meine Fußsohlen wieder aufgewärmt waren, war das Gehen auf den spitzen Steinen alles andere als ein Vergnügen, aber ich konnte es jetzt nicht ändern.
Ich bepackte mich als erstes mit dem Rucksack, Waffe und Munition und schleppte das ganze Zeug zum Becken. Um es auch durchs Wasser zu tragen fehlten mir jetzt die Nerven.
Das ganze Theater vollführte ich noch zweimal, um die Teile herbei zu schaffen, die ich aus dem Auto ausgebaut hatte.
Diesmal war ich außer Atem, als ich mich auf einen der Polster setzte und auf die aufgewühlte Wasseroberfläche starrte. Mein Herz schlug schneller vor Anstrengung, aber das würde sich bald beruhigen. Jetzt war es erste einmal wichtig, einen Weg übers Wasser zu bauen, sonst konnte ich meinen Plan gleich vergessen.

Vier Tage später….
Es dämmerte. In wenigen Augenblicken würde die Sonne aufgehen, doch das würde ich nicht sehen können. Sie hatte sich schon drei Tage nicht mehr gezeigt, und mir meine Arbeit so um einiges erschwert. Gut, dass ich es geschafft hatte, mit Hilfe eines Küchenmessers und eines Steins mehrere, junge Bäume zu fällen. Diese band ich mit Teilen der Sicherheitsgurte, entweder zu einer schmalen Brücke, oder einer stabilen Wand aus Stämmen zusammen. Die Wand hatte ich dann über die Hälfte der Öffnung gelehnt und, fürs erste provisorisch, mit Steinen befestigt. Über diese nackte Konstruktion hatte ich noch mehrere Lagen Reisig und dürre Zweige gelegt um das Ganze zu befestigen.
Es sah nicht einmal besonders auffällig aus. Ich war mir ziemlich sicher, dass ein verirrter Wanderer meine Zuflucht nicht bemerkt hätte.
Noch am selben Tag – oder besser gesagt Abend, denn das war es zu diesem Zeitpunkt schon – hatte ich die Polsterung und den Rest meines Gepäcks in meine Höhle geschleppt. Hier war es zwar noch dunkel gewesen, aber wenigstens war ich geschützt vor Wind und Niederschlag.
Die erste Nacht war ruhig gewesen – beinahe schon gespenstisch ruhig. Ich hatte mich geschützt gefühlt, als wäre ich nach einer viel zu langen Reise endlich heimgekommen.
So gut ich in dieser Nacht auch geschlafen hatte, der nächste Morgen kam viel zu bald.
An Tag zwei meines kleinen Bauprojekts, hatte ich abgefallene Blätter und Moos aus dem Wald gesammelt und damit den gesamten Boden der Höhle – bis eben auf die Feuerstelle - ausgepolstert. Selbst diese, relativ einfache, Arbeit hatte einen ganzen Tag beansprucht und den Abend verbrachte ich dann damit, mich, zum ersten Mal seit einem gefühlten Jahr, zu waschen – auch wenn es nur im eisigen Wasser des Bachs war.
Als die Sonne längst hinter den Bäumen verschwunden war, hatte ich mich dann am Feuer in meiner Höhle gewärmt, bis ich schließlich einschlafen war.
Gestern war es schließlich so weit gewesen. Meine Vorräte, die ich aus meinem alten Zuhause mitgebracht hatte, waren völlig erschöpft. Den letzten Apfel verspeiste ich zum Frühstück, seitdem hatte ich nur reglos in meinem Versteck gelegen und versucht meinen knurrenden Magen zu ignorieren.
Wie hatte ich mich nur in die Wildnis begeben können, ohne zu bedenken, dass mein Körper Nahrung brauchte um zu überleben. Immer wieder hatte ich mich auf meinem Bett hin und her gewälzt und mir den Kopf mit immer der gleichen Frage zerbrochen: wo sollte ich in dieser Einöde etwas Essbares auftreiben?
Ein Rascheln hatte mich schließlich aus meinen Gedanken gerissen, das war am späten Nachmittag gewesen. Langsam und vor allem leise war ich zum Eingang geschlichen und hatte hinaus gespäht.
Auf der anderen Seite des Beckens, auf dem schmalen Wiesenstreifen, graste, in aller Ruhe, ein Reh. Soweit ich das beurteilen konnte, hatte es eine Wunde am Hinterbein und hinkte deshalb.
Wenn nicht jetzt, wann dann?
Ich hatte nach Pfeil und Bogen gegriffen. Ich musste unter Beweis stellen, wie gut ich wirklich zielen konnte – mehr oder weniger hing mein Überleben davon ab.
Ich hatte noch einmal kurz die Augen geschlossen, bevor ich den Pfeil auf die Sehne gelegt hatte. Noch nie hatte ich ein Tier getötet und jetzt musste ich es. Und danach musste ich es verarbeiten, bevor der Geruch von frischem Blut andere Raubtiere anlocken konnte – das sagte mir mein Verstand.
Ich schluckte schwer, doch das Reh war zu sehr aufs Fressen konzentriert.
Ich hatte gezielt, den Bogen gespannt und losgelassen. Noch bevor der Pfeil die dünne Haut des Tiers durchbrochen hatte, schloss ich die Augen – das wollte ich nicht sehen.
Mit einem dumpfen Aufprall war das Reh zu Boden gefallen – alle viere von sich gestreckt. Hastig hatte ich meinen Unterschlupf verlassen, mit einem Messer bewaffnet, und war über die Brücke balanciert.
Das Reh hatte noch leicht gezuckt, als ich mich über es gebeugt und mit meinem Knie auf dem Boden beschwert hatte.

Das Fleisch war zart gewesen und hatte hervorragend geschmeckt. Ein kleines Stückchen hing noch auf dem Stock über dem Feuer. Ich hatte halb auf dem moosbedeckten Boden, halb auf meinem federweichen Bett gesessen.
Mit einer einfachen Bewegung zog ich das Fleisch aus dem Feuer und biss ein Stück ab – lecker.
Nur um eins klarzustellen: ich hasste Wild! Ich hasste es wie die Pest! Schon als ich klein war, hatte ich es nie essen wollen. Doch plötzlich schmeckte es mir, als wäre es das Beste, was es auf der ganzen Welt gab.
Gierig schlang ich den Rest hinunter. Seit Tagen fühlte ich mich zum ersten Mal wieder vollkommen satt und pudelwohl.
Während das Feuer langsam verglomm, kroch ich in den hintersten Teil meines Bettes und schmiegte mich in die weiche Unterlage. Die dünne Wolldecke zog ich über meinen Körper und starrte in den kümmerlichen Rest meines Lagerfeuers.
Jetzt, am Morgen war ich immer noch vollkommen satt und von der Nacht ausgeruht. Unter meinem T-Shirt zeichnete sich sogar eine leichte Wölbung ab, so voll war ich. Langsam setzte ich mich auf und spähte hinaus.
Die Dämmerung war längst vorüber, dennoch lag alles in einem grau-grünen Licht da. Ich kroch zum Ausgang und ließ mich auf den Waldboden vor meiner Höhle fallen.
Es roch nach kaltem Stein, feuchter Erde und modrigen, nassen Blättern – der Geruch von Wald. Gierig sog ich ihn in mich auf und trat ans Becken um mich zu waschen.
Langsam verstand ich, wie es den Menschen im Mittelalter ergangen sein musste. Nur, dass ich, dank des Wolfs in mir, kein Problem mit der Wildnis um mich herum hatte.
Ich fühlte mich zuhause – zum ersten Mal seit so langer Zeit. Nichts hier wirkte bedrohlich, oder gar einschüchternd, weil ich nichts zu befürchten hatte.
In der frischen Morgenluft lag nicht der kleinste Hauch von Gefahr – Ann war nicht in Sicht, klarerweise. Es hätte schon ein ziemlich dummer Zufall sein müssen, ihr ausgerechnet hier zu begegnen. Aber diesmal hatte ich Glück.
Am Vortag hatte ich zwar die Fährte eines Wolfes aufgenommen, aber der Geruch hatte nicht mit Anns überein gestimmt. Auch Bärenspuren hatte ich, ungefähr einen Kilometer vom Wasserfall entfernt, tief im Wald, entdeckt, aber auch das bereitete mir kein Kopfzerbrechen. Wenn der Bär auftauchen würde, würde ich bereit sein und mich zu wehren wissen.
Langsam tauchte ich meine Arme ins kalte Wasser, während meine Füße sich immer weiter Richtung Beckenrand schoben. Meine Schuhe lagen in der Höhle, und ich trug sie inzwischen nur noch, wenn ich weiter zu gehen hatte – ansonsten schienen sie mir eher hinderlich als hilfreich.
Nun setzte ich, erst den einen, dann den anderen Fuß ins seichte Wasser und wartete, bis sich meine Haut an die klirrende Kälte gewöhnt hatte. Neben mir toste der Wasserfall. Ein leichter Sprühnebel benetzte meine Gesicht, aber inzwischen hatte ich mich daran schon gewöhnt – ich fand es sogar sehr beruhigend.
In der Nacht wiegte mich das Rauschen wie ein Lied in den Schlaf und am Morgen, wenn es hell wurde, weckte es mich wieder.
Inzwischen stand ich bereits bis zu den Knien in der glasklaren Flüssigkeit. Meine Klamotten behielt ich dennoch an, denn sie machten die Kälte wenigstens etwas erträglicher, auch wenn sie, allein wegen des Sprühnebels, schon an meiner Haut klebten. Ich watete dem Wasserfall entgegen und blieb vor einem kleinen Ausläufer stehen. Dieser war wohl, durch einen Stein oder Holz, von dem restlichen Wasservorhang getrennt und führte weniger des Lebenselixiers. Mit zusammengebissenen Zähnen stellte ich mich unter den Schwall. Mein Körper erzitterte schon in der ersten Sekunde, aber ich musste das jetzt noch kurz aushalten.
Mit schnellen Bewegungen wusch ich mir den gröbsten Schmutz von Gesicht, Armen, Beinen und Füßen, wobei die Tropfen pausenlos auf meine Schädeldecke und meine Schultern einschlugen und einen stechenden Schmerz verursachten.
Fünf Minuten dauerte das Waschprozedere, dann flüchtete ich aus dem kalten Nass. Meine Zehen waren taub und schmerzten wie wild – genau wie meine Hände und eigentlich der ganze Rest meines Körpers. Wackelnd und schwankend kämpfte ich mich in die Höhle und setzte mich ans Feuer, um ein paar trockene Zweige zu entzünden – was sich mit tauben Fingern als schwieriger herausstellte, als gedacht. So hatte ich wieder etwas Neues dazu gelernt: kümmere dich um das Feuer, solange deine Hände tun, was du willst!
Nach fünf Minuten züngelten dann aber doch Flammen in die Höhe und verschlangen gierig das Brennmaterial, das ich am Tag zuvor in die Höhle geschafft hatte.
Immer klarer wurde mir, dass der Winter, hier in den Bergen, alles andere als gemütlich werden würde. Ganz im Gegenteil! Es würde ein langer Winter werden.


Dezember




Januar




Februar




März




April




Schneeschmelze




Frierend richtete ich mich auf. Hatte ich mich geirrt, oder hatte ich gerade einen Vogel singen gehört?
Langsam schleppte ich mich zum Ausgang und spähte ins Freie. Aber das konnte nicht sein, sie sangen nicht im Winter.
Ich schlüpfte in meine Schuhe, die ich neben der Öffnung deponiert hatte, und kletterte aus der Höhle.
Es war bitterkalt, und das, obwohl ich schon alles Gewand trug, das ich besaß. Ich schlang meine Arme um meinen Oberkörper und tapste zum Becken. Immer noch zugefroren.
Mit einem Stein hieb ich mehrere Male auf die Eisplatte ein, bis ein kleiner Riss entstand. Gierig sammelte ich etwas Wasser in meinen Händen und trank es. Die Kälte brannte mir in der Kehle, trotzdem wiederholte ich das Prozedere noch fünfmal. Ich wusste, dass es ungesund war, eisiges Wasser zu trinken, weil es meinen Körper von innen heraus auskühlte, aber ich hatte einfach zu viel Durst – außerdem hatte das den ganzen Winter hindurch funktioniert.
Ja und lange konnte der ja wohl nicht mehr dauern – das hoffte ich zumindest! Alles hätte ich dafür gegeben einen Winterschlaf halten zu können, stattdessen musste ich jeden zweiten Tag hinaus in den Wald und oft kilometerweit laufen um Nahrung zu finden. Solang es noch nicht geschneit hatte, war es auch noch einigermaßen erträglich gewesen, aber der erste Schnee des Jahres sperrte mich für drei Tage in meiner Höhle ein. Erst danach konnte ich wieder auf die Jagd gehen – und zwar in drei Kilometern Entfernung. Die klägliche Ausbeute war ein Kaninchen. Es hatte mir im Herzen wehgetan, das niedliche Tierchen zu erschießen, aber mein Magen hatte kurzerhand mein Hirn ersetzt – er hatte jetzt das Sagen in meinem Körper.
Und so ging es den ganzen Winter durch weiter. Irgendwann verließ mich mein Jagdglück vollkommen und ich musste mich zwei Wochen lang von Flechten ernähren – sehr unappetitlich.
Jetzt war ich mager, und das meine ich wirklich so. Knochen standen spitz von meinem Körper ab, von denen ich noch nicht einmal gewusst hatte. Meine Arme waren dünn und knochig, ebenso wie meine Beine.
Trotzdem hatte mich die Kraft nie verlassen. Das Tier in mir war zäher als ich es mir vorstellen konnte.
Auch heute hatte mich wieder der Hunger geweckt – wie schon so oft in den letzte Wochen.
Ich kannte das Gefühl inzwischen schon so gut, dass es für mich praktisch normal war. Ich richtete mich wieder auf und schaute mich um.
Ich hatte mich also doch nicht getäuscht! Dort drüben, auf der Fichte saß ein Vogel und zwitscherte fröhlich vor sich hin. War das ein Anzeichen für den nahenden Frühling? Ich betete innerlich.
Ich überquerte vorsichtig die Brücke, die wegen des ganzen Schnees rutschig geworden war, und erreichte schließlich die andere Seite des Beckens.
Der Schnee reichte mir immer noch bis zu den Knien, aber er war schon etwas zusammengesackt und härter geworden. Es wurde also wirklich schon wärmer!
Ich ging ein paar Schritte und witterte prüfend. Kein Anzeichen von Gefahr – genau wie immer. Hier und da durchbrachen Spuren die durchgehende Schneedecke. Drei davon hatte ich selbst gemacht – eine nach Westen, eine nach Norden, den Hang hinauf, und eine nach Süden, hangabwärts.
Seufzend kehrte ich um. Heute war es wohl wieder so weit – ich musste jagen. Ich trat das Feuer sorgfältig aus, weil ich nicht wollte, dass das, inzwischen trockene, Moos Feuer fing während ich weg war und nahm dann meine Waffen.
Den Bogen hängte ich mir lässig über eine Schulter, genauso wie den Köcher mit ungefähr zehn Pfeilen. Je ein Messer steckte ich zu beiden Seiten in meinen Gürtel, den ich extra dafür durchlöchert hatte.
So ausgestattet verließ ich mein Zuhause – ja, das war es inzwischen wirklich schon geworden – und trat an die Stelle, an der sich meine drei Pfade teilten.
Lange schwankte ich hin und her, witterte und lauschte, um wenigstens zu erahnen in welcher Richtung ich die besseren Chancen hatte. Schließlich entschied ich mich für den Weg nach Süden. Hier hatte ich um diese Jahreszeit sicher mehr Glück als weiter oben am Berg. Vor allem die großen Tiere wie Hirsche und Rehe waren bergabwärts geflüchtet, wo sie besser Nahrung finden konnten. Und da die Beute dort war, musste ich ihr eben folgen.
Der Schnee unter meinen Turnschuhen, die mir übrigens wenig Schutz vor der Kälte boten, knirschte bei jedem Schritt, aber wenigstens versank ich jetzt nicht mehr darin. Die Oberfläche war, durch die steigenden Temperaturen, härter geworden und trug nun mein Gewicht mit Leichtigkeit. Es dauerte schon zwei Stunden, nur um den Fuß des Hangs zu erreichen – zurück würde es noch länger dauern. Pause konnte ich mir aber keine gönnen, denn ich musste immerhin noch Beute aufspüren, erlegen und zu meinem Unterschlupf schaffen – wenn möglich bevor es dämmerte.
Ich kämpfte mich weiter zwischen Bäumen und Büschen hindurch. Einige Zweige schlugen mir ins Gesicht und hinterließen rote Kratzer auf meinen Wangen, die sich zu den älteren gesellten. Witternd sicherte ich die nähere Umgebung ab – keine Spur von Bedrohung. Die Jagd konnte also beginnen!
Ich bückte mich und suchte im Schnee nach Hufabdrücken. Hier und da fand ich sogar welche, aber die waren alt – kein Geruch haftete mehr an ihnen. Zerknirscht suchte ich weiter. So toll die Sache mit der harten Schneedecke auch war – es würde das Aufspüren meiner Beute nicht gerade leichter machen.
Denn wenn schon ich keine Spuren hinterließ, wie sollten es dann kleinere Tiere?
Ich suchte immer weiter, kroch halb unter Büsche und Bäume – wie ich es inzwischen schon gewöhnt war – und versuchte eine Fährte aufzunehmen. Man sollte glauben, dass es in einem Wald nur so vor Leben wimmelte, aber anscheinend nicht in diesem, oder zumindest nicht zu dieser Jahreszeit.
Etwas enttäuscht, weil ich rein gar nichts gefunden hatte, ging ich weiter, hielt aber immer noch Ausschau.
Eine gute halbe Stunde später hatte ich den See erreicht, von dem aus ich vor so langer Zeit losgefahren war. Obwohl Wochen zwischen diesem Ereignis und dem Hier und Jetzt lagen, erinnerte ich mich noch in allen Details daran. Ich erinnerte mich, wie verzweifelt ich nach der richtigen Lösung gesucht hatte, wie ich nicht einschlafen konnte, weil der Regen unaufhörlich gegen das Dach schlug.
Kurz hielt ich inne und ließ meine Gedanken schweifen. Allzu lange währte diese Ruhe aber nicht, denn mein Hunger trieb mich weiter. Ich wollte nicht wieder Wurzeln oder Moose essen – die schmeckten einfach nur ekelhaft! Heute hatte ich richtigen Hunger, und der würde sich sicher nicht von etwas Grünzeug bezwingen lassen!
Ich verfiel langsam aber sicher in einen lockeren Laufschritt, der mir, merkwürdigerweise, keinerlei Kraft kostete. Bald hatte ich die Hälfte des Sees umrundet. Hier standen die Bäume viel näher am Ufer und spiegelten sich auf dem Eis. Das Wasser war nicht einmal mehr ganz zugefroren – ein weiteres Anzeichen dafür, dass sich die Luft allmählich erwärmte. Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen, arbeitete ich mich tiefer in den Wald hinein. Während meiner Zeit hier im Wald, hatte ich die Umgebung gut genug durchkämmt um einige Stellen zu wissen, an denen die Chancen für leichte Beute gut standen.
So führte mich mein Weg jetzt an einem kleinen, kaum sichtbaren und zugefrorenen Rinnsal einen steilen Hang hinab. Die Bäume und Büsche streiften meinen Körper und knackten bei jeder Berührung. Zweimal musste ich mich mit einem Hechtsprung zur Seite retten, da die Äste einiger Tannen das Gewicht des Schnees nicht mehr tragen konnten und dieser zu Boden fiel.
Der kleine Eisbach – denn genauso sah er aus – fächerte sich nun mehr und mehr auf und mündete schließlich in einer laubbedeckten Mulde.
Meine Schritte verlangsamten sich von selbst und ich witterte prüfend. Immer wieder und wieder. Jedes Mal mit demselben, enttäuschenden Ergebnis – keine Beute, kein Tier in der Nähe.
Ich ließ den Kopf hängen. Was war heute bloß los? Warum fand ich nichts? Mein Magen knurrte protestierend. Ich klatschte mir die Hand auf meinen flachen Bauch.
Vielleicht hörten diese Viecher meinen Magen ja schon von Weitem knurren? Haha, ja jetzt sah es so aus, als würde der sich schon an meinem Hirn bedienen – meinen Magen knurren hören! Was für ein Blödsinn!
Verärgert über mich selbst stapfte ich weiter und ließ die Vertiefung und den Eisbach hinter mir.
Vor lauter Wut und beschimpfenden Gedanken mir selbst gegenüber, konzentrierte ich mich zuerst nicht auf meine Umgebung. Ein vertrautes Donnern ertönte zwischen den Bäumen, ein Stückchen weiter vorne – vielleicht fünfhundert Meter. Auch diesen Wasserfall hatte ich bei meinen Jagdausflügen schon erkundet und kannte ihn recht gut. Ebenso wie in der Mulde, hatte ich dort das eine oder andere Mal Glück gehabt und konnte mich am Abend in meiner Höhle satt essen. Vielleicht hatte ich ja dort eine Chance?
Leise, so leise es auf dem krachenden Schnee eben möglich war, bewegte ich mich auf mein Ziel zu. Baumriesen drängten sich hier noch enger aneinander, als am Ufer des Sees und versperrten mir so die Sicht. Das Rauschen und Donnern des Wasserfalls übertönte alle anderen Geräusche. Jetzt war ich also nur auf meinen Geruchssinn angewiesen. Ich atmete ausschließlich durch die Nase und blieb alle paar Meter konzentriert stehen. Nichts, nicht einmal eine kleine Brise Hasenaroma. Aber vielleicht kamen sie von der anderen Seite – es war ja immerhin möglich!
Ich nahm vorsorglich schon einmal den Bogen und einen Pfeil in die Hand. Falls ich ein Tier entdecken sollte, müsste es sehr schnell gehen.
Langsam kam der weiße Vorhang aus herabstürzendem Wasser zwischen den Bäumen zum Vorschein. Ich bewegte mich noch langsamer und achtete genau auf jeden meiner Schritte. Würde ich auf einen Zweig treten oder stolpern, könnte es mein ganzes Vorhaben zunichte machen und ich müsste hungrig zurückkehren.
Ich biss die Zähne zusammen. Egal wie lange diese Jagd heute dauern würde, ich würde nicht mit leeren Händen zurückgehen!
Die letzten beiden Bäume standen wie ein Torbogen vor mir. Auch ihre Äste hingen, unter dem Gewicht des Schnees, lasch zu Boden – eine perfekte Deckung. Ich schob mich am Stamm der größeren Tanne vorbei und spähte durch die Wand aus Schnee und Nadeln. Von hier aus konnte ich den Wasserfall in voller Größe sehen. Ungefähr fünf Meter stürzte das Wasser herab und sammelte sich dann in einem Teich, ähnlich dem, an dem ich hauste. Der einzige Unterschied war wohl, das hier viel mehr Felsen spitz gen Himmel ragten – ähnlich den Bäumen, die den Wasserfall umringten.
Langsam schob ich mich noch ein Stück weiter nach vorne. Ein merkwürdiges Gefühl überkam mich. War es Furcht, oder bloß Unsicherheit? Nein, nichts von beidem. Irgendetwas stimmte hier nicht!
Es roch merkwürdig, als wäre ein Mensch hier gewesen. Aber das musste dann schon mindestens eine Woche her sein, denn Fußspuren hatte ich keine entdeckt.
Je weiter ich mich aus meinem Versteck heraus bewegte, umso weniger versperrten die Felsen mir die Sicht. Aber jetzt wünschte ich, sie täten es.
War das, was da im Schnee lag wirklich das, wofür ich es hielt? Oder spielten mir meine Augen vor Hunger schon Streiche?
Ich hoffte auf letzteres, denn ich wollte mein Gebiet – mein Jagdgebiet – mit niemandem teilen. Schon gar nicht mit einem Menschen.
Leise und vorsichtig, um dem Schnee unter meinen Füßen nicht noch ein weiteres Knirschen zu entlocken, richtete ich mich auf und trat vollends aus meiner Deckung.
Das Ding, das da am Boden lag, rührte sich nicht. Entweder war es tot, oder es war dämlich.
Ich ging ein paar Schritte und witterte dann. Ja, meine Vermutung, meine schlimmsten Alpträume, hatten sich hiermit erfüllt. Ein Mensch.
Er lag am Ufer des Beckens im Schnee und war vollkommen regungslos. Mit etwas Glück war er ja tot.
Nein! Momentchen Mal! Was sollte das? Ich durfte niemandem den Tod wünschen – das war nicht ich. Ich würde so etwas niemals denken. Kopfschüttelnd trat ich näher. Hier überall roch es nach frischem Blut, und ich konnte auch sofort sehen, woher das kam.
Der Mann, der da vor mir im Schnee lag, hatte eine riesige, ausgefranste Wunde an einem Bein, aus der immer noch warmes, dunkelrotes Blut lief und den Schnee verfärbte. Ich musste schlucken.
Obwohl ich mich damit abgefunden hatte, Tiere zu töten um nicht selbst zu sterben, konnte ich den Geruch von Blut nicht ausstehen. Noch ein kleines Stück trennte mich von dem Mann. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, da er auf dem Bauch lag. Nur seine hellbraunen, kurzen Haare standen in allen Himmelsrichtungen von seinem Kopf ab. Ich schaute mich noch einmal um. Nachdem ich festgestellt hatte, dass hier in der Nähe nichts Gefährliches war, legte ich meinen gespannten Bogen neben dem Kerl in den Schnee und ging dann in die Knie, um ihn mir genauer anzusehen.
So sehr sich auch alles in mir dagegen sträubte ihn zu berühren, so musste ich es doch tun um überhaupt zu sehen, ob er noch irgendwo verletzt war. Sein Bein jedenfalls sah arg mitgenommen aus, aber nicht schlimm genug, als das er es verlieren könnte. Ich betrachtete eine Weile seinen Körper. Seine Brust hob und senkte sich ganz leicht, kaum sichtbar, aber gleichzeitig unregelmäßig und hektisch. Sicherlich hatte er große Schmerzen.
Ohne noch mehr Zeit zu verschwenden, packte ich ihn an den Schultern und drehte ihn halb auf den Rücken, achtete dabei aber genau darauf, sein verletztes Bein nicht zu berühren oder zu bewegen – und das war gar nicht mal so einfach.
Er schnappte überrumpelt nach Luft, öffnete aber nicht seine Augen. Sein Gesicht war von kaltem Schweiß überzogen. Eigentlich sah er nicht einmal so übel aus. Gerade, schmale Nase, blasse, volle Lippen und ein markantes Kinn. Vielleicht zwei oder drei Jahre älter als ich. Sein Anblick versetzte mir einen Stich ins Herz.
Er war gutaussehend, ja das schon, aber es gab nur einen Kerl auf der Welt, der je mein Herz erobern konnte, und der war tot.
Ich schloss kurz die Augen und schluckte die Tränen hinunter, die sich in meinen Augenwinkeln zu sammeln begannen. Ohne den Typen loszulassen, schlüpfte ich aus einem meiner Pullis und fing an ihn in Streifen zu reißen. Erst musste ich mich um die Wunde kümmern, sonst würde er verbluten. Dann konnte ich immer noch nachdenken, was ich mit ihm anstellen wollte.
Mit geschickten Bewegungen wickelte ich den dunkelgrünen Stoff um sein Bein. Er schnaubte vor Schmerz, schien sich aber mit aller Mühe einen Schrei zu verkneifen. Entschuldigend schaute ich in sein Gesicht. Immer noch hatte er die Augen geschlossen, aber die Art wie seine Lider zuckten verriet mir, dass er wusste, dass ich da war. Und er wusste anscheinend auch, dass ich versuchte ihm zu helfen, sonst hätte er mich weggestoßen – und ich war mir ziemlich sicher, dass er das sogar in diesem Zustand konnte. Unter seiner dicken Jacke, selbst darunter, konnte ich seinen muskulösen Oberkörper und die Arme erahnen.
Kurz hielt ich inne und schaute ihn mir noch einmal genauer an, dann fasste ich meine Stimme – zum ersten Mal seit Monaten.
„Hey, du!“ Ich schüttelte ihn leicht. Oh mein Gott! Wie hörte ich mich denn an? Nicht mehr wie ein Mensch auf jeden Fall. Meine Stimme war rau und kratzig und es bereitete mir Unbehagen zu sprechen als sollte ich es eigentlich nicht können.
Er verzog schmerzerfüllt das Gesicht. Langsam öffnete er seine Augen und spähte mich aus kleinen Schlitzen an.
Unwillkürlich wich einen Schritt zurück. Ich hatte mich damit abgefunden ihn anfassen zu müssen, aber das er mich jetzt auch noch beobachtete ging mir gehörig gegen den Strich. Ohne, dass ich es bemerkte, versteinerte mein Gesicht zu einiger eisigen Maske – kälter als alles Schnee und Eis des vergangenen Winters. Der Mann wimmerte und schloss wieder die Augen. Ich atmete auf.
Okay, jetzt war eindeutig nicht der Zeitpunkt, einen auf schüchtern zu machen. Ich näherte mich ihm wieder. Diesmal machte er keine Anstalten mich anzusehen. Allgemein sah er noch blasser aus als zuvor.
Es gab nur eine Möglichkeit – ich musste ihn irgendwie in meine Höhle schaffen. Er musste raus aus der Kälte und zwar schnell! Erstens weil ihm die Witterung sichtlich zusetzte und zweitens, weil der Geruch seines Blutes bald Raubtiere wie Wölfe und Bären anlocken würde.
Kurz entschlossen packte ich ihn wieder an den Schultern, und versuchte ihn etwas aufzurichten. Er stöhnte auf, als ich meinen Arm unter seinen Oberkörper schob und ihn – trotz eines unguten Gefühls im Bauch – näher an mich heran zog. Auch ich musste jetzt die Zähne zusammenbeißen, weil sein Gewicht drohte, mich mit sich zu Boden zu reißen.
„Kannst du aufstehen?“ flüsterte ich ihm leise ins Ohr und hoffte, dass er es schaffte. Sonst hätte ich ein Problem mit dem Transport gehabt. Als Reaktion auf meine Frage, spürte ich wie sich sein Körper anspannte und er versuchte sich aufzurichten. Nach fünfsekündigen Kampf und völlig außer Atem lehnte er schließlich, aufrecht, an meiner Schulter.
„Okay, sehr gut“, murmelte ich und hob umständlich meine Waffe samt Geschoss vom Boden und hängte sie mir über die Schulter.
Mit beiden Armen umschlang ich nun seinen Oberkörper und setzte mich langsam und wankend in Bewegung. Und wenn ich langsam sage, dann meine ich wirklich langsam. Es musste bestimmt eine halbe Stunde vergangen sein, bis wir überhaupt die Mulde und den Eisbach erreichten. Das schaffte er anscheinend ja noch, aber als wir dann am Ufer des Sees ankamen, sackte er neben mir zusammen und riss mich mit.
Mit aller Kraft stemmte ich mich gegen seinen schlaffen Körper.
„Hey, hör auf damit. Wir müssen weiter!“ forderte ich ihn schroff auf und versuchte ihn weiter zu schieben – vergeblich. Keine Ahnung wie viel der Typ wog, aber er war eindeutig zu schwer für mich – selbst mit meiner neu gewonnen Kraft.
Widerwillig ging auch ich zu Boden und legte ihn neben mich auf die Schneedecke. Von der ganzen Anstrengung war mir nicht einmal aufgefallen, dass es überall um mich herum tropfte. Die Sonne stand strahlend hell am Himmel und begann, endlich, mit dem Kampf gegen den hartnäckigen Winter.
Unbewusst musste ich lächeln und genoss für einen Augenblick das warme Kribbeln der Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht. Im nächsten Moment stand ich aber auch schon wieder und blickte ungeduldig auf den Kerl hinab. So würden wir es ganz bestimmt nicht schaffen vor Sonnenuntergang zur Höhle zu kommen. Und dann würde es wirklich ungemütlich werden. Obwohl ich scharfe Augen hatte, waren mir wilde Tiere wahrscheinlich doch noch überlegen und von der Kraft wollen wir erst gar nicht reden. Und mit so einem Klotz am Bein wäre wohl auch ich eine leichte Beute. Ich biss die Zähne zusammen.
„Wir müssen jetzt weiter, also tu mir einen Gefallen und stell dich nicht so an“, fauchte ich und zog ihn wieder auf die Beine, wobei sämtliche Knochen in meinem Körper ächzten. Genau wie er, hatte nun auch ich alle Hände voll zu tun um nicht auch noch umzukippen.
Immer noch hungrig und mit einer wandelnden, humpelnden Behinderung im Schlepptau, umrundete ich den See und kehrte zu der Stelle zurück, wo ich am Vormittag den Hang herunter gekommen war.
Auch dort musste ich wieder eine kurze Pause einlegen und meinem nervigen Anhängsel nach Luft schnappen lassen. Schnaufend nahm er mit meiner Hilfe die Steigung in Angriff, wobei er immer wieder abrutschte. Die Hälfte seines Gewichts lastete auf mir, trotzdem schwitzte ich nicht. Das einzige Problem daran war, dass ich innerlich zu verbrennen drohte, so heiß war mir inzwischen in meinen Klamotten.
Da ich aber keine Zeit hatte, um mir etwas auszuziehen, arbeitete ich mich weiter vorwärts. Als ich in der Ferne schon das Rauschen des Wasserfalls – meines Wasserfalls – hören konnte, brach er wieder zusammen. Allmählich reichte es mir aber wirklich! Ich war es einfach nicht mehr gewohnt auf irgendjemanden Rücksicht zu nehmen. Von mir selbst verlangte ich immerhin auch Höchstleistungen, da machte ich jetzt keinen Unterschied. Ich lief ein paar Schritte und lauschte. Die Luft war erfüllt von dem Geräusch tauenden Schnees und einigen Vogelstimmen. Ich kehrte wieder um. Irgendwie roch es hier doch nach Bär, oder nicht?
Prüfend reckte ich meine Nase in den Wind. Ja, eindeutig Bär! Und diese Spur war noch nicht sehr alt!
Ich drehte mich einige Male um mich selbst und versuchte zwischen den Bäumen die Umrisse des Tiers zu erkennen, aber ich konnte ihn nirgends entdecken. Auch hörte ich nirgendwo Schritte.
Trotzdem war ich auf der Hut. Ein letztes Mal forderte ich den Mann auf, auf die Beine zu kommen um endlich zur Höhle zu kommen. Er war noch blasser geworden, auch wenn ich das nicht für möglich gehalten hatte, und schwitzte wie wild. Seine Augen waren nur halb geöffnet und sahen furchtbar leer aus. Wahrscheinlich hatte er Fieber.
Viel weniger vorsichtig umklammerte ich ihn wieder und zerrte nun mit aller Kraft die ich aufbringen konnte bergwärts. Wenn dieser Bär hier noch irgendwo in der Nähe sein sollte, wollte ich ihm auf keinen Fall begegnen! Schon gar nicht wenn ich grad keine Hand frei hatte.
Hey!!!! Momentchen! Bären hielten doch Winterschlaf, oder nicht? Ja, sicher taten sie das. Also war hiermit eindeutig bewiesen, dass sich der Winter seinem Ende zu neigte!
Fast musste ich grinsen, wäre ich nicht mit der Gesamtsituation völlig überfordert gewesen.
Nach weiteren fünfhundert Metern kam mir endlich alles wieder bekannt vor. Jeden Baum, jeden Stein und jeden herabgefallene Ast hier kannte ich, als wäre ich schon mein ganzes Leben lang hier gewesen. Und wenn man es ganz grob nahm, stimmte das auch. Ich hatte, fast, mein ganzes, neues Leben hier verbracht. Das Leben, in dem ich nichts mehr in der Welt der Menschen verloren hatte, weil ich einfach nicht dazugehörte.
Je näher ich meiner Behausung kam, desto schneller wurde ich. Es war mir egal, dass ich noch jemanden mit mir mitschleppte. Alles was ich jetzt wollte war die vertraute Umgebung meiner Höhle und den Geruch von getrocknetem Moos und Laub.
Vor dem Becken blieb ich stehen. Schon lange war ich nicht mehr außer Atem gewesen, aber jetzt war es doch soweit. Mein Körper schrie nach Wasser und Ruhe, aber er musste sich noch eine Weile gedulden. Erst musste ich den Kerl irgendwie über die Brücke schaffen, denn das Eis würde ihn nicht mehr tragen – und eine Unterkühlung konnte er wahrscheinlich auch nicht gebrauchen.
Irgendwie schaffte ich es dann tatsächlich, ihn hinter mir über den schmalen Steg zu lotsen.
Endlich war ich daheim!! Am liebsten hätte ich den Boden geküsst, aber auch dafür war jetzt keine Zeit. Ich musste mich um meinen Gast kümmern. Der provisorische Verband, den ich ihm angelegt hatte, war schon vollkommen rot verfärbt und müsste sehr bald ausgetauscht werden.
Kaum hatten wir das andere Ufer erreicht, brach er auch schon wieder zusammen, aber diesmal störte es mich kein bisschen. Wir waren so gut wie in Sicherheit! Mit letzter Anstrengung wuchtete ich seinen schlaffen Körper in meinen Unterschlupf und folgte ihm.
Drin legte ich ihn auf mein Bett und wickelte ihn fürs Erste in die Decke. Dann bastelte ich ihm einen neuen Verband aus übrig gebliebenen Sitzbezügen und entzündete ein knisterndes Feuer. Sofort war die Höhle in warmes, flackerndes Licht getaucht.
Und endlich konnte auch ich mir eine Pause gönnen. Diesen Tag würde ich wohl mein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen.
Und gut, dass ich noch nicht wusste, dass ich diesen Kerl so schnell nicht mehr loswerden würde….


Alex Turner



Ein Heulen riss mich aus meinem, ohnehin unruhigen, Schlaf. Schlagartig setzte ich mich auf und spähte durch die Öffnung hinaus in die Dämmerung. Die Bäume um das Becken neigten sich bedrohlich, als versuchten sie sich so klein wie möglich zu machen, um den Wind zu entgehen. Zwei Stämme waren bereits umgeknickt und lehnten gegeneinander – sicher würden sie bald ganz umfallen.
Lange starrte ich hinaus in die graue Welt. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich daran erinnerte, nicht mehr allein zu sein.
Von diesem Zeitpunkt an war ich hellwach. Ich saß in einer Ecke der Höhle, das erloschene Feuer zwischen mir und meinem eigentlichen Bett. Und dort lag er und rührte sich nicht. Vielleicht war er inzwischen tot und hatte die Strapazen einfach nicht überstanden. Ich konzentrierte mich ganz auf seinen Oberkörper und stellte nach ein paar Sekunden fest, dass er noch atmete – also auch noch lebte.
Auf der einen Seite, war ich erleichtert deswegen, auf der anderen wollte ich ihn so schnell wie möglich wieder loswerden. Es war schon ohne ihn schwierig genug gewesen hier draußen zu überleben, da musste ich nicht auch noch eine zweite Person durchfüttern müssen.
Nachdenklich lehnte ich mich an die Wand. Sie war eiskalt und unbequem, aber ich wollte mich dem Kerl nicht nähern. Ich kannte ihn nicht. Er war mir unheimlich. Was er wohl allein im Wald gemacht hatte?
Vielleicht war er Teil einer Wandergruppe gewesen und verloren gegangen. Aber dann hätte doch bestimmt jemand nach ihm gesucht. Das schied also schon mal aus. Ansonsten fielen mir aber auch keine Gründe mehr ein allein durch den Wald zu streifen, außer er war ein Gestaltwandler der es in der Zivilisation nicht mehr ausgehalten hatte und jetzt irgendwo anders ein Zuhause suchte – was ich stark bezweifelte.
Duncan hatte mir doch einmal erzählt, vor mehreren tausend Jahren, dass es nicht viele seiner, oder unserer, Art gab. Deshalb wollte Ann ja auch unbedingt die Feder an sich reißen um die Menschheit zu vernichten und der Natur zurückzugeben, was ihr ursprünglich gehörte – und so den Lebensraum der Gestaltwandler zu vergrößern.
Ein Zittern ging durch meinen Körper. Obwohl mein Unterschlupf wind- und wettersicher war, fror ich inzwischen. Ich musste das Feuer wieder anmachen und zwar dringend. Auf allen Vieren krabbelte ich auf die andere Seite der Höhle und nahm ein paar Äste, die ich vor ein paar Wochen gesammelt hatte, um sie in die Feuerstelle zu legen und zu entzünden.
Nach nicht einmal fünf Minuten wärmte mich ein kleines, aber sehr warmes Feuer. Ich schloss die Augen und genoss die Hitze, die von den Flammen ausging und die ganze Höhle erhellte wie eine kleine Sonne. Der Kerl bewegte sich immer noch nicht, aber als ich das Feuer angemacht hatte, hatte ich das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Immer noch fragte ich mich, was er im Wald wollte. Warum war er im Winter allein unterwegs? Ich verstand es einfach nicht!
Vielleicht musste er sich ja verstecken, so wie ich. Aber warum? Das hatte ja alles keinen Sinn. Genauso wenig wie wenn ich mir darüber jetzt stundenlang den Kopf zerbrochen hätte. Also schaute ich einfach ins Feuer und ließ mich vom Tanz der Flammen hypnotisieren bis ich alles um mich herum vergaß – selbst den Fremden, der da bewegungslos auf meiner Schlafstätte ruhte.
Bald ging die Sonne feuerrot am Horizont auf. Ich war gerade eingenickt, als mich das Gezwitscher eines Vogels aus meiner Gedankenlosigkeit riss. Am liebsten hätte ich irgendetwas nach diesem dämlichen Vieh geworfen, aber das hätte nicht funktioniert, weil ich weder wusste wo es war, noch mit was ich werfen sollte. Anstatt also meine Wut an einem armen, hilflosen Flattermann auszulassen, gähnte ich und streckte mich.
Die Sonne tauchte derweil alles draußen in ein morgendliches, rot-oranges Licht. Die halb geschmolzene Eisdecke des Beckens funkelte und der Schnee sah aus, als bestünde er aus Millionen Diamanten. Einen Augenblick lang bewunderte ich die Schönheit des Morgens, doch bald lenkte etwas meine Aufmerksamkeit auf sich. Ein Stückchen weiter hinten im Wald sah ich ein Tier – einen Vogel. Er sah aus wie ein Fasan nur etwas größer und bewegte sich im Zickzack über die Schneedecke. Das war meine Chance! Wenn ich jetzt nicht zuschlug, würde ich es spätestens in ein paar Stunden bereuen. Blitzschnell war ich auf den Beinen – so gut das in der niedrigen Höhle eben ging – und schlich mich, mit Pfeil und Bogen bewaffnet, aus meinem Unterschlupf. Von der Brücke aus konnte ich den Vogel nicht sehen, also er auch mich nicht. Ich bewegte mich beinahe geräuschlos tiefer in den Wald hinein, wich einigen Bäumen und blattlosen Büschen aus und erblickte meine zukünftige Mahlzeit schließlich auf einem spitzen Stein sitzen. Der arme Kerl ahnte ja noch gar nicht, was ihm gleich blühte. In aller Seelenruhe reckte er seinen Hals und schaute sich um, entdeckte mich dabei aber nicht. Ich spannte den Bogen und zielte. Drei Sekunden später lag der Vogel tot im Schnee. Langsam trat ich näher. Diesmal musste ich die Beute mit zur Höhle nehmen, weil ich dummerweise mein Messer vergessen hatte. Normalerweise tat ich das nie, denn der Geruch könnte meine ‚Fressfeinde‘ anlocken und das wollte ich eigentlich verhindern. Die meisten Tiere hielten sich von Natur aus von meinem Unterschlupf fern, denn dort roch es überall nach Mensch. Ich vermutete aber, dass sich das ganz schnell ändern konnte, sobald Futter ins Spiel kam.
Mit dem Bogen in einer Hand und dem vermeintlichen Fasan in der anderen, machte ich mich auf den Rückweg. Lange dauerte der ja wohl wirklich nicht. Ich musste nur wieder ein paar Hindernisse umschiffen und schon war ich da. Durch den Eingang konnte ich noch den Rest des Feuers sehen, das ich vorhin angemacht hatte. Schnellen Schrittes überquerte ich den Bach und ließ das tote Tier vorerst neben dem Eingang liegen. Dann holte ich ein Messer und begann damit, den Fasan auszunehmen. Ehrlich gesagt fand ich diese Arbeit sowas von abartig und eklig, dass es mich immer wieder würgte. Auch diesmal war es nicht anders.
Nachdem ich das endlich hinter mich gebracht und nur noch die guten Teile des Vogels übrig waren, wusch ich meine Hände sorgfältig im Becken unter dem Wasserfall. Ganze fünf Minuten rubbelte ich an meinen Fingern herum, bis ich mir hundertprozentig sicher war, dass sie blitzblank waren. Das Fleisch bereitete ich gleich im Freien für den Grill – oder eher das Lagerfeuer – vor indem ich es auf mehrere, saubere Holzstöcke steckte. Dann blieb mir nur noch, die Innereien und Co. des Tiers verschwinden zu lassen, um auch ja keine Räuber anzulocken.
Die Flammen züngelten fröhlich in die Höhe und das verbrennende Holz knisterte leise. Ich hockte wieder in meinem Versteck und hielt die Stöcke mit dem Fleisch übers Feuer. Jetzt, wo endlich diese unangenehmen Arbeiten erledigt waren, konnte ich mich auf mein Essen freuen. Selbst mein Magen rumorte schon erwartungsvoll als sich langsam der Duft von gebratenem Hühnchen ausbreitete – fast wie in den guten, alten Zeiten.
Der Fremde lag noch immer da, wie ich ihn vor der Jagd verlassen hatte. Schön langsam gab ich die Hoffnung auf, dass er es schaffen würde. Wahrscheinlich hatte er einfach zu viel Blut verloren und ich sollte mir nichts vormachen. Er war zu sehr geschwächt. Trotzdem durfte ich jetzt nicht aufgeben. Später, wenn ich mich selbst gestärkt hatte, würde ich nochmals seinen Verband wechseln. Vielleicht schaffte ich es auch noch, ihn zum Essen zu überreden – oder zu zwingen.
Immer wieder warf ich einen Blick auf ihn, während ich große Stücke von meinem vermeintlichen Hähnchen abbiss. Es schmeckte köstlich und ich aß extra langsam, um es besser genießen zu können – wer wusste schon, wann ich so etwas Gutes das nächste Mal in die Finger kriegen würde. Als nur noch etwa die Hälfte des Fleischs übrig war, drehte ich mich zu dem Kerl um. Sein Gesicht war unbewegt und schmerzverzerrt, die Augen geschlossen. Vorsichtig stupste ich ihn an.
Wie von der Biene gestochen fuhr er zusammen. Ich wich erschrocken einen Schritt zurück. Mein Gott, wenn der so weitermachte konnte er gleich draußen schlafen! Ich startete einen weiteren Versuch – diesmal vorsichtiger. Sanft legte ich meine Hand auf seine Schulter und wartete einen Moment ab. Er glühte ja förmlich, und das, obwohl es nicht wirklich warm war. Ich zog die Decke von ihm herunter. Wenn er schon Fieber hatte, musste ich ihm ja nicht auch noch einheizen. Als sein Bein zum Vorschein kam, musste ich der Versuchung widerstehen wegzuschauen. Der Verband, den ich ihm angelegt hatte, war völlig durchnässt – von seinem Blut!
Ich schaute abwechselnd ihn und den dunkelrot verfärbten Stoff über seiner Wunde an. Kein Wunder, dass er so schwach war. Vielleicht sollte ich ihn in ein Krankenhaus fahren. Nein, das hätte doch sowieso keinen Sinn. Wir waren hier irgendwo im nirgendwo und allein den Wagen nur fahrtüchtig zu machen, würde schon Stunden brauchen. Von der Zeit, die es dauern würde bis ich die nächst gelegene Stadt fand gar nicht erst zu sprechen. Es gab keine andere Möglichkeit. Entweder überstand er diesen Tag, oder er starb an seiner Verletzung. Ich musterte ihn. Anscheinend war er ja sonst nirgends verletzt, außer ein paar Kratzern auf seiner Wange. Ich beugte mich über ihn und schaute ihn an. Er rührte sich nicht. Keine Reaktion auf mich oder das Feuer, das immer noch knisterte. Nichts.
Ich schüttelte enttäuscht den Kopf. Fast kam es mir so vor, wie damals, als ich einen verletzten Vogel hinter dem Haus gefunden hatte und versuchte ihn gesund zu pflegen. Als er dann nach ein paar Tagen tot in dem Schuhkarton lag, den ich extra für ihn mit Stroh und Watte ausgelegt hatte, musste ich heulen.
So in etwa fühlte ich mich gerade, nur dass es jetzt nicht mehr um einen Vogel ging, sondern um das Leben eines Menschen. Ich machte mich vorsichtig und sehr langsam über sein Bein her. Der Stoff klebte leicht an dem verkrusteten Blut, aber nicht genug, als das es wieder angefangen hätte zu bluten. Den alten Verband warf ich sofort ins Feuer, wo er, unter etwas Rauchbildung, gleich in Flammen aufging und verbrannte.
Ich überlegte kurz, ob ich nicht etwas frische Luft an die Verletzung lassen sollte, immerhin wurde einem ja schon als kleines Kind eingebläut, dass das gut sei. Ich entschloss mich also dafür, ihm fürs erste keinen neuen Verband anzulegen, zumal er ja sowieso nicht mehr blutete. Das kam mir angesichts dieser riesigen Wunde zwar ziemlich merkwürdig vor, aber es war gut so.
Nun kam ich zum schwierigeren Teil. Wie sollte ich einem Mann, der halb wach und halb tot war, ein Stück Fleisch eintrichtern, ohne, dass er daran erstickte oder sich verschluckte?
Hilflos kauerte ich neben ihm und hielt das Essen in der Hand. Schwierige und ziemlich blöde Situation. Ich musste es versuchen. Wieder beugte ich mich über ihn und versuchte seinen Mund weit genug zu öffnen, aber das klappte schon mal gar nicht – immerhin wollte ich ihm ja nicht den Kiefer auch noch brechen. Verzweifelt schaute ich mich um. Auf Hilfe konnte ich hier im Wald lang warten – ich war ganz auf mich allein gestellt.
Die Zeit verstrich und ich schaffte es nicht. Ich machte einfach keine Fortschritte in Sachen Fütterung und es war echt frustrierend. Ich wollte schon aufgeben und nach draußen krabbeln, als ich bemerkte, wie die Lider des Fremden wieder zitterten.
Meine Chance! Vielleicht schaffte ich es ja, ihn aus diesem Dämmerzustand zu wecken. Ungeduldig rüttelte ich an seiner Schulter und erhielt dafür ein müdes Schnauben. Gut, er schlief also nicht. Langsam öffneten sich seine Augen. Ich schaute verlegen an die Wand – warum auch immer – und tat so, als wäre ich nicht da. Aber das war falsch, und ich wusste es, also schaute ich ihn an. Seine grünen Augen waren auf mich gerichtet – sie wirkten irgendwie stumpf und glanzlos.
„Kannst du reden?“ fragte ich und setzte mich etwas anders hin.
„J-ja“, stotterte er. Seine Stimme hörte sich genauso an, wie er aussah und versetzte mir einen Stich ins Herz. Er hatte mein aufrichtiges Mitleid.
„Hast du hunger?“ fragte ich lieblos und warf einen kurzen Blick über die Schulter zum Feuer.
Er nickte und starrte dann die Decke an.
„Du solltest dich hinsetzten, falls du das kannst…“ setzte ich hinzu, als er sich wieder nicht bewegte.
„I-ich brauche Hilfe“, flüsterte er. „Bitte.“
Zögerlich näherte ich mich ihm wieder und zog ihn in die Höhe, bis er mit dem Rücken an der Wand lehnte.
„Warte“, sagte ich schnell, als ich das bemerkte und legte die Decke um seine Schultern. Dankend nickte er mir zu. Fast sah es so aus, als würde er lächeln, aber es war nur schwächlich und zerbrechlich. Mit zitternden Fingern führte ich das Fleisch an seinen Mund. Lustlos biss er ab. Sein Blick war während der ganzen Zeit, die er brauchte um zu Essen, auf mich gerichtet und schien mit jedem Bissen an Intensität zu gewinnen. Immer wieder musste ich meinen Kopf schütteln und wegschauen, um das Fleisch nicht fallen zu lassen.
Als er es schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, doch geschafft hatte, alles aufzufuttern, schnaufte er erschöpft. Auch ich war, vom langen Stillsitzten, etwas müde geworden und rutschte ein Stück zurück, um meinen Sicherheitsabstand zu wahren.
Der Fremde hatte seine Augen wieder geschlossen und rang sichtlich nach Luft. Ich überlegte, wie ich ihm noch helfen konnte und entschied mich dafür, ihm erst einmal etwas zu trinken, nämlich Wasser, zu besorgen. Ich krabbelte zum Eingang. Den Rucksack, den ich bei meinem Aufbruch gepackt hatte, hatte ich vor langer Zeit neben der Öffnung abgestellt und seitdem nicht mehr angerührt. Jetzt allerdings, brauchte ich einen Plastikbecher, den ich damals acht- und gedankenlos eingepackt hatte. Wie hätte ich zu diesem Zeitpunkt ahnen sollen, ihn jemals für einen schwer verletzten Wanderer gebrauchen zu können?
Ich beeilte mich, denn ich wollte, dass der Kerl etwas trank, bevor er wieder in seinen Dämmerschlaf zurücksank. Über meine eigenen Füße stolpernd erreichte ich den Rand des Beckens und füllte den Becher mit glasklarem und eiskaltem Wasser. Mittlerweile war der größte Teil des Eises auf der Wasseroberfläche geschmolzen, nur am anderen Ufer, wo die Strömung schwächer war, konnte man noch einen hauchdünnen Eisfilm erahnen. Es war ein kleines Wunder, dass sich die Luft innerhalb von ein paar Tagen so stark erwärmt hatte, dass es nun überall im Wald tropfte und schmolz. Schon bei der Jagd heute Morgen war mir dies aufgefallen. Der Schnee war nicht länger hart, sondern matschig und nass gewesen und an den Felswänden konnte man kleine Wasserfälle aus geschmolzenem Wasser sehen, die den grauen Stein wie Kristallbänder herabflossen. Gott sei Dank war es in meiner Höhle trocken und warm geblieben. Nirgendwo war auch nur der Hauch von Nässe oder Feuchtigkeit zu sehen, was mich, angesichts meiner selbst errichteten Konstruktion, doch wunderte. Ich kehrte zurück in die wohlige Wärme, die das Feuer spendete, und näherte mich meinem, ungebetenem, Gast, wobei ich darauf achten musste, nicht den gesamten Inhalt des Plastikbechers über den Boden zu entleeren. Vorsichtig legte ich meine Hand wieder auf die Schulter des Mannes. Dieser zuckte zwar kurz zusammen, aber das reichte nicht mehr, um mich zu erschrecken. Sehr langsam und träge öffneten sich seine Augen wieder. Das Funkeln, das ich vorhin in ihnen gesehen hatte, war fast vollständig erloschen. Es schien, als sei aller Lebenswille aus diesem Körper gewichen.
Aber dieser Kerl durfte nicht sterben! Jetzt erst recht nicht! Nicht, wo ich mich gerade an ihn gewöhnte – er sollte nicht so enden, wie der verletzte Vogel in unserem Garten. Ich versuchte mich an einem Lächeln, war mir aber sicher, dass es zu einer hässlichen Grimasse wurde. Beschämt senkte ich den Blick und stellte den Becher vor mir auf den unebenen Boden.
„Bist du durstig?“ fragte ich so laut es meine zitternde Stimme zuließ. Ich wusste, dass ich mich merkwürdig fremd anhörte, aber das würde sich wahrscheinlich bald ändern, denn so wie es aussah, würde ich zumindest in den nächsten zwei Wochen viel sprechen müssen.
Wie in Zeitlupe drehte der Fremde mir sein Gesicht zu und nickte schwächlich. Als ich den Becher an seine Lippen hob, hatte ich das Gefühl etwas Verbotenes zu tun. Irgendetwas in mir wollte mir einreden, dass ich hiermit Duncan hinterging. Aber ich wusste, dass das nicht stimmte. Ich hatte Duncan geliebt und tat es immer noch. Einem wildfremden Mann in der Wildnis das Leben zu retten konnte kein Verrat sein – da war ich mir ganz sicher.
In langen, gierigen Zügen trank der Mann den Becher leer.
„Mehr?“ fragte ich und deutete auf das Gefäß. Er schüttelte nur den Kopf, in der gleichen Geschwindigkeit, mit der er alle seine Bewegungen ausführte. Ich warf das Stück Plastik achtlos hinter mich und hoffte, dass es nicht im Feuer, welches nur noch leise knisterte, landete.
„Danke“, flüsterte er und schloss wieder die Augen. Er musste wirklich sehr schwach sein, wenn er es nicht einmal fünf Minuten lang schaffte, mich anzusehen. Oder hatte das etwas mit mir zu tun? Wollte er mich vielleicht nicht ansehen und schloss deshalb immer wieder seine getrübten, grünen Augen?
Zum ersten Mal seit Monaten machte ich mir Gedanken über mein Aussehen. Waren meine Haare wieder ganz nachgewachsen? Meine Hand schnellte automatisch in die Höhe und tastete nach einer Strähne, die regungslos auf meiner Schulter ruhte. Ja, anscheinend waren sie nachgewachsen, wenn auch bei weitem nicht so lang und glänzend wie früher. Sie fühlten sich etwas verfilzt an – ich musste sie waschen!
Ich warf einen Blick über meine Schulter und schaute nach draußen wo das Schmelzwasser vor sich hin gluckerte. Das würde sicher eisig kalt werden – ich wollte es mir lieber gar nicht erst vorstellen. Zumal meine Waschaktion ohnehin noch etwas Zeit hatte. Zuerst musste ich mich um diesen Typen kümmern und dann um mich.
Wieder hatte ich das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Ich sollte mich nicht um mein Aussehen sorgen – nicht wegen eines Fremden. Duncan sollte der Einzige sein, für den ich mich hübsch machen wollte. Ein Blick auf ihn verriet, dass er wohl wieder eingeschlafen war – zumindest sah es so aus. Sein Kopf war auf seine Schulter gerutscht und ruhte dort. Es sah extrem unbequem aus, aber das war jetzt nicht mein Problem. Ich hatte für ihn schon genug getan, da musste ich mich nicht auch noch um seine Schlafposition kümmern.
Ich wandte ihm den Rücken zu und legte Feuerholz nach, um die Flammen am erlöschen zu hindern. Lange starrte ich in die rot-gelbe Glut. Die Farben faszinierten mich und schienen mich in eine andere Welt entführen zu wollen. Erst lange, nachdem ich mich von dem Kerl entfernt hatte, drang sein leises Schnarchen an mein Ohr. Irritiert hob ich den Blick und musterte ihn gespannt. Friedlich lehnte er dort, an der gegenüberliegenden Wand. Seine Gesichtszüge entspannten sich selbst im Schlaf nicht, ein weiteres Zeichen dafür, dass er immer noch Schmerzen haben musste. Aber ich war kein Arzt, also konnte ich ihm bei diesem Problem nicht helfen. Sein breiter Oberkörper sah so verletzlich aus. Am liebsten hätte ich ihm die Decke sorgfältiger um die Schultern gelegt, aber schon beim Gedanken daran meldete sich wieder mein schlechtes Gewissen. Warum auch immer es das tat, es wollte anscheinend nicht, dass ich mich ihm näherte – und um ehrlich zu sein wollte ich das auch nicht. Immer noch wusste ich nichts über ihn, nicht einmal seinen Namen. Was, wenn er ein Serienkiller war, der im Wald Zuflucht vor der Polizei und seiner Bestrafung gesucht hatte? Man konnte ja nie wissen!
Ich schnaubte und legte mich hin. Der Tag war noch lang, aber ich war müde. In der letzte Nacht hatte ich gefroren, dass fühlte ich. Auch heute würde sich das nicht ändern, immerhin hatte ich meine einzige Decke selbstlos dem Fremden überlassen – was ich jetzt bereute. Ich kuschelte mich so gut es ging in das Moos und schloss die Augen. Auch wenn es draußen hell war, schlief ich kurz darauf ein.

Ein Schnaufen ließ mich auffahren. Verwirrt schaute ich mich um. Vom Lagerfeuer war nur noch Asche übrig geblieben. Mein Blick wanderte weiter und blieb schließlich an dem Gesicht des Mannes haften. Auch er schaute mich an und sah neugierig und gespannt zugleich aus. Unbewusst legte ich meinen Kopf schief, was dem Fremden ein Lächeln entlockte.
„Was?“ fragte ich scharf und richtete mich endlich ganz auf.
„Es ist interessant dir zuzusehen wenn du schläfst“, murmelte er und grinste mich dabei frech an. Mir klappte der Mund auf. Was zum Teufel sollte das? Ich dachte, er wäre schwer verletzt? Aber mit so einer Aussage bestätigte er nur, dass er eindeutig nicht so geschwächt war, wie ich gedacht hatte. Als ich mich wieder gefasst hatte, presste ich meine Kiefer aufeinander, um nicht irgendeine unfreundliche Bemerkung zu machen. Stattdessen drehte ich mich, halb in der Hocke, um und begab mich zum Eingang.
„Süßer Hintern.“ Mit weit aufgerissenen Augen drehte ich mich zu ihm um.
„Wie bitte?“ Meine Stimme war hoch und klang verzerrt. Ich hoffte nur für ihn, dass ich mich eben verhört hatte.
„Ich denke, du hast mich schon richtig verstanden“, flüsterte er und grinste wieder. Am liebsten hätte ich ihn geschlagen, aber dann wäre mein Versuch ihn gesund zu pflegen vollkommen umsonst gewesen. Wieder verkniff ich mir eine giftige Antwort und setzte mich stattdessen hin.
„Schön, jetzt wo du wach bist: mit wem habe ich den das Vergnügen?“ fragte ich mit einem gespielt süßlichem Lächeln.
„Die Frage ist doch wohl viel eher, welches…verwilderte Wesen mich da aus dem Wald gerettet hat, oder?“ konterte er und versuchte sich weiter aufzurichten. Das gelang ihm aber nun wirklich ganz und gar nicht und so verzog er vor Schmerzen sein Gesicht.
„Nein“, stieß ich hervor, wobei ich versuchte meinen freundlichen Ton beizubehalten, „Ich habe zuerst gefragt.“
„Hm. Alex Turner.“ Seine Stimme wurde immer leiser.
„Turner. Hübscher Name, hast du ihn aus Fluch der Karibik geklaut?“ fragte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Als Antwort hörte ich seine Zähne aufeinander knirschen.
„Jetzt zu dir…“ flüsterte er und nickte mir kaum merklich zu. „Wie heißt meine Retterin? Oder soll ich dich einfach Waldnymphe oder wildes Mädchen nennen?“
Ich schnaubte. Was glaubte der eigentlich, wer er war? ICH hatte ihn gerettet und jetzt wollte er auch noch Antworten von mir. Der trieb mich jetzt schon in den Wahnsinn, was bedeutete, dass ich ihn wohl sehr schnell loswerden würde.
„Mars.“
„Mars, das ist die Kurzform für…?“ fragte er und zog herausfordernd eine Augenbraue hoch.
„Marissa.“ Und wie er mich nervte! Es war geradezu gewaltig! „Mach weiter so, und ich schmeiß dich raus“, setzte ich hinzu ohne ihn anzusehen.
„Du würdest mich nicht rauswerfen, zumindest nicht in diesem Zustand“, meinte er schulterzuckend, wofür er auch schon wieder die schmerzerfüllt sein Gesicht verzog.
„Was hast du allein im Wald gemacht?“ fragte ich und ignorierte seine Visage so gut es ging. Nur am Rande bekam ich mit, dass er von einer Sekunde auf die andere noch blasser um die Nase wurde. Er kaute auf seiner Unterlippe und suchte nach Worten – oder einer guten Ausrede.
„Ich warte“, murrte ich ungeduldig und sah ihn wieder an.
„Ich habe… Feuerholz gesucht“, versuchte er zu retten, was zu retten war. All meine Sinne schrien gleichzeitig: Lüge! Ich kniff leicht die Augen zusammen und zog die Nase kraus.
„Sag mir die Wahrheit oder du landest da draußen“, fauchte ich und deutete mit dem Daumen auf den Eingang hinter mich.
Er schluckte. Für den Bruchteil einer Sekunde war echte Angst in seinen Augen zu sehen, doch diese verflog genauso schnell, wie sie gekommen war.
„Gut. Ich habe kein Feuerholz gesucht. Ich musste weg von zuhause.“ Er schaute auf den Boden vor sich.
Ich runzelte die Stirn. Hatte ich vielleicht sogar recht gehabt und vor mir saß ein Verbrecher auf der Flucht?
„Was hast du angestellt?“ fragte ich so beiläufig wie möglich und fixierte seine Augen.
Wieder kaute er auf seiner Lippe, schien aber diesmal die Wahrheit sagen zu wollen als er den Mund wieder öffnete. „Ich werde verfolgt, schon eine ganze Weile lang – von meinem Bruder.“ Sein Gesicht wurde traurig und er schloss für einen Augenblick die Augen bevor er mich wieder ansah. „In seinem Haus ist vor ein paar Wochen ein Feuer ausgebrochen und er glaubt, ich hätte es gelegt.“
Wieder klappte mir der Mund auf. Mein Gott, das schien eine ernste Sache zu sein. „Warum glaubt er das?“ fragte ich leise. Meine Stimme war kaum hörbar.
„Wir hatten einen Streit, bevor er geschah.“
„Und? Hat er recht?“ fragte ich ohne nachzudenken.
Schlagartig wurde sein Gesicht wütend. Er starrte mich an, in seinen Augen loderte Zorn. „Nein! So etwas würde ich nie tun!“
Ich nickte langsam, als Zeichen dafür, dass ich ihm glaubte. Und das tat ich wirklich, denn ich hatte die Wahrheit in seinem Gesicht gesehen – und in seinen Augen.
Nach Atem ringend sackte Alex nun wieder an die Wand und presste sich eine Hand aufs Gesicht.
„Warum bist du allein im Wald?“ fragte er, wobei er seine Augen immer noch verdeckte. Vielleicht weinte er ja, ich wusste es nicht.
Jetzt war ich es, der alle Farbe aus dem Gesicht wich. Ich wollte es ihm nicht erzählen. Ich konnte ihm nicht die ganze Geschichte erzählen – er würde mich für verrückt halten. Ich schluckte geräuschvoll und wandte ihm dann den Rücken zu.
„I-ich…“ begann ich, doch ich fand nicht die richtigen Worte.
„Ja?“ fragte er. Seine Stimme war nicht mehr so kraftvoll wie zuvor. Selbst ein so kurzes Gespräch kostete ihn alle Kraft die er aufbringen konnte. Ich schloss die Augen und sah Duncans Gesicht vor mir. Ich konnte seine zerwühlten Haare sehen und seine nachtschwarzen Augen, die wie Edelsteine funkelten. Wieder musste ich schlucken. Tränen stiegen mir in rasender Geschwindigkeit in die Augen. Wie ein verwundetes Tier ging ich in die Knie und verbarg mein Gesicht in meinen Händen. Schluchzend lag ich am Boden und fragte mich nach dem Sinn. Es war mir egal, dass Alex da war und mich beobachtete – sollte er nur meinen Schmerz sehen und mich in Frieden liegen lassen. Ich kippte zur Seite um, während mich das Schluchzen erschauern ließ.
„Okay, ich frag dich in ein paar Tagen nochmal..“ hörte ich Alex hinter mir dumpf sagen – was für ein Arschloch!


Einsicht




Draußen breitete sich bereits die tiefschwarze Nacht aus, als ich mich wieder einigermaßen fing. Noch lange, nachdem die letzte Träne geweint war, brannten meine Augen. Ich hatte es für mehr als zwei Stunden nicht geschafft, die schmerzlichen Gedanken meiner Vergangenheit zurückzudrängen – in den Teil meines Hirns, in den ich sie bis dato gesperrt hatte.
Jetzt waren sie aus mir herausgebrochen und ich fühlte mich befreiter als je zuvor. Zwar war da immer noch dieses Gefühl einen Teil meiner selbst verloren zu haben, aber zumindest mein gebrochenes Herz fügte sich langsam wieder zusammen. Von Alex hatte ich keinen dämlichen Kommentar mehr gehört, was auch ganz gut war – für ihn. Hätte er es nämlich auch nur ein weiteres Mal gewagt seine vorlaute Klappe aufzureißen, hätte ich ihm mit bloßen Händen die Zunge rausgerissen und damit Seilspringen gemacht.
Anstelle der Trauer, die mich noch vor kurzem erfüllt hatte, wallte jetzt eine unbändige Wut in mir auf. Was glaubte der eigentlich? Ich war es, die ihn gerettet hatte. Ich hatte seine Wunde verbunden und meine Mahlzeit mit ihm geteilt und dafür dankte er mir so? Indem er mich zum heulen brachte? Indem er an meinen, ohnehin strapazierten, Nerven zerrte?
Ich biss aggressiv die Zähne zusammen. Oh ja, ich schwor, dass er von hier verschwinden würde, sobald er wieder laufen konnte – und zwar sofort!
Mittlerweile lehnte ich schon seit einer guten viertel Stunde an der Wand und versuchte an möglichst gar nichts zu denken. Dies stellte sich aber als sehr viel schwieriger heraus, als ich es mir je vorgestellt hatte. Der Grund dafür war, natürlich, Alex. Er war wieder eingeschlafen, wohl, weil so seine Wunden besser heilten, und schnarchte. Und ich musste sagen, dass mir dieses Geräusch, so leise es auch sein mochte, gehörig auf die Nerven ging. Warum mussten Typen immer schnarchen? Das konnte einen ja in den Wahnsinn treiben! Duncan hatte nicht geschnarcht!
Am liebsten hätte ich mich für meine eigenen Gedanken geschlagen – aber so richtig. Und so ging es mir immerzu. Egal an was ich gerade dachte, und war es noch so banal und unbedeutend, irgendwann endete es doch wieder bei ihm. Bei seinem Gesicht. Bei seinen Haaren. Bei seinen Augen.
Ich schüttelte hastig den Kopf, bevor mich meine Gedanken wieder in Tränen ausbrechen ließen. Meine Augen öffnete ich dennoch nicht, denn es hätte nicht viel gebracht. Feuer hatte ich keines angezündet. Ich hatte keine Lust dazu, keine Lust mich zu bewegen. Es hatte mich schon zu viel Anstrengung gekostet überhaupt von der Mitte der Höhle hierhin zu kriechen, wie ein elender Wurm, und mich gegen den kalten, rauen Stein zu lehnen. Langsam aber sicher fühlte es sich so an, als würden tausende, spitze Nadeln in meinen Rücken und meine Schulterblätter stechen. Die Kälte griff nach mir.
Widerwillig entschloss ich mich dann doch dazu, ein Feuer zu machen. Es hatte wenig Sinn, wenn ich auch noch krank wurde oder mir eine Lungenentzündung holte, nur weil ich am Boden zerstört war. Wer sollte sich denn sonst um die Jagd kümmern? Alex bestimmt nicht. Der konnte doch nicht einmal aufrecht sitzen, ohne das Gesicht zu einer Grimasse zu verziehen.
Hätte er nicht mit so dämlichen Kommentaren um sich geworfen, hätte ich ihn vielleicht sogar sympathisch gefunden – aber eben auch nur vielleicht! So aber, hatte er bei mir verspielt. Sobald er nicht mehr bei der kleinesten Bewegung vor Schmerz blass wurde, würde ich ihn rauswerfen. So leid mir die Geschichte mit seinem Bruder auch tat, ich hatte meine eigenen Probleme und um die musste ich mich kümmern. Außerdem war er alt genug um auf sich selbst aufzupassen. Wenn sogar ein ausgemagertes Mädchen wie ich es schaffte, mitten im Nirgendwo zu überleben, und zwar im Winter, dann konnte es für einen stattlichen Kerl wie ihn in den warmen Monaten erst recht kein Problem sein. Der Abschied würde also kommen, und würde er nicht freiwillig gehen, würde ich ihn eben verjagen – ich hatte mit diesem Gedanken kein Problem.
Ein Schnaufen zerriss meine Gedanken. Ich öffnete meine Augen und schaute mich um. In der Höhle war es dunkel und ich sollte mich nun wirklich daran machen, ein Feuer zu machen. Mit roboterhaften Bewegungen nahm ich ein paar größere Holzstücke und warf sie in die Vertiefung. Asche stob zu allen Seiten davon, aber sie war längst abgekühlt und würde keinen Schaden mehr anrichten. Mit einigen, geübten Handgriffen entzündete ich ein Streichholz, welches dem Brennholz folgte.
Zuerst regte sich nicht viel in der Feuerstelle, bis die winzige Flamme schließlich Besitz von den Ästen ergriffen hatte und zu einem ansehnlichen Feuer wurde. Augenblicklich breitete sich wieder Wärme in der Höhle aus. Wieder hörte ich dieses Schnaufen. Es kam eindeutig von Alex, der an die Wand gelehnt, schlief. Zumindest hatte er an der Wand gelehnt, als ich ihn zuletzt angesehen hatte. Jetzt hing er in einer akrobatisch anmutenden Haltung da und sog immer wieder scharf die Luft durch seinen, offen stehenden, Mund ein. Hätte ich nicht gewusst, dass er das tat, weil er Schmerzen hatte, wäre ich augenblicklich in schallendes Gelächter ausgebrochen. So aber starrte ich ihn eine Weile nur an ohne mich selbst auch nur einen Millimeter von der Stelle zu rühren.
Irgendwann musste er wohl aufgewacht sein, aber ich bekam es nicht mit, und das, obwohl ich ihm mitten ins Gesicht schaute. Verwundert blinzelte er mir zu und runzelte leicht die Stirn. „Was ist Mars? Hab ich einen Frosch im Gesicht?“ fragte er provozierend und fuhr sich prüfend mit einer Hand über die Wange.
Ts, ja klar, jetzt sollte der bloß nicht glauben, dass er mir mit der Es-ist-nie-etwas-gewesen-Masche kommen konnte!
„Mars? Bist du noch immer so?“ fragte er nun weniger herausfordernd und schaute mich mit einem Hundeblick an, der sich sehen lassen konnte. Ich drehte meinen Kopf demonstrativ zu Seite, was so viel bedeuten sollte wie: du kannst mich mal! Anscheinend kam diese Botschaft aber nicht ganz bei Alex an.
„Okay, hör zu, bitte. Ich weiß zwar nicht, was ich gemacht hab, dass du so zusammengeklappt bist, aber wenn du mir nicht sagst warum, kann ich es das nächste Mal nicht besser machen“, versuchte er zu erklären und legte seinen Kopf leicht schief. Und ich, dumm wie ich war, fiel voll drauf rein.
„Ich werde es dir nicht erzählen. Es ist privat und ich kenne dich nicht. Sei froh, dass ich dich hier rein gelassen hab.“
Alex runzelte wieder die Stirn, was ihm einen ungläubigen Ausdruck verlieh. „Na, aber jetzt hör mal! Du hast mich nicht rein gelassen, du hast mich förmlich hier hin gezerrt. Nur um das mal geklärt zu haben“, meinte er und ein freches Grinsen stahl sich in sein Gesicht.
„Das ist mir egal. Ich werde es dir nicht erzählen. Ich vertraue dir nicht“, plapperte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Autsch, das hat gesessen“, sagte Alex und schlug sich mit einer Hand aufs Herz. „Aber vielleicht vertraust du mir, wenn du mich erst besser kennengel…“ Weiter kam er nicht.
„Nein! Ich will dich nicht besser kennenlernen! Ich will einfach nur allein sein – ganz allein!“ schrie ich und wunderte mich selbst, woher ich auf einmal diese laute Stimme hatte.
Nun sah Alex wirklich getroffen aus. Sofort bereute ich meine Worte, nahm sie aber nicht zurück. Ich hatte nur die Wahrheit gesagt.
„Ich kann dir nicht vertrauen…Ich kann niemandem vertrauen“, flüsterte ich. Eigentlich waren diese Worte nur für mich gedacht, aber Alex schien sie gehört zu haben.
„Glaubst du das wirklich, oder ist es nur eine Taktik um Fremde von dir fern zu halten?“ fragte er und verlagerte sein Gewicht etwas anders. Ich schloss kurz die Augen. Nein, ich konnte niemandem mehr vertrauen. Sandra war tot. Meine Familie war tot. Und Duncan ebenso. Alle, denen ich jemals vertraut hatte, waren tot. Ich schüttelte langsam den Kopf.
„Ja, das glaube ich wirklich“, antwortete ich schließlich mit festerer Stimme und schaute ins Feuer. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich Alex noch größer machte und versuchte, dabei sein Bein so wenig wie möglich zu bewegen.
„Ich glaube es aber nicht, Mars. Das ist nur ein Schutzpanzer, den du dir da angelegt hast.“ Das waren die letzten Worte, die ich in dieser Nacht von ihm hörte. Er schlief nicht ein, genau wie ich. Zu viele Gedanken strömten durch meinen Kopf und drohten ihn zum Platzen zu bringen. Unruhig wälzte ich mich von einer Seite auf die andere. Nur einmal legte ich neues Holz nach, damit das Feuer nicht ausging, ansonsten verhielt ich mich so ruhig wie es nur ging. Und ich wusste, nein, ich spürte, dass Alex mich die ganze Zeit über beobachtete.

Der neue Morgen brach an. Ausnahmsweise wurde ich einmal nicht von eisiger Kälte oder meinem knurrenden Magen geweckt. Es war ein Geräusch, das mich aus meinem traumlosen Schlaf riss. Nur langsam kehrte Leben in meinen Körper. Verschlafen rieb ich mir die Augen und versuchte etwas zu erkennen, aber mein Blick war noch getrübt. Wann war ich überhaupt eingeschlafen? Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern. Verdutzt setzte ich mich auf und schaute mich in der Höhle um. Das Feuer war zu einem winzigen Häufchen Glut zusammengeschrumpft – wie jeden Morgen. Alex lehnte immer noch unbewegt an der hinteren Wand, die Decke um die Schultern gewickelt, und schaute mich an. Sein Blick war ernst, aber trotzdem irgendwie sanft. Ob er wohl die ganze Nacht wach war? Aber warum?
Ich streckte mich ausgiebig und setzte mich dann im Schneidersitz hin. Eine Weile schauten wir uns nur gegenseitig an. Keiner gab nach und keiner wandte den Blick ab.
„Hast du nicht geschlafen?“ fragte ich beim Anblick seiner Augenringe.
Er schüttelte den Kopf. Allein diese Bewerbung wirkte schon viel kraftvoller, als alle, dich ich bisher von ihm gesehen hatten. „Wer ist Duncan?“ fragte er ohne Umschweife.
Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf. Mein Mund klappte auf und wäre mein Unterkiefer nicht angewachsen, wäre er jetzt sicher auf dem Boden gelandet. Woher wusste er von Duncan? Woher?! Ich brachte kein Wort heraus, nicht einmal den kleinsten Mucks.
„Wer ist er?“ wiederholte er und legte seinen Kopf leicht schief.
Ich schüttelte den Kopf und presste meine Lippen aufeinander. Ich konnte es ihm nicht sagen! Ich kannte ihn nicht!
„Mars, bitte rede mit mir. Du sprichst im Schlaf. Du hast seinen Namen mehrmals gesagt – seit du eingeschlafen bist.“
„Ich kann es dir nicht erklären. Es tut mir leid.“ Mit diesen Worten sprang ich auf und stürmte aus der Höhle. Die Brücke hatte ich im Nu hinter mir gelassen und auch das Becken verschwand bald zwischen den Bäumen. Haltlos stürzte ich in den Wald hinein. Erst als das Auto in Sicht kam, merkte ich wohin mich meine Schritte führten. Rot und verlassen lag der Wagen vor mir, umgeben von losen Steinen und alten, hohen Bäumen. Ich wusste, dass Alex mir nicht folgte. Er konnte ja gar nicht, immerhin war er immer noch verletzt und geschwächt. Trotzdem schaute ich einmal prüfend über meine Schulter, bevor ich die Autotür aufzog und mich in den Innenraum setzte. Meine Beine hingen immer noch aus dem Rahmen, aber das machte keinen Unterschied denn im Wagen war es genauso kalt wie draußen. Schmelzwasser tropfte vom Dach auf meine Hose, aber das störte mich im Moment wenig. Jetzt war es am wichtigsten, meine Gedanken zu ordnen und meinen Kopf freizukriegen. Ich presste beide Hände gegen meine Schläfen und schloss die Augen so fest, dass sich Tränen in ihnen sammelten.
Was war nur jetzt wieder los? Warum musste alles ausgerechnet jetzt, wo mein Leben endlich einmal in Ordnung war, außer Kontrolle geraten? Gab es denn überhaupt keinen Ausweg aus all dem Unglück?
Die Zeit verstrich und bald stand die Sonne im Zenit. Ich saß unbewegt auf dem Fahrersitz und versuchte an möglichst gar nichts zu denken. Und allein dieser Versuch, ließ meine Gedanken beben. Mein Körper war versteift und knackte bedrohlich, als ich mich endlich aufrichtete. Ich öffnete meine Augen und blinzelte ein paar Mal. Inzwischen war die Sonne hinter den Wolken hervor gekommen und brachte mit ihren, immer wärmer werdenden Strahlen, die matschige Schneedecke zum Schmelzen. Ich musste zurück zur Höhle, denn obwohl es eindeutig wärmer war, als in den vergangenen Wochen und Monaten, war es immer noch zu kalt, um ohne Feuer nicht zu erfrieren. Und Alex konnte sich nicht einmal von der Stelle bewegen, also würde er erst recht frieren. Ich erhob mich, wobei ich mir heftig den Kopf am Autorahmen schlug. Als Strafe dafür, trat ich einmal hart gegen die Karosserie, welche ein dumpfes Knirschen von sich gab und erzitterte. Zornig und meine Hand gegen die, noch wachsende, Beule an meinem Kopf haltend stapfte ich durch den Schneematsch zurück zur Höhle. Der Weg war anstrengender, als sonst, denn ich sank immer wieder ein und musste mich an Ästen oder anderen Gegenständen festhalten und wieder aus dem, bis zu einem Meter tiefen, Schnee herauszuziehen. Endlich und völlig genervt erreichte ich die Brücke. Als ich dort auch noch fast abrutschte und mit einem Bein das kalte Wasser berührte, riss mir der Geduldsfaden. Was zum Teufel hatte ich angestellt, dass dieser Tag mich so hasste?! Wütend krabbelte ich in mein Versteck. Alex war immer noch wach, auch wenn er um einiges müder aussah. „Sag jetzt bloß kein Wort!“ fauchte ich ihn an und ließ mich vor der Feuerstelle nieder. Mit aller Wucht warf ich Holzstücke in die Grube und zündete sie an. Bald schon loderten Flammen vor mir und trockneten mein nasses Bein.
„Was ist denn in dich gefahren?“ fragte Alex und musterte mich von der Seite. Ich knirschte als Antwort mit den Zähnen und ignorierte ihn. Ich hatte ihm doch gesagt, er sollte seine Klappe halten – warum tat er nicht einfach, was ich sagte?!
„Mars?“
„Was?“ Meine Stimme bebte vor unterdrückter Wut. Viel mehr konnte ich wirklich nicht mehr ertragen, ansonsten würde ich hier ein Massaker veranstalten.
„Warum bist du so wütend? Wenn es wegen mir ist, dann tut es mir leid.“ Ich schaute weiterhin ins Feuer, obwohl mich seine Worte doch zum Nachdenken brachten. Er wollte also unbedingt mit mir sprechen? Gut, dass konnte er haben.
„Es ist AUCH deine Schuld, aber ich hasse diesen Tag einfach!“ knurrte ich ohne ihn anzusehen. Um mich wenigstens etwas zu beruhigen, schloss ich meine Augen und versuchte mich nur auf die Wärme zu konzentrieren, die vom Feuer ausging und auf meinen Wangen spielte.
„Warum hasst du ihn?“ fragte er unermüdlich weiter und zerrte somit nochmals an meinen strapazierten Nerven.
„Weil ich aufgewacht bin und du…“ Mir blieb mitten im Satz der Mund offen stehen. Plötzlich war alles so klar.
„Weil ich dich angesprochen habe? Weil ich da war? Was, Mars?“ Alex Stimme klang traurig und doch beruhigend.
Ich wartete einen Moment, bis sich alles in meinem Kopf endlich ordnete. Und ich wusste, dass ich es ihm sagen musste, weil er es gewesen war, der mir die Augen geöffnet hatte.
„Nein, Alex. Weil du die Wahrheit gesagt hast.“ Langsam drehte ich mich zu ihm um und bekam gerade noch mit, wie sein Mund ungläubig aufklappte. Ebenso wie ich, war auch er über meine Worte verblüfft, vielleicht sogar verwirrt.
„Ich…ich…Was?“ Er brachte nur Satzfetzten hervor. Sinnlose Wörter die nicht zueinander passten. Ich setzte mich anders hin, wandte mich ihm ganz zu.
„Gestern Nacht, weißt du noch, was du da zu mir gesagt hast?“ fragte ich und kaute auf meiner Unterlippe herum.
Alex Gesicht wirkte zuerst nachdenklich, dann konnte ich die Erkenntnis in seinen Augen aufblitzten sehen. „Du meinst deinen Schutzpanzer?“ fragte er trotzdem.
Ich schloss die Augen, atmete tief ein und nickte.
„Warum jetzt auf einmal?“ wollte er wissen und musterte mich misstrauisch. „Du hast doch wohl nicht vor, mich heute noch rauszuwerfen, oder?“ Seine Stimme klang leicht verängstigt, ansonsten aber kräftig und stark.
„Nein, ich werde dich nicht rausschmeißen – noch nicht. Ich weiß nicht, warum ich es zuerst nicht wahrhaben wollte, aber du hattest vollkommen recht – ich halte Menschen von mir fern.“
„Warum tust du das?“ Alex rutschte an der Wand etwas hinab und spannte sichtbar seinen Unterkiefer an.
Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vermutlich will ich nicht wieder verletzt werden…“ Noch bevor ich überhaupt nachdenken konnte, was ich sagte, hatten diese Worte meinen Mund auch schon verlassen. „Frag bitte nicht nach!“ Bat ich sofort und Alex schloss seinen Mund wieder, den er schon für die nächste Frage geöffnet hatte. Dankbar nickte ich ihm zu und schloss wieder die Augen. Das Knistern des Feuers beruhigte mich und spendete nach wie vor wohlige Wärme.
„Mars, darf ich dich trotzdem noch etwas fragen?“ fragte er nach einer Weile des Schweigens.
Zögerlich nickte ich. Sollte er irgendetwas wissen wollen, über das ich nicht sprechen wollte, würde ich einfach nicht antworten.
„Wenn du so gerne allein bist wie du behauptest, warum hast du mir dann überhaupt geholfen?“ fragte er und schaute mich schief an.
Ein Knoten bildete sich in meinem Magen. Genau das gehörte zu den Fragen, die ich von ganzem Herzen nicht hören wollte.
„Wäre es dir lieber gewesen, wenn ich dich da draußen hätte sterben lassen?“ fragte ich anstatt zu antworten und senkte verlegen den Blick.
„Nein, natürlich nicht, aber ich verstehe es einfach nicht.“ Er runzelte nachdenklich die Stirn bevor er weitersprach, „Kann es sein, dass du vielleicht….naja ich weiß nicht….vielleicht bist du einfach einsam?“
Ich riss die Augen auf. Was zum Teufel sollte das? Und warum um Himmels willen kannte er mich so gut, obwohl er mich überhaupt nicht kannte!? Oder hatte er einfach so eine gute Menschenkenntnis?
„W-was meinst du damit?“ stotterte ich und fühlte mich furchtbar hilflos. Verzweifelt schaute ich mich in der Höhle um, als würde mich jemand aus dieser Situation retten können.
„Wie lange warst du schon hier, bevor du mich gefunden hast?“ wollte er wissen, ohne auf meine Frage einzugehen.
„Ich weiß nicht genau. Ende Oktober vielleicht, warum?“ Diesmal schaute ich ihn direkt an. Ich wollte eine Antwort verdammt nochmal! Er konnte mich doch nicht einfach so ignorieren.
„Wusstest du, dass Menschen Herdentiere sind? Nur ganz wenige sind wirkliche Einzelgänger – und ich bin mir hundertprozentig sicher, dass du nicht dazugehörst.“ Er schaute mich aus seinen grünen Augen an. Ich schluckte schwer. Er hatte sowas von recht – mit allem was er sagte! Wie konnte man eine Fremde nur so gut kennen?
„Ganz ehrlich, Alex: du bist mir unheimlich. Ich habe dich noch nie in meinem Leben gesehen aber trotzdem weißt du ganz genau, wie es in meinem Kopf aussieht.“ Ich fuhr mir durch mein wuscheliges Haar.
Alex zuckte mit den Schultern. „Ich konnte Menschen schon immer gut einschätzen, aber das ist jetzt nicht wichtig. Ich frage mich nur, wie du den harten Winter hier draußen überhaupt überlebt hast. Woher hast du die Nahrung? Warum bist du nicht erfroren?“ Ich konnte die Fragen förmlich in seinem Gesicht sehen.
„Ich weiß es nicht genau – wie ich es geschafft hab, meine ich. Ich wusste nur, dass ich nicht sterben darf, weil sonst alles umsonst war…“ wieder hatte ich gesprochen, bevor ich gedacht hatte – das durfte auf keinen Fall zur Gewohnheit werden! – und schlug mir dafür nun mit der flachen Hand hart auf den Mund.
Alex verzog das Gesicht. „Mein Gott, warum schlägst du dich?“ fragte er und ich konnte die Ironie in seiner Stimme nur zu deutlich hören. Dafür kassierte er augenblicklich einen bösen Blick meinerseits, bei dem ihm sein dämliches Grinsen verging.
„Erzähl weiter“, bat er mich schließlich.
Widerwillig starrte ich ihn an. Keine Ahnung was ihn so sehr daran interessierte, aber solang er keine unangenehmen Fragen mehr stellte, sollte es mir recht sein. „Ich habe Tiere gejagt – mit meinem Bogen“, ich deutete über meine Schulter, wo der Bogen und die Pfeile am Boden lagen, „und dann hab ich sie zubereitet und gegessen. Immer hat das zwar nicht gereicht, aber ich bin zumindest nicht verhungert. Jetzt wo ich aber dich am Hals hab, wird das um einiges schwieriger werden.“ Ich starrte Alex unbewusst an. Seine kurzen Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab und sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos. „Tut mir leid…“ murmelte er und schaute an mir vorbei.
Ein unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen uns aus und um ihm nicht weiter irgendwelche unwichtige Antworten zu beantworten, drehte ich ihm den Rücken zu und schaute ins Feuer. Eine Gänsehaut kroch mir langsam über den Rücken und ich schlang meine Arme um meinen Körper um nicht zu frieren. Trotzdem fing ich schon nach wenigen Minuten an zu zittern. Ich war es schon so gewöhnt, dass ich es zuerst nicht einmal mitbekam, erst als Alex mir seine Decke anbot, merkte ich wie sehr mein Körper in Wirklichkeit bebte.
„Nein, ist schon gut Alex. Ich hab’s den ganzen Winter geschafft, da macht mir ein bisschen mehr Kälte auch nichts mehr aus“, behauptete ich und richtete meinen Blick wieder fest in die Flammen.
Noch mehrere Male versuchte Alex mir die Decke aufzuschwatzen, aber ich gab nicht nach. Er würde schon sehr bald merken, wer von uns beiden sturer war – nämlich ich.
Etwas später musste ich wohl eingeschlafen sein, denn ich konnte mich nicht mehr daran erinnern Feuerholz nachgelegt zu haben.

Meine Zähne schlugen hart aufeinander. Langsam öffnete ich meine Augen und blinzelte verschlafen ins Dämmerlich. Ich lag zusammengerollt wie eine Katze neben der Feuerstelle, den Eingang im Rücken. Prüfend witterte ich in die Morgenluft, doch alles was ich roch, war der Geruch von getrocknetem Moos und längst erloschenem Feuer. Wie in Zeitlupe richtete ich mich auf und warf einen Blick in die Ecke – auf Alex. Er schlief noch und war, allen Anscheins nach, an der Wand zu Boden gerutscht. Dort lag er jetzt und atmete tief und ruhig ein und aus. So leise wie möglich schnappte ich mir meinen Bogen, einige Pfeile und dieses Mal auch ein Messer und trat damit ins Freie. Sobald ich alles irgendwo an meinem Körper verstaut hatte, rannte ich los. Ich musste heute dringend Nahrung finden. Alex brauchte sie, um wieder ganz gesund zu werden. Ich brauchte sie, um nicht noch dürrer zu werden. Langsam machte ich mir deshalb nämlich wirklich schon Sorgen. Was, wenn ich eines Tages zusammenklappen würde? Das durfte auf keinen Fall passieren!
Und was noch auf keinen Fall passieren durfte war, dass ich Alex gegenüber alles ausplapperte. Er durfte es nicht erfahren – nichts aus meiner Vergangenheit. Er war ein Fremder, den ich, sehr bald, wieder loswerden würde. Ich sollte mich nicht mit ihm unterhalten. Ich sollte ihn meiden!
Kopfschüttelnd rannte ich weiter in den Wald hinein. Der schmelzende Schnee unter meinen Sohlen machte merkwürdige Geräusche, doch diese musste ich ignorieren. Ich musste mich auf anderes konzentrieren – auf Beute.
Unter einer alten Fichte hielt ich schließlich an und ging leicht in die Knie. Irgendwo hier war ein Tier, das spürte ich ganz deutlich. Ich hörte dumpf Schritte auf dem Schneematsch und scharrende Geräusche. Leise pirschte ich mich an. Ein umgestürzter Baumstamm diente mir als Deckung als ich mich weiter näherte. Hinter dem morschen Stück Holz konnte ich nun deutlich das Schnauben eines Tieres hören. Ich musste nicht einmal hinsehen, und wusste schon, was es war – ein Reh. Es hatte eindeutig diesen Geruch – Wald, Fell und heißer Atem. Ich hatte keine Zeit mehr zu verschwenden.

Die Jagd war erfolgreich gewesen. Ich hatte das Tier, einen jungen Rehbock, mit Leichtigkeit erlegt und gleich darauf zubereitet. Als ich, beladen mit Wildfleisch, zur Höhle zurückkehrte, saß Alex aufrecht im hinteren Teil der Höhle und schaute mich mit großen Augen an – als hätte ich eine Antenne am Kopf.
Ich verdrehte nur die Augen bei seinem Anblick und begann damit, das Fleisch auf Holzspieße zu stecken. Anschließend entzündete ich das Feuer wieder, mit dem letzten Feuerholz, wie ich herausfand, und legte die Spieße darüber. Während der ganzen Zeit spürte ich Alex Blick in meinem Rücken.
Als ich mich aber zu ihm umdrehte, schaute er die gegenüberliegende Wand an. Ich ging noch einmal hinaus ins Freie, um meine Hände vom Blut des Rehes zu befreien.
„Mars?“ Alex Stimme drang dumpf zu mir heraus. Sofort kehrte ich in meine Zuflucht zurück.
„Was ist?“ fragte ich, als ich wieder vor dem Feuer saß. Alex saß immer noch so da, wie vorher, aber etwas lag in seinem Blick, das ich nicht deuten konnte.
„Kannst du…einen Blick auf mein Bein werfen?“ fragte er mit zitternder Stimme. Scheiße! Hatte er vielleicht wieder Schmerzen deswegen? Ich hätte mich viel besser um seine Wunden kümmern müssen! Sofort war ich bei ihm und zog die Decke von ihm herunter. Da ich ihm keinen Verband mehr angelegt hatte, lag die Wunde blank vor mir. Vorsichtig tastete ich über die ausgefransten Ränder. Alex verzog das Gesicht, biss aber die Zähne zusammen. Die Verletzung blutete nicht, aber das hatte sie auch beim letzten Mal schon nicht mehr getan. Dafür war die Haut um sie herum aber gerötet und gespannt.
„Du hast Schmerzen, stimmt’s?“ fragte ich überflüssigerweise und fuhr vorsichtig mit den Fingerspitzen über das verkrustete Blut.
„Ja, aber es geht schon. Ich dachte nur, dass es schlimmer aussehen würde…“ Seine Stimme zitterte kaum merklich, aber ich hörte es sofort heraus.
„Gut, ich kann dir nämlich nicht helfen. Ich bin kein Arzt und ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich tun soll“, flüsterte ich und schaute ihm kurz in die Augen.
„Ich weiß. Aber danke, dass du es wenigstens versucht hast.“ Ein Lächeln umspielte seine Lippen und ich versuchte es so gut es ging zu erwidern. Langsam rutschte ich ein Stück von ihm weg und ließ mich, in einiger Entfernung, auf den Boden fallen. Immer noch war es mir unangenehm, ihm zu nahe zu sein oder gar zu berühren, obwohl es längst nicht mehr so schlimm war wie zu Anfang. Inzwischen hatte ich mich wohl oder übel an ihn gewöhnt und er nervte mich nicht mehr ganz so sehr. Aber: ich war lang allein gewesen und es würde noch sehr, sehr lange dauern, bis ich mich wieder an die Anwesenheit eines weiteren menschlichen Wesens gewöhnt hatte.


Gespräche



Vier Tage später...


Ich pickte ein paar Kiesel vom Boden und warf sie, eine nach dem anderen, in das klare Wasser des Beckens vor mir. Hinter mir hörte ich eine Bewegung, drehte mich aber nicht danach um. Ich wusste sowieso schon, was gleich kommen würde – Alex. Seit gestern machte er Gehversuche und verließ dazu öfters die Höhle, um sich hier draußen etwas die Beine zu vertreten. Naja, um ehrlich zu sein, war das Ergebnis nicht wirklich erfolgreich. Beim ersten Versuch musste ich ihm helfen, wieder in den Schutz der Höhle zurückzukommen, weil sein Bein ihn einfach nicht mehr trug. Ich betete innerlich, dass ich mir das heute ersparte – es war mir einfach zu viel Körperkontakt. Wieder hörte ich ein Rascheln hinter mir und diesmal konnte ich nicht anders, als mich umzudrehen. Alex Anblick war einfach himmlisch. Ich hielt mir die Hand vor den Mund, um nicht auf der Stelle in Gelächter auszubrechen. Halb befand er sich noch in der Höhle, doch die andere Hälfte seines Körpers hing bereits im Freien – in einem Meter Höhe.
„Hey, brauchst du vielleicht Hilfe oder so?“ fragte ich und musste mich nun wirklich beherrschen, um nicht lauthals loszulachen. Alex warf mir einen Blick zu, der wohl genervt wirken hätte sollen, stattdessen spiegelte sich pure Verzweiflung in seinen Augen wider.
„Okay, dann eben nicht.“ Ich drehte mich wieder dem Wasser vor mir zu. Der Schnee auf dieser Seite des Beckens war inzwischen ganz geschmolzen und ich konnte problemlos auf einem flachen Stein sitzen. Die Sonne schien von oben auf mich herab und eine leichte Brise spielte mit meinen Haaren.
Ein Aufprall ließ mich zusammenzucken. Alex hätte meine Hilfe doch annehmen sollen! Extra langsam erhob ich mich und drehte mich zu ihm um. Da lag er, auf dem, immer noch nassen Waldboden, und versuchte wie ein Käffer, der auf dem Rücken liegt, wieder auf die Beine zu kommen. Neben ihm ließ ich mich in die Hocke nieder und konnte mir ein Grinsen einfach nicht verkneifen. „Hilfe?“ fragte ich schlicht und schaute auf ihn hinab.
„Bitte!“ Er reichte mir seine Hand und ich zog ihn in die Höhe. Ja, sein Gesicht war mehr als verblüfft darüber, dass ich das geschafft hatte, aber ich würde ihm keine Antworten auf seine Fragen geben. Es war schon genug, dass ich inzwischen jeden Tag auf die Jagd gehen musste, damit wir nicht verhungerten. Dabei kam es mir aber zugute, dass inzwischen überall der Schnee schmolz. Die großen Schneeflächen waren inzwischen soweit zusammengeschrumpft, dass sie eher aussahen wie ein Fleckenteppich. Die meisten Tiere waren wieder aus ihrem Winterschlaf erwacht und suchten jetzt überall nach Nahrung – was es mir noch um einiges leichter machte.
Wackelnd stand Alex vor mir. Mit einer Hand stützte er sich an der Felswand, rechts von ihm, ab, mit der anderen umklammerte er immer noch meine. Ich schaute ein paar Mal von seiner Hand zu seinen Gesicht und wieder zurück, aber als er mich immer noch nicht losließ trat ich einen Schritt zurück.
„Alex, lass los!“ knurrte ich. Augenblicklich lösten sich seine Finger von meinem Handgelenk während sich seine Wangen leicht rot färbten.
Eigentlich war er ja ganz in Ordnung, nur leider vergaß er von Zeit zu Zeit wo die Grenze zwischen uns war. Aber bald wäre auch das vorbei. Ich war, trotz allem, bei meinem Entschluss geblieben ihn rauszuwerfen, sobald er wieder auf eigenen Beinen stehen konnte – sprichwörtlich. Ich hoffte, dass es nicht mehr allzu lange dauern würde, immerhin gab er sich ja schon alle Mühe.
Ich drehte mich auf dem Absatz um und kehrte zu dem Stein zurück, auf dem ich zuvor gesessen hatte. Alex folgte mir in einiger Entfernung und ließ sich dann auf einen Felsen, ungefähr einen Meter links neben mir, fallen. Ich schenkte ihm keine Beachtung. Irgendwann brauchte ich meine Ruhe, und dieser Zeitpunkt war jetzt gekommen. Nicht, dass ich ihn anbrüllen würde, falls er mich ansprach, aber ich würde auf keinen Fall freundlich sein. Still saß ich da und schaute auf das, sich kräuselnde, Wasser. Lange war es ruhig und ich vergaß sogar, dass jemand hinter mir saß – ich war vollkommen in Gedanken. Und trotzdem irgendwie gedankenlos.
Eine Berührung an der Schulter ließ mich zusammenzucken. Blitzschnell drehte ich mich, im sitzen, um und sah in Alex erschrockenes Gesicht.
„Was ist?“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust und schaute zu ihm hinauf. Ja, selbst im sitzen war er sehr viel größer als ich.
„Nichts, ist schon gut“, behauptete er und schaute an mir vorbei.
„Gut, dann eben nicht.“ Ich drehte mich wieder zum Wasser um. Wenn er es mir nicht sagen wollte, war das auch gut, ich wollte ja eigentlich sowieso nicht mit ihm sprechen – zumindest jetzt nicht.
„Okay, Mars. Ich…Ich hab doch noch eine Frage an dich. Vielleicht könnten wir darüber sprechen.“ Ich verdrehte die Augen
„Was willst du?“ Wieder drehte ich mich zu ihm um, doch jetzt war ich wirklich genervt. Alex schrumpfte unter meinem Blick sichtlich zusammen.
„Seit ich hier bin, frage ich mich was eine junge Frau wie du allein im Wald verloren hat. Aber ich kann mir den Kopf zerbrechen so sehr ich will, ich komme einfach nicht auf die Antwort. Zuerst dachte ich, es hätte etwas mit deiner Familie zu tun, dass sie dich nicht mehr bei sich haben wollten. Aber dann hab ich gemerkt, dass du dich merkwürdig verhältst – mir gegenüber, meine ich.“ Er musterte mich, ständig auf der Hut. Ich bedeutete ihm mit einem schlichten Nicken, weiterzusprechen.
„Gut, also ich wollte dir nur sagen, dass ich weiß wie es ist wenn man nicht mehr zurückkann…“ Ich unterbrach ihn. „Nein! Nein, Alex das weißt du bei weitem nicht!“
Fragend schaute er mich an. „Was meinst du damit?“
Ich schüttelte verärgert den Kopf. Warum musste er auch immer wieder damit anfangen? Er wusste doch jetzt schon, dass ich ihm nicht darauf antworten würde! Wütend wollte ich aufstehen und die Flucht ergreifen, doch diesmal ließ er mich nicht gehen. Schneller als ich hätte reagieren können, umklammerte er mein Handgelenk und hielt mich fest.
„Lass los wenn dir dein Arm etwas wert ist!“ fauchte ich und versuchte mich zu befreien, doch er drückte nur noch fester zu. In meiner Bewegung erstarrt, schaute ich zu ihm hinab. Pure Entschlossenheit lag in seinem Blick.
„Ich muss wissen was mit dir nicht stimmt, sonst werde ich noch verrückt!“ versuchte er mich umzustimmen, aber ich wollte weg von ihm. Die Berührung war mir unangenehm – wenn nicht mehr als das!
„Verdammt noch mal lass mich endlich los!“ Jetzt wurde ich allmählich laut. Meine Drohung von vorhin war ernst gemeint. Ich hatte ihn gesund gepflegt, was nicht automatisch hieß, dass ich ihm nicht irgendetwas brach.
Immer noch umklammerten seine Finger mein Handgelenk wie ein Schraubstock. Noch vor ein paar Tagen wäre diese Angelegenheit zu meinen Gunsten ausgegangen, jetzt aber, hatte ich es mit einem, mindestens ebenbürtigen, Gegner zu tun und ich wusste nach wie vor nicht, wie ich mich verwandeln konnte. Zudem lag mein Bogen, die Pfeile und die Messer wohl behalten in der Höhle. Ich warf Alex einen weiteren bösen Blick zu, aber er ignorierte diesen geflissentlich.
„Bitte, Mars.“ Alex sah mich flehend an, doch ich konnte nicht nachgeben. Es war mein Geheimnis, mein Leben und ich konnte es ihm nicht einfach so erzählen – ich kannte ihn nicht einmal wirklich. Ich blieb also stur. Alex zuckte als Antwort auf meinen Gesichtsausdruck nur mit den Schultern und ließ sich dann wieder auf seinen Stein nieder. Das Problem dabei war allerdings, dass er mich immer noch festhielt, so dass auch ich zu Boden ging – und zwar auf die tollpatschige Art. Ich landete ungebremst mit meinem Hintern auf dem flachen Stein neben Alex.
„Aua! Hey, was soll das!?“ Nun klang ich nicht mehr verärgert, sondern verwundert – unbeabsichtigt natürlich!
„Erzähl es mir, bitte“, forderte Alex ein weiteres Mal.
Ich schloss die Augen. Was sollte ich denn nur machen? Ich konnte ihm unmöglich die ganze Wahrheit erzählen. Er würde mir spätestens bei Duncans Verwandlung nicht mehr glauben und mich für verrückt halten. Aber wenn ich ihm nichts erzählte, würde er mich nie in Ruhe lassen – solange er noch hier war eben. Ich schwankte zwischen Wahrheit und Lüge, immer und immer wieder.
„Alex, es ist zu kompliziert, du würdest es nicht verstehen“, fing ich schließlich an. Meine Entscheidung war gefallen, doch ich gab ihm noch einmal die Chance mich in Frieden zu lassen.
„Aber ich halte das einfach nicht mehr aus. Ich halte es nicht aus wenn ich mit dir spreche und du mich nicht einmal ansiehst. Oder das du zusammenzuckst wenn ich dich auch nur berühre – ich verstehe es einfach nicht!“ Alex klang verzweifelt. Er wollte es also nicht anders.
Ich nickte langsam. „Gut, aber ich habe es dir gesagt.“ Ich holte tief Luft und schaute auf meine Hände, die ich in meinem Schoß gefaltet hatte. „Vor ein paar Jahren starben meine Eltern bei einem Autounfall. Seitdem lebte ich mit meiner Schwester, Tina, allein im Haus meiner Eltern. Sie sorgte für mich und ich half ihr dafür so gut ich konnte. Eines Tages trag ich jemanden, als ich im Supermarkt war, sein Name war Duncan. Er war sehr freundlich zu mir… und so verliebte ich mich nach einiger Zeit in ihn.“ Ich schnappte nach Luft und drängte die Tränen zurück, die in mir aufstiegen. „Es war… schön mit ihm, nur leider viel zu kurz.“ Wieder hielt ich inne. Ich musste sorgfältig abwägen wie viel ich ihm erzählen konnte, und ab wann es zu fantastisch für ihn werden würde. Alex schaute mich von der Seite an. Er drängte mich nicht mit Worten weiterzusprechen, aber ich spürte, dass er noch mehr wissen wollte. Also sprach ich weiter. „Er und…Tina starben bei einem… Unfall.“ Eine einsame Träne rollte über meine Wange, aber ich wischte sie nicht weg. Alex hatte mich schon weinen sehen, ich hatte nichts mehr zu verlieren.
„Darum bist du weggelaufen?“ fragte er ungläubig und zog die Augenbrauen hoch.
Ich nickte schwächlich. „Ja, genau so ist es.“ Mein Blick trübte sich zusehends.
„Aber das hat doch überhaupt keinen Sinn!“ protestierte er und legte seinen Kopf in den Nacken.
Nun war ich es, die die Stirn runzelte. Was sollte das wieder? Ich erzählte ich, zumindest grob, was los war und er führte sich so auf! Ich biss die Zähne zusammen. „Oh doch, das hat sehr wohl einen Sinn!“
Alex schüttelte seinen Kopf wie wild geworden hin und her. „Nein, Mars wie alt bist du?“ Seine Stimme war viel lauter als ich es von ihm gewöhnt war.
„Siebzehn….Nein! Achtzehn.“ Erst jetzt fiel mir ein, dass ich meinen Geburtstag im Winter völlig vergessen hatte. Ich hatte eben auch besseres zu tun gehabt – zum Beispiel überleben.
Alex raufte sich die kurzen Haare. „Du bist siebzehn und verlässt dein Zuhause, nur weil du…“
„Weil ich niemanden mehr hatte!“ Ich sprang auf und schaffte es diesmal, mich loszureißen. „Ich habe alle verloren! Meine Eltern, meine Schwester…und auch ihn!“ Ich fuchtelte mit meinen Händen über meinem Kopf als würde das alles erklären. Auch Alex stand jetzt wieder auf den Beinen, wenn auch wacklig.
„Aber es hätte doch sicher einen anderen Ausweg gegeben. Du hättest dich doch nicht in diese Wildnis“, er machte eine Handbewegung auf alles um uns herum, „zurückziehen müssen!“
„Ach Alex. Wie alt bist du? Neunzehn, vielleicht zwanzig Jahre?“ Meine Arme hingen nun schlaff an meinem Körper hinab.
Zwischen Alex Augenbrauen bildete sich eine kleine Falte als er die Augen zusammenkniff und mich von oben anblickte. „Zwanzig, aber…“
„Und wie viele Menschen hast du bisher in deinem Leben verloren? In diesen zwanzig Jahren?“ Auch mein Kopf wurde jetzt immer schwerer und mein Gesicht zeigte nach unten.
„Meine Großmutter, aber was hat das damit zu tun?“ Er klang verwirrt, aber ich fühlte mich viel zu schwach um ihn ins Gesicht zu schauen und herauszufinden ob ich recht hatte.
„Du hast keine Ahnung wie es ist, wenn man einen geliebten Menschen nach dem anderen verliert! Du kannst dir diesen Schmerz nicht einmal annähernd vorstellen“, wetterte ich und kickte einen fußballgroßen Stein ins Wasser. Ich war einfach nur voller Zorn. Nicht gegen Alex oder mich selbst. Dieser Zorn richtete sich einzig und allein gegen Ann. Und mehr denn je wusste ich, dass ich sie töten musste, um endlich meinen Frieden zu finden.
„Es tut mir leid“, murmelte er und drehte mir den Rücken zu. Ohne mich noch einmal anzusehen, verschwand er in der Höhle. Ich musste jetzt endlich allein sein. Schnellen Schrittes überquerte ich die Brücke und ging in den Wald hinein. Das Gezwitscher von unzähligen Vögeln umgab mich und erfüllte die Luft. Überall lag noch eine hauchdünne Schicht Schnee, doch auch dieser würde bald verschwinden – es wurde immer wärmer. Matsch machte bei jedem meiner Schritte klatschende Geräusche, aber ich bemerkte das schon gar nicht mehr. Mich zog es weiter. Diesmal nicht in Richtung Auto, sondern immer weiter den bewaldeten Hang hinauf. Da hier weniger Bäume Schatten spendeten als unten am Wasserfall, war kaum noch Schnee zu sehen. Als ich einige hundert Meter hinter mir gelassen hatte, suchte ich mir eine trockene Stelle im Moos und ließ mich nieder. Alex war wahrscheinlich immer noch unten in der Höhle, aber von hier aus konnte ich nicht einmal den Wasserfall sehen, geschweige denn den Bach.
Ich schlang meine Arme um meine Knie und starrte in die Ferne. Weiter hinten zogen schwarze Wolken auf, sie würden den letzten Schnee wegwaschen. Ich schnaubte. Der Winter war lang gewesen, und extrem hart. Aber das änderte nichts daran, dass die Landschaft wunderschön gewesen war, als sie der Schnee bedeckte. Alles hatte geglitzert und gefunkelt als wäre selbst der unscheinbarste Ast mit tausenden Diamanten besetzt. Und jetzt würde es bald vorbei sein mit der weißen Pracht.
Traurigkeit breitete sich in mir aus, aber nicht etwa, weil der Winter sich seinem Ende zuneigte, sonder eher, weil ich Alex nicht die Wahrheit gesagt hatte. Ich wusste, dass mich diese Lüge irgendwann einholen würde und bereute sie insgeheim jetzt schon, aber bis Alex die Wahrheit herausfinden würde, würde noch etwas Zeit vergehen – das hoffte ich zumindest. Je länger ich dort saß, desto bequemer kam mir der Waldboden vor. Ich lehnte mich zurück und schaute in den Himmel. Hellblau und weitgehend wolkenlos erstreckte sich dieser über mir – endlos und weit. Ich kam mir klein und unwichtig vor.
„Mars! Mars!“ Eine Stimme, die mir sehr wohl bekannt war, ließ mich hochschrecken. Das durfte ja wohl nicht wahr sein! Kurz rang ich mit dem Gedanken, aufzuspringen und mich irgendwo zu verstecken. Mein Verstand gewann dann aber doch gegen das Fluchttier in mir und so blieb ich, so ruhig wie möglich, sitzen und wartete. Nicht einmal einen Wimpernschlag später hörte ich Schritte vor mir und dann kam auch schon Alex in Sicht. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und Schweißperlen standen auf seiner Stirn, doch alles in allem sah er ganz in Ordnung aus.
Genervt wandte ich meinen Blick ab, als er unmittelbar vor mir stand. Anstatt etwas zu sagen, machte er nur eine merkwürdig anmutende Bewegung mit den Armen und schüttelte dann den Kopf. „Es tut mir leid Mars.“
Jetzt schaute ich zu ihm hinauf. „Aha.“ Mein Interesse hielt sich sichtlich in Grenzen – gut so.
„Also, ich weiß nicht aber ich kann nicht mehr tun als mich zu entschuldigen. Du würdest es mir leichter machen, wenn du mich wenigstens ansiehst…“ murmelte er und versuchte meinen Blick zu fangen, aber es gelang ihm nicht. Ich schaute stur an ihm vorbei, den nächstgelegenen Baum an. Mit einem genervten Schnaufen setzte er sich neben mich, wahrte aber wenigstens einen kleinen Abstand. Ich maß ihn nur mit einem kurzen Blick, dann wandte ich mich wieder ab. Wenn er gekommen war, um mich voll zu labern, dann konnte er auch gleich wieder gehen.
„Okay, jetzt pass mal auf, Alex. Als ich von daheim abgehauen bin, wollte ich die Menschen hinter mir lassen – alle Menschen“, fügte ich mit Nachdruck hinzu.
Alex nickte. „Ja, das hast du mir inzwischen schon oft genug gesagt. Aber weißt du was ich nicht verstehe?“
„Was?“ Langsam zerrte diese Fragerei an meiner Geduld – und ich hatte normalerweise eine Engelsgeduld!
„Warum du ausgerechnet mich so hasst. Ich habe dir doch gar nichts getan, oder?“
Ich runzelte die Stirn und sah ihn wieder an. Sein Gesicht war immer noch blass, aber bei weitem nicht mehr so sehr wie damals, als ich ihn gefunden hatte. „Wie kommst du darauf, dass ich dich hasse?“
Er zuckte mit den Schultern. „Ich spüre es. Du willst mich nicht in der Nähe haben, okay, das verstehe ich. Du hast es mir auch wirklich schon oft genug gesagt.“
„Deshalb hasse ich dich doch nicht gleich“, versuchte ich zu retten, was zu retten war.
„Nein, aber du reagierst merkwürdig auf mich. Du redest nicht gern mit mir und du verabscheust es, wenn ich dich anfasse.“ Er lehnte sich etwas zurück, so dass ich sein Gesicht nicht mehr sehen konnte.
„Ich bin es nur nicht mehr gewöhnt mit jemandem zu sprechen, das ist alles. Und was das Anfassen angeht: ich war noch nie ein großer Fan davon.“ Ich spielte mit einem dürren Ast, der neben mir auf dem Boden lag. Er musste spüren dass ich log – mal wieder.
„Ach, bei diesem Duncan auch nicht?“ In seiner Stimme klang etwas Ernstes mit, das ich nicht deuten konnte.
Er wusste ganz genau, wie er meine Aufmerksamkeit erweckte, aber dass er es gleich so ausnutzte, war sogar unter seiner Würde. Zornig knirschte ich mit den Zähnen.
„Also hab ich recht.“ Er nickte, eher für sich selbst als für mich, und warf mir dann einen kurzen, aber vielsagenden Blick zu. Was immer das auch zu bedeuten hatte, ich verstand es zumindest nicht.
Kaum zehn Minuten verstrichen. Zehn Minuten, in denen keiner von uns auch nur ein Wort sagte. Ich wollte das Schweigen nicht als erstes brechen, ich fand es gut so, wie es war. Alex schien das etwas anders zu sehen. Er war total hibelig und rutschte auf seinem Platz hin und her. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und stand auf.
„Wohin gehst du?“ fragte er und sah zu mir auf. Es war gut, dass er sich einmal den Hals verrenken musste, um mir ins Gesicht zu sehen – nicht umgekehrt. Fast musste ich beim Gedanken daran lächeln.
„Darf…Kann ich mitkommen?“ fragte er verlegen bevor auch er sich erhob. Ich verdrehte die Augen.
„Nein, du musst leider draußen bleiben.“ Ich drehte mich um und ging davon, den Hang hinab.
„Okay…“ Alex setzte sich wieder hin. Mein Gott, war der dämlich. Verstand wohl überhaupt keinen Spaß!
„Jetzt komm schon du Idiot!“ rief ich über meine Schulter ohne stehen zu bleiben.
Wieder hörte ich eine Bewegung hinter mir, dann rasche, unregelmäßige Schritte die mir folgten. Erst nach, ungefähr, zwanzig Metern schloss er zu mir auf.
„Mann, ich dachte schon du würdest das ernst meinen“, schnaufte Alex und hinkte neben mir her – so gut er eben konnte.
„Ja, klar. So einer wie du würde es nicht einmal eine Nacht lang hier draußen aushalten.“ Ich kletterte behände über ein paar Steine hinweg, die mir den Weg versperrten. Auch dafür, brauchte Alex ungefähr doppelt so lange wie ich.
„Ist das eine Herausforderung?“ fragte er spitzbübisch.
Wieder einmal verdrehte ich die Augen. „Du wirst schon noch deine Chance bekommen um dein Überleben zu kämpfen…Sobald ich dich rausschmeiße“, murmelte ich vor mich hin, ohne ihn zu beachten.
„Also willst du mich trotzdem noch loswerden?“ fragte Alex ungläubig und schloss erneut zu mir auf.
Ich nickte. „Ja sicher. Oder glaubst du ich halte es noch sehr viel länger mit dir aus?“
In seinem Gesicht breitete sich augenblicklich Enttäuschung aus. Ja, er war eine Nervensäge, eine ganz furchtbare sogar, aber dieser Blick traf mich mitten ins Herz.
„Hey, jetzt sie mich gefälligst nicht so an! Du wusstest es von Anfang an.“ Ich versuchte zu lächeln, aber wieder schaffte ich es nicht. Es war, als wäre mein Gesicht versteinert.
„Jaja, ist schon gut. Ich hab‘s verstanden“, murmelte er mit gesenktem Blick.
Zusammen ließen wir den Hang schließlich hinter uns. Es war nicht mehr weit bis zur Höhle, denn ich konnte schon das Rauschen des Wassers hören. Wortlos stapfte ich weiter über den nassen Waldboden und konzentrierte mich ganz auf meine Schritte. Es würde wahrscheinlich schwieriger werden Alex loszuwerden, als ich gedacht hatte, aber es würde funktionieren. Früher oder später musste er gehen und er wusste es. Genauso wie ich wusste, dass er alles tun würde, um das zu verhindern. Gott sei Dank, war ich mit mehr Sturheit gesegnet als er. Gegen einen Dickschädel wie mich hatte er ohnehin keine Chance.
Das glitzernde Becken erschien zwischen den Bäumen und ich beschleunigte meine Schritte ein wenig. Ich wollte mich hinlegen. Ich fühlte mich furchtbar müde.
Alex konnte nun nicht mehr mit mir Schritt halten, und das, obwohl er viel längere Beine hatte als ich.
Ich erreichte als erste die Brücke, überquerte die Konstruktion, die, wegen des vielen Schnees im Winter etwas wackelig geworden war, und schlüpfte in die Höhle. Wärmer war es dort nicht, aber trotzdem fühlte ich mich gleich viel besser – als wäre ich nach Hause gekommen.
Ich kroch in eine Ecke und rollte mich dort zusammen. Das viele Reden heute war zu anstrengend gewesen. Viel anstrengender als alle Jagden der vergangenen Wochen zusammen.
Ungefähr fünf Minuten später erreichte auch Alex den Höhleneingang und ließ sich geräuschvoll neben der Feuerstelle nieder. Ich öffnete nicht einmal meine Augen um ihn anzusehen. Meine Augenlider fühlten sich schwerer an als Blei.
„Mars, kann ich dich noch kurz stören?“ fragte er vorsichtig, als ich ihn immer noch nicht beachtete.
„Das tust du ja schon also schieß los.“ Jetzt setzte ich mich auf und wischte mir eine Haarsträhne hinters Ohr.
„Du kannst ruhig in deinem Bett schlafen. Ich hab’s erst gestern bemerkt, sonst wäre ich viel früher auf den Boden ausgewichen. Naja, aber ich denke, ich sollte ab jetzt auf dem Boden schlafen…“
Okay, sehr interessant das Ganze, aber ich wollte eigentlich nur schlafen.
„Ist schon gut.“ Ich legte mich wieder hin und schloss die Augen – und betete, dass er mich nicht nochmal ansprach!
Meine Gebete wurden anscheinend erhört, denn er sagte kein weiteres Wort, legte sich aber auch nicht nach hinten ins Bett – naja ihr wist schon was ich damit meine.
Die Dämmerung bekam ich längst nicht mehr mit, denn ich schlief tief und fest wie ein Baby.

Schon bevor ich am nächsten Morgen erwachte, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Etwas, das tief in mir verborgen war, schrie mir eine Warnung zu, aber ich verstand sie nicht. Ich wand mich und versuchte die verschlüsselte Nachricht zu knacken, aber ich konnte nicht – ich war zu schwach.
Nach Luft schnappend riss ich schließlich die Augen auf, als es sich anfühlte, als würde mein Kopf vor Anstrengung platzen. Mein Atem ging rasselnd und ruckartig. Aufgewühlt schaute ich mich um und bemerkte erst nach einigen Sekunden, dass es draußen schon hell war. So leise wie möglich krabbelte ich zum Ausgang, umrundete Alex, der sich seit dem vorigen Tag nicht von der Stelle bewegt hatte und trat ins Freie. Meine Gelenke knackten bedrohlich, als ich mich auf den Waldboden fallen ließ. Prüfend witterte ich und behielt dabei meine Umgebung genau im Blick. Mit den Augen streifte ich über die Bäume und, immer noch blattlosen, Büsche auf der anderen Seite des Beckens. Da war nichts – rein gar nichts.
Etwas enttäuscht drehte ich mich um und kehrte in die Höhle zurück. Alex drehte sich genau in dem Moment auf den Rücken, in dem ich an ihm vorbei rutschte. Überrumpelt wollte ich einen Satz zur Seite machen, wo aber leider kein Platz war. Ich knallte mit der Schulter gegen den harten, kalten Stein und prallte zurück auf den Boden. Von der Erschütterung erwachte Alex und blinzelte mich verschlafen an.
„Ist was passiert?“ fragte er ohne echtes Interesse.
Ich schüttelte den Kopf und versuchte wieder einigermaßen auf die Beine, oder eher die Knie, zu kommen um nicht am Boden zu liegen wie ein sterbender Käfer. „Nein, alles okay – denke ich. Ich hab mich nur erschrocken.“
Nun wurde Alex allen Anscheins nach hellhörig. „Du hast dich erschrocken?“ fragte er ungläubig und legte seinen Kopf leicht schief. Immer noch sah er müde aus, aber das würde sich noch legen.
Ich zuckte mit den Schultern. „Ja, hast du etwa ein Problem damit?“ Nun klang ich schon fast anklagend – was gar keine Absicht war!
„Naja, ich dachte eigentlich nicht, dass du so erschrocken bist.“ Damit richtete er sich auf und fuhr sich mit einer Hand durchs zerwühlte Haar.
Jaja, klar. Wenn der wüsste was ich schon alles erlebt hatte, dann würde er jetzt nicht so mit mir reden. Aber er wusste es nicht, und er würde es nie erfahren – niemals!


Traum



Lange saßen wir uns gegenüber und sagten nichts. Ich spielte mehrmals mit dem Gedanken, ein Feuer anzuzünden, hatte dann aber doch keine Lust. Wenn ich in der Nacht nicht erfroren war, dann würde das auch nicht am helllichten Tag passieren – hoffte ich zumindest.
„Ich werd‘ mir mal ein wenig die Beine vertreten“, meinte Alex und weg war er auch schon. Ich blieb allein zurück – mit einem unguten Gefühl im Magen. Irgendetwas war doch faul!
Aber wenn Gefahr drohte, dann hätte ich das doch gerochen, gehört oder wenigstens gesehen, oder? Unruhig rutschte ich hin und her und beschloss schließlich, Alex zu folgen – nur um sicher zu gehen!
Es war nicht schwer, seine Witterung aufzunehmen. Alex hatte einen ganz eigenen Geruch nach Rinde, Moos und etwas anderem, das Richtung Vanille ging. Er war noch nicht einmal hundert Meter vom Wasserfall entfernt und schlenderte unaufmerksam dahin. Bei einer schiefen Tanne holte ich ihn ein.
„Hey, Alex!“ Sofort reagierte er auf meinen Ruf und drehte sich zu mir um.
„Wow, Mars. Was für eine Ehre. DU folgst MIR? Wie komme ich dazu?“ Er grinste, blieb aber nicht stehen.
Ich verdrehte die Augen und stolperte fast über eine Wurzel, die unter einer Schicht Tannennadeln verborgen war.
„Ich dachte, du könntest vielleicht etwas Gesellschaft brauchen?“ Wow, diese Worte hörten sich ja sowas von erlogen an. Wenn er das nicht mitbekam war er ziemlich zurückgeblieben.
Aber er merkte es – nicht zurückgeblieben – und zog eine Augenbraue nach oben. „Hast du von ein paar Giftpilzen genascht, oder was?“ Nun blieb er endlich stehen und ich wäre fast gegen ihn geknallt. Mit dieser abrupten Bewegung hatte ich jetzt irgendwie nicht wirklich gerechnet.
„Was?! Nein, hab ich nicht!“ versuchte ich mich zu verteidigen, doch sogar das scheiterte. Ich musste dringend lügen üben.
„Ach komm schon! Gestern hast du mir noch die Ohren vollgejammert, dass du viel lieber allein wärst und jetzt fragst du, ob ich deine Gesellschaft will?“ Er legte seinen Kopf schief – mal wieder. Das schien eine seiner Eigenarten zu sein.
Ich versuchte unschuldig drein zu schauen und zuckte mit den Schultern. „Ich hab’s mir anders überlegt.“
„Nein, hast du nicht. Also entweder sagst du mir jetzt auf der Stelle was los ist, oder ich gehe alleine weiter, okay?“ Seine Stimme duldete keinen Widerspruch und trotzdem wehrte ich mich dagegen ihm zu erzählen, dass er vielleicht in Gefahr war – das würde sich viel zu verrückt anhören.
Ich versuchte eine, halbwegs plausible, Ausrede aus dem Ärmel zu zaubern, aber da kam überhaupt nichts.
„Okay, ich gehe.“ Alex Stimme war ernst, genauso wie sein Gesicht, als er sich umdrehte und davonging. Ich stand einen Augenblick lang wie angewurzelt da, dann rannte ich ihm hinterher – wie ein Hündchen.
„Ich sag dir was los ist!“ rief ich als ich nur noch ein paar Meter hinter ihm war.
Wieder blieb er stehen, aber diesmal verschränkte er die Arme vor der Brust und musterte mich von oben, als hätte ich einen kompletten Dachschaden.
„Gut, ich höre.“ Er bewegte sich nicht auf mich zu, aber es fühlte sich so an, als würde er plötzlich direkt vor mir stehen.
„I-ich habe heute ein ganz, ganz schlechtes Gefühl und ich weiß, dass sich das jetzt verrückt und völlig durchgeknallt anhört, aber du musst mir bitte vertrauen…“ Ich sah ihm direkt in die Augen, als ich das sagte, doch als Antwort bekam ich nur Gelächter.
„Momentchen mal! Du verlangst von mir, dass ich dir vertraue nur weil du ein ‚schlechtes‘ Gefühl hast. Dabei vertraust du mir doch auch nicht.“ Diese Worte trafen mich wie ein Schlag. Es war eine Sache, ihm das zu sagen, aber eine ganz andere sie selbst gesagt zu bekommen. Plötzlich verstand ich, warum er so verletzt gewirkt hatte, als ich ihm das an den Kopf geworfen hatte.
„Es tut mir leid, wirklich! Bitte, Alex!“ Ich flehte ihn an und ich meinte es bitter ernst. Ich wollte nicht, dass ihm oder mir etwas passierte – ich musste ihn in Sicherheit bringen!
Als er mein Gesicht sah, wurde sein Blick sofort weicher. Mit ein paar weit ausgreifenden Schritten war er bei mir und umfasste mit seinen Händen meine Oberarme. „Okay, okay! Ich glaube dir, aber bitte hör endlich auf mich so anzusehen!“ Dankbar schaute ich zu ihm hinauf. Er lächelte, was schon mal nicht schlecht war. „Lass uns zurück zur Höhle gehen.“ Mit diesen Worten legte er mir seinen, doch relativ schweren, Arm über die Schulter und hinkte neben mir her. Während des ganzen Wegs waren meine Nerven angespannt wie Drahtseile. Meine Sinne und mein Gehirn arbeiteten auf Hochtouren – ich durfte einfach nichts übersehen! Aber je näher wir der Höhle kamen, desto mulmiger wurde mir zumute. Ich sog die Luft durch die Nase und prüfte sie genauestens, aber ich konnte keinen Anhaltspunkt finden. Für Alex sah es vermutlich so aus, als würde ich nach Atem ringen, denn er nahm seinen Arm von mir runter und humpelte ohne mich als Stütze weiter. Noch ein weiteres Mal witterte ich – und blieb sofort wie angewurzelt stehen! Eine leichte Brise aus Osten wehte den Hauch einer Fährte zu mir herüber.
Hier roch es nach Wolf! Sämtliche Muskeln in meinem Körper spannten sich wie von selbst an. Ich drehte mich einmal um mich selbst, wobei ich mit meinen Augen die gesamte Umgebung scannte. Aber es gab nichts. Keine Pfotenabdrücke oder Kratzspuren. Auch keine Fellbüschel. Einzig und allein der Wind hatte sie verraten.
Genauso schnell wie ich gewusst hatte, dass diese Spur zu einem Wolf gehörte, wusste ich auch, wem sie gehörte. Nämlich Ann.
Es fühlte sich an, als würde alle Farbe auf einen Schlag aus meinem Gesicht weichen. Mein Magen verkrampfte sich bedrohlich. Ich musste würgen, um mich nicht an Ort und Stelle zu erbrechen.
Was zum Teufel wollte sie hier? Sie konnte mir doch nicht gefolgt sein, das war unmöglich! Ansonsten hätte sie mich doch auch gleich während des Winters erledigen können. Oder während ich schlief. Das ergab doch überhaupt keinen Sinn.
Alex bemerkte anscheinend erst jetzt, dass ich nicht mehr neben ihm war. In gut fünfzig Metern Entfernung drehte er sich zu mir um und winkte. Er war in Gefahr! Jeden Augenblick könnte Ann aus ihrem Versteck, wo immer das auch sein mochte, heraus schießen und sich ihn schnappen! Ich preschte los. Noch nie in meinem Leben war ich so schnell gelaufen wie in diesem Moment. Ich glaubte, den Boden nicht einmal mehr zu berühren, so schnell rannte ich. Vor Alex legte ich dann eine filmreife Vollbremsung hin. Ich strauchelte und wäre um ein Haar gegen ihn geknallt. Erst als ich auch meine rechte Hand als Bremsverstärkung hinzu nahm hielt ich an. Hockend saß ich vor ihm und versuchte zwischen den Bäumen etwas zu erkennen. Eine ruckartige Bewegung vielleicht, oder aber schwarzen Pelz….rote Augen.
Nichts dergleichen geschah. Ich und Alex waren allein.
„Ähm…ist alles in Ordnung mit dir?“ fragte er und kämpfte um sein Gleichgewicht. Anscheinend hatte ihn mein Sprint ziemlich überrascht.
„Ja, aber bitte lass uns jetzt in die Höhle gehen. Hier draußen sind wir nicht sicher.“ Ich packte ihn grob am Arm und zog ihn hinter mir. Es war mir egal, dass er noch Schmerzen in seinem Bein hatte, oder dass er hinfallen könnte. Ich wollte ihn einfach nur so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone wissen.
Nicht einmal eine Minute später saßen wir im Schutz der Höhle. Ich hatte Alex in die hinterste Ecke gedrängt, selbst aber direkt neben der Öffnung Platz genommen. Mit einer Hand umklammerte ich ein Messer, mit der anderen hielt ich den Bogen und drei Pfeile bereit – nur für den Notfall. Mein Blick war auf die Bäume am anderen Ufer gerichtet, doch nichts rührte sich.
„Was ist denn bloß los mit dir? Langsam machst du mir echt Angst!“ sagte Alex und warf mir einen fragenden Blick nach dem anderen zu. Ich konnte ihm das jetzt nicht erklären – oder besser gesagt gar nicht. Es hätte sich doch wohl ziemlich merkwürdig angehört, wenn ich die Witterung meiner Erzfeindin aufgenommen hatte, oder?
Ohne auf seine Fragerei einzugehen, blickte ich mich weiter um. Die Sonne hatte noch nicht einmal den Zenit überschritten, aber trotzdem war die Luft – im Vergleich zu den vergangenen Monaten – angenehm warm auf der Haut. Ein leichter Wind bewegte die Äste und Zweige der umliegenden Bäume und erzeugte so die Illusion, dass Ann sich dahinter versteckte. Mehrere Male musste ich mich zurechtweisen, weil ich schon drauf und dran war aufzuspringen und mir das genauer anzusehen. Und jedes Mal, wenn ich das tat, erntete ich einen skeptischen, ja schon fast ängstlichen Blick von Alex. Er verstand nicht, warum ich mich so benahm, sonst hätte er mich nicht angesehen als wäre ich psychisch gestört.
„Mars, was….?“ Weiter kam er nicht, denn ich unterbrach ihn mit einer derben Handbewegung, ohne ihn aber anzusehen.
„Halt die Klappe, bitte! Dein Leben könnte davon abhängen!“ fauchte ich und warf ihm einen kurzen, aber vielsagenden Blick zu.
„Was?! Soll das eine Drohung sein?“ Sein Mund klappte unmerklich auf und zu.
„Nein, keine Drohung – ein Versprechen!“ Jetzt schaute ich ihn an, und was ich in seinen Augen sah war unergründlich. Neugierde, Angst und ein weicher Ausdruck vermischten sich in seinem Blick.
Von da an sagte er nichts mehr. Es kam mir fast so vor, als würde er schmollen, aber ich konnte mich nicht großartig auf ihn konzentrieren. Immer noch hatte ich dieses merkwürdige Gefühl im Bauch, dass mir zuzurufen schien, dass ich weglaufen sollte. Aber ich würde nicht weglaufen – nie wieder! Ich war schon viel zu oft geflohen. Ich hatte meine Heimat zurückgelassen, und mit ihr alles, was ich kannte.
Schuld daran war nur eine Person, aber ich wollte nicht einmal ihren Namen denken. Es erfüllte mich zu sehr mit Wut und Hass. Und diese beiden Empfindungen würden mich blinden machen, für die Gefahr, die da draußen lauerte, oder gelauert hatte.
Wie ein Hofhund, der das Haus seines Herren vor Dieben schützte, wachte ich vor dem Eingang der Höhle. Manchmal stand ich auf und lief ein paar Schritte, aber nie ließ ich meine Waffen zurück.
Die Sonne hatte schon längst ihren höchsten Punkt hinter sich gelassen und stand bereits weit im Westen.
Ich lehnte gegen die Wand und beobachtete den Waldrand. Immer noch hatte sich nichts gerührt, aber ich traute diesem Frieden nicht. Es stank förmlich zum Himmel.
Von Zeit zu Zeit warf ich Alex einen Blick zu, aber meistens starrte er einfach den Boden, oder die gegenüberliegende Wand an. Sein Gesicht war ausdrucklos und ziemlich bleich und langsam begann ich, mir wirklich Sorgen um ihn zu machen. Noch gestern Abend war es ihm gut gegangen, da sollte er jetzt nicht schon wieder verletzt werden – das durfte nicht passieren.
Ich blieb also wachsam und konzentrierte mich ganz auf den Wald.
Die Zeit raste nur so an mir vorbei und ich saß immer noch starr wie ein Stein im Eingang und starrte hinaus.
„Mars?“ Ich drehte mich Alex zu. Zum ersten Mal seit ungefähr sechs Stunden sah er mich wieder direkt an. Zumindest hatte ich es davor nicht bemerkt.
„Ja?“ Ich warf noch einen letzten Blick ins Freie und krabbelte dann ein Stück weiter in die Höhle hinein. Wenn Ann bis jetzt noch nicht angegriffen hatte, dann würde sie bestimmt warten, bis es dunkel wurde und ihre Chancen stiegen.
Vor der Feuerstelle setzte ich mich im Schneidersitz hin und schaute Alex interessiert an.
„Ich will dich nicht beleidigen oder so, aber langsam glaube ich, dass du den Verstand verloren hast“, versuchte er mir zu erklären. Ich lächelte, oder versuchte es wenigstens, und legte Pfeile und Bogen neben mir auf den Boden. Das Messer aber behielt ich bei mir – man konnte ja nie wissen.
„Vertrau mir! Es ist zu deiner Sicherheit.“ Ich nahm ein paar Stöcke, die Alex am Tag zuvor von einem kleinen Rundgang aus dem Wald mitgebracht hatte, und legte sie auf die erloschene Asche der Feuerstelle.
Mit geschickten und, bereits geübten, Bewegungen entzündete ich das trockene Holz. Sekunden später flackerte ein helles, kleines Feuerchen vor mir und strahlte ungeheure Wärme ab.
Auch wenn der meiste Schnee schon geschmolzen war, die Luft war immer noch viel zu kalt – immerhin war es erst Spätwinter.
Alex schnaubte in seiner Ecke verächtlich, aber ich ignorierte ihn. Ich hatte zurzeit ganz und gar keine Lust, mich mit ihm zu unterhalten, oder gar etwas über mich zu erzählen. Da war es mir nur recht, dass er mir irgendwann - nach ungefähr zwei weiteren Stunden - den Rücken kehrte und sich hinlegte. Ich wusste, dass er nicht schlief, aber ich war froh, dass er so tat, als ob.
Der Nachmittag verstrich viel schneller als jemals zuvor. Ich musste immer öfter dagegen ankämpfen, hinaus in den Wald zu stürmen und nach ihr zu suchen. Irgendwann war es dann so weit und ich setzte mich auf meine Hände, legte das Messer neben mich und schloss die Augen. Lauschend saß ich da und versuchte mich zu konzentrieren. Obwohl es bereits auf die Dämmerung zuging, zwitscherten draußen zwischen den Bäumen noch hunderte Vögel. Einige sangen melodisch, andere gaben nur nervende Pfeiftöne von sich, aber alles in allem waren es wunderschöne Lieder. Wäre ich müde gewesen, oder hätten andere Umstände geherrscht, wäre ich ganz sicher eingeschlafen.
Gewaltsam riss ich meine Augen auf. Das Risiko, wirklich einzuschlafen, war einfach viel zu groß – es durfte nicht passieren. Schlafend wäre ich, und auch Alex, völlig schutzlos und Ann könnte sich unserer in aller Ruhe annehmen. Ich presste mir die Hände gegen die Schläfen und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Viel zu viele Gedanken schossen durch meinen Schädel – er drohte schon fast zu zerbrechen.
Ich verlagerte mein Gewicht etwas anders und setzte mich in den Schneidersitz. Meine Hände ruhten in meinem Schoss und ich starrte in die flackernden Flammen. Das, teilweise noch immer nasse, Holz knisterte beruhigend und schien mich trösten zu wollen. Der Eingang befand sich zu meiner Rechten und ich warf immer mal wieder einen Blick hinaus – nur um ganz sicher zu gehen. Doch jedes Mal wenn ich hinaus sah, bot sich mir derselbe Anblick. Alles lag vollkommen ruhig und wenig beeindruckend da. Nirgendwo war auch nur das kleinste Anzeichen für Gefahr zu sehen. Selbst die Tiere des Waldes schienen mir das klarmachen zu wollen. Die Vögel zwitscherten sogar noch, als die Sonne schon hinter den Bergen verschwunden war, und den wolkenlosen Himmel in ein zartes Rosa tauchte. Später, als sich alles langsam in ein tristes Grau verwandelte, trauten sich sogar ein paar Rehe aus ihren Verstecken, um am Ufer des Beckens ihren Durst zu stillen.
Mein Interesse erweckten sie heute nicht. Alex mochte vielleicht Hunger haben, aber mir war schon heute Morgen der Appetit vergangen. Teilnahmslos sah ich zu, wie die Tiere tranken und wartete, bis sie wieder zwischen den Bäumen verschwanden. Nur noch ihr Geruch verriet, dass sie jemals hier gewesen waren.
Alex, der mir immer noch den Rücken zugedrehte hatte, schnaufte geräuschvoll. Sofort hatte er meine Aufmerksamkeit. Zuerst befürchtete ich, er hätte immer noch Schmerzen, doch dann sah ich, dass er schlief.
Ich warf noch einen Blick hinaus – da war nichts – und krabbelte ein Stück näher an ihn heran.
Dass Alex, trotz meiner Angst, schlief, hatte eine sehr beruhigende Wirkung auf mich. Ich wurde immer schläfriger, und doch wusste ich, dass ich nicht schlafen durfte.
Ich warf noch ein paar Stöcke ins Feuer und legte mich dann, in ungefähr einem halben Meter Entfernung zu Alex, auf den Moosboden. Zusammengerollt wie ein Embryo lag ich da und starrte die Rückseite der Holzwand an, die ich vor so langer Zeit gebaut hatte. Dass sie immer noch hielt, grenzte, meiner Meinung nach, an ein Wunder. Dass ich lebte aber auch!
So oft hatte man mir schon nach dem Leben getrachtet. So etwas würde ich nicht einmal meinem größten Feind wünschen… Oder vielleicht doch?
Nein, ganz bestimmt nicht. Nicht einmal Ann hätte so ein Leben in Angst und Schrecken verdient, auch wenn sie Schuld an der ganzen Sache war. Ohne sie hätte alles so gut laufen können. Ich wäre immer noch mit Duncan zusammen, Tina wäre noch am Leben und Sandra genauso. Stattdessen lebte ich jetzt in einer verdammten Höhle mitten im Urwald und musste mir mein, schwer erkämpftes Essen, auch noch mit einem Kerl teilen, den ich eigentlich gar nicht kannte. Ja, wenn ich es mir genauer überlegte, kannte ich Alex wirklich nicht. Ich wusste so gut wie gar nichts über ihn, und ehrlich gesagt war es mir auch egal. Er tat mir ja nichts, also musste ich nur das nötigste mit ihm reden. Oder?
Nein, so war es auch wieder nicht. Meine Mauer bröckelte schon und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ganz fiel. Alex hatte mich zum Nachdenken gebracht. Ich war hart geworden, in den Monaten, in denen ich allein gewesen war. Früher war ich doch so freundlich gewesen und offen und ich hatte viel gelacht. Damit war es aber jetzt vorbei. Ich versuchte zwar oft zu lächeln, aber es gelang mir nicht und das wusste ich. Ich hatte keine Ahnung, warum meine Gesichtsmuskeln nicht mehr taten, was ich wollte, aber es war so und ich konnte es nicht ändern. Vielleicht war es zu spät und ich würde es nie wieder lernen – unvorstellbar.
Ich musste meinen Kopf schütteln. Meine Gedanken begannen zu kreisen – aber das durfte nicht passieren, denn es war die Voraussetzung für Schlaf. Schlaf, der würde mir in dieser Nacht wohl verwehrt bleiben.

Stunde um Stunde verging – aber nur sehr langsam. Es schien, als würden die Sekunden vor sich hin tröpfeln wie zäher Kuchenteig. Diese Nacht schien dunkler zu sein als alle anderen, die ich je erlebt hatte. Nicht nur der Himmel war rabenschwarz, sondern einfach alles draußen vor dem Höhleneingang. Diese Finsternis war es, die mir einen eisigen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte. Entweder drehte ich allmählich durch, oder mein Körper wusste einfach, in welcher Gefahr er wirklich schwebte – was ich doch eher vermutete. Ein paar Mal hörte ich Alex hinter mir laut schnaufe, doch er bewegte sich nicht und gab mir auch keinen Anlass es ihm gleichzutun.
Trotzdem machte mich allein der Gedanke, zu schlafen, müde. Dass Alex dann auch noch leise anfing zu schnarchen, half mir dabei nicht wirklich – ganz im Gegenteil. Meine Augen fühlten sich an, als hätte jemand vor sie gewaltsam mit einer Schraubzwinge zu schließen. Immer öfter klappten meine Lider gegen meinen Willen zu und nahmen mir für Sekunden die Sicht. Noch einmal hatte ich Feuerholz nachgelegt, sodass es wenigstens in der Höhle hell und einigermaßen warm war. Wie hoch, oder eher tief, die Temperatur wirklich war, wagte ich nicht einmal zu schätzen – bestimmt nicht sehr viel über dem Gefrierpunkt.
Ein weiterer kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter, bis in die Zehenspitzen, die in drei Schichten Socken und Turnschuhe gehüllt waren.
Langsam, und so leise wie möglich setzte ich mich auf und schaute mich suchend um. Irgendwo musste doch diese verdammte Decke sein, oder? Ja, da war sie! Hinten auf meinem eigentlichen Bett konnte ich einen dunklen Haufen erkennen, der sich eindeutig von der hellbraunen Polsterung der Sitzbänke abhob.
Ich brauchte mich nur über Alex hinweg zu strecken, dann hätte ich sie auch schon in der Hand. Nur müsste ich dazu ganz schön nahe an ihn heran, und das war mir wiederum zuwider. Was also tun? Um ihn herum konnte ich nicht, immerhin brannte auf der anderen Seite ein helles, kleines Feuerchen. Mir blieb keine andere Möglichkeit als diese.
Okay, noch einmal tief Luft holen, schlucken und ab geht’s. Ich krabbelte also noch näher an den schlafenden Alex heran und streckte mich so weit wie möglich. Mit den Fingerspitzen ertastete ich die Wolldecke gerade noch und fing an, sie heranzuziehen.
„Nicht so stürmisch Mars“, murmelte Alex plötzlich. Erschrocken zuckte ich zusammen und ließ die Decke los, wobei meine Hände wegrutschten und ich auf einmal quer über Alex Oberkörper lag.
„Hey!“ beschwerte dieser sich gespielt verärgert, aber anstatt mir aufzuhelfen, legte er mir noch seinen schweren Arm auf den Rücken und drückte mich nieder. Mir wurde die Luft aus den Lungen gepresst und kurz rang ich um Atem, doch nach nicht einmal einer Sekunde fing ich mich wieder.
„Alex! Nimm deinen Arm da runter oder du hast bald keinen mehr!“ fauchte ich, wobei ich nicht ganz ernst bleiben konnte – die Situation war doch zu komisch. Aber auch dieses Gefühl hielt nicht lange, denn mir wurde schnell klar, dass wir beide vielleicht in Lebensgefahr steckten.
„Ach komm schon! So ist’s doch gleich viel wärmer“, meinte Alex nur und ließ seinen Arm, wo er war.
Ich schnaubte verärgert – diesmal wirklich – und befreite mich aus meinen menschlichen Fesseln. Sobald ich wieder genügend Luft bekam, klatschte ich Matt meine flache Hand ins Gesicht. Seine Augen weiteten sich überrascht – mit so etwas hatte er wohl gar nicht gerechnet.
„Wofür war das denn, wenn ich fragen darf?“ Er presste sich seine Handfläche auf die Wange.
„Dafür, dass du nicht getan hast, was ich gesagt hab“, maulte ich und setzte mich unbeholfen hin. „Und jetzt halt die Klappe und gib mir endlich diese dämliche Decke!“ Als Unterstreichung meiner Worte zeigte ich noch darauf.
„Jaja! Ich will ja nicht, dass du mir gleich noch eine knallst.“ Mit einer Hand angelte er sich die Decke und warf sie in meine Richtung. Fast wäre sie im Feuer gelandet, hätte ich mich nicht zur Seite geworfen und sie abgefangen.
„Zielen ist wohl auch nicht so deine Stärke, was?“ zischte ich und sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an.
„Eigentlich schon, aber wie gesagt: man kann sich auch noch anders wärmen, nicht wahr?“ Ein breites Grinsen erschien wieder einmal in seinem Gesicht. Ich hätte ihn am liebsten gleich noch einmal geschlagen, aber diesmal wäre er darauf gefasst – keine Überraschung mehr.
Verärgert legte ich mir die Decke um die Schultern und legte mich in einiger Entfernung zu Alex und dem Feuer hin. Allzu lange konnte die Nacht ja nicht mehr sein, da hatte ich mir doch wenigstens ein wenig Schlaf verdient, oder?
Erschöpft schloss ich die Augen und glitt nur Sekunden später in einen lebhaften Traum.

Bäume, alt und riesig, umgaben mich und bildeten einen Kreis um die Wiese auf der ich stand. Eine leichte Brise wehte mir durchs Haar und trug mir die verschiedensten Gerüche zu. Alles war ruhig, überall pfiffen und sangen Waldvögel und Schmetterlinge schwebten schwerelos über die bunten Blütenkelche der Wildblumen, die sich sanft im Wind wiegten. Ich hatte diese Lichtung noch nie zuvor gesehen, da war ich mir ganz sicher.
Befreit drehte ich mich um mich selbst und lief ein Stück durchs hohe Gras. Meine Handflächen streiften einige Grashalme – es kitzelte. Vergnügt ließ ich mich fallen und starrte in den blauen, wolkenlosen Himmel. Nichts hier erinnerte an meine Welt – eine gefährliche Welt. Ich schloss die Augen und lauschte dem Gesang der Vögel.
Doch plötzlich war es totenstill um mich. Verwirrt setzte ich mich auf und öffnete meine Augen wieder.
Die Wiese, die noch bis vor ein paar Augenblicke grün und saftig war, war braun und ausgedorrt. Die Blumen waren verwelkt und hingen schlaff an ihren Stängeln. Die Baumriesen, die die Wiese umgaben, sahen krank und kahl aus und heftige Windböen zerrten an ihren nadellosen Ästen.
Verängstigt sprang ich auf. Irgendetwas war hier nicht in Ordnung – nicht mehr. Wieder drehte ich mich um mich selbst und konnte dabei zusehen, wie sich meine Umgebung noch mehr veränderte – zum Schlechten. Irgendwann war alles um mich braun und ausgetrocknet. Eine einsame Träne schlich sich aus meinen Augen und rollte meine Wange hinab. Was war los? Warum war mein Paradiese plötzlich so hässlich? Und wer war schuld daran?
Ich drehte mein Gesicht in den Wind und hielt den Atem an. Tellergroße Pfotenabdrücke führten von dem Punkt, an dem ich stand, in den Wald. Mein Atem ging plötzlich schneller und mein Herz raste – ich hatte Angst. Hin und her gerissen, ob ich weglaufen, oder der Spur folgen sollte, stand ich da. Alle Muskeln in meinem Körper waren angespannt.
Ich schnellte los, war nicht mehr der schwache Mensch, der ich sein sollte. Vier kräftige, lange Beine trugen mich in den Wald hinein und folgten den Abdrücken. Manchmal ging der Weg bergauf, dann wiederum steil bergab oder führte über schmale Schluchten, auf deren Grund ein Wasserlauf gurgelte.
Wie von selbst fand ich mein Ziel. Es war ein Berghang, bewachsen von Moosen und allerhand Flechten. Ein starker, intensiver Geruch schien die Luft zu erfüllen. Wie angewurzelt blieb ich stehen. Ein tiefes Knurren erklang. Weiter oben gingen die Pflanzen in steiniges Gebiet über. Meterhohe Felsbrocken versperrten mir die Sicht, doch ich wusste, dass ich dorthin musste, wenn ich finden wollte, nach was ich suchte.
Langsamer als zuvor bewegte ich mich auf die Steine zu und schlüpfte geschickt zwischen ein paar großen Brocken hindurch. Was ich dort vor mir sah, ließ mich nach Luft schnappen.
Duncan saß auf einem Stein und spielte mit ein paar Kieseln, die er in der Hand hielt. Es war nicht der Duncan, den ich gekannt hatte – er war jünger. Vielleicht war er vierzehn oder fünfzehn gewesen, als er so aussah, auf jeden Fall hatte ich ihn damals noch nicht gekannt. Er schien mich nicht zu sehen, denn er wandte seinen Blick nicht von den Steinchen in seiner Hand.
Was mich allerdings an der ganzen Szenerie wirklich schockte, war das kleine Mädchen, das zu Duncans Füßen saß und mit einer Puppe spielte. Weißes Haar umspielte das Gesicht des Kindes, so dass ich ihr nicht in die Augen sehen konnte. Und trotzdem wusste ich sofort wen ich da vor mir hatte – Ann.
Noch nie hatte sie so bedrohlich gewirkt wie in diesem Moment. Wieder ertönte ein Knurren.
Langsam hob Ann ihren Kopf und schaute mich aus hellblauen Augen an. Was auch immer gerade geschah, es war gefährlich! Ich wich einen Schritt zurück, dann noch einen.
Anns Augen veränderten binnen eines Wimpernschlags. Aus dem strahlenden Blau wurde ein feuriges Rot.
Dann drehte sich plötzlich alles um mich…




Aufbruch



Ich schnellte in die Höhe und schnappte nach Luft. Es war immer noch stockdunkel und jetzt auch hier in der Höhle, da das Feuer ausgegangen war. Neben mir hörte ich eine Bewegung – ich hatte Alex geweckt. Ich konnte seine Umrisse nur erahnen, aber trotzdem wusste ich, dass er da war.
„Was ist denn los?“ fragte er verschlafen. Ich richtete mich ganz auf und schaute hinaus in die Nacht. Dort konnte ich genau gar nichts erkennen, nicht die Grenze zwischen Himmel und Erde und schon gar keine Einzelheiten.
„Verdammt! Wie spät ist es?“ flüsterte ich und versuchte Alex Gesicht zu sehen – was natürlich unmöglich war. Nicht einmal ich mit meinen empfindlichen Sinnen konnte irgendetwas erkennen.
„Ich hab keine Ahnung, aber wahrscheinlich drei oder vier Uhr, warum?“ Wieder raschelten die Blätter unter seinem Körper.
„Wie lange hab ich geschlafen?“ fragte ich weiter nach, ohne ihm zu antworten.
„Ich weiß es nicht genau, aber es war schon eine ganze Weile.“
„Und ist dir währenddessen irgendetwas merkwürdiges aufgefallen? Komische Geräusche, oder hast du etwas gesehen?“ hakte ich nach.
„Nein, was ist denn los mit dir?“ Auch Alex flüsterte und ich konnte ihn gerade so verstehen.
„Wir müssen das Feuer wieder anzünden“, lenkte ich ab und drehte mich, um nach Holz und Zündern zu suchen, oder eher zu tasten.
„Hier.“ Ich fühlte eine Bewegung neben mir. Alex Hand strafte kurz meinen Arm, dann drückte er mir ein paar Stöcke und eine kleine Schachtel in die Hand.
„Danke.“ Ich wandte mich der Feuerstelle zu, zumindest vermutete ich, dass sie dort war, wo ich das Brennholz hinlegte. Es dauerte etwas länger als sonst, es zu entzünden, aber irgendwann klappte es. Ich saß, immer noch mit der Decke um die Schultern, vor dem Feuer und hielt meine Handflächen gegen die Wärme. Endlich konnte ich wieder etwas sehen. Ein leicht rötliches Licht erhellte fast die gesamte Höhle. Auch Alex setzte sich ans Feuer und wärmte sich daran.
„Hättest du vielleicht die Güte mich darüber aufzuklären, was mit dir los ist?“ fragte er nach einer Weile, in der ich immer wieder einen Blick auf den Eingang riskiert hatte.
„Ich…ähm…ich hab Angst im Dunkeln“, log ich und starrte die gegenüberliegende Wand an.
„Ach, komm schon. Sag die Wahrheit oder lass es“, forderte er mich auf. Ich spürte seinen Blick auf meinem Gesicht, doch ich schaute ihn nicht an.
Ich schwieg und schaute in die Flammen.
„Gut, dann eben nicht.“ Mit diesen Worten drehte er mir den Rücken zu und legte sich wieder hin. „Ich bin müde, also weck mich nur, wenn’s unbedingt sein muss, okay?“ hörte ich ihn dumpf fragen.
„Ja, geht klar.“ Ich schlang meine Arme um meinen Körper und versuchte so viel Wärme wie möglich bei mir zu behalten – was sich als schwieriger herausstellte, als ich gedacht hatte. Diese Nacht war nicht annähernd so kalt, wie ich es inzwischen gewohnt war, aber trotzdem fing ich bald an zu zittern. Das wiederum verursachte ein Rascheln, das von den Blättern und Moosen ausging, auf denen ich saß. Immer wieder zog ich die Decke enger um mich, was nur leider nicht sehr viel brachte. Ungefähr zehn Sekunden später schlugen meine Zähne schon so stark aufeinander, dass ich Angst hatte, ich könnte sie mir selbst ausbeißen.
Ein genervtes Schnauben war hinter mir zu hören. Langsam drehte ich mich um. Alex hatte sich wieder aufgerichtet und schaute mich aus, leicht zusammengekniffenen, Augen an.
„Was kann ich tun, damit du endlich damit aufhörst?“ fragte er und wischte sich mit einer Hand quer übers Gesicht.
„Womit?“ fragte ich wobei mich wieder ein Zittern schüttelte.
„Du klapperst die ganze Zeit mit den Zähnen, weißt du das?“ fragte er und stützte sich mit einem Arm am Boden ab.
„Tut mir leid, aber wenn es dich wirklich so stört, kannst du ja auch draußen schlafen“, meinte ich mit einem falschen Lächeln im Gesicht.
Alex winkte entnervt in meine Richtung und ließ sich wieder nach hinten fallen. Von da an hörte ich kein Wort mehr von ihm, nur gelegentliches Schnaufen, wenn ich, anscheinend, zu laut wurde.
Ich sackte wieder in mich zusammen und legte mein Kinn auf meine Knie. Das leise Knistern und das Flackern der Flammen vor mir wirkten einschläfernd. Nach zehn Minuten musste ich wieder gegen den Drang ankämpfen, meine Augen zu schließen und einfach zu schlafen. Je länger ich so dasaß, desto schwieriger wurde es für mich. Es war so anstrengend – viel zu anstrengend. Eine knappe halbe Stunde später hatte ich den Kampf verloren – schon wieder.

Wind. Ich fühlte eine warme Brise in meinem Nacken – davon wurde ich wach. Zuerst hielt mich der, immer noch gegenwärtige Schlaf, davon ab, mich umzudrehen und nachzusehen, woher dieser Wind kam, aber je munterer ich wurde, desto mehr hatte ich das Bedürfnis, nachzusehen was los war.
Vorsichtig befreite ich meine Beine und Arme aus der Decke und stützte mich am Boden ab. Mit ein paar kräftigen Bewegungen war ich zur Seite gerollt und saß aufrecht auf dem weichen Bodenbelag. Was ich da sah, verblüffte mich und erfüllte mich gleichzeitig mit Wut. Alex lag gleich neben der Stelle, an der ich gerade noch gelegen hatte. Auch er hatte mit seinen Armen seinen Oberkörper gegen die Kälte der vergangenen Nacht abgeschirmt und sah so friedlich aus wie ein Baby. Der Wind, den ich gespürt hatte, war sein Atem gewesen.
Ich fuhr mir mit einer Hand durch mein zerzaustes Haar. Obwohl ich es schon länger nicht mehr gewaschen hatte, sah es nicht so schlimm aus wie man vielleicht meinen würde – oder fühlte sich zumindest ganz gut an.
Auch nachgewachsen waren die Strähnen, die ich vor Verzweiflung abgeschnitten hatte, längst wieder. Fast waren meine Haare wieder so lang, wie sie waren, bevor Duncan starb – aber eben nur fast.
Als ich so dasaß, fiel mir plötzlich wieder der Traum aus der vergangenen Nacht ein. Was er wohl bedeutet hatte? Irgendetwas bestimmt, das fühlte ich. Ann war darin vorgekommen, und Duncan – in einer jüngeren Version. Anns Fährte hatte mich auf diesen Berg geführt, auf die Steinhalde. Dort hatte ich ihn gesehen. Aber was war die Bedeutung dieses seltsamen Traums? Und warum hatte ich vier Beine gehabt? Hatte ich mich im Traum in einen Wolf verwandelt und war ihrer Spur so gefolgt?
Langsam setzte sich alles in meinem Kopf zu einem ganzen Bild zusammen. Ich musste Ann verfolgen und finden, dann, und nur dann, konnte ich Duncan wiedersehen – und wenn es sein musste im Tod. Ich knirschte geräuschvoll mit den Zähnen.
Alex Lider zitterten, dann sah er mich plötzlich aus seinen grünen Augen an. Verschlafen blinzelte er und drehte sich auf den Rücken, wobei er mich nicht aus den Augen ließ.
„Guten Morgen“, sagte ich knapp, wofür ich ein herzhaftes Gähnen von Alex erntete.
„Jaja. Sag mal, was war denn gestern los mit dir?“ Er setzte sich auf und streckte sich ausgiebig.
Was meinte er denn jetzt schon wieder? Klar, meine miese Lüge mit dem Angst-vor-dem-Dunkeln-haben hatte er mir natürlich nicht abgenommen, aber was wollte er denn genau wissen?
„Was meinst du?“ fragte ich und runzelte zur Unterstreichung die Stirn.
„Naja, zuerst bist du eingeschlafen. Dann hast du total durchgedreht und mich ausgequetscht, ob ich irgendetwas irgendwo gesehen hätte“, sagte er und musterte mich, „Und dann war es dir anscheinend eiskalt oder so, ich weiß nicht genau. Auf jeden Fall bist du dann nochmal eingeschlafen und hast fast Feuer gefangen.“
„Wie bitte?“ stieß ich geschockt hervor. Jetzt war ich wirklich neugierig geworden. Was meinte er damit?
„Du bist so nah am Feuer gelegen, dass deine Klamotten schon geglüht haben.“ Er wies mit einer einfachen Handbewegung auf mein Hosenbein. Tatsächlich war der Stoff an dieser Stelle schwarz und angekokelt.
„Und was hast du dann gemacht?“ fragte ich nach. Leichte Hysterie schwang in meiner Stimme mit, und das, obwohl die Gefahr schon längst gebannt war.
Alex zuckte mit den Schultern. „Ich hab dich erst mal aus der Gefahrenzone gezogen, und dann hab ich dich in Ruhe gelassen, sonst nichts“, behauptete er mit einer Engelsmiene.
Ich schnaubte verächtlich – dass sollte er mir jetzt doch mal erklären!
„Und wie kommt’s dann, dass du direkt neben mir gelegen hast, als ich aufgewacht bin?“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust und kniff die Augen zusammen. Wenn er jetzt so anfangen wollte, dann sollte er es so haben – ich würde auf jeden Fall mitspielen.
„Was meinst du? Ich hab dich hinten auf dein ‚Bett‘ gelegt und mit der Decke eingewickelt – sonst nichts!“ Er sah verwirrt aus, und fast hätte ich ihm geglaubt, aber das konnte nicht sein.
„Ach, dann wolltest du dich also nicht an mich ranmachen während ich geschlafen habe?“ motzte ich weiter.
„Nein! Wie zum Teufel kommst du auf diesen Scheiß?!“ Seine Stimme war jetzt um einiges lauter als gerade eben noch, aber ich ließ mich nicht einschüchtern. Er musste lügen, denn ich wusste, was ich gesehen und gespürt hatte. „Wenn ich mich wirklich an dich ranmachen hätte wollen, dann hättest du meinem grenzenlosen Charme ohnehin nicht widerstehen können!“ Ein breites Grinsen stahl sich in sein Gesicht. Er zog die ganze Situation ins lächerliche – und ich musste ebenfalls grinsen.
Vielleicht sagte er ja wirklich die Wahrheit und ich hatte schlafgewandelt – wie damals in meinem Zimmer, bei Duncan. „Okay, vergiss einfach was ich gesagt hab!“ forderte ich ihn auf und krabbelte zum Eingang, ohne ihn noch einmal anzusehen.
Ich wusste noch ganz genau, an was ich gedacht hatte, bevor Alex aufgewacht war – Ann. Ich musste sie dringend finden und zwar so schnell wie möglich! Schnell überquerte ich die Brücke und lief in den Wald. Anns Fährte war noch überall in der Luft. Der eindringliche Geruch schien an jedem einzelnen Ast und Zweig zu haften, an dem ich vorbei kam. Ich blieb alle paar Meter stehen und witterte um die Spur nicht zu verlieren, bis ich mich viel zu weit von der Höhle entfernt hatte. Da der Schnee inzwischen ganz geschmolzen, und der Boden nun an seiner Stelle mit Matsch bedeckt war, würde ich die Spur nachher nochmals suchen müssen.
Etwas verärgert über meine eigene Gedankenlosigkeit – hätte ich den Bogen und ein paar Pfeile gleich mitgenommen, hätte ich nicht noch einmal zurückkehren müssen – stapfte ich zurück zum Wasserfall. Dieser war, dank des tosenden Wassers, nicht besonders schwer zu finden. Alex saß immer noch genau gleich da, wie ich ihn zurückgelassen hatte. Er legte leicht den Kopf schräg, als er mich zurückkommen sah.
„Mars, wo warst du?“ fragte er und kam mir auf dem letzten Stück entgegen. Vor der Höhle blieb er stehen und wartete auf mich.
„Ich hab die Gegend erkundet. Und ich hab es mir anders überlegt: du musst nicht gehen, wenn du nicht willst.“ Ich schlüpfte an ihm vorbei und verzog mich in die Höhle. Hinter mir hörte ich seine Schritte – er folgte mir also.
„Ähm, wirklich?“ hakte er skeptisch nach.
„Jap. Herzlich willkommen in deinem neuen Zuhause.“ Ich angelte mir meinen Rucksack aus der Ecke und begann damit, ihn mit all dem Zeugs zu befüllen, dass ich ausgepackt oder eingesammelt im Wald eingesammelt hatte. Auch Alex befand sich jetzt wieder in der Höhle.
„Gut, und was machst du da, wenn ich fragen darf?“ Er setzte sich direkt neben mich und beobachtete jeden meiner Handgriffe.
„Tja, du kannst bleiben – aber ich werde gehen.“ So, jetzt war’s raus. Er wusste an was er war und dass ich bald nicht mehr da sein, und für ihn jagen würde.
„Was?!“ Alex Stimme war hoch und brüchig. Er starrte mich von der Seite ausdruckslos an.
„Ja, du hast mich schon richtig verstanden, denken ich.“ Ich stoppte nicht einmal mit meiner Arbeit, sondern stopfte immer mehr Sachen in den Rucksack.
„Warum?“ Immer noch hörte er sich geschockt an, aber nicht mehr ganz so entsetzt wie gerade noch.
„Weil“, ich nahm die beiden Messer, die ich eigentlich immer für die Jagd benutzte und steckte sie in zwei seitliche Fächer, „ich weg muss – dringend.“ Suchend blickte ich mich in der Höhle um. Vielleicht lag hier ja noch irgendetwas, dass ich gebrauchen könnte. Möglicherweise ein Stück Sicherheitsgurt aus dem Wagen oder Polsterung. Mit ein paar Blicken versuchte ich einzuschätzen, ob die gesamte Polsterung in den Rucksack passen würde. Da das nicht der Fall war, entschied ich mich für ein paar, noch ziemlich gut aussehende Stücke, und packte sie ein. Die Wolldecke ließ ich neben der, mit Asche gefüllten, Feuerstelle zurück. Alex würde sie dringender brauchen als ich.
„Warum?!“ forderte er zu wissen und versperrte mir geschickt den Weg, als er bemerkte, dass ich wieder ins Freie wollte.
„Das kann ich dir nicht erzählen. Lass mich vorbei, Alex“, ich versuchte unter seinen ausgebreiteten Armen hindurch zu tauchen, doch er packte mich an der Schulter und schaute mich weiter fragend an.
Ich atmete geräuschvoll durch die Nase aus. „Das kann ich dir nicht sagen, weil du es nicht verstehen würdest. Und jetzt lass mich gehen, oder ich werde dich dazu zwingen!“ knurrte ich und packte ihn am Handgelenk. Obwohl ich Körperkontakt alles andere als angenehm fand, drückte ich immer weiter zu.
„Autsch! Hey!“ Alex zog den Arm an seinen Körper und fuhr mit der anderen Hand über die Stelle, wo gerade noch meine Finger gewesen waren. Bereits jetzt entstand dort ein dunkelroter Fleck.
„Tut mir leid, Alex“, murmelte ich, ergriff die Situation am Schopf und huschte, mit meinem Gepäckstück, ins Freie. Ich musste dringend sehen, dass ich wegkam, solange Alex noch abgelenkt war. Gerade wollte ich losgehen, doch es war schon zu spät. Er stand direkt hinter mir und hielt mich an der Schulter zurück.
„Nein! Bleib hier, bitte!“ flehte Alex und schaute von oben auf mich herab.
„Sorry, aber das geht wirklich nicht. Ich muss etwas sehr wichtiges erledigen…Das verstehst du nicht.“ Wieder wollte ich mich losmachen, doch diesmal war es Alex, der immer fester zudrückte.
„Wenn du es mir erklären würdest, würde ich es verstehen“, versuchte er mich zu überreden, aber es war wohl ein aussichtsloser Kampf für ihn.
„Nein. Ich muss jetzt los bevor die Spur verwischt.“ Ich packte den Rucksack fester an den Trageriemen und schwang ihn mir über die Schulter, die Alex nicht festhielt.
„Welche Spur, verdammt nochmal!?“ Nun wurde er wieder lauter. Gleichzeitig krallten sich auch seine Finger immer tiefer in meine Schulter.
Ich hatte viel zu viel gesagt. Es war zu spät, um ihm nichts zu sagen, aber zu kompliziert, um ihm die ganze Geschichte zu erzählen. Was sollte ich also tun?
Hin und her gerissen, kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Alex schien meine Anspannung zu spüren, denn er lockerte seinen Griff ein wenig.
„Bitte, ich werde nicht lachen oder nicht einmal etwas sagen, wenn du nicht willst, aber ich muss jetzt endlich wissen was hier läuft!“ Er senkte den Blick und schaute auf seine Füße. Ich schloss meine Augen und horchte in mich hinein. Was war das Richtige? Was das Falsche?
Blieb mir genug Zeit, um ihm alles zu erzählen? Aber wenn ich das tat, würde er mich dann nicht für verrückt erklären? Es war viel zu schwierig und ich vertiefte mich immer weiter in meine wirren Gedanken.
Erst als Alex seine Hand ganz von meiner Schulter zog, wachte ich wieder aus meinem Dämmerzustand auf.
„Ich muss jetzt wirklich gehen“, sagte ich und drehte mich von ihm weg, „Alex geh zurück zu deiner Familie. Rede mit deinem Bruder und bring dein Leben in Ordnung.“ Ich ging, ohne mich noch einmal umzudrehen.
Alex folgte mir nicht. Ich war schon ein gutes Stück gegangen und trotzdem wurde ich nicht verfolgt, hörte keine Schritte hinter mir.
Ich hatte gewollt, dass er mich gehen ließ, aber trotzdem war ich jetzt enttäuscht. Enttäuscht darüber, dass er mich nicht zurückgehalten hatte. Aber meine Gedanken waren total konfus. Warum sollte er wollen, dass ich blieb, außer um ihn mit Nahrung zu versorgen? Er brauchte mich nicht. Er war nur einer dieser Machotypen, die sich an jedes x-beliebige Mädchen ranschmissen.
Immer wieder versuchte ich mir einzureden, dass die Verzweiflung, die ich eben in seinen Augen gesehen hatte, nicht echt war. „Er braucht dich nicht, er braucht dich nicht“, redete ich mir ein, während ich meinen Blick auf den Boden vor mir richtete. Ich hatte inzwischen die Stelle erreicht, bei der ich ,bei meiner kleinen Erkundungstour am frühen Morgen, Anns Fährte aufgenommen hatte. Zu meinem Glück hatte der aufkommende Wind die Spur noch nicht ganz davon getragen. Mit meiner feinen Nase nahm ich den, immer noch starken, Geruch sofort auf. Mit großen, weit ausgreifenden Schritten, kletterte ich den steilen Hang hinunter, hielt mich hin und wieder an Baumstämmen oder Felsbrocken fest, um nicht die Balance zu verlieren und sprang von Zeit zu Zeit über ein paar Hindernisse.
Eine gute Stunde später hatte ich den Fuß des Hangs erreicht. Zugegeben, etwas außer Atem war ich schon, aber es reichte bei weitem noch nicht, um mich eine Pause einlegen zu lassen. Immer noch, drehte ich mich nicht um, aus Angst, sofort kehrt zu machen und meinen Plan in den Wind zu schießen.
Wenn ich mich nämlich irrte, und mein Traum in Wahrheit überhaupt keine Bedeutung hatte, hätte ich mein kleines Paradies umsonst aufgegeben, Alex umsonst zurückgelassen.
Beim Gedanken an seinen verletzten Gesichtsausdruck wurde mir das Herz ganz schwer. Ich wusste, dass es schlecht war ihn zu belügen, auch wenn ich nicht wusste, warum ich deshalb solche Schuldgefühle hatte. Immerhin war er immer noch ein Fremder, nicht mehr und nicht weniger… Oder?
War er vielleicht nicht, in der kurzen Zeit in der ich ihn kannte, für mich zu einer Art Gefährte geworden, vielleicht sogar etwas wie ein Freund? Jemanden, mit dem ich sprechen konnte, weil ich sonst niemanden mehr hatte?
Ja, vielleicht. Trotzdem konnte ich ihn nicht in meine Vergangenheit hineinziehen – es war zu gefährlich. Wenn ich mir nur vorstellte, dass Ann herausfand, dass es ihn gab, sah ich schon rot. Wir kannten einander nicht besonders gut, aber selbst das würde ihr reichen, um mir wieder einen Menschen zu nehmen.
Wut stieg in mir auf. Diesmal würde es nicht Ann sein, die tötete. Ich würde es sein, und ich würde sie töten. Entschlossen stapfte ich über den feuchten Waldboden. Die aufgeweichten Nadeln gaben leicht unter meinen Schritten nach, was die Illusion erzeugte, dass ich leicht auf und ab federte.
Einige Äste streiften meine Wange, aber die feinen Kratzer auf der Haut störten mich kaum. Das leichte Brennen wirkte sogar beruhigend auf mich – als würde durch die winzigen Wunden meine Wut entweichen.
Eine weitere Stunde verging. Dann noch eine. Und noch eine.
Vier Stunden, nachdem ich meine Wanderung begonnen hatte, ließ ich mich auf einen flachen Stein fallen. Ein kleiner, seichter Bach bahnte sich seinen Weg durch das Gras zu meiner Rechten. Das leise Gurgeln des Wassers erinnerte mich schwach an das Tosen des Wasserfalls, das mich Nacht für Nacht in den Schlaf wiegte. Ab heute würde es nur noch Alex in den Schlaf wiegen…
Und wieder waren meine Gedanken bei ihm. Hätte ich ihm vielleicht doch die Wahrheit sagen sollen? Die ganze Wahrheit? Hatte ich ihn schutzlos zurückgelassen, als ich losgegangen war?
Was, wenn alles nur eine Falle gewesen war, um mich wegzulocken und Alex dann allein anzutreffen? Mein Herz fing an wie wild zu rasen. Mein ganzer Körper spannte sich an.
Ich richtete meinen Blick starr auf das glasklarer Wasser des Baches. Feine, helle Steinchen bedeckten den Grund des schmalen Gewässers. Rein aus Reflex streckte ich meine Hand aus und durchbrach die durchsichtige Grenze zwischen Wasser und Luft. Die Kühle tat gut und schaffte es sogar, mich ein wenig zu beruhigen.
Es konnte keine Falle sein, sonst hätte ich doch bemerkt dass ich im Kreis lief und der Weg hätte wieder zur Höhle zurückgeführt. Andererseits war die Distanz, die ich bisher zurückgelegt hatte, für einen Wolf sicher in weniger als zwei Stunden zu bewältigen – das war also schon mal kein Problem.
Was jetzt? Umkehren und nach Alex sehen? Den ganzen Weg zurücklaufen, nur wegen eines Kerls, den ich ein paar Tage kannte?
Ich war gerade im Begriff aufzustehen, als ich etwas am Boden, auf der anderen Seite des Baches entdeckte. Schnell schlüpfte ich aus den Trageriemen des schweren Rucksacks und ließ ihn achtlos auf dem Stein liegen. Mit einem gewaltigen Satz überquerte ich das Gewässer trockenen Fußes und ging in die Knie, um den Abdruck im feuchten Sand besser begutachten zu können.
Meine Augen hatte mich nicht getäuscht, das waren eindeutig Wolfsspuren. Und ich kannte auch nur einen Wolf, der groß genug wäre, tellergroße Pfotenabdrücke im Schlamm zu hinterlassen – Ann.
Diese Spur führte nach Süden, weg von der Höhle. Alex war also außer Gefahr! Wieder machte mein Herz einen Hüpfer, aber diesmal nicht aus Angst oder Sorge, sondern aus Freude. So sehr ich mich auch sträubte, zuzugeben, dass ich Alex eigentlich doch ganz gern hatte, so sehr war es doch die Wahrheit. In Wirklichkeit war er mir schon von Anfang an ans Herz gewachsen – wahrscheinlich so eine Art Beschützerinstinkt. Klar, er war keinesfalls wehrlos, aber er war nur ein Mensch, ganz normal, und er ahnte nicht, was ich wirklich war.
Ich atmete tief durch und kehrte dann, mit einem weiteren Sprung, zum Stein zurück, auf dem immer noch der vollgestopfte Rucksack lag.
Wie spät es genau war wusste ich nicht, aber nach dem Stand der Sonne nach zu urteilen, musste es ungefähr drei Uhr nachmittags sein. Vielleicht sollte ich langsam damit anfangen, mir ein Nachtquartier zu suchen und einen Happen zu essen. Suchend blickte ich mich um.
Ich befand mich in einem schmalen Tal. Die Bäume bewucherten die Hänge zu beiden Seiten, doch die Ebene war von saftig, grünem Gras bedeckt, durch das sich der schmale Bach schlängelte. Auch hier lag kein Schnee mehr. Ich packte meine Sachen und machte mich auf den Weg zum gegenüberliegenden Waldrand, wo ich hoffte, einen Unterschlupf zu finden. Mit einer Höhle oder etwas ähnlichem konnte ich hier nicht rechnen, aber vielleicht fand ich eine Stelle die wenigstens gegen den Wind Schutz bot. Meine Schultern schmerzten schon etwas von dem Gewicht des Rucksacks, aber ich biss die Zähne zusammen und stapfte weiter.
Als ich die Bäume erreichte, dachte ich zuerst, dass meine Suche vollkommen aussichtslos wäre, doch dann fand ich einen Baum. Keine Ahnung, zu welcher Art dieses mächtige Exemplar gehörte, aber seine dicken, starken Äste überdachten ein ziemlich großes Arial. Prüfend schob ich die groben Nadeln, die neben dem Stamm lagen zu Seite und schaffte so eine kleine Grube. Der Boden darunter war weitgehend sogar trocken. Mit einem wärmenden Feuerchen könnte es hier schon einigermaßen gemütlich werden.
Bei einer Runde um den meterdicken Stamm, kam ich an eine Stelle, die zu allen Seiten von knorrigen Wurzeln umgeben war – eine natürliche Vertiefung sozusagen.
Ich war völlig begeistert! Ja, jeder normale Mensch, der es gewöhnt war in einem Haus zu wohnen, hätte mich jetzt für vollkommen verrückt erklärt, aber ich hatte gelernt mit weniger auszukommen, als die meisten Menschen. Und so fand ich diese Stelle mehr als passend für eine Nacht.
Sofort begann ich damit, alles vorzubereiten, immerhin musste ich fertig werden, bevor er es ganz dunkel wurde – und jagen wollte ich auch noch. Ich packte die Polsterung aus dem Rucksack und verteilte sie auf einer Fläche, die groß genug war, um es sich bequem machen zu können. Dann räumte ich, ungefähr einen halben Meter davor, die Nadeln, dürre Zweige und alles Zeug weg, dass im Weg war und suchte ein paar Steine zusammen, mit denen ich diese Stelle einkreisen konnte – es sollte die Feuerstelle werden.
Nachdem das geschafft war, ließ ich den Riesenbaum hinter mir und ging in den umgebenden Wald hinein, um Brennmaterial zu suchen. Nicht einmal eine halbe Stunde später kehrte ich, beide Arme voller Äste und Zweige, zu meinem Schlafplatz zurück und warf sie zu Boden. Darum konnte ich mich auch später noch kümmern.
Jetzt war es erst einmal an der Zeit, auf die Jagd zu gehen. Ich nahm den Bogen und zwei Pfeile, die ich seitlich im Rucksack verstaut hatte und verließ abermals die Stelle zwischen den Wurzeln. Wenn das Glück auf meiner Seite war, sollte ich heute nicht hungrig schlafen gehen…

Die Flammen loderten fröhlich vor mir in die Höhe. Der dunkelgraue Rauch, der von ihnen aufstieg, erfüllte die Luft und reizte meine Nase. Immer wieder musste ich husten, aber so gut es ging versuchte ich es zu unterdrücken.
Mein Magen war gefüllt mit leckerem Fleisch. Es war ein Schneehase, der heute auf meiner Speisekarte gelandet war. Das Töten der Tiere fiel mir immer noch nicht leicht, aber ich musste es tun, denn ich wollte ja nicht selbst verhungern.
Mit einer Hand rieb ich mir über den Bauch. Oh ja, das hatte ich mir heute wirklich verdient. Nach diesem anstrengenden Marsch war ein leckeres Abendessen doch das mindeste!
Vollgestopft rutschte ich auf mein Bett und legte mich hin.
Noch eine Weile beobachtete ich, wie das Feuer allmählich das Holz auffraß, dann schlief ich ein.


Nicht mehr allein



Ein Zwitschern drang an meine Ohren. Langsam und träge öffneten sich meine Augen und ich blinzelte erst einmal. Ein einzelner Sonnenstrahl fiel durch das Dach aus Nadeln direkt neben mir auf den Boden. Erst jetzt begriff ich, wie kalt mir eigentlich war. Meine Zähne schlugen wie wild aufeinander, was ein klapperndes Geräusch erzeugte.
Ich richtete mich auf und rieb mir mit den Händen über die Arme. Eigentlich sollte ich mich langsam endlich an diese verdammte Kälte hier gewöhnen aber nichts da! Wahrscheinlich war das einfach eine Eigenheit des Menschen, oder so. Noch etwas verschlafen stand ich auf und streckte mich ausgiebig. Hier, unter den Ästen, herrschte immer noch Dämmerlicht. Ich kniff meine Augen zusammen, um besser sehen zu können.
Mit tapsigen Schritten trat ich hinaus auf die winzige Lichtung vor meiner Schlafstelle. Niedriges Gras und Baumsprösslinge kämpften hier um Sonnenlicht. Ich ließ alles hinter mir und ging auf die Talsohle zu - zum Bach. Bald hatte ich eine gute Stelle gefunden, um mir wenigstens das Gesicht waschen zu können.
Auch wenn ich vieles in meinem alten Zuhause nicht vermisste, für eine warme Dusche hätte ich manchmal alles gegeben.
Seufzend tauchte ich meine Hände in den kleinen Tümpel vor mir. Hier sammelte sich das Wasser aus dem kleinen Bach, schien aber nicht mehr abzurinnen sonder im bemoosten Boden zu versickern.
Ich spritze mir etwas Wasser ins Gesicht und stand wieder auf. Heute musste ich eindeutig schneller vorankommen als gestern. Wer wusste, wann das Wetter umschlagen und der nächste Regen Anns Spur fortwaschen würde. Und dann wäre alles umsonst gewesen. Sofort machte ich Kehrt und ging zurück an die Stelle unter den mächtigen Baum, an der ich die vergangene Nacht verbracht hatte. Mein ganzes Zeug lag hier noch herum, angefangen bei der Polsterung, die mir als Bett gedient hatte, bis hin zu meinem Bogen und dem Rucksack. Eilig fing ich an, alles wieder gut zu verstauen, was nach ein paar Minuten auch schon erledigt war. Ohne mich noch einmal umzusehen, ging ich zurück über die Wiese, überquerte den Bach, der fröhlich vor sich hin gurgelte und erreichte schließlich eben den flachen Stein, an dem ich, am Tag zuvor, meine erste Pause eingelegt hatte. Von hier aus, konnte ich mit Leichtigkeit wieder die Spur aufnehmen, die mich bachabwärts führte.
Die Stunden vergingen viel zu schnell. Ein paar Mal zogen bedrohliche, dunkelgraue Wolken über den Himmel und verdeckten die Sonne, die mir eigentlich Wärme spendete. Die ganze Zeit über befand ich mich auf offenem Gelände, was bedeutete, dass ich mich im Notfall nicht einmal verstecken konnte. Immer wieder warf ich einen Blick über meine Schulter hinter mich, um mir auch ganz sicher zu sein, nicht verfolgt zu werden.
Je länger ich unterwegs war, desto schärfer schienen meine Sinne zu werden. Am frühen Nachmittag, hörte ich schon Geräusche, die weit hinter oder vor mir lagen.
Immer wieder musste ich das seichte Gewässer über- oder durchqueren um überhaupt weiterzukommen. Das Tal verengte sich zusehends und hin und wieder wuchsen sogar Büsche oder der eine oder andere Baum am Talgrund. Obwohl sich meine Umgebung immer mehr veränderte, blieb ich wachsam und lauschte genau. Das kleinste Knistern oder Knacken erregte bereits meine volle Aufmerksamkeit und so kam es, dass ich mehr als fünfmal stehen blieb und mich umsah, bevor ich weiterwanderte.
Bald war ich nicht mehr umgeben von Wiesen, sondern von steilen Felswänden. Das Tal hatte sich so weit verengt, dass es nun nur noch eine enge Schlucht war. Auch hier floss ein Bach, aber im Gegensatz zu dem, der nun hinter mir lag, war dieser hier tief und trüb. Da die Schlucht ganz mit Wasser gefüllt war, konnte ich nicht ausweichen, was dazu führte, dass ich nass wurde. Zuerst stand mir das feuchte Nass gerade einmal bis zu den Knien, aber wenige Meter später stand ich bis zu den Hüften im Wasser. Meinen Rucksack trug ich von diesem Punkt an nur noch über meinem Kopf – um mein Hab und Gut zu schützen.
Das tiefe Wasser machte ein schnelles Weiterkommen schwierig und ich brauchte viel länger als gewöhnlich. Trotzdem war ich mir hundertprozentig sicher, dass an den schroffen, feuchten Steinwänden um mich herum Anns Geruch haftete. Er war zwar nicht mehr frisch aber noch lange nicht verschwunden.
Ganze drei Stunden kämpfte ich durch diese verfluchte Schlucht und als endlich ein Ende in Sicht kam, war ich durchgeweicht, weil ich einige Male ausgerutscht und hingefallen war, und zitterte am ganzen Körper vor Kälte. Nur langsam wurde das Wasser seichter und jeder Schritt wurde zur Qual. Meine Zehen und Fußsohlen waren in den Schuhen taub geworden. Gut, dass ich nicht mehr meine ganzen Klamotten trug. Vor einigen Tagen, hatte ich einige Kleidungsstücke abgelegt, um sie vor Verschleiß zu schützen. Diese Entscheidung konnte mir nun einiges an Kälte ersparen. Wenn ich nämlich aus dem Wasser heraus war, konnte ich in die trockene Kleidung anziehen und musste nicht ganz so erbärmlich frieren.
Der grobe Kies knirschte unter meinen triefnassen Sohlen. So gut es ging, wrang ich meine Wäsche aus, zuerst an den Armen und sobald ich wieder Land unter den Füßen hatte, auch die Hose. Kaum, dass das Wasser einen Meter hinter mir lag, ging ich auch schon in die Knie. Die eisige Kälte des Schmelzwassers hatte mehr an meinen Kräften gezerrt, als jeder Fußmarsch den ich je gemacht hatte. Es war mir egal, dass sich die spitzen Steine in meinen Körper bohrten – die Schmerzen konnte ich verdrängen.
Viel zu langsam fing mein Gehirn wieder an zu arbeiten. Zuerst waren da nur wirre Gedanken, aber es dauerte nicht lange, bis ich wusste, dass ich dringend aus meinen nassen Sachen raus musste. Gott sei Dank war wenigstens der Rucksack ganz trocken geblieben - kein Wunder bei meinem Körpereinsatz!
Mit zitternden Fingern öffnete ich den Reisverschluss und fing an, in den Untiefen des Rucksacks zu wühlen. Erst einige Minuten später fand ich auch, nach was ich suchte. Ich zog eine trockene, dunkelblaue Jeans und ein schwarzes, etwas schmutziges T-Shirt mit V-Ausschnitt hervor und breitete sie neben mir auf den trockenen Steinen aus. Dann sah ich mich noch einmal genau um, obwohl das eher umsonst war. Wer sollte schon hier sein und mir dabei zusehen, wie ich mich umzog? Total idiotisch!
Nachdem ich sichergestellt hatte, dass ich wirklich ganz allein war, schälte ich mich so schnell wie möglich aus meinem Gewand, was sich als schwieriger herausstellte, als gedacht. Der feuchte Stoff klebte an meiner Haut und machte es so noch schwerer ihn loszuwerden. Trotzdem schaffte ich es irgendwie, meine zweite Haut abzulegen und in die anderen Klamotten zu schlüpfen. Obwohl auch meine Haare an den Spitzen nass geworden waren, fühlte ich mich auf der Stelle besser. Ein Schauer lief mir über den Rücken, während ich die nasse Wäsche aufsammelte und achtlos in ein Fach des Rucksacks beförderte. Dann warf ich einen Blick zum Himmel. Die Sonne stand schon sehr weit im Westen - zu weit. Ich musste unbedingt einen geeigneten Unterschlupf für die Nacht finden, am besten noch in der Nähe der Fährte. Wolken waren zwar keine zu sehen, aber das konnte sich schnell ändern. Sollte ich also besser ein Nachtlager suchen, oder weitergehen - vielleicht sogar die ganze Nacht durch? Nein, irgendwann brauchte auch mein Körper eine Pause und da ich an diesem Tag nichts gegessen und die meiste Zeit in eiskaltem Wasser verbracht hatte, brauchte ich einfach etwas Schlaf. Ich stand auf und schaute mir die nähere Umgebung etwas genauer an. Die enge Schlucht lag hinter mir. Einige ausgedorrte Zweige am Ufer zeigten wie knochige Finger in den Himmel. Mich allerdings interessierte viel mehr, was sich auf einem dieser Zweige befand – ein Büschel rabenschwarzer Haare. Wie von selbst steuerte ich den niedrigen Strauch an und ging daneben in die Knie. Ich wagte es nicht, die Haare zu berühren, immerhin wusste ich, wem sie gehörten – oder gehört hatten. Stattdessen rümpfte ich die Nase und wandte mich ab. Immerhin war ich jetzt ganz sicher, dass Ann hier gewesen war. Es musste schon ein paar Stunden her sein, aber sie hatte diese Stelle passiert. Sie hatte dieselbe Schlucht durchquerte wie ich, im gleichen Wasser gestanden. Mir wurde speiübel, aber ich hatte nichts im Magen, das ich hätte hervor würgen können. So erbrach ich nur eine Mischung aus Wasser und Magensaft.
Nach ungefähr zehn Minuten hörte ich auf zu würgen und krallte meine Finger in meine Oberschenkel. Wie ich sie bloß hasste! Ich musste sie finden!
Entschlossen richtete ich mich auf, dachte aber nicht an meinen ramponierten Körper. Auf der Stelle wurde mir schwindlig und ich schaffte es gerade noch, nach einem tiefhängenden Ast zu greifen, bevor meine Beine unter meinem Gewicht nachgaben. Obwohl ich mich verzweifelt an dem Stück Holz festklammerte, sackte ich zusammen. Meine Knie trafen hart auf die Kiesel auf und ein ekelhaftes Krachen war zu hören. Ich jaulte vor Schmerz auf und drehte mich auf die Seite. Verdammt warum passierte immer mir so etwas?
Wellenartig schossen pochende Schmerzen von meinem rechten Knie aus in meinem ganzen Körper. Ich schnappte nach Luft und versuchte mich mit irgendetwas zu beruhigen. Alex? Nein, Alex war keine gute Idee, um den machte ich mir auch so schon genug Sorgen. Duncan? Nein, bloß nicht!
Was blieb da noch? Ich arbeitete alle Gedanken in meinem Kopf durch, die ich gerade greifen konnte. Schließlich traf mich eine beruhigende Erkenntnis. Der Schmerz würde nachlassen – sehr bald sogar. Je nachdem, wie schwer die Verletzung war, würde es nach einer gewissen Zeit aufhören. Immerhin waren auch Duncans Wunden immer geheilt, warum dann nicht auch meine?
Auf dem Rücken liegend starrte ich in den Himmel. Watteartige Wolken zogen über mich hinweg und bildeten abstrakte Figuren.
Immer noch spürte ich ganz deutlich, dass mein Bein gebrochen war, allerdings ebbten die Schmerzen schön langsam ab. Einen Moment später, waren sie schon so weit geschwunden, dass ich es schaffte mich aufzurichten und mit einer Hand über mein Knie zu fahren. Da war nichts - rein gar nichts! Keine Beule, keine Schramme, kein Bluterguss. Verblüfft zog ich die Augenbrauen hoch. Okay, ich hatte gewusst, dass es schnell gehen würde, aber so schnell? Das war ja der Wahnsinn!
Fünf Minuten wartete ich noch im Sitzen, dann belastete ich vorsichtig, erst das linke, dann das rechte Bein. Es funktionierte! Nichts schmerzte und ich wagte einen Schritt nach dem anderen. Wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal ging, tapste ich im Kreis herum und stellte nach ein paar weiteren Schritten fest, dass alles in bester Ordnung war. Begeistert klaubte meinen Rucksack zusammen und machte mich auf den Weg.
Wie schon am Vortag, verfolgte ich die Spur. So gut es ging mied ich dabei alles, was auch nur annähernd nach Wasser aussah. Auf keinen Fall wollte ich noch einmal so einen Schlamassel wie gestern Nachmittag, zumal ich diesmal auch keine trockenen Klamotten mehr im Gepäck hatte. Dummerweise hatte ich nämlich total darauf vergessen, meine nassen Sachen über Nacht trocknen zu lassen und so lagen sie immer noch irgendwo im Rucksack.
Eine Zeit lang stapfte ich durch einen dicht bewucherten Mischwald. Die Laubbäume waren zwar noch kahl, sahen aber trotzdem beeindruckend groß aus. Immer wieder mal streiften Äste oder Zweige mich an den Schultern oder im Gesicht, aber das störte mich nicht. Immerhin wusste ich jetzt, dass diese Kratzer innerhalb kürzester Zeit verschwinden würden. Warum hatte ich eigentlich nicht schon gestern bemerkt, dass meine Verletzungen blitzschnell heilten? Ich war wohl ziemlich unaufmerksam.
Zielstrebig, und doch völlig ohne Ziel, folgte ich dem Lauf des Bachs in einiger Entfernung. Hier, wo das Wasser wieder viel mehr Platz hatte, als in der Schlucht, die inzwischen weit hinter mir lag, war das Wasser wieder seicht und glasklar. An manchen Stellen floss es über glatte Steine, an anderen über Moos und manchmal bildeten sich in seinem Verlauf sogar kleine Inseln, auf denen einzelne Bäume standen. Alles in allem war diese Gegend wunderschön, anders konnte man es fast nicht beschreiben. Wäre ich nicht unter Zeitdruck gewesen, hätte ich mir mehr Zeit gelassen, um mir alles genauer anzusehen. So aber, musste ich zusehen, dass ich schnell weiterkam. Inzwischen war der Himmel vom einen, bis zum anderen Horizont mit schweren, grauen Wolken bedeckt. Fast geriet ich in Panik, weil ich vermutete, dass es jeden Moment anfangen könnte zu regnen. Als es schließlich Mittag wurde und immer noch kein Tropfen gefallen war, beruhigte ich mich wieder. Wahrscheinlich würden die Wolken einfach weiterziehen und ihre Schleusen an einem anderen Ort öffnen. Gedankenverloren ging ich weiter, achtete dabei auf jeden meiner Schritte.
Schließlich gelangte ich an den Rand eines Grabens. Er war nicht besonders tief und auch nicht wirklich breit, aber ich hatte die Befürchtung, dass ich die Distanz zwischen der Stelle an der ich stand und der anderen Seite nicht mit einem Sprung überbrücken würde können. Mehrmals lief ich am Rand auf und ab und schätzte die Entfernung, bis ich mir endlich ein Herz fasste und meinen Rucksack, mit aller Kraft die ich aufbringen konnte, hinüber schleuderte. Ein dumpfer Aufprall und eine Menge Tannennadeln und Blätter stoben für eine Sekunde in die Luft, was mir signalisierte, dass ich mein Ziel getroffen hatte.
Noch mehrere Male lief ich hin und her und atmete tief durch. Dann ging ich ein Stück in den Wald hinein – ich holte Anlauf. Ich schloss die Augen und lauschte. Der Wald um mich herum bewegte sich ständig, obwohl kein Windhauch wehte. Überall raschelte oder plätscherte es. Ich nahm all diese Eindrücke in mich auf, dann öffnete ich meine Augen wieder und preschte los. Viel schneller, als ich je gelaufen war, schoss ich auf den Abgrund zu und stieß mich im letzten Moment von ein paar losen Steinen ab. Diese stürzten hinter mir in die Tiefe, doch ich bemerkte das nur noch nebenbei. Meine Gedanken waren ganz auf das gerichtet, was vor mir lag – die Landung. Wie in Zeitlupe segelte ich durch die Luft, aber der Boden kam viel zu schnell näher. Mit einer ungeübten, tollpatschigen Rolle fing ich meinen Sturz ab und rollte über die feuchte Erde. Nur einen Meter vor einem spitz in die Luft ragenden Baumstumpf kam ich zum liegen.
Schwer atmend und vorsichtig, um mich nicht doch noch an dem Holzpfahl zu verletzten, richtete ich mich auf und stemmte mich in die Höhe.
Mir schwirrte zwar ein wenig der Kopf, aber das legte sich innerhalb weniger Sekunden. Ich zog meine Klamotten, die etwas verrutscht waren zu recht und schnappte mir den Rucksack vom Boden. Mit einem letzten Blick auf den Graben, den ich soeben überquert hatte, wandte ich mich um und ging davon.
Inzwischen war es Nachmittag – schon wieder. Meine Beine wurden immer schwerer und der Rucksack auf meinen Schultern trug sein übriges zu der Situation bei. Erschöpft sank ich auf einer, relativ großen Lichtung, zu Boden. Meine Arme hinter dem Kopf verschränkt starrte ich in den Himmel und versuchte einfach einmal an gar nichts zu denken.
Es klappte nicht! Es waren einfach viel zu viele Dinge, um die ich mir Sorgen machen musste. Da war zum einen der ständige Gedanke an Alex. Immerzu fragte ich mich, ob es ihm gut ging und ob er auch ohne mich zu recht kam. Irgendwie vermisste ich ihn doch mehr, als ich zugeben wollte.
Dann waren da die Sorgen, Anns Spur zu verlieren und umsonst aufgebrochen zu sein. Natürlich machte ich mir auch Gedanken darüber, was passieren würde, wenn ich sie doch finden würde und sich herausstellte, dass mein Traum überhaupt keine Bedeutung hatte.
Vertieft in meine Gedanken kaute ich auf meiner Unterlippe herum, bis ich Blut schmeckte. Mein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Selbst wenn ich mich dagegen gewehrt hätte, hätte ich nichts gegen den Schlaf tun können, der mich plötzlich und mit all seiner Kraft umarmte und in eine undurchdringliche Tiefe aus Schwärze zog.

Da war jemand. Jemand, der mich beobachtete, während ich auf dem weichen Moosboden lag und schlief. Nein, ich schlief nicht mehr. Wie sonst hätte ich alle Geräusche um mich herum so intensiv wahrnehmen können? Wie kam es sonst, dass sich alle Gerüche in der Umgebung wie Säure in meine Nase fraßen?
Meine Augenlider flatterten leicht, doch schon das reichte, um auch den letzten Rest Müdigkeit vollends zu vertreiben. Stattdessen machte sich Anspannung breit. Wer war es, der es wagte mir zu folgen?
Ich konnte ihn nicht riechen, er stand gegen den Wind, aber ich spürte, dass er da war – ganz deutlich. Es war fast so, als würde er meinen Namen schreien.
Langsam und so unauffällig wie möglich öffnete ich meine Augen, zuerst nur einen winzigen Spalt breit, dann etwas weiter, so dass ich mehr erkennen konnte.
Ich lag immer noch dort, wo ich vorhin eingeschlafen war, auch wenn ich mich, allen Anscheins nach, um mich selbst gedreht hatte. So wie es aussah, war es kurz vor Sonnenuntergang, denn der Himmel über mir verfärbte sich bereits von einem kräftigen Blau im Osten, zu einem unnatürlichen Rosa im Westen. Die graue Wolkendecke war fast vollständig verschwunden.
Wie lange ich wohl geschlafen hatte? Keine Ahnung. Eine Stunde, vielleicht auch zwei. Sicher nicht mehr als drei. Es war ungefähr zwei Uhr gewesen, als ich mich hingelegt hatte.
Ich richtete mich auf und drehte meinen Oberkörper. Erst nach links, dann nach rechts. Bäume ragten um mich in den Himmel, große, sehr alte Bäume. Bereits jetzt lagen schwere, dunkle Schatten unter ihren mächtigen Ästen. Und es waren diese Schatten, die in mir Angst auslösten. Sie boten einfach zu viel Unterschlupf- und Versteckmöglichkeiten. Ich konnte darunter kaum etwas erkennen.
Ein eisiger Schauer nach dem anderen lief mir über den Rücken. So lautlos wie möglich kam ich auf die Beine und blieb, immer noch in gehockter Stellung, stehen. Langsam drehte ich mich um mich selbst und ließ meinen Blick dabei unentwegt über alle Gegenstände schweifen, die auch nur annähernd groß genug waren, um sich dahinter verstecken zu können. Schließlich blieb er an einem richtig, richtig großen, schroffen Felsen hängen, der sich schräg in einen Hang bohrte.
Wie ein Raubtier, bewegte ich mich auf diesen Stein zu, doch ehe ich auch nur in die unmittelbare Nähe kommen konnte, trat jemand aus dem Schatten hervor.
Wie vom Blitz getroffen zuckte ich zusammen. Einen Sekundenbruchteil nachdem ich diesen Schock verarbeitete hatte, machte ich einen Satz nach hinten und landete auf Händen und Füßen auf einer niedrigen Anhöhe.
„Wer ist da?“ Meine Stimme klang fordernd und so laut, dass sie mir in den Ohren hallte. Anstatt am Boden hocken zu bleiben, richtete ich mich zu meiner vollen Größe auf und spannte sämtliche Muskeln in meinem Körper an. Es war zum Zerreißen!
Noch stand diese Person – ich konnte nicht einmal ausmachen, ob es sich dabei um einen Mann oder eine Frau handelte – halb im Schatten, doch allmählich schob er sich in meine Richtung.
Ich merkte kaum, dass auch ich mich bewegte, aber nicht auf diese Gestalt zu, sondern immer weiter nach hinten. Irgendwann stieß ich mit dem Rücken gegen etwas hartes, raues – den Stamm eines Baums.
Mein Herz raste, als hätte ich einen Sprint hinter mir, mein Atem ging nur noch stoßweiße. Ich wusste nicht, wohin ich ausweichen sollte und ich konnte mich so nicht verteidigen. Mein Rucksack mit dem Bogen und den Pfeilen lag gut drei Meter vor mir – der Fremde war näher dran.
Meine Hände zitterten, als ich mich an der Baumrinde hinter mir festkrallte. Jetzt konnte ich auch endlich erkennen, dass es sich um einen Mann handelte, der sich mir ohne irgendein Wort näherte. Für den Bruchteil einer Sekunde fiel mir ein Stein vom Herz – es war nicht Ann. Gegen diesen Menschen hätte ich wenigstens eine denkbare Chance.
Nun, nach scheinbar endlosen Minuten, konnte ich die Umrisse seines Oberkörpers vom Schatten hinter ihm unterscheiden und dann, ganz plötzlich, auch sein Gesicht.
Mit einem lauten Seufzer ging ich auf die Knie und schlug die Arme vors Gesicht. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Warum? Warum hatte er das getan? Was war er bloß für ein dämlicher Idiot?
Mir war eiskalt und ich hatte mir mein Gewand und auch meinen Rücken an der rauen Rinde aufgerissen. Nun schien mein ganzer Körper zu brennen.
„Mars!“ Diese Stimme kannte ich, auch wenn ich denjenigen, der zu ihr gehörte, noch nicht lange kannte. Ein leichter Wind wehte mir eine unverkennbare Botschaft entgegen – ein angenehmer Duft nach Moos und Vanille.
Zwei warme, große Hände legten sich auf meine Oberarme und zogen mich in die Höhe. Ich war nicht fähig mich zu bewegen, ich konnte einfach nicht. Meine Beine trugen mein Gewicht nicht, und hätte er mich nicht gestützt, wäre ich hingefallen.
Schwer atmend ließ ich meine Arme sinken und schaute in ein Paar grüne Augen.
Alex war mir gefolgt. Ich wusste nicht, wie er mich gefunden hatte. Ich wusste nicht, warum er überhaupt nach mir gesucht hatte. Alles was ich wusste war, dass er da war.
Ich war nicht mehr allein! Alex war da!
In diesem Moment war es mir egal, dass ich ihn kaum kannte. Ich klammerte mich an ihm fest wie ein Schiffbrüchiger an einem Rettungsring. Zögerlich legte er seine Arme um mich. Minutenlang standen wir so da. Er bewegte sich nicht, und auch ich machte keine Anstalten ihn loszulassen.
„Ähm, wow. Seit wann bist du denn so stürmisch?“ fragte Alex und ich konnte deutlich das Lachen in seiner Stimme hören.
Noch einmal drückte ich ihn an mich, dann stieß ich ihn mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, von mir weg. Er ruderte wie wild mit den Armen, schaffte es aber irgendwie doch noch, nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Vorwurfsvoll sah er mich an. „Was zum Teufel ist denn jetzt schon wieder?“
Ich rang nach Luft. Es fühlte sich an, als könnte ich nicht mehr atmen. Hektisch hob und senkte sich mein Brustkorb unter dem viel zu dünnen Stoff meines, nun kaputten, T-Shirts. Ich fühlte, wie sich die Wunden an meinem Rücken in höllischem Tempo schlossen, doch das zerfetzte Gewebe des Kleidungsstücks war wohl nicht mehr zu retten. Nur noch ein paar mickrige Fäden hielten es zusammen.
„Sorry. Aber was machst du hier überhaupt?!“ Meine Stimme stieg zu einem hysterischen Piepsen an.
„Na was wohl? Ich bin dir gefolgt!“ Alex stellte sich wieder aufrecht hin und schenkte mir ein Lächeln. Ich wollte es ja erwidern, aber es ging nicht – meine Gesichtsmuskeln streikten.
Sekunden verstrichen, bis ich endlich wieder sprechen konnte. „Alex, du musst hier sofort verschwinden!“ forderte ich ihn auf, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Wie bitte?“ Er kam wieder auf mich zu, doch ich hob abwehrend die Arme und hielt ihn so von mir fern.
„Geh, Alex! Es ist gefährlich hier!“ Jetzt wurde ich lauter, schaffte es aber nicht mehr ihn anzusehen. Sein verletzter Gesichtsausdruck wäre durchaus im Stande gewesen mir mein, ohnehin schon kaputtes, Herz erneut zu brechen.
„Aber warum?“ Seine Frage war nur ein Flüstern, aber es hallte in meinem Kopf, als würde er mich anschreien. „Bitte schick mich nicht weg!“ Bettelte er. Soweit ich das aus dem Augenwinkel sehen konnte, senkte auch er den Blick.
Ich schüttelte als Antwort nur den Kopf. Hätte ich gesprochen, wäre meine Stimme möglicherweise zu brüchig gewesen und er hätte gemerkt, dass ich ihn eigentlich nicht wegschicken wollte.
„Alex, es tut mir leid, du kannst hier nicht bleiben.“ Ich hatte größte Mühe nicht loszuheulen, „Dir darf nichts passieren“, fügte ich flüsternd hinzu. Meine Hände zitterten wie wild und ich konnte mich nicht beruhigen. Pure Angst floss durch meine Adern.
„Mars, weißt du überhaupt was du da redest? Ein kleines Mädchen wie du, will mir erzählen, dass ich in Gefahr bin?“ Er lächelte mich an und zog gekonnt eine Augenbraue hoch.
„Bitte geh.“ Ich schloss die Augen. Jetzt hatte ich wirklich schon Tränen in den Augen und ich merkte, wie sie sich nach draußen arbeiteten.
Ich hörte Schritte. Rein aus Reflex öffnete ich meine Augen wieder. Alex stand nun unmittelbar vor mir. Er hätte nicht einmal mehr seinen Arm ausstrecken müssen, um mich zu berühren. Ich war wie erstarrt und konnte mich plötzlich nicht mehr bewegen. Wie damals, vor so langer Zeit, als ich Duncan in den Wald gefolgt war, übernahm mein Körper die Kontrolle. Nicht einmal mit aller Kraft hätte ich einen Finger heben können.
„Komm schon Mars. Ich bin sicher, dass wir zu zweit um einiges sicherer unterwegs sind, als wenn wir hier allein rumlaufen.“ Er duckte sich leicht, um mit mir auf gleicher Höhe zu sein.
„Nein. Ich meins ernst! Du bist in größerer Gefahr als du es dir überhaupt vorstellen kannst!“ Eine einzelne, salzige Träne kullerte über meine Wange, doch bevor sie im Saum meines zerstörten T-Shirts verschwinden konnte, fing Alex sie mit seinem Zeigefinger auf und betrachtete sie, als wäre sie ein seltenes und überaus wertvolles Kunstwerk.
„Warum weinst du?“ Er schaute abwechselnd die Träne auf seinem Finger und mich an.
„Geh, solange du noch kannst“, forderte ich ihn so ruhig wie möglich auf, doch meine Stimme zitterte und war viel leiser als beabsichtigt.
Noch bevor ich reagieren hätte können, lagen Alex Hände auf meinen Schultern. „Nein.“ Seine Stimme klang fest und entschlossen. In diesem Augenblick wusste ich, dass ich ihn nicht umstimmen konnte.
Und auch, dass er sein Schicksal besiegelt hatte.


Leben oder Tod



Indem ich meine Schultern leicht hob und senkte, schüttelte ich seine Hände ab. Er stand in voller Größe vor mir und schaute besorgt zu mir herab. Ich musste ihn verjagen – irgendwie!
Vielleicht, wenn ich ihm die Wahrheit, die ganze Wahrheit, über mich erzählte? Alles, auch das kleinste Detail?
Nein, das brachte ich auch nicht über mich. Es war mein Geheimnis und er würde es nicht verstehen, und noch weniger, wenn er dann Angst von mir hatte.
Aber was, wenn Ann uns gerade jetzt, in diesem Moment, beobachtete? Wenn ich ihn dann verjagte, lief er ihr in die offenen Arme! Allein beim Gedanken daran bildete sich eine Gänsehaut auf meinen Unterarmen, die von einem aufkommenden Wind noch verstärkt wurde.
„Ist dir kalt?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, schlüpfte er aus der dicken Winterjacke, die er, seit unserem ersten Treffen, trug und hielt sie mir nicht hin. Als ich, nach fünf unendlichen Sekunden, immer noch nicht zugriff, streifte er sie mir kurzerhand über und schloss den Reißverschluss. Nun war er es, der nur mit einem dünnen, dunkelblauen Pullover bekleidet dastand.
„Nein, das geht doch nicht.“ Ich öffnete den Verschluss der Jacke wieder und wollte gerade heraus schlüpfen, als Alex sie wieder zuzog.
„Ist schon gut. Mir ist nicht kalt und du siehst aus, als könntest du sie eher gebrauchen als ich. Ach ja, deine Decke.“ Er zog ein gefaltetes Stück Stoff hinter seinem Rücken hervor. Keine Ahnung wo er die jetzt auf einmal her hatte, aber ich war froh, dass er sie nicht in der Höhle gelassen hatte. Sie war das einzige, was mich wirklich an mein altes Zuhause erinnerte.
„Danke“, flüsterte ich und nahm sie an mich.
„Okay. Ich glaube du brauchst eine Pause. Wie wär’s da hinten?“ Er zeigte an mir vorbei auf einen umgefallenen Baumstamm. Ich nickte schwach und setzte mich dann zögerlich in Bewegung. Alex ging es eindeutig zu langsam, denn er legte mir kurzerhand den Arm um die Taille und zog mich mit sich. Was auch immer heute mit ihm los war, er schien extrem auf Körperkontakt aus zu sein.
Plump setzte ich mich auf das, schon etwas raue, Holz und schlang meine Arme um mich, die Decke legte ich mir in den Schoss.
„Alex, wie hast du mich gefunden?“ fragte ich ohne ihn direkt anzusehen. Stattdessen starrte ich auf seine Hände, die lässig auf seinen Oberschenkeln ruhten.
Eine ruckartige Bewegung verriet mir, dass er mit den Schultern zuckte. „Keine Ahnung. Ich bin gleich nach dir aufgebrochen und deinen Fußspuren gefolgt. Ohne dich…naja.“ Er endete abrupt und zerbrach dann einen winzigen Ast zwischen seinen Fingern.
„Oh“, machte ich nur und atmete tief durch. Immer noch, wusste ich nicht, was ich jetzt tun sollte. Solange er bei mir war, war er in Gefahr, aber wenn ich ihn wegschickte, und Ann ihn mit mir zusammen gesehen hatte, war es erst recht aus mit ihm – was sollte ich jetzt tun?
„Ich weiß, du magst mich nicht besonders…“ begann er doch ich schaute ihn an und lenkte so seine Aufmerksamkeit auf mich.
„Woher willst du das wissen?“ fragte ich. Wieder war meine Stimme nichts weiter als ein hohes Piepsen.
„Naja, du behandelst mich eben so. Du erzählst mir, dass es für mich gefährlich ist bei dir zu sein, dabei willst du mich nur endlich loswerden. Da frage ich mich natürlich, warum du mir überhaupt geholfen hast.“ Auch er sah mich jetzt an und er schien diese Frage bitterernst zu meinen.
„Weil du sonst gestorben wärst?“ Es war keine Antwort, sondern eine Gegenfrage.
„Ja genau. Aber jetzt willst du mich loswerden und ich weiß nicht, wie ich das ändern kann.“
„Das stimmt doch gar nicht!“ Ich senkte wieder den Blick und schaute auf den Waldboden.
„Ach nein?!“ Er drehte sich mit seinem ganzen Körper mir zu und versuchte meinen Blick auf sich zu ziehen – was ihm auch gelang.
„Nein. Ich hab dir die Wahrheit gesagt“, diesmal, fügte ich in Gedanken hinzu. Einmal hatte ich ihn belogen, ja, aber danach nicht wieder.
„Dann lass mich doch einfach bleiben. Ich tu dir nichts und ich werde alles machen, was du willst.“
Sofort schüttelte ich den Kopf. Warum kapierte er es einfach nicht? Stand er etwa so sehr auf der Leitung, dass man ihm alles vors Gesicht klatschen musste, bis er es schnallte?
„Du musst gehen.“ Wie auf ein Kommando kam aus dem nichts ein stürmischer Wind auf und fegte über die Stelle, an der wir uns befanden. Die wilden Böen zerrten an unseren Körpern, doch keiner von uns bewegte sich auch nur einen Millimeter. Nur meine Haare peitschten wie bösartige Schlangen durch die Luft. Ich versuchte erst gar nicht, sie zu bändigen – es wäre sinnlos.
Der Wind wollte und wollte einfach nicht abflauen und allmählich wurde mir nur noch kälter. Anstatt mich aber um mich selbst zu kümmern, griff ich nach der Decke am Boden und gab sie Alex, der nun auch zitterte. Dankend nahm er sie an und wickelte sie um seinen breiten Oberkörper.
Mit jedem Atemzug strömte mehr und mehr eisige Luft in meine Lungen. Es fiel mir immer schwerer.
Gerade als ich drohte, von meiner Sitzgelegenheit zu kippen, drang eine überlebenswichtige Botschaft an meine Nase.
Es war der unverwechselbarste Geruch, den ich kannte, denn mehr als alle anderen auf dieser Welt hasste ich ihn. Mein Hirn drohte zu platzen und alles drehte sich plötzlich um mich. Es war Anns Geruch und sie war nicht sehr weit entfernt.
Wankend krallte ich mich am Stamm fest, was dazu führte, dass meine Hände voller Holzspieße waren.
„Mars? Geht’s dir gut?“ Alex hielt mich an der Schulter fest, als er merkte, dass ich nach hinten umkippte.
Ich konnte ihm nicht einmal antworten. Mein Hirn arbeitete auf Hochtouren und war gleichzeitig völlig überlastet. Mein Atem setzte zeitweise aus und ich fing an zu hecheln wie ein gehetzter Hund.
O Mein Gott! Was machte ich jetzt nur? Ich musste Alex retten, das war jetzt fürs erste alles was zählte. Aber wie?
Wie ein Computer ratterten meine Gedanken. Nichts, aber auch wirklich gar nichts schien eine Lösung abzugeben, die auch nur annähernd gut genug war.
Mein Herz raste wie nach einem Sprint. Was sollte ich jetzt machen? Er würde wegen mir sterben – und wegen seiner verfluchten Sturheit!
Mit einem Mal war alles vorbei. Es war, als hätte jemand einen Schalter in meinem Kopf umgelegt. Ich dachte an nichts mehr. Es war einfach nur noch Dunkelheit, die in mir herrschte – Dunkelheit und eine wohltuende Stille.
Und im nächsten Moment, erschien die Lösung vor mir, als wäre es das selbstverständlichste auf der Welt. Alex musste weg von hier – egal wo hin. Ann musste mich allein vorfinden, dann würde sie ihm nichts tun.
Mit einem Ruck riss ich meine Augen auf. Ich hatte nicht einmal mehr mitbekommen, dass ich sie geschlossen hatte, aber so war es. Alex kniete vor mir und musterte besorgt mein Gesicht.
„Mars?“ Er schüttelte mich sanft.
„J-ja?“ Ich musste ein paar Mal blinzeln, so nah war Alex‘ Gesicht meinem.
„Mein Gott! Hast du eine Ahnung, welche Sorgen ich mir grade gemacht hab?“ fragte er und klang dabei leicht vorwurfsvoll.
Verdammt, mir rann die Zeit davon. Ich musste ihn schnell wegschicken – irgendwie! Ich brauchte eine verdammt gute Ausrede, damit er auch wirklich ging und bloß nicht zurückkam, während ich mit Ann beschäftigt war. Wieder rauschte alles in meinem Kopf, wieder schlossen sich meine Augen wie von selbst.
„Mars? Mars? Wir sollten besser einen Schlafplatz suchen, damit du dich schön ausruhen kannst.“
Ja! Schlafplatz! Ausgezeichnet! Ich erzählte ihm, dass ich schon einen hatte, irgendwo und dass er voraus gehen solle. Hoffentlich würde es funktionieren!
Aber vorher musste ich dringend wissen, aus welcher Richtung Ann kommen würde.
Norden? Süden? Westen? Osten?
Ich musste mich konzentrieren! Mein Gehör nahm auch die kleinste Schwingung auf, egal wie weit entfernt sie auch war. Ich hörte unzählige, gefallene Blätter knistern, tausende Nadeln, die aneinander schabten. Und dann hörte ich das Geräusch, nach dem ich suchte.
Schwere Pfoten, die in gleichmäßigen Abständen auf dem feuchten Waldboden aufkamen und sich mit einem unscheinbaren Klatschen wieder von diesem lösten, nur um das Spiel, nicht einmal eine Sekunde später, zu wiederholen.
Im nächsten Moment saß Alex wieder vor mir. Tausende Eindrücke drangen auf einmal auf mich ein und ich versuchte so gut es ging, diese zu sortieren.
„Schlafplatz“, flüsterte ich. Meine Stimme zitterte und klang, als wäre ich schwer krank. „Ich habe einen Schlafplatz hier ganz in der Nähe.“ Einen Moment lang überlegte ich noch, dann sprach ich weiter. „Am besten gehst du nach Süden. Es ist gar nicht zu verfehlen, wenn du nur grade aus läufst.“ Ich warf hastig einen Blick zum Himmel. Allmählich verwandelte sich das Blau, vor allem im Westen, in ein dunkles Orange.
„Und beeil dich, Alex. Schön langsam wird es dunkel und du findest nicht hin, wenn du nichts mehr sehen kannst.“ Mit diesen Worten stand ich auf, griff nach Alex‘ Arm und zog ihn mit mir in die Höhe.
Dieser sah eigentlich nur verwirrt aus. „Und was machst du? Kommst du nicht mit?“ Er klang sehr, sehr skeptisch und ich hatte schon die Befürchtung, er könnte meinen Plan durschaut haben.
„Doch, doch ich komme nach. Ich sehe mich nur noch ein bisschen um, vielleicht finde ich etwas zu essen.“ Meine Hände zitterten wie verrückt, als ich Alex anlog. Irgendwie tat mir das weh, aber ich musste es tun, um ihn zu retten.
„Und du bist dir ganz sicher, dass du zu recht kommst? Grade hat’s nämlich nicht unbedingt danach ausgesehen…“ murmelte Alex und beobachtete jede meiner Bewegungen.
„Ja. Es ist alles in Ordnung. Geh besser. Du kannst ja schon ein Feuer machen und ich besorg uns einen Happen zu Futtern. Ach, und nimm den Rucksack mit!“ Ich setzte ein, unwahrscheinlich echt aussehendes, Lächeln auf und wandte mich zum gehen.
„Mars?“ Noch einmal drehte ich mich zu Alex um und zuckte erschrocken zusammen, weil er nämlich direkt vor mir stand – und damit meine ich direkt vor mir.
„Was?“ flüsterte ich. Ich hatte Angst mich zu bewegen, denn egal was ich getan hätte, es hätte unweigerlich zu einer Berührung zwischen uns geführt.
„Pass auf dich auf.“ Er beugte sich zu mir herunter und noch bevor ich reagieren konnte, berührten seine Lippen meine Stirn. Es fühlte sich viel zu gut an.
Alex drehte sich auf dem Absatz um, hob den Rucksack vom Boden und verschwand zwischen den Bäumen. Benommen schaute ich ihm nach, bis mich die Gegenwart endlich einholte. Ich musste mich vorbereiten, vorbereiten auf das Aufeinandertreffen.
Es würde entweder gut für mich, oder für sie ausgehen. Es würde nur einen Gewinner geben können und ich wollte nicht diejenige sein, die nachher auf der Erde lag und starb.
Wie von der Biene gestochen raste ich auf Pfeil und Bogen zu, die immer noch an der Stelle auf dem Boden lagen, wo ich sie vorher hingelegt hatte.
So bewaffnet baute ich mich in der Mitte der winzigen Lichtung auf. Wenn Ann kommen, und sich Alex schnappen wollte, musste sie erst an mir vorbei. Und selbst wenn ich sterben sollte, er bekam so vielleicht einen Vorsprung, der groß genug war, um sich zu retten.
Ich stand da, massiv wie eine Mauer aus Stein und Beton. Ich hörte Ann, sie war keinen Kilometer mehr entfernt. Wieder wehte mir ein Lufthauch ihren Geruch mitten ins Gesicht – es fühlte sich an, als hätte mich jemand geschlagen. Nur mit aller Kraft schaffte ich es, nicht vor Angst los zu zittern. Bei unserem letzten Aufeinandertreffen, hatte sie mich fast gehabt. Nur dadurch, dass ich sie im letzten Moment getroffen hatte, hatte ich überlebt – und weil die Haustür aus dicken Holzplatten bestand.
Wem wollte ich denn etwas vormachen? Ich war gegen sie so gut wie chancenlos. Nichts würde sie aufhalten, niemand würde mir helfen und sie würde bestimmt keine Gnade zeigen – anders als ihr toter Bruder.
Ich knirschte wütend mit den Zähnen. Dieser Gedanke würde mich früher oder später bestimmt noch in den Wahnsinn treiben, aber noch durfte ich es nicht zulassen. Derweil musste ich einen klaren Kopf bewahren und mich, wenigstens im Kopf, so gut es ging vorbereiten.
Wenn ich schon so sterben musste, dann würde ich ihr vorher noch so viel Schaden zufügen, wie nur irgendwie möglich – und das würde sehr viel sein! Ja, das hatte ich mir schon so oft geschworen!
Der Wind wurde immer stärker und peitschte mir ins Gesicht. Meine Augen tränten und meine Sicht wurde getrübt. Die Muskeln in meinen Armen waren gespannt wie Drahtseile und meine Finger schlossen sich wie Schraubstöcke um meine Waffen. Ich war bis an die Grenze des Möglichen angespannt.
Die Schritte wurden immer lauter und dröhnten inzwischen schon in meinem Kopf als würde jemand direkt neben mir mit einem Hammer auf ein Stück Metall einschlagen.
Nur noch ein paar Herzschläge trennten mich von ihr. Nur noch Sekunden, dann würde ich ihr ins Gesicht sehen können – oder müssen.
Einen Moment lang musste ich wirklich gegen den Gedanken ankämpfen, mich umzudrehen und Alex hinterher zu laufen – mich ebenfalls in Sicherheit zu bringen. Aber mein Verstand sagte mir, dass es sinnlos wäre. Genauso wie ich, hatte sicher auch sie mich schon gehört, oder auch gewittert. Und wenn sie mir dann folgte, würde ich sie direkt zu Alex führen, was ich ja eigentlich um jeden Preis verhindern wollte.
So blieb ich also stehen, als hätte jemand meine Füße am Boden festgeschraubt und starrte in die Richtung, aus der ich Ann kommen hörte. Mir blieb fast das Herz stehen, als sie schon so nah war, dass ich ihren hechelnden Atem hören konnte. Ich versuchte mich zu beruhigen, aber allein die Vorstellung, dass ich jeden Moment einem schwarzen Riesenwolf gegenübertreten musste, machte es mir nicht leichter.
Und dann war sie da. Wie ein, viel zu großer, Schatten trat sie zwischen den Bäumen hervor, als wäre es das selbstverständlichste auf der Welt, mir gegenüber zu stehen. Mein Atem ging indes so schnell, dass ich Angst hatte zu hyperventilieren. Viel zu spät legte ich den Pfeil auf die Sehne und zielte auf ihren schwarzen Kopf – genau zwischen die zwei rubinroten Augen. Aber es war schon zu spät. Sie hatte bemerkt, was ich vorhatte und bewegte sich im Zickzack von einer Seite der Lichtung auf die andere, wobei der Abstand zwischen uns immer kleiner wurde. Ich hatte alle Hände voll zu tun, ihren ruckartigen, schnellen Bewegungen zu folgen und sie nicht aus den Augen zu verlieren. Hin und wieder verschwand sie für Sekunden hinter ein paar Bäumen, nur um dann, einige Meter weiter, wieder aufzutauchen und mir so mehr und mehr Adrenalin in die Adern zu treiben. Ihre tödlichen Augen hafteten an mir wie Kletten.
Allmählich wurde aus meiner Angst, blanker Hass. Ich hatte noch nie jemanden so sehr gehasst wie sie und noch nie hatte jemand es so wenig verdient zu leben wie sie – zumindest wenn man mich fragte. Schließlich wurde ich mutig und anstatt wie angewurzelt da zu stehen, bewegte auch ich mich – auf sie zu.
Dieser Schachzug schien sie so sehr zu verwirren, dass sie erst zurückwich, sich dann aber tief duckte und ein Grollen hören ließ, dass die Bäume im Wald zittern ließ und mir durch Mark und Bein ging.
Auch ich ging, fast gleichzeitig, etwas in die Knie, um weniger Angriffsfläche zu bieten. Sollte sie nur kommen.
Sekunde um Sekunde verstrich. Sie bewegte sich nicht, und auch ich wagte keine Bewegung. Das einzige, was sich bei ihr rührte, war ihre Nase, die unentwegt schnüffelte.
Und dann war mir alles plötzlich ganz klar. Sie witterte Alex! Nein, nein, nein! Nein! Wie konnte ich nur so dumm sein zu glauben, ich könnte sie täuschen, indem ich ihn einfach wegschickte? Wie hirnrissig war das?
Ich schnaubte verächtlich. „Wag es ja nicht“, knurrte ich und funkelte sie hasserfüllt an.
Für einen Moment sah es aus, als würde sie mir ein wütendes Grinsen zuwerfen. Dann bleckte sie die Zähne und presste sich noch enger an den Boden.
So durfte das nicht enden! Bei einem Wettrennen gegen sie hatte ich überhaupt keine Chance. Auch wenn ich, rein theoretisch, ein Gestaltwandler war, konnte ich mich doch nicht verwandeln. Ich war nicht schneller als jeder normale Mensch – naja, vielleicht ein ganz kleines bisschen.
Ich warf einen hastigen Blick über meine Schulter, als könnte ich Alex so warnen. Aber das war unmöglich und konnte niemals funktionieren. Ich durfte sie nicht an mir vorbei lassen, oder es war aus und vorbei.
Ann fixierte mich aus ihren roten Augen, die mir immer bedrohlicher vorkamen. Es war schon fast, als könnte ich hören, was sie denkt. Sie wollte diese fremde Fährte aufnehmen, die von hier wegführte. Sie wollte mich weiter schwächen, indem sie wieder einen Menschen aus meinem Leben tötete – wieder jemanden den ich gern hatte.
Ich biss die Zähne so fest zusammen, dass mein Unterkiefer knackte. Gleichzeitig spannte ich die Sehne des Bogens so sehr, dass sie ächzend knarrte und ich mir schon fast Sorgen machte, dass sie reißen würde.
Aber eigentlich hatte ich grade andere Probleme, als das Erbstück meines Vaters. Hier ging es um Leben und Tod und ich war die Einzige, die etwas Schlimmeres verhindern konnte.
„Was willst du Ann?“ knurrte ich und behielt sie genau im Auge. Es kam keine Regung, kein Zucken, keine Reaktion. Aber die brauchte es im Grunde auch gar nicht. Ich wusste, dass sie nichts Gutes plante, egal was jetzt geschehen würde.
Noch einmal erntete ich dieses hasserfüllte Grinsen von ihr, dann preschte sie, wie auf ein geräuschloses Startsignal hin, los. Im ersten Moment blieb mir fast das Herz stehen. Was sollte ich jetzt tun? Wie angewurzelt stand ich da, genauso, wie zuvor. Und dann schoss mir das Adrenalin in die Adern.
Ich wirbelte herum, verließ die kleine Lichtung und jagte ihr hinterher. Ann durfte nicht vor mir bei Alex ankommen, sonst würde er sterben. Er durfte nicht sterben! Er hatte nichts damit zu tun – gar nichts! Er kannte noch nicht einmal die Wahrheit über mich, oder über sie!
Sie durfte ihn nicht finden, nicht kriegen!
Umgefallene, meterdicke Baumstämme und rutschige, von Moos überzogene Felsen waren plötzlich kein Hindernis mehr. Ich flog geradezu über alles hinweg, was mir im Weg war. Äste schlugen mir ins Gesicht und zerkratzten meine Wangen. Doch das hielt nicht mehr zurück – nichts tat das. Ich schoss durchs Unterholz wie die Gewehrkugel eines Jägers. Ann war zwar ein Wolf mit vier Beinen, aber bei dem Tempo, das ich gerade drauf hatte, hätte es mich wirklich nicht gewundert wenn ich sie überholt hätte.
Außer dem, was direkt vor mir lag, nahm ich nichts mehr wahr. Hin und wieder schlug ich mich selbst mit einem Ende des Bogens oder des Pfeils, aber das stachelte mich nur noch mehr an vor ihr anzukommen.
Ein wirrer Mix aus tausend unterschiedlichen Gerüchen strömte mir auf einmal in die Nase und versuchte einen leichten Schwindel. Etwas aus dem Konzept gebracht, wurde ich langsamer, obwohl ich eigentlich noch schneller voran kommen wollte.
Meine Lungen brannten wie Feuer. Noch nie in meinem Leben hatten sie so sehr geschmerzt! Ich sammelte all meine Kraft und drückte mich so kräftig wie möglich vom Boden ab – mit jedem weiteren Schritt.
Durch die Geschwindigkeit konnte ich kaum etwas hören, denn der Wind sauste an meinen Ohren vorbei, trotzdem glaubte ich, ungefähr fünfzig Meter neben mir, das unregelmäßige Hecheln eines Wolfes zu vernehmen.
Mein Herz raste. Ich war nicht mehr sehr weit hinter ihr, wenn ich sie nicht schon eingeholt hatte. Nie in meinem Leben hätte ich gedacht, so schnell sein zu können wie diese Bestie, doch anscheinend war ich es doch. Noch ein weiterer Ansporn! Ich konnte es schaffen! Ich konnte Alex vor ihr finden!
Ohne daran gedacht zu haben, führte mich mein scharfer Geruchssinn direkt zu ihm. Bald schon wurde die Spur stärker und mit ihm auch ich.
Nicht mehr weit! Vielleicht fünfhundert Meter – sicher nicht sehr viel mehr!
Das Hecheln wurde lauter, der Abstand zwischen mir und Ann kleiner. Ein letztes Mal beschleunigte ich.
Die Bäume standen hier nicht mehr ganz so eng beinander, doch der Boden war von Farnen bedeckt. Ich hätte ohne weiteres in ein Loch stürzen können, ohne irgendeine Chance zu haben darauf gefasst zu sein.
Wahrscheinlich hätte ich Ann jetzt sogar sehen können, aber ich hatte keine Zeit um mich nach ihr umzusehen. Obwohl ich einfach lief und überhaupt keine Rücksicht auf das nahm, was mir im Weg war, machte ich so gut wie gar keine Geräusche – was einfach unglaublich war!
Vor mir tauchte, wie aus dem Nichts, ein kleines Dickicht auf. Mit einer Hand schützte ich wenigstens meine Augen und kämpfte mich dann durch das Gestrüpp. Ann würde hier ganz sicher größere Probleme haben als ich, immerhin war ihr Körper sehr viel massiger als meiner!
Ich sah einen Funken Hoffnung. Die Chancen, dass ich wirklich vor ihr ankam, standen gut.
Als hätte jemand plötzlich die Bäume ausgerissen, stand ich auf einer kleinen Wiese. Mein Atem rasselte und wahrscheinlich war es nur noch eine Frage der Zeit, bis mein Herz vor Anstrengung durchbrennen würde. Trotzdem hatte ich in diesem Moment nur eins im Kopf: Alex! Er stand vor mir, nur ein paar Meter entfernt, doch es war schon zu spät.
Neben mir knackten Äste, vielleicht sogar junge Bäume. Mit einer Drehung um meine eigene Achse, wandte ich mich dem Waldrand zu und legte wieder an. Dass weder Pfeil noch Bogen bei meinem Sprint zu Bruch gegangen waren, grenzte ebenfalls an ein kleines Wunder, aber anscheinend war das Glück heute auf meiner Seite.
Alex hinter mir stieß erschrocken die Luft aus, als Ann zwischen den Bäumen hervorstieß und mit einem gewaltigen Sprung auf mich zusetzte.
Mir blieb nur ein einziger Schuss. Ein Schuss, der nicht nur über mein Leben entscheiden würde, sondern auch über Alex Zukunft. Wenn ich sie jetzt nicht treffen würde, wäre ich tot – und er auch.
Ich zielte auf ihren breiten Brustkorb, und schoss.



Von der Gejagten zur Jägerin



Der Pfeil durchbohrte ihr dichtes Fell und die Haut darunter noch im Flug. Mit einem dumpfen Aufschlag, landete sie vor meinen Füßen. In ihren Augen lag der pure Schmerz und ein Hass, der mich den Atem anhalten ließ.
Mein Gehirn arbeitete wie von selbst, ich musste nicht mehr überlegen. Alles geschah instinktiv.
„Alex! Ich brauche einen Pfeil - schnell!“ befahl ich und trat einen Schritt von Anns Kopf zurück. Sie war nicht tot – noch nicht – aber ich musste sie erledigen, bevor ihre Wunden heilen konnten. Anscheinend hatte ich nicht ihr Herz getroffen, oder irgendein anderes, lebenswichtiges Organ. Trotzdem tropfte frisches, dunkelrotes Blut auf den Waldboden und verfärbte die gefallenen Blätter und Nadeln.
Es war eine Genugtuung sie so zu sehen – sterbend. Bald würde sie tot sein und dann konnte ich wieder normal leben. Oder? Konnte ich überhaupt jemals wieder ein normales Leben führen?
Irgendwie bezweifelte ich das stark, aber ich musste daran glauben.
Alex hielt mir zitternd einen Pfeil hin. Mit einem abgehackten Kopfnicken in seine Richtung nahm ich ihn und legte abermals an. Nur noch Sekunden, wenn überhaupt. Dann war der Albtraum vorüber. Dann musste ich nie wieder in meinem Leben Angst haben.
Ich zögerte nicht mehr und schoss, ohne richtig gezielt zu haben – was sich im Nachhinein als riesengroßer Fehler herausstellte. Trotzdem traf ich, auch wenn es nicht dort war, wo ich gewollt hatte. Ann jaulte vor Schmerzen auf. Ich hörte Alex hinter mir hektisch atmen – er hatte Angst.
„Ich brauche noch einen!“ forderte ich ohne Ann aus den Augen zu lassen. Hätte ich den zweiten Schuss nicht vergeigt, wäre schon alles vorbei. So musste ich noch ein Weilchen warten.
Wieder hörte ich Alex hinter mir im Rucksack wühlen, wieder gab er mir eines der Geschosse. Wieder legte ich an, doch diesmal zielte ich direkt auf ihren Kopf.
Blanker Hass stieg in mir auf. So lange hatte ich auf diesen Moment gewartet. Ich wusste sehr wohl, dass das, was ich gerade tat unmenschlich und abartig war, aber ich steuerte das längst nicht mehr.
Ann rollte sich auf die Seite, schaute mich aber immer noch aus ihren roten, bösen Augen an. Und zum ersten Mal lag nicht Wut oder Zorn oder Hass darin, sondern Angst. Angst um ihr Leben.
Sie hatte mich eindeutig unterschätzt, hatte gedacht, sie hätte leichtes Spiel mit mir. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass ich so wehrhaft sein konnte – dass ich eine Gefahr für sie bedeuten konnte. Aber da hatte sie sich geschnitten und jetzt würde sie für diesen Irrtum bezahlen müssen. Sie würden den höchsten Preis bezahlen müssen, den es auf der Erde gab.
Mit einem Mal wurde alles hell um mich. Es fühlte sich an, als würde ich schweben, trotzdem wusste ich, dass ich immer noch mit beiden Füßen fest am Boden stand.
Was passierte jetzt?
Mit beiden Händen umklammerte ich meine Waffe. Wo war Ann hin? Und Alex?
Das helle Licht um mich herum wurde allmählich schwächer – dämmriger. Geblendet blinzelte ich einige Male.
Ich befand mich an derselben Stelle, wie noch vor einem Augenblick, nur, dass ich jetzt allein war.
Vor mir lag kein schwarzer, sterbender Riesenwolf. Hinter mir hörte ich keine hektische, angsterfüllte Atmung.
Suchend blickte ich mich um, aber ich war wirklich ganz allein. Alle meine Sinne arbeiteten, denn ich konnte den Wind in den Ästen hören, roch den frischen Duft von Tannennadeln und spürte die kühle Brise auf meiner Haut. Aber da war niemand mehr – außer mir.
Ein paar Mal drehte ich mich um mich, dann ging ich in den Wald hinein. Ich wusste nicht genau wohin, aber irgendetwas schien mich zu führen – oder zu rufen. Wie von selbst fanden meine Beine einen Weg zwischen den eng stehenden Bäumen einen Hang hinauf. Ich versuchte mich zu konzentrieren, aber ich fand keine Menschenseele.
Vor einer Geröllhalle blieb ich stehen. Sekunden. Minuten. Stunden.
Irgendwann gewann ich die Kontrolle über meinen Körper wieder und schloss die Augen. Um ehrlich zu sein, hatte ich einfach nur furchtbare Angst. Ich wusste nicht wo ich war, was gerade mit mir geschah oder was als nächstes kam.
Merkwürdigerweise zeigte mein Körper das aber in keiner Weise. Weder ging meine Atmung schneller als gewöhnlich, noch pumpte mein Herz Adrenalin durch meine Adern.
„Mars.“ Es klang wie ein Echo – fern und trotzdem so nah, dass ich das Gefühl hatte, jemand würde direkt neben mir stehen und meinen Namen sagen.
Langsam öffnete ich meine Augen wieder – und hätte sie am liebsten gleich wieder geschlossen. War ich tot? Hatte Ann mich erwischt und in winzige Stückchen gerissen, bevor ich überhaupt hatte schießen können?
Wäre möglich, denn das, was ich da gerade sah, war unmöglich!
Verdutzt wischte ich mir über die Augen, doch er war immer noch da – direkt vor mir und in voller Größe.
Mir blieb der Atem weg.
„Duncan?“ Wie in Zeitlupe hob ich meine Hand, doch ich griff ins Leere. Dort wo ich eigentlich seine Schulter hätte berühren müssen, war rein gar nichts. Es fühlte sich so an, als würde ich versuchen Luft mit bloßen Händen einzufangen – unmöglich.
„Ja?“ Wieder diese Stimme, die mir viel zu fremd erschien. Wusste ich wirklich nicht mehr, wie er sich angehört hatte?
„Duncan?“ Fassungslos starrte ich ihn an, unfähig meinen Mund zuzumachen. Er sah genauso aus wie in meiner Erinnerung – genauso wie an dem Tag, an dem er gestorben war – zumindest sein Gesicht. Seine schwarzen Augen musterten mich interessiert, um seinen Mund spielte ein schwaches Lächeln und seine Haare waren genauso zerzaust wie sie immer gewesen waren.
Den Rest seines Körpers sah ich wie durch trübes Glas. Weder Farben, noch Formen konnte ich erkennen, doch das war auch unwichtig. Er war wirklich bei mir!
„Mars, du darfst Ann nicht töten.“ Von oben sah er auf mich herab, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, das wir miteinander redeten. Es fühlte sich an, als würde ich aus allen Wolken fallen.
War ihm überhaupt klar, was er da von mir verlangte? Das war, als wollte er, dass ich ihn erschoss!
„Das kann ich nicht!“ stieß ich mit aller Kraft hervor. Meine Knie zitterten unter meinem Gewicht und ich klammerte mich wie eine Ertrinkende an meinem Bogen fest.
„Vertrau mir“, forderte er mich auf und streckte mir seine Hand entgegen. Obwohl ich wusste, dass er durch mich hindurch greifen würde, spürte ich seine Nähe. Ich spürte die Wärme, die von seinen Fingern abstrahlte.
Unwillkürlich schloss ich die Augen und genoss für ein paar Sekunden den Moment.
„Mars, töte sie nicht.“ Duncans Stimme holte mich zurück zu ihm. Tränen stiegen in mir hoch. Meine Finger zitterten in diesem Augenblick so sehr, dass mir der Bogen entglitt und zu Boden fiel.
„A-aber sie hat dich… Ich muss doch!“ Ich suchte verzweifelt nach Worten, wollte mich rechtfertigen, doch allein die Tatsache, dass er vor mir stand und mit mir sprach, brachte mich völlig aus dem Konzept.
„Lass sie am Leben, und ich verspreche dir, dass wir uns wiedersehen werden.“ Er ließ seine Hand wieder sinken. Die Wärme verschwand schlagartig und ich fröstelte.
„Aber was soll ich tun? Wie kann das sein?“ Ich merkte, wie ich immer kleiner wurde und schließlich ganz auf die Knie fiel. Verzweifelt blickte ich zu ihm auf. Immer noch hatte er dieses leichte Lächeln im Gesicht, als wäre alles in bester Ordnung. Aber ich wusste, dass es nicht so war.
„Du wirst es verstehen…“ Die letzten Worte wurden zu einem sanften Echo, das langsam verhallte.
Ich schluchzte und versuchte wieder auf die Beine zu kommen, doch ich konnte nicht mehr. Hilfe suchend schaute ich ihn an, aber er schüttelte nur den Kopf.
Dann löste er sich auf – erst der Körper, dann die Arme und schließlich das Gesicht. Ich wollte schreien, ihm zurufen, dass er bei mir bleiben sollte, aber ich war dazu nicht in der Lage.
„Duncan! Bitte, geh nicht!“ flüsterte ich stattdessen. Es war so leise, dass ich ganz sicher war, dass er es nicht gehört hatte.
Mit einem letzten, warmen Blick auf mich verschwand er ganz. „Ich liebe dich“, hörte ich seine sanfte, tiefe Stimme noch sagen – direkt an meinem Ohr.
Ich schnappte nach Luft. Meine Augen waren auf einmal so schwer, dass ich sie nicht mehr offen halten konnte.
Im nächsten Moment riss ich sie mit voller Kraft wieder auf – und stand Ann gegenüber.
Sie lag vor mir auf dem Boden, blutend und schwerst verletzt und mit weit aufgerissenen Augen. Ich befand mich wieder an genauer der Stelle, wie zuvor.
Mein Körper zitterte wie Espenlaub. Was war gerade passiert? Hatte ich geträumt? Oder war es vielleicht eine Art Vision gewesen?
Den Pfeil hatte ich auch immer noch in der Hand, genau wie den Bogen. Ruckartig legte ich an und zielte auf Ann. Ihre roten Augen waren immer noch starr auf mich gerichtet und nichts als Angst lag darin.
Ich war hin und her gerissen. Wenn mir Duncan wirklich erschienen war, durfte ich sie nicht töten. Ich musste ihn wiedersehen – das war alles, was ich jetzt noch wollte!
„Alex?“ Ich drehte mich halb zu ihm um, zielte aber weiterhin auf meine Gegnerin.
„J-ja?“ Ein leises Rascheln war zu hören, dann spürte ich, dass er direkt hinter mir stand.
„Ich muss hier etwas erledigen. Du solltest besser gehen – ich finde dich nachher schon!“ Ich warf ihm einen strengen Blick zu und wandte meine Aufmerksamkeit dann wieder Ann zu.
Eines ihrer Beine zuckte verräterisch, was mich sofort in Alarmbereitschaft versetzte. Dass sie dann doch nur zur Seite umkippte, ließ mich fast aufatmen.
„Sollte ich nicht lieber hier bleiben?“ Inzwischen stand Alex schon fast neben mir. Mit einem kurzen Nicken in Anns Richtung, machte er mir deutlich, dass es ihm keine Freude bereitete, wenn er mich mit diesem Monster allein ließ.
„Geh!“ Meine Stimme war viel lauter als ich beabsichtigt hatte. Alex zuckte zusammen, drehte sich dann um und verschwand hinter mir im Wald.
Ich wartete eine Weile, bis selbst ich seine Schritte nicht mehr hören konnte, dann erst ließ ich den Bogen etwas sinken – achtete aber immer noch genau auf das, was Ann tat. Sie wirkte wie erstarrt. Ihre Lefzen zuckten leicht, aber alles in allem sah sie einfach nur erschöpft und vor allem verängstigt aus.
„Ich will, dass du mich zu Duncan bringst!“ forderte ich. Meine Stimme bebte – genau wie der Rest meines Körpers.
Ein ungläubiger Ausdruck trat in ihr Gesicht als würde sie fragen, ob ich nicht mehr alle Latten am Zaun hätte.
Ein greller Lichtblitz blendete mich, dann lag eine junge Frau vor mir. Sämtliches Gewand das sie trug, war schneeweiß – oder zumindest einmal gewesen. Braune und blutrote Flecken bedeckten den, einst makellosen, Stoff bis auf einige wenige Stellen. Ihre weißen, langen Haare waren wie ein riesiger Fächer um ihren Kopf ausgebreitet und verdeckten mir die Sicht in ihr Gesicht – was auf der anderen Seite gar nicht so schlecht war.
Mühsam stützte sie sich mit den Ellbogen vom Boden ab und hob so wenigstens ihren Oberkörper etwas an.
„Wie kommst du nur darauf, dass ich dich zu ihm bringen könnte?! Er ist tot, falls du das vergessen hast!“ Immer noch konnte ich ihr Gesicht nicht sehen, aber ich spürte regelrecht, wie ihr ganzer Hass in meine Richtung waberte – wie eine eisige Welle.
Aus Reflex spannte ich die Sehne wieder etwas mehr. „Woher ich es weiß spielt keine Rolle! Ich will, dass du mich zu ihm bringst und ich weiß, dass du mich dorthin führen kannst.“
Langsam drehte sie sich zur Seite, sodass ein paar weiße Strähnen aus ihrem Gesicht verschwanden und ihre roten Augen wie Rubine hervor stachen. Der Kontrast zwischen ihrer blassen Haut und diesen Augen war schon fast schmerzhaft.
„Du hast wohl zu lange im Wald gelebt Mädchen. Niemand kann von den Toten auferstehen!“ Mit einem lauten Seufzer sackte sie wieder in sich zusammen, nur um sich, Sekunden später, einen Pfeil aus dem Körper zu ziehen. Immer mehr Blut tropfte auf den Waldboden und langsam aber sicher bildete sich eine kleine Pfütze.
„Na wenn das so ist, brauche ich dich ja nicht mehr.“ Ich zielte auf ihren Kopf und beobachtete sie dabei ganz genau. Keine einzige ihrer Regungen ihres Gesichts entging mir so.
Falls das überhaupt noch möglich war, wurde sie in diesem Augenblick noch blasser, als sie sowieso schon war.
„Noch irgendetwas zu sagen?“ fragte ich knapp, wobei sich ein riesiger Kloss in meinem Hals bildete.
Ann kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und presste ihre Lippen so fest aufeinander, dass sie nur noch ein weißer, dünner Strich waren.
„Gut, dann eben nicht.“ Noch ein Stückchen weiter zog ich den Pfeil zurück, bis die Sehne zu knarren begann.
„Warte!“ Anns Stimme klang hoch und war vor Angst gerade laut genug, dass ich sie hören konnte.
Ich zog eine Augenbraue hoch und schaute auf sie hinab. Wenn sie etwas wusste, dann würde sie es mir jetzt sagen, da war ich mir ganz sicher.
Geduldig wartete ich und musterte sie ganz genau. Ihre Augen waren, meiner Meinung nach, noch roter als sonst – ich konnte mich aber auch täuschen. Ein paar Schweißperlen bildeten sich langsam aber sicher auf ihrer Stirn.
„Woher weißt du es?“ fragte sie mit zittriger Stimme.
Ich zog verächtlich meine Oberlippe hoch, ohne darüber nachzudenken und schnaubte. „Das ist nicht wichtig. Aber du wirst mir jetzt auf der Stelle sagen, wo ich ihn finden werde!“ Ich starrte sie an – und wartete.
„Hast du seinen Ring?“
Verdutzt schaute ich auf meine Hand hinab. Ja, dort war er immer noch. Klein, glänzend und aus Bronze.
Langsam nickte ich. „Ja, warum?“
„Er wusste es also auch…“ flüsterte Ann, und ich war mir ganz sicher, dass ich es nicht hätte hören sollen. „Du musst ihn an eine ganz bestimmte Stelle bringen, und dann spalten“, sagte sie dann etwas lauter, wobei es ihr schwer viel, nicht andauernd nach Luft schnappen zu müssen.
„Ich verstehe nicht, was du meinst.“ Immer wieder wanderte mein Blick zwischen ihr und dem kleinen Ring an meinem Finger hin und her.
„Gut.“ Ein hasserfülltes Grinsen huschte über ihr Gesicht. „Es wäre doch schade, wenn ich unseren lieben Duncan nachher noch einmal töten müsste, meinst du nicht?“
Ich knirschte wütend mit den Zähnen. Jetzt war ich kurz davor, sie, trotz allem, zu erschießen!
Nein! Das durfte ich nicht! Sie allein wusste, wie ich Duncan wieder zurück bekommen konnte!
Ich kratzte meine ganze Selbstbeherrschung zusammen und biss die Zähne zusammen.
„Sag mir, wie ich ihn zurückbekomme!“ verlangte ich wutendbrand.
Sie hatte noch immer noch dieses hässliche Grinsen im Gesicht, was mich schon fast dazu veranlasste, sie zu schlagen. Langsam und genau wissend, was sie da tat, schüttelte sie den Kopf.
Wieder spannte ich den Bogen, bis sowohl Holz, als auch Sehne knarrten und knackten.
Anns Augen weiteten sich vor Angst, doch diesmal hatte sie zumindest die kleine Hoffnung, dass ich sie nicht erschießen würde – wegen Duncan.
„Sag es mir!“ knurrte ich zwischen zusammengebissenen Kiefern.
„Gut, gut, gut! Mühsam stützte sie sich wieder vom Boden ab, um mir irgendwie ins Gesicht sehen zu können. „Es gibt da diesen Berg, den Namen kenne ich nicht, aber er sieht aus wie eine Krone. Du musst dorthin und den Ring spalten – und zwar genau wenn die Sonne aufgeht.“ Nach Luft ringend schaute sie zu mir auf. Ihre Hände waren zu Klauen geformt und ihre Finger bohrten sich in den Boden.
„Ich hoffe du lügst nicht!“ fuhr ich sie an.
Hastig schüttelte sie den Kopf, der, wie in Zeitlupe, zu Boden sank.
Erst jetzt bemerkte ich, dass mein Herz immer noch pochte, wie nach einem Marathonlauf. Ich schwitzte sogar – kalten Schweiß.
Vorsichtig machte ich ein paar Schritte rückwärts, bis ich genau neben dem Rucksack stand. Dann ging ich in die Knie und zerrte ein paar übrig gebliebene Gurte aus einem der Fächer. Die würden wohl reichen um diese verdammte Hexe an den nächstbesten Baum zu fesseln – zumindest so lange, bis ich Alex wieder gefunden hatte.
„Keine Bewegung“, sagte ich in strengem Ton, wobei ich mir irgendwie ganz schön blöde vorkam. Mit ein paar einfachen Knoten verschnürte ich ihre Unterarme miteinander und band sie dann an einer nahegelegenen Eiche – ich glaubte, dass es eine Eiche war – fest.
Jetzt blieb mir nur noch zu hoffen, dass sie sich nicht losreißen konnte, während ich weg war.
Mit einem letzten, skeptischen Blick auf sie, drehte ich mich um und rannte in den Wald hinein.
Schon bald hatte ich Alex‘ Spur aufgenommen und folgte ihr in ein kleines Dickicht. Es wurde schon Abend, das wurde mir erst jetzt richtig bewusst, denn je weiter ich ging, desto dunkler wurde es.
Insgesamt war ich ungefähr zehn Minuten unterwegs, bis ich an einen seichten, aber breiten Bach kam. Das Bett des Gewässers war mit hellen Kieseln bedeckt. Ohne auf das eiskalte Wasser oder die spitzen Steinchen, die ich selbst durch die dünne Sohle meiner Turnschuhe spüren konnte, zu achten, durchquerte ich den Bach und erreichte das andere Ufer mit nassen Hosen. Egal, ich lief gleich wieder weiter.
Sehr weit musste ich ja nicht mehr, wie es sich herausstellte, denn schon hinter einer Reihe niedriger Büsche, hörte ich ein lautes Rascheln.
Meine Schritte verlangsamten sich wie von selbst, und ich nahm Alex‘ Geruch stärker wahr, als gerade eben noch.
Tatsächlich saß er auf einem umgefallenen Baumstamm und warf immer wieder größere, oder auch kleinere Äste gegen den nächsten Baum. Sein Gesicht konnte ich von meinem Standort aus nicht sehen, aber ich sah, dass er am ganzen Körper zitterte – ob aus Angst oder aus Kälte wusste ich allerdings nicht.
„Alex?“ Ich sprach laut und deutlich, um ihn nicht unnötig zu erschrecken und trat dann aus meiner Deckung. Trotz meiner Vorkehrung, zuckte er leicht zusammen und drehte sich dann halb zu mir um.
„Mars? Bist du das?“
Zuerst kapierte ich nicht, was das sollte, so dunkel war es doch noch gar nicht! Dann wurde mir langsam aber klar, dass nur ich das so empfand, denn ich konnte ja immerhin besser sehen als ein normaler Mensch.
„Ja, ich bins.“ Ich setzte mich neben ihn – in einigem Abstand – und schaute zu Boden.
„Was ist da gerade passiert? Ich verstehe das nicht! Ich habe so etwas noch nie gesehen! Nie!“ Er fuchtelte wie wild geworden mit den Händen in der Luft herum.
„Du würdest es nicht verstehen, wenn ich es dir erklären würde.“ Jetzt erst wurde mir klar, dass Alex so kurz davor stand, mein Geheimnis zu lüften.
„Ich habe Zeit! Was hast du jetzt eigentlich mit diesem Monster gemacht? Hast du es erschossen?“ Die Worte sprudelten geradezu aus Alex heraus. Er hatte echt Angst!
„Nein, sie lebt noch. Ich habe sie an einem Baum gefesselt…“
„Was?!“ Alex‘ Mund klappte auf, wie eine ausgeleierte Schublade. „Du hast es nicht getötet?!“
Ich schüttelte den Kopf, bis mir wieder einfiel, dass er das ja gar nicht sehen konnte. „Ja, genau. Ich brauche sie noch.“
Ein ungläubiges Schnauben war zu hören. „Hast du eigentlich noch alle Tassen im Schrank, Mars?“ Wieder wedelte er mit den Händen vor seinem Gesicht herum. „Das ist eine verdammte Bestie und du hängst es an einem dämlichen Baum fest, statt dass du es gleich erschießt – weil du es noch brauchst??“ Ich konnte Alex‘ Gehirn schon fast arbeiten hören – oder auch durchbrennen.
„Ja, genau. Aber ich kann dir nicht erklären, warum.“
„Das wirst du jetzt wohl oder übel müssen, denn ich werde dich bestimmt nicht in Ruhe lassen, bis du mir die Wahrheit gesagt hast!“ Jetzt war ich es, der verdutzt der Mund aufklappte. Ich glaubte ihm seine Worte sofort, denn ich wusste, wie hartnäckig er sein konnte, wenn er wollte.
„Was glaubst du denn, dass passiert ist?“ fragte ich vorsichtig nach.
„Also ich glaube, dass wir gerade von einem überdimensionalen Wolf angegriffen worden sind, dem du aber aus irgendeinem Grund nichts tun willst, weil…. Keine Ahnung warum!“ Seine Stimme war schon richtig hysterisch und viel höher als gewöhnlich.
Ich schloss die Augen, um ihn nicht mehr ansehen zu müssen, holte noch einmal tief Luft und fing dann an zu erzählen. Diesmal erzählte ich die ganze Geschichte – die ganze Wahrheit.
Ich fing an dem Tag an, an dem ich Duncan zum ersten Mal begegnet war und ließ nicht die kleinste Kleinigkeit aus. Ich würde nicht noch einmal lügen, nur weil die Vergangenheit nicht die war, die sie hätte sein sollen!
Die ganze Zeit über spürte ich Alex‘ Blick auf meinem Gesicht, aber ich blickte nicht zu ihm auf. Ich wollte ihm nicht in die Augen sehen, während ich erzählte, dass ich ihn schon einmal angelogen hatte.
So verging die Zeit. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir so nebeneinander saßen. Nur manchmal hielt ich inne um in mich hinein zu horchen, aber nie unterbrach er mich oder machte irgendeine Bemerkung zu dem, was ich gerade sagte.
Auf der einen Seite machte mir das ganz schön Angst, denn ich befürchtete schon, dass er einfach davonlaufen würde, je weiter ich erzählte. Andererseits konnte es aber auch bedeuten, dass es ihm nichts ausmachte – was ich schon alles durchlebt hatte.
Vielleicht konnte er ja ignorieren, dass ich genauso sein konnte wie Ann – ein riesiger Wolf. Zwar war ich deshalb noch lange nicht böse, aber vielleicht kapierte Alex ja diesen entscheidenden Unterschied zwischen mir und Duncans Schwester nicht.
Ein merkwürdiges Kribbeln stieg immer wieder in meinem Magen auf, nur um dann ein paar Minuten anzuhalten, zu verschwinden und wenig später wieder von neuem zu beginnen. Trotzdem sprach ich immer und immer weiter.
Irgendwann, konnte selbst ich nichts mehr sehen, aber das war mir egal, immerhin hatte ich immer noch mein scharfes Gehör.
Es musste weit nach Mitternacht sein, als ich mit, „ Das ist die ganze Geschichte“, endete und anfing, nervös auf meiner Unterlippe herum zu kauen.
Alex musste alles wahrscheinlich erst einmal verarbeiten, und die Zeit wollte ich ihm auch lassen, aber ich konnte ihn doch nicht einfach mitten in der Nacht im Wald allein lassen!
„Das bedeutet also kurz gesagt, dass du so eine Art Werwol..“
„Nein! Nicht Werwolf! Gestaltwandler!“ warf ich ein. Werwolf war ja noch mehr Monster!
„Oh, okay. Gestaltwandler also. Kannst du das wirklich? Ich meine, kannst du dich wirklich verwandeln?“ Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
„Ich könnte es vermutlich, aber ich weiß nicht wie. Duncan hatte keine Zeit mehr bevor… Es hat mir niemand beigebracht.“
„Du hättest mir gleich die Wahrheit erzählen sollen, nicht erst jetzt wo du es musst.“
„Ich dachte es wäre besser, wenn du es nicht weist. Ich wollte dich doch nicht noch mehr in Gefahr bringen, als du sowieso schon bist.“
Von Alex war ein abfälliges Schnaufen zu hören.
„Es tut mir leid. Ich wollte dir wirklich nichts böses, das weißt du doch!“
Er murrte zwar ein wenig, stimmte mir dann aber doch zu.
„Ich weiß nicht, ob ich dir noch so sehr vertrauen kann, wie vorher“, meinte er und fuhr sich mit der Hand durchs Haar – das glaubte ich wenigstens.
„Verständlich.“
Ich hörte, wie Alex aufstand und sein Gewand zu recht zog. Im nächsten Moment packte er mich auch schon am Handgelenk und zog mich mit einem Ruck auf die Beine. Verdutzt stand ich einen Augenblick lang neben ihm.
„Lass uns schlafen, ich bin hundemüde!“ meinte er einige Zeit später. Immer noch hatte er sich nicht bewegt – ich genauso wenig. Auch ich war müde und wollte nur noch schlafen, also beschloss ich, dass es das Beste wäre, gleich an Ort und Stelle zu übernachten.
Da Alex anscheinend keine Einwände hatte, suchten wir uns ein geschütztes Plätzchen unter einem halb umgekippten Baum und rollten uns dort nebeneinander zusammen. Dass diese Nacht nicht mehr lange dauern würde, kam mir in diesem Fall eindeutig zugute, denn ich wusste jetzt schon, dass es sehr kalt werden würde.


Ein Geständnis



Etwas Warmes lag auf meinem Arm und schüttelte mich. Langsam und widerwillig öffnete ich meine Augen und blinzelte den Schlaf weg.
Früh konnte es noch nichts ein – allerhöchstens sechs Uhr. Wie ich darauf kam? Naja, es war gerade hell genug, dass ich erkennen konnte, dass Alex neben mir kniete und sich über mich gebeugt hatte – und mich wie ein Dummer schüttelte.
„Was?“ murrte ich und wollte mich auf die Seite drehen. Mir war zwar kalt, aber ich war einfach nur müde und das machte mich wahnsinnig.
„Wach schon auf Mars! Ich hab da hinten etwas gehört!“ Seine Stimme klang alarmiert.
Wie auf einen Schlag war ich hellwach. „Was hast du gehört?“ Ich richtete mich auf – vielleicht etwas zu schnell. Mein Kopf schwirrte, aber ich ignorierte es kurzerhand.
„Ich weiß nicht.“ Nervös warf er einen Blick über seine Schulter, nur um mich dann wieder anzusehen.
Okay, entweder bildete er es sich einfach nur ein, oder ich hatte dieses Geräusch, was auch immer es war, verschlafen.
„Wo?“ hakte ich nach, während ich auf die Beine kam – und mir prompt den Kopf an einem tiefhängenden Ast anschlug. „Autsch!“
„Hast du dir wehgetan?“ Auch Alex stand inzwischen und streckte seine Hände nach mir auf. Aber ich hatte mir nur den Kopf gestoßen und nicht ein Bein abgesägt, also wich ich ihm aus.
„Wo, Alex!“ Langsam aber sicher wurde ich ungeduldig! Da weckte er mich einfach so, obwohl ich dringend noch etwas Schlaf gebrauchen könnte, und dann macht er sich Sorgen um meinen Kopf, anstatt mir zu sagen, was genau los war.
Mit weit aufgerissenen Augen zeigte er hinter sich, wobei er sich halb umdrehte. „Da hinten bei den Büschen.“
Ich schob mich wortlos an ihm vorbei. Hören konnte ich schon einmal gar nichts – überhaupt nichts!
Bei jedem meiner Schritte achtete ich auf den Boden, um nicht selbst irgendein Geräusch zu verursachen, das mich verraten könnte – an wen auch immer.
Die Büsche, wie Alex das Dornengestrüpp genannt hatte, waren komplett blattlos und boten so keine Deckung – für nichts und niemanden. Dort konnte sich nicht einmal ein Eichhörnchen verkriechen, geschweige denn etwas Größeres.
Verwirrt drehte ich mich zu Alex auf und entspannte mich ein wenig. „Hier ist nichts!“
Mit ein paar langen Schritten war er neben mir. „Ich schwöre dir, dass hier hinten etwas war! Es hat sich angehört als würde ein Elefant durchs Unterholz laufen!“ Er kniff die Augen zusammen und spähte in das Dämmerlicht unter dem Bäumen.
Mein Herz beschleunigte automatisch. „Wie lange hast du es gehört?“
Ich witterte prüfend und eine winzige Fährte stieg mir in die Nase. Meine Nackenhaare richteten sich auf und mir wurde schlagartig kalt.
„Nicht sehr lange, es hat gerade angefangen und dann war’s auch schon wieder vorbei. Vielleicht war es ja ein Bär oder ein Hirsch.“
„Nein, war es nicht!“ Ohne ein weiteres Wort rannte ich los. Ich schoss an dem verdutzten Alex vorbei, hob im Lauf den Bogen vom Boden, wich dem Baum aus, unter dem ich geschlafen hatte und preschte los. Selbst wenn Alex sich angestrengt hätte, hätte er mich jetzt nicht einholen können – nicht bei diesem Tempo. Weit hinter mir hörte ich seine Schritte auf dem Waldboden, aber er entfernte sich immer weiter.
Ich musste nicht sehr lange laufen. Nicht einmal einen halben Kilometer entfernt fand ich den Baum vor, an dem ich Ann festgebunden hatte – und zwar nur den Baum!
Der Gurt war ausgefranst und baumelte leblos am Stamm hinunter. Mir stockte der Atem. Sie hatte sich wirklich befreien können! Wie konnte ich nur so dumm sein! Ich schlug mir gegen die Stirn.
„Dumm, dumm, dumm, dumm!“, knurrte ich und hämmerte weiter auf meinen Schädel ein. Hastige, laute Schritte näherten sich mir von hinten – Alex. Ich ignorierte seinen fragenden Blick weitgehend und hörte auf mir den Kopf zertrümmern zu wollen.
„Sie ist weg“, flüsterte ich und machte ein paar Schritte auf den Baum zu.
„Ich dachte, du hättest sie festgebunden?!“ Alex hörte sich verschreckt an – verständlicherweise.
Ich ging vor dem Stamm leicht in die Knie und nahm den drehte den zerfetzten Gurt zwischen Zeigefinger und Daumen. „Hab ich auch, aber das hat anscheinend nicht gereicht.“ Ich zeigte ihm das Ende, das ich gerade in der Hand hatte. „Sie hat sich einfach losgerissen.“
„Mein Gott!“ Er presste sich die Hände gegen die Schläfen und fing an sich zu drehen. „Wie können wir sie stoppen?!“
Wieder blendete ich ihn aus – so gut das bei seinem Gebrabbel überhaupt ging. Stattdessen wandte ich meine Aufmerksamkeit dem Rucksack zu, der immer noch am Boden lag – an genau der Stelle, an der Alex ihn liegen lassen hatte. Er war unberührt, geschlossen und es sah nicht aus, als hätte sie sich daran zu schaffen gemacht.
Daraus ließ sich nur ein logischer Schluss ziehen: Ann war in Panik davongerannt. Sie hatte weder darauf geachtet, wohin sie lief, noch auf ihre Umgebung, denn sonst hätte sie sich den Rucksack unter den Nagelreißen oder mich und Alex im Schlaf töten können.
„Wir können sie nicht verfolgen, sie ist viel schneller als wir.“ Eigentlich redete ich eher mit mir selbst, aber Alex stand hinter mir und hörte alles mit.
„Aber was machen wir jetzt? Sie wird doch bestimmt wiederkommen und dich töten wollen!“
„Jaa, wahrscheinlich. Aber wir werden darauf gefasst sein!“ Ich stand wieder auf und drehte mich zu ihm um. „In der Zwischenzeit suchen wir nach diesem Berg..“
Alex runzelte die Stirn. „Wovon redest du?“
Wieder klatschte ich mir die Hand ins Gesicht – keine Ahnung warum eigentlich. Ich hatte ihm, bei all dem, was ich ihm erzählt hatte, nicht gesagt, dass ich Duncan zurückholen konnte.
„Ähm, vertrau mir einfach.“ Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare. „Bitte“, fügte ich hastig hinzu, als ich seinen Blick sah.
„Nein, diesmal erzählst du mir alles – und zwar sofort!“ Alex‘ Stimme war fordernd. Er baute sich vor mir zu seiner vollen Größe auf und schaute auf mich herab.
„Also gut.“ Ich setzte mich auf einen trockenen Flecken Erde, klopfte neben mich auf den Boden und wartete, bis Alex sich zu mir gesetzt hatte, dann erzählte ich ihm auch noch dieses winzige Detail – so ausführlich ich konnte.
„Und du glaubst das? Ganz ehrlich?!“ Alex hob skeptisch eine Augenbraue und schaute auf mich herab – ja er war selbst jetzt, wo wir nebeneinander saßen noch viel größer als ich!
„Nein.“ Ich wandte meinen Blick von ihm ab und starrte in den Wald hinein. „Aber ich hoffe es. Ich bete dafür.“
Fast fühlte es sich so an, als käme aus Alex‘ Richtung eine Woge der Enttäuschung. Warum wusste ich nicht, aber ich hatte jetzt auch nicht die Nerven ihn danach zu fragen.
„Dann willst du also diesen… Berg suchen. Verstehe ich dich da richtig?“ Er zog seine Beine enger an seinen Körper und legte seine Ellbogen auf seine Knie.
„Ja, genau so ist es.“ Ich schaute wieder ihn an. „Und eigentlich hatte ich gehofft, dass du mir dabei hilfst.“ Erwartungsvoll blickte ich zu ihm auf. Ich wagte nicht einmal zu blinzeln, aus Angst, es könnte seine Entscheidung beeinflussen.
Alex schloss die Augen. Man merkte ihm ganz deutlich an, dass er sich mit jeder Faser seines Körpers dagegen sträubte, mir dabei zu helfen – aus welchem Grund auch immer. Auf der anderen Seite verspürte selbst ich, die nur neben ihm saß, seinen Drang einfach mit mir zu kommen und mich begleiten, egal wohin ich auch ging.
„Du musst es nicht tun, wenn du nicht willst“, sagte ich gegen meinen Willen. Allein der Ausdruck auf Alex‘ Gesicht hatte meine Worte hervorgerufen, ganz ohne mein Zutun.
Er war, sprichwörtlich, hin und her gerissen. Als würde ihn jemand an seinen Haaren zerren, warf er seinen Kopf ein paar Mal zu allen Seiten, bis er ihn schließlich hängen ließ.
„Ich… begleite dich“, presste er hervor. Man merkte ihm an, dass er seine Worte schon jetzt bereute.
Rein aus Reflex fiel ich ihm um den Hals und ignorierte dabei einfach, dass er steif war wie ein Brett. Da er aber nicht auf meine Freude gefasst war, kippte er hinten über und ich mit ihm.
So schnell ich konnte, rappelte ich mich wieder auf. Das war mir dann doch viel u viel Körperkontakt!
„Sorry!“ Ich steckte mir eine Haarsträhne hinters Ohr und bot ihm meine Hand an, um ihm wieder aufzuhelfen. Anstatt aber zuzugreifen, setzte er sich selbst wieder auf.
Mir klappte verblüfft der Mund auf. Was war denn jetzt los? So war Alex doch sonst nicht!
Normalerweise war er es, der den Kontakt zu mir suchte, nicht mich wegstieß!
Ein Zittern ging durch meinen Körper, doch ich versuchte es so gut es ging zu unterdrücken, schließlich wollte ich nicht, dass er meine plötzliche Unsicherheit mitbekam.
Ein dumpfes Knurren ertönte, aber es klang in keiner Weise gefährlich – denn es kam aus meiner Magengegend!
Wie lange hatte ich jetzt schon nichts mehr gegessen? Zu lange auf jeden Fall, denn erst jetzt bemerkte ich, wie hungrig ich eigentlich war. Trotzdem blieb ich so ruhig wie möglich sitzen und tat gar nichts – naja fast!
„Ähm, du kommst doch aus dieser Gegend hier – oder zumindest ungefähr. Kennst du denn einen Berg, der aussieht wie eine Krone?“
Alex runzelte nachdenklich die Stirn und kratzte sich am Kopf. „Naja, es gibt da schon einen der etwas Ähnlichkeit haben könnte…“
„In welche Richtung?“ Klar, die Frage war dumm, denn er würde ja selbst nicht so genau wissen, wo wir gerade waren.
Alex hob die Schultern. „Keine Ahnung. Wir müssten auf einen höher gelegenen Punkt, damit ich mich orientieren kann..“
Ich nickte. Wäre sonst ja auch zu einfach gewesen. „Okay, also ich schlage vor wir suchen uns zuerst was zu essen, dann klettern wir irgendeinen Berg rauf und sehen, ob du dich auskennst, einverstanden?“ Meine Stimme zitterte leicht, denn ich hatte immer noch nicht Alex‘ Reaktion vergessen, als ich ihn gefragt hatte, ob er mit mir kommen wollte.
„Jaja, alles klar.“ Damit stand er auf und begann, Zweige und kleine Äste aufzusammeln. Wahrscheinlich wollte er mir damit klar machen, dass ich mich um die Nahrung kümmern musste, er würde ein Feuer machen.
Schweigend ging ich an ihm vorbei in den Wald hinein. Kurz nachdem ich die Lichtung verlassen hatte, hörte ich ihn auch schon leise vor sich hin fluchen…

Vier Stunden später kämpfte ich mich einen steilen, steinigen Hang hinauf. Die Wolkendecke war Großteils aufgerissen und ein strahlend blauer Himmel leuchtete über mir. Alex arbeitete ein Stück hinter mir den Berg hinauf.
Es hatte nicht sehr lange gedauert, bis ich heute ein geeignetes Beutetier gefunden hatte – nur eine halbe Stunde. Der Hase war schon verletzt und hatte gar keine Chance mehr.
Als ich zu Alex zurückkam, hatte er wirklich schon ein gutes Feuer entzündet und gemeinsam bereiteten wir den Hasen zu und verspeisten ihn anschließend auch.
Gut, dass wir das getan hatten, denn wir konnten jetzt alle Energie brauchen.
Ich hatte ja gewusst, dass eine Klettertour anstrengend war, aber doch nicht so anstrengend! Schon lange hatte ich es aufgegeben nach oben zu sehen. Ich wollte lieber gar nicht wissen, wie weit wir es noch hatten.
Stattdessen konzentrierte ich mich nur auf den Hang vor mir, suchte nach passenden Tritten und Griffen, um nicht auf ein paar lose Steine zu treten und hinzufallen.
Schon zweimal hatten wir angehalten und eine kleine Pause eingelegt, vor allem, weil Alex hinter mir so stark geschnauft hatte – er trug ja auch noch den Rucksack - , dass ich befürchtete, er könnte zusammenbrechen.
Auch jetzt konnte ich seinen Atem klar und deutlich hinter mir hören, aber diesmal war ich mir sicher, dass es ihm relativ gut ging – das hoffte ich wenigstens.
Nicht einmal drehte ich mich um, um nach ihm zu sehen, denn immerhin schien er irgendetwas auf dem Herzen zu haben, was er mir aber nicht sagen wollte. Ich war trotzdem entschlossen, ihn danach zu fragen, sobald sich die Gelegenheit dazu bot.
Ab da verging die Zeit gleich viel schneller –aus welchem Grund auch immer. Vielleicht kam es daher, dass sich der Hang allmählich abflachte und in ein Hochplateau überging.
Völlig außer Atem stützte ich mich an einem riesigen Felsbrocken ab und schnappte nach Luft. Ausdauer hatte ich, das war ja wohl klar, aber es reichte eindeutig nicht für diesen anstrengenden Trip. Langsam drehte ich mich zu Alex um. Er befand sich ungefähr fünf Meter weiter unten, gegen einen Baumstamm gelehnt und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Alles okay bei dir?“ Ich richtete mich wieder auf und musterte ihn von oben bis unten.
Er nickte einfach nur stumm und stieg dann die letzten Meter zu mir hinauf.
„Ich denke wir sind jetzt hoch genug. Und außerdem sind die Wolken so gut wie weg – ich kann weit sehen.“ Er hielt sich eine Hand über die Augen, damit er nicht geblendet wurde. Lange stand er so da und drehte sich von einer Seite zu anderen und dann wieder zurück. Immer und immer wieder.
Ich machte mir erst gar nicht die Mühe, denn für Berge und Gipfel hatte ich keinen Sinn. Es war einfach so, dass für mich jede Felsspitze gleich aussah, wie die nächste.
Minuten später richtete Alex seine Aufmerksamkeit auf mich. „Ich weiß jetzt wo wir hin müssen.“ Langsam hob er den Arm und deutete Richtung Osten. Dort erhob sich ein Berg, nicht anders als jeder andere. Je höher mein Blick aber wanderte, desto klarer wurde mir, dass der Gipfel tatsächlich aussah wie ein Krone – mit etwas Fantasie.
„Gut, wie lange denkst du, werden wir brauchen, bis wir dort sind?“
„Ich würde sagen zwei Tage, wenn überhaupt. Wenn wir uns wirklich beeilen und diese Nacht durchgehen, könnten wir schon morgen da sein.“
Mein Herz begann zu rasen. Nur noch diese Nacht?! Dann könnte ich Duncan wiedersehen?! So schnell schon!
„Und dann musst du diesen…Ring spalten oder hab ich da was falsch verstanden?“ Alex warf einen skeptischen Blick auf meine Hand.
„Ja, genau.“ Auch ich starrte jetzt auf den zierlichen, bronzenen Ring an meinem Finger. Wie konnte es sein, dass dieses kleine Ding Duncan wiederbeleben konnte? Ich konnte es mir beim besten Willen nicht vorstellen – zumindest nicht richtig.
„Gut, dann sollten wir uns wohl auf den Weg machen.“ Ohne ein weiteres Wort begann Alex wieder mit dem Abstieg und ließ mich in der steinigen Einöde allein zurück. Okay, ich vertrug so einiges. Man konnte mich beschimpfen, schlagen oder hassen, aber wenn man mich einfach stehen ließ, ohne mir einen vernünftigen Grund zu nennen, konnte ich ganz leicht an die Decke gehen!
„Alex!“ Ich rief ihm hinterher, aber er fand es nicht einmal für nötig, sich zu mir umzudrehen.
„Hey! Bleib sofort stehen!“ Meine Stimme ging schon fast in ein Knurren über. Auch Alex schien das zu bemerken, denn er blieb wie angewurzelt stehen.
Hastig stieg ich über ein paar wacklige Steine zu ihm hinab und baute mich vor ihm zu meiner vollen Größe auf.
„Was ist verdammt nochmal dein Problem?!“ fuhr ich ihn an. Es war mir egal, dass ich schon fast brüllte.
„Was meinst du?“ Er zog gekonnt eine Augenbraue hoch und sah mich an, als wäre er die Unschuld in Person.
„Seit ich dich gefragt habe, ob du mit mir kommen willst bist du so komisch drauf!“
„Oh, nein! Bin ich nicht!“ Auch er sprach jetzt eindeutig lauter. Trotzdem lag keine Wut in seinem Gesicht – nur Angst und Schmerz.
„Sicher! Und ich bin der Osterhase!“ Ich knirschte genervt mit den Zähnen. „Sag mir gefälligst, wenn dir etwas nicht passt!“ Ich versuchte mich so gut es ging unter Kontrolle zu halten, aber es viel mir sehr schwer.
„Nein!“ Es war nur ein Wort, aber es hallte viel stärker wider, als alle anderen zuvor. Ich war wie erstarrt.
Was sollte das? Ich verstand die Welt nicht mehr!
Alex drehte sich um und kletterte weiter hinunter. Ich brauchte eine Weile bis ich mich wieder gefangen hatte, dann folgte ich ihm. Da er ja den schweren Rucksack schleppte, holte ich schnell zu ihm auf und wir arbeiteten uns, Schulter an Schulter, bergab.
„Tut mir leid, dass ich dich angebrüllt hab“, murmelte ich nach einiger Zeit. Es war die Wahrheit, auch wenn ich seine Reaktion nicht ganz verstehen konnte. Immerhin war es doch irgendwie seine Schuld gewesen!
„Aha…“ Unbeirrt kletterte er weiter und wollte gerade einen Schritt hinab machen, als ich mit einer Hand seinen Unterarm umklammerte.
„Warum machst du das?“ Ich drückte so fest zusammen, dass meine Finger komplett weiß wurden.
Alex versuchte mich abzuschütteln, doch als er merkte, dass das diesmal nicht so einfach ging, ließ er es bleiben.
„Ich glaube ich verstehe nicht ganz, was du eigentlich gerade von mir willst.“ Er warf mir einen schmerzerfüllten Blick zu und klammerte sich an einer dicken Wurzel fest, die direkt vor seinem Gesicht aus dem felsigen Boden wucherte.
„Ach ja?! Und ICH glaube, dass du sehr wohl weißt, von was ich rede. Und dass du es mir einfach nicht sagen willst, weil du ein verdammter Sturkopf bist!!! Also entweder erzählst du mir jetzt auf der Stelle was in deinem kranken Hirn los ist, oder ich klammere mich weiter an deinem Arm fest bis er blau wird und abfällt!“ Ich kniff die Augen zusammen und schob trotzig mein Kinn vor.
Langsam ging mir diese Scheiße auf die Nerven. Ich hatte anscheinend irgendeinen Fehler gemacht, aber er wollte mir nicht sagen was! Stattdessen spielte er hier Theater und zerrte so dermaßen an meiner Geduld, dass ich jeden Moment durchdrehen könnte!
„Lass uns einfach zu diesem Berg gehen, damit du deinen Duncan wieder kriegst.“ Duncans Namen sprach er schon fast so aus, als wäre allein dessen Klang tödlich.
Und ab da glaubte ich die Antwort zu kennen.
„Du bist doch wohl nicht eifersüchtig, oder?“ Ich ließ seinen Arm los und schaute zu ihm hinauf.
Kurz blitzte etwas in seinen Augen auf, dann starrte er zu Boden.
Ich starrte ihn mit offenem Mund an.
„Ja, okay? Du hast recht, bist du zufrieden?“ Alex ließ den Rucksack zu Boden fallen und beachtete mich nicht weiter. Es sah so aus, als würde er mit seinen Füßen sprechen.
Na toll. Wäre ja wohl auch zu schön gewesen, wenn ich einmal NICHT die Arschkarte gezogen hätte. Aber eigentlich hatte Alex gar kein Recht eifersüchtig zu sein – und schon gar keinen Grund.
Ich war weder sein Besitz, noch mit ihm zusammen, noch sonst irgendwas. Warum benahm er sich dann aber so, als würde ich für immer verschwinden, sobald ich Duncan wiederhatte?
Naja, vielleicht hatte er da ja gar nicht so unrecht. Vielleicht würde ich einfach gehen, aber ich würde ihn doch nicht vergessen! Alex war etwas wie ein bester Freund für mich geworden, auch wenn diese Freundschaft zurzeit mehr zweckmäßig war, als irgendetwas sonst. Trotzdem!
Ich war nicht jemand, der einfach seine Freunde vergaß!
„Warum?“ Meine Stimme war taub und tonlos, als ich diese kurze Frage stellte.
„Weil…“ Alex schüttelte den Kopf und presste sich die Hände gegen die Schläfen. Seine Augen waren geschlossen, aber ich konnte deutlich sehen, wie er mit sich rang.
„Was? Das hat keinen Sinn!“ Ich stemmte meine Hände in die Hüften und musterte ihn. Aber ich bekam keine Antwort. Alex verzog nur das Gesicht und hob dann den Rucksack wieder vom Boden – immer noch ohne mich anzusehen.
„Weil ich dich lieber habe, als ich sollte.“
Mir blieb die Spucke weg – wortwörtlich! Ich hatte mit wirklich allem gerechnet, aber doch nicht damit!
Bevor ich auch nur einen Ton hervorbringen konnte, schluckte ich gefühlte zehnmal. Was für eine verdammte Kacke!
„Alex…“ Ich wusste einfach nicht was ich sagen sollte. Geschockt stützte ich mich an einem hüfthohen Stein ab und rang nach Atem – das strengte mich sogar noch mehr an, als der gesamte Aufstieg.
„Ich weiß, dass du nicht das gleiche empfindest – ganz und gar nicht! Du liebst diesen Duncan…“ Alex sah so unsagbar traurig aus, dass es mir schon fast wehtat, aber ich konnte ihm nicht helfen. Ich würde ihm nie helfen können.
„Ja, aber das heißt doch nicht, dass ich dich nicht gerne habe!“ versuchte ich zu retten, was zu retten war, aber es war schwerer, als ich es mir je hätte vorstellen können.
„Und was, wenn ‚gerne haben‘ nicht reicht?“ Er drehte mir den Rücken zu. Seine Frage stand wie ein Echo zwischen uns. Ich war unfähig mich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Sogar das atmen fiel mir schwer.
„Es…muss reichen.“ Meine Augen brannten von den Tränen, die in ihnen aufstiegen.
Alex Schultern zitterten kurz, dann schüttelte er den Kopf. „Ja, sieht wohl ganz so aus.“
Langsam drehte er sich zu mir um. Sein Gesicht war zu einer schmerzerfüllten Grimasse geworden – zwischen Trauer, Wut und Angst. „Und das ist schade.“
„Kannst du es denn überhaupt nicht verstehen?“ Ich klammerte mich an dem Felsen fest, als wäre er meine letzte Rettung – vielleicht war er das sogar.
Alex atmete tief ein. „Natürlich. Es ist das normalste auf der Welt…“ Sein Blick war stumpf auf mich gerichtet.
„Wir können doch trotzdem Freunde sein, oder?“ Pure Verzweiflung schwang in meiner Stimme mit. Irgendwie hatte ich wohl immer geahnt, dass so etwas einmal passieren würde, tief in mir drinnen. Aber ich hatte immer gehofft, dass es nicht wahr werden würde, dass mich mein Gefühl betrog.
„Freunde….“ Wieder schloss er die Augen. Sekunden verstrichen. Ich hielt den Atem an.
„Ja, Freunde. Alex, bitte!“ Eine einzelne Träne rann mir über die Wange, aber ich wischte sie weg, bevor Alex sie bemerken konnte.
„Besser als nichts, oder?“ Er sah mich an und sein Mund formte tatsächlich ein kleines Lächeln. Mein Herz machte einen Hüpfer und beruhigte sich dann langsam wieder.
„Heißt das ja?“
„Ja.“
Freudig warf ich mich ihm um den Hals, und vergaß dabei fast, dass diese Geste für ihn etwas anderes bedeutete, als für mich. Vorsichtig erwiderte er meine Umarmung, bis ich mich wieder losmachte.
„Dann ist jetzt alles geklärt?“ Ich stand einen halben Meter vor ihm und beobachtete ihn noch einmal genau, aber er schien sich wieder eingekriegt zu haben.
„Jap, lass uns gehen, sonst kommen wir nicht einmal von diesem Berg runter bis es dunkel wird.“
Und so machten wir uns auf den Weg nach unten. Es stellte sich bald heraus, dass der Abstieg noch schwieriger war als der Aufstieg, denn man musste jeden Schritt dreimal überprüfen um nicht mitsamt einer kleinen Steinlawine ins Rutschen zu kommen.
Erst am späten Nachmittag erreichten wir, völlig außer Atem, den Fuß des Hangs. Eigentlich hätte ich eine kleine Pause ja sehr willkommen geheißen, aber Alex meinte, es wäre besser an einem Bach, oder etwas ähnlichem, Halt zu machen. Dort könnten wir dann auch gleich unseren Durst stillen.
Es dauerte relativ lange, bis wir ein passendes Gewässer gefunden hatten. Die Sonne berührte bereits die Spitzen der Bäume im Westen, aber noch war es nicht dunkel.
„Ich denke wir sollten heute Nacht durchlaufen und morgen Vormittag eine Pause einlegen, was hältst du davon?“
Ich ließ meine nackten Füße in das kalte Wasser baumeln. Ein leichtes Stechen ging von meinen Zehen aus, aber noch war es erträglich. Alex, der gerade einen Schluck Wasser aus seinen Händen nahm, zuckte gleichgültig mit den Schultern.
„Wenn du nicht vorher schlapp machst, gerne.“ Spöttisch grinste er mich an, aber ich wusste, dass er es nicht böse meinte – er wollte mich nur etwas ärgern.
„Wir werden sehen, wer durchhält und wer nicht.“ Jetzt zog ich meine Füße aus dem eisigen Bach und schlüpfte wieder in meine Socken und Schuhe.
Alex hatte den Rucksack neben sich auf die schmale Sandbank abgestellt und war direkt am Wasserrand in die Knie gegangen, um besser Wasser aufnehmen zu können. Ich saß auf der anderen Seite des Baches und behielt die Umgebung im Auge. Von Zeit zu Zeit sog ich prüfend die Luft ein, konnte aber nichts Beunruhigendes feststellen.
Nachdem wir eine gute halbe Stunde ausgeruht hatten, machten wir uns wieder auf den Weg. Nur gut, dass sich Alex eine kleine ‚Wegmarkierung‘ gebastelt hatte, indem er einfach einen Zweig zugespitzt und dann die Spitze in die Richtung gedreht hatte, in die wir weiterwandern mussten, denn allmählich zog der Himmel wieder zu.
Unter den rosa und orange verfärbten Wolken erreichten wir etwa eine Stunde später das Ufer eines Sees. Glatt und ruhig lag die Wasseroberfläche vor uns und versperrte uns, mehr oder weniger, den Weg. Es gab nur eine Möglichkeit: wir mussten ganz außen rundherum laufen, und das konnte bei der Größe des Sees und den vielen Buchten die er hatte, schon etwas länger dauern.


Der Fluss



Meine Augen brannten vor Müdigkeit. Seit Stunden kämpfte ich mich jetzt schon durch das dichte Gestrüpp. Immer wieder musste ich anhalten und nach Alex tasten, immerhin war er nicht mit so empfindlichen Augen ausgestattet wie ich. Irgendwann beschloss ich, ihn gleich an die Hand zu nehmen – wie ein kleines Kind.
Wie lange wir jetzt schon genau unterwegs waren wusste ich gar nicht mehr, aber was ich wusste war, dass wir vor ungefähr zehn Minuten in dieses dämliche Dickicht geraten waren. Seitdem zerkratzten uns die spitzen, dürren Zweige die Wangen oder auch die Hände, wenn wir sie uns schützend vors Gesicht hielten.
Selbst ich, mit meinen guten Augen, musste extrem aufpassen, um nicht gegen irgendeinen Stamm zu knallen oder über eine Wurzel zu stolpern und so war es nicht verwunderlich, dass ich Alex mehr als dreimal auf die Beine ziehen musste, nachdem er hingefallen war. Dass er sich dabei die Hände aufgeschürft hatte, erwähnte er mit keinem Wort, aber ich roch das Blut, das durch die feinen Kratzer an die Oberfläche drang.
Merkwürdig, vielleicht wurde mein Geruchssinn noch ausgeprägter – möglich war es ja immerhin!
Endlich, nach viel zu langer Zeit, hörten die Bäume auf, wenn auch nicht ganz.
Wir befanden uns auf einer Wiese mit hohem Gras, auf der vereinzelt alte, knorrige Bäume wuchsen. Hinter mir hörte ich Alex schnaufen. Er war müde, genau wie ich. Nur ich ließ es mir nicht anmerken und zog ihn auch schon wieder hinter mir her.
Ein protestierendes Schnauben war zu hören, doch er folgte mir trotzdem widerstandslos.
„Alles okay bei dir?“ flüsterte ich und ging etwas langsamer, so dass er zu mir aufschließen konnte.
„Ja, alles klar. Bin nur etwas erschöpft, aber lass uns weitergehen.“
Ich nickte, dann fiel mir ein, dass er das nicht sehen konnte.
„Mars, wie kommt es eigentlich, dass du bei dieser Finsternis überhaupt etwas sehen kannst?“ Zur Unterstreichung seiner Worte drückte er meine Hand und machte mir so noch mehr klar, wie abhängig er gerade von mir und meinem Sehsinn war.
„Gestaltwandler“, sagte ich schlicht und konzentrierte mich wieder auf meine Schritte. Vielleicht glaubte er, dass es einfach sei hier in der Dunkelheit herumzulaufen, aber in Wahrheit war es einfach nur ermüdend und unglaublich anstrengend.
„Oh, aber ich dachte…“
„Dass ich nur in Wolfsgestalt die Sinne eines Wolfes habe?“ vollendete ich seinen Satz, „Nein, die habe ich immer.“
Von da an schwiegen wir wieder. Es war das erste und auch letzte Mal in dieser Nacht, dass wir miteinander sprachen.
Dass der Himmel im Osten allmählich immer heller wurde, fiel mir erst auf, als Alex mich darauf hinwies. Erleichtert atmete ich auf. Jetzt blieb mir nur noch zu hoffen, dass ich auch wirklich geradeaus gelaufen war und nicht im Kreis.
Aber die Chancen standen gut – sehr gut sogar – denn ich hatte immer darauf geachtet, die Richtung beizubehalten. Nun konnte ich mir auch ein Gähnen nicht mehr verkneifen.
Alex hinter mir lachte leise in sich hinein, doch ich beachtete ihn nicht weiter. Jetzt, wo es endlich anfing zu dämmern, konnte ich seine Hand wieder loslassen. Mir war sehr wohl klar, was er jetzt für ein enttäuschtes Gesicht machen würde, deshalb war ich dankbar, ihn in diesem Moment nicht ansehen zu müssen.
Eine weitere Stunde verging, dann war es bereits so hell, dass selbst Alex genug erkennen konnte, um nicht gegen jeden zweiten Baum zu laufen.
Schließlich gab ich es auf. Zwar hatte ich die Pause erst am Vormittag machen wollen, aber mein Körper war einfach fix und fertig. Außerdem fühlten sich meine Beine mittlerweile an, als bestünden sie aus massivem Blei.
„Alex?“ Ich drehte mich halb zu ihm um, um zu sehen, wo er steckte.
„Ja, was ist?“ Mit ein paar langen Schritten war er auch schon neben mir und schaute, mit zusammengekniffenen Augen, zu mir herab.
„Was sagst du dazu, wenn wir die Pause jetzt gleich machen? Ich kann einfach nicht mehr!“ Klar, ich hörte mich jetzt stark nach einem kleinen, sturköpfigen Mädchen an, dass einfach nicht mehr weiter wollte, aber in diesem Augenblick fühlte ich mich auch ein bisschen so.
„Ja klar hab ich nichts dagegen!“ Ihm war deutlich anzumerken, wie er sich über diesen Vorschlag freute. Seine Stimme klang sehr müde und ich wettete, dass er genauso erschöpft war wie ich.
Mit einem dumpfen Plumps landete der Rucksack auf dem Gras zu unseren Füßen. Bäume standen hier gar keine mehr, zumindest konnte ich keine sehen.
Ich legte mich an Ort und Stelle hin und rollte mich so klein wie möglich zusammen – wie ich es immer tat. Schon mehrmals hatte ich mich auf diese Art gewärmt, und wie man sehen konnte, lebte ich immer noch.
Alex neben mir tat es mir gleich. Anscheinend hatte er nicht einmal mehr Lust, die Decke auszupacken.


Ein nervtötendes Geräusch riss mich aus meinem, wohl verdienten, Schlaf. Nur äußerst widerwillig öffnete ich meine Augen und blinzelte gegen grelles Licht an. War es wirklich schon so spät?
Die Sonne stand zwar noch nicht genau über mir, aber lange würde es nicht mehr dauern. Sofort setzte ich mich auf. Das Zwitschern, das mich geweckt hatte, kam aus einem nahe gelegenem Baum – wahrscheinlich tobte sich zwischen den Ästen gerade ein Vogel aus.
Ich setzte mich auf und schaute mich um. Heute war ich es, die vor Alex aufgewacht war, nicht umgekehrt. So leise wie möglich stand ich auf und streckte mich ausgiebig. Inzwischen war ich es wirklich schon gewohnt im Dreck zu schlagen, obwohl es keinesfalls gemütlich oder gar bequem war.
Ich vertrat mir ein bisschen die Füße und versuchte gleichzeitig irgendeine Spur von Anns Geruch in der Luft auszumachen. Zufrieden und erleichtert stellte ich fest, dass sie nicht hier gewesen war.
Inzwischen regte sich auch Alex. Langsam und blinzelnd öffneten sich seine Augen und er gähnte herzhaft.
„Guten Morgen…oder Mittag. Oder wie auch immer.“ Ich ging neben ihm in die Hocke.
„Hi.“ Er drehte sich umständlich auf den Rücken und richtete sich dann langsam auf.
„Wie spät ist es denn?“ Er schaute sich nochmals gähnend um.
Ich runzelte bloß die Stirn. „Als ob ich wüsste, welche Uhrzeit wir grade haben.“
Mit diesen Worten stand ich auf und griff nach dem Rucksack, der neben Alex‘ Kopf im Gras lag.
„Ich weiß ja nicht wie lange du noch liegenbleiben willst, aber ich gehe jetzt auf jeden Fall weiter.“ Damit drehte ich mich um und ging grinsend davon. In Gedanken stoppte ich die Zeit, die Alex brauchte um aufzustehen und zu mir aufzuholen.
Nicht einmal eine Sekunde später hörte ich schon seine raschelnden Schritte hinter mir und dann brauchte es keine drei Sekunden mehr, bis er schon neben mir war und seine Hand nach dem Rucksack ausstreckte.
„Ich trag den schon, ist kein Problem.“ Ohne ihn anzusehen ging ich weiter und schlüpfte in die Trageriemen.
„Ist der nicht ein kleines Bisschen zu schwer für dich?“ Ich konnte mir seinen fragenden Gesichtsausdruck lebhaft vorstellen, was es überflüssig machte, dass ich ihn ansah.
„Ach was! Falls ich’s mir anders überlege, gebe ich ihn dir schon, keine Sorge!“ Schulterzuckend lief er weiter neben mir her.
Gott sei Dank war fürs erste kein Berg oder auch nur Hügel im Weg, der uns das Weiterkommen erschwerte. Trotzdem fragte ich mich von Zeit zu Zeit, ob ich nicht in der Nacht doch im Kreis gelaufen war.
„Hey, kannst du diesen Berg von hier aus sehen? Ich meine, wir laufen doch noch in die richtige Richtung, oder?“ Ich verlangsamte meine Schritte etwas und warf einen prüfenden Blick hinauf zu den kantigen Spitzen der Berge – keine Krone in Sicht!
Alex tat es mir gleich, doch anders als ich schien er ziemlich zufrieden zu sein. „Ja, alles in Ordnung. Du kannst den Berg gerade nur nicht sehen, weil die ‚Krone‘ von ein paar Wolken verdeckt wird.“
Ich atmete erleichtert auf. Unvorstellbar, wenn ich uns in die falsche Richtung gelotst hätte.
Schweigend liefen wir nebeneinander her – stundenlang. Beide fanden wir nicht die richtigen Worte, um ein anständiges Gespräch anzufangen, also ließen wir es lieber gleich bleiben.
Das einzige was ich während des gesamten Marsches hören konnte, waren unsere Schritte auf dem, manchmal trockenen, manchmal feuchten, Boden, Alex‘ Atem, der von Zeit zu Zeit an mein Ohr drang und ein gelegentliches, aber alles andere als beunruhigendes Rascheln im Unterholz.
Die Sonne hatte ihren Höhepunkt schon längst hinter sich gelassen, als wir vor einem Hindernis zum Stehen kamen.
Ein, mindestens dreißig Meter breiter, Fluss versperrte uns tosend und gefährlich den Weg. Der Anblick der Wassermassen, die sich ihren Weg durch das Flussbett bahnten, war zermürbend. Die Strömung war eindeutig zu stark, als dass wir ihn einfach hätten durchschwimmen können und weit und breit konnte ich keine Stelle entdecken, an der wir die eisigen Fluten trockenen Fußes überqueren konnten.
Was für ein Rückschlaf!
Ich presste mir eine Hand gegen die Augen und versuchte nachzudenken. Irgendeine Lösung musste es doch einfach geben!
Als ich mehrere Sekunden keinen Ton von Alex hörte, schaute ich mich besorgt nach ihm um.
Er war nicht mehr da! Weder konnte ich ihn irgendwo sehen, noch hören – woran der Fluss schuld war. Außerdem führte keine Fährte von dieser Stelle weg, außer die, auf der wir gekommen waren!
Nervös lief ich das Flussufer entlang. Wo war dieser Idiot hin verschwunden?! Ein ausgewachsener Mensch konnte doch nicht einfach so verschwinden!
Mit hektisch pochendem Herzen kehrte ich an den Ausgangspunkt zurück. Verdammt!
Plötzlich hörte ich hinter mir ein Knacken, das sogar den tobenden Fluss übertönte. Alarmiert drehte ich mich der Quelle des Geräuschs zu. Mit einem einfachen Griff über meine Schulter zog ich den Bogen und einen Pfeil aus einem Seitenfach des Rucksacks und zielte auf die Stelle im Wald, wo ich das Krachen gehört hatte.
Im nächsten Moment stand Alex plötzlich vor mir. Seine Augen waren vor Schreck weit aufgerissen, als er sah, dass ich genau auf ihn zielte.
Ich atmete geräuschvoll aus und ließ sofort die Waffe sinken. Mein Gott, ich hätte ihn um ein Haar erschossen!
„Was zum Teufel sollte das?“ brüllte ich über das Tosen und Donnern hinweg.
Alex kam mit, immer noch angsterfülltem, Blick auf mich zu und ließ dann ein paar große Äste neben sich zu Boden fallen.
Ich verstand überhaupt nichts mehr!
„Ich war doch nur da hinten im Wald um ein bisschen Baumaterial zu suchen. Das ist noch lange kein Grund, um mich abzuknallen du Wahnsinnige!“ rief er mir mit einem Grinsen im Gesicht zu.
„Ich habe dich für jemanden anderen gehalten. Und außerdem, was meinst du mit Baumaterial?“
„Na, was glaubst du denn wie wir über den Fluss kommen sollen? Wie Moses oder was?“ Er drehte sich schon wieder um, um erneut zwischen den Bäumen zu verschwinden.
„Was zum Teufel hast du vor?!“ Aber das hörte er gar nicht mehr. Schon war er wieder verschwunden, nur um ungefähr zwei Minuten später mit noch mehr Ästen zurückzukommen.
„So, die müssten eigentlich genügen“, meinte er und sah zufrieden auf den Haufen zu seinen Füßen hinab.
„Für was? Hättest du die Güte und klärst mich endlich mal auf, was sich gerade in deinem kranken Hirn abspielt? Ich verstehe nämlich im Augenblick nur Bahnhof!“ Allmählich wurde ich doch ein wenig wütend auf ihn. Wie konnte man nur so… so sein wie er eben war!
„Wir bauen ein Floß, was denkst du denn?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute er auf mich herab, als wäre ich es, die nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte.
„Oh nein! Wie stellst du dir das vor?! Willst du uns umbringen?!“ Ich wedelte wie wild geworden mit meinen Händen vor seinem Gesicht herum.
„Ach komm schon. Mal ein bisschen Aktion! Außerdem weiß ich wie man so etwas baut, keine Sorge.“ Ohne ein weiteres Wort kniete er sich neben die meterlangen Holzstücke und fing an, sie quer übereinander zu legen.
„Hast du zufällig noch ein paar von diesen Seilen übrig?“ fragte er nach ungefähr fünf Minuten, als er so weit zufrieden mit seinem Werk war.
„Keine Ahnung, ein paar müssten schon noch übrig sein.“ Ich nahm den Rucksack von meinen Schultern und stellte ihn vor mir ab, um den Innenraum besser durchwühlen zu können. Tatsächlich fand ich noch ein paar Meter Gurt. Zum ersten Mal war ich dankbar dafür, dass ich beim Bau der Holzwand für meine Höhle so damit gespart hatte.
„Hier, bitte.“ Kommentarlos übergab ich die letzten Stücke an ihn. Sofort fing er an, die letzten Erinnerungen an meinen Golf zu verarbeiten. Geschickt wickelte er die schwarzen Gurte um die dicken Äste und fixierte diese so miteinander.
Ich stand einfach daneben und beobachtete dieses Schauspiel. Nie hätte ich Alex zugetraut, dass er so ein geschickter Bootsbauer sein konnte, aber anscheinend hatte ich mich getäuscht.
„Jetzt muss es uns nur noch tragen“, sagte er mit einem stolzen Ausdruck im Gesicht.
Ich wollte ihm ja nicht seinen Traum kaputt machen, aber irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass diese Flussüberquerung trotzdem eine ziemlich feuchte Angelegenheit werden würde.
„Wir werden sicher abgetrieben werden, es hat doch keinen Sinn, Alex!“ versuchte ich ihn noch ein letztes Mal zu überzeugen, aber er zog das Holzgerüst bereits ans Ufer.
„Jetzt sei nicht immer so ein Pessimist! Es wird schon alles gut gehen, und wenn nicht, dann laufen wir eben ein kleines Stückchen zurück – das kann doch kein so großes Problem sein!“
So gut gelaunt kannte ich Alex ja gar nicht! Er strahlte übers ganze Gesicht und grinste noch dazu wie ein Honigkuchenpferd. Vielleicht drehte er ja langsam durch? Auf jeden Fall vorstellbar!
Skeptisch sah ich zu, wie er aus zwei langen, stabil wirkenden Stöcken noch Paddel fertigte, dann war es so weit.
Ich konnte nicht sagen, dass ich Angst vor Wasser hatte. Ich wusste nur, dass dieses Wasser, hier vor uns, eisig kalt und bestimmt um die drei Meter tief war. Und dass sich unter der Oberfläche ganz sicher spitze Steine und Treibgut verbarg, dass einen mit Leichtigkeit durchbohren konnte, wenn man gegen sie stieß. Von den Stromschnellen wollte ich gleich gar nicht anfangen!
Ich musste schwer schlucken. Warum eigentlich immer ich? Aber es war schon zu spät. Alex schnappte sich den Rucksack, der noch immer vor mir auf dem Boden stand und hängte ihn sich um.
„Du solltest deinen Bogen besser gut festhalten, sonst könnte es nämlich passieren, dass er futsch ist bis wir drüben ankommen.“
„Wenn wir drüben ankommen“, korrigierte ich ihn mit einem letzten Blick auf das aufgewirbelte Wasser.
Entschlossen griff er nach meiner Hand und zog mich hinter sich her.
Ich zögerte noch kurz und setzte mich dann rittlings auf das Floß, so dass meine Beine zu beiden Seiten noch den Boden berührten. Alex drückte mir zuversichtlich eines der Paddel in die Hand, bevor er dem Floß einen Schubs gab und sich hinter mir auf die Äste setzte.
Sofort spürte ich, wie das gesamte Gerüst ein Stück tiefer ins Wasser sank. Und dann ging es auch schon los.
Das Wasser schien von allen Seiten nach mir zu greifen. Mit der einen Hand umklammerte ich den Bogen, mit der anderen das Paddel und dabei kam ich mir so furchtbar hilflos vor, dass ich am liebsten losgeheult hätte.
Alex aber, schien alles im Griff zu haben – oder er ließ sich zumindest nichts anmerken.
Die Wellen spielten mit uns, als wären wir federleicht. Einmal waren wir oben, dann befanden wir uns wieder in einem Wellental und im nächsten Moment schlug uns auch schon wieder das Wasser ins Gesicht.
Bis dahin, lief ja alles noch einigermaßen, aber als das Floß dann von einem Stoß so sehr ins Wanken kam, dass ich es kaum noch schaffte darauf sitzen zu bleiben, blieb mir fast das Herz stehen.
„Alex! Ich hasse dich!“ brüllte ich und schluckte dabei prompt Wasser.
Über das Tosen konnte ich gerade so Alex‘ Lachen hören.
Im nächsten Augenblick war ich unter Wasser. Nur mit größter Anstrengung, schaffte ich es, nicht nach Luft zu schnappen und meine Lungen so mit dem kalten Nass zu füllen.
Alles um mich war grau und aufgewühlt. Ich wusste nicht mehr, wo oben und unten war und schlug wild mit den Händen um mich.
Dass ich dabei aber das Paddel und den Bogen losließ, bemerkte ich erst, als es schon viel zu spät war. Beides verschwand in den Fluten.
Meine Luft wurde langsam knapp, und immer noch gaben mich die Wellen nicht frei. Ich versuchte zu schwimmen, aber alles was ich tat, schien mich nur noch weiter von der Wasseroberfläche zu entfernen.
Mein Kopf dröhnte schon vor Sauerstoffmangel und ich war mir sicher, dass ich sterben würde. Meine Arme und Beine verkrampften bereits in dem eisigen Wasser und schließlich trieb ich nur noch reglos dahin.
Ein paar letzte Luftblasen entwichen noch aus meiner Nase, dann wurde alles um mich schwarz.

Etwas presste gegen meinen Brustkorb – immer und immer wieder. Es tat weh, aber ich wusste nicht, wie ich mich dagegen wehren sollte. Ich konnte mich nicht bewegen.
Mein Körper fühlte sich so unendlich schwer an, als wäre er aus Stein. Selbst meine Augenlider konnte ich nicht heben. Aber ich merkte ganz genau, dass irgendetwas da war. Etwas, dass mich nicht sterben lassen wollte.
Je klarer ich mir darüber wurde, desto klarer wurden meine Gedanken.
Ich hörte eine Stimme immer wieder meinen Namen rufen. Aber ich konnte nicht antworten. Meine Zunge war vollgesogen wie ein Schwamm.
Und dann kam diese Welle. Es war keine gewöhnliche Welle, diese hier schlug nicht von draußen auf mich ein. Sie kam aus mir heraus!
Ich riss die Augen auf. Mein Gesicht, meine Haare, mein ganzer Körper war bis auf die Haut nass. Das Gewand, das ich trug, klebte an meiner Haut. Ich spuckte und hustete Wasser und konnte nicht mehr damit aufhören. Mein Hals schmerzte schon davon, aber immer noch kam Wasser.
„Mars! Oh mein Gott!“ Ich hörte diese Stimme neben meinem Ohr. Die Stimme, die mich schon zuvor gerufen hatte. Doch diesmal war sie klarer, ich konnte alles verstehen, was sie sagte.
Und ich konnte auch sehen, zu wem sie gehörte, nämlich zu Alex.
Er beugte sich über mich und endlich hatte er aufgehört mich wiederzubeleben. Meine Rippen fühlten sich an, als hätte sich eine ganze Elefantenherde darauf zur Rast niedergelassen.
Und dann hörte ich auf Wasser zu spucken. Meine Lungen füllten sich mit frischer Luft, nur um sich in der nächsten Sekunde wieder zu entleeren und erneut zu füllen.
Erschöpft schloss ich die Augen und hob eine Hand an mein Gesicht. Meine Haut war eiskalt und winzige Wasserrinnsale flossen von meinem Haar auf meine Wangen.
„Gott sei Dank!“ Alex fuhr sich mit den Händen durch die Haare und wirkte mehr als erleichtert. „Ich dachte schon, du wärst tot!“ Ungestüm umarmte er mich und diesmal wehrte ich mich nicht dagegen.
Ich war einfach zu kaputt. Alles an mir tat weh.
„Das ist alles meine Schuld! Du hattest recht, wir hätten niemals mit dem Floß über den Fluss fahren sollen! Ich hätte dich fast umgebracht!“ Die Worte sprudelten geradezu aus ihm heraus.
Mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, drückte ihn von mir weg, wofür ich einen verwirrten Blick erntete.
„Es…“ Ich hustete nochmals. „Es ist nicht deine Schuld.“ Meine Stimme klang, als hätte ich sie monatelang nicht mehr benutzt.
„Doch ist es! Du könntest jetzt tot sein! Stell dir das vor!“ Er schüttelte den Kopf, so dass mir winzige Wassertröpfchen ins Gesicht spritzten.
„Jetzt hör aber auf!“ Ich nahm sein Kinn zwischen meine Finger und schaute ihn scharf an. „Hör sofort auf damit! Wenn ich dir sage, dass du nichts dafür kannst, dann ist das auch so! Und jetzt lass uns weitergehen!“
Immer noch wacklig auf den Beinen rappelte ich mich auf und teste aus, wie weit sie mich trugen – nach einem Meter gaben sie wieder unter mir nach.
Gott sei Dank stand Alex bereits hinter mir und fing mich auf, bevor ich mir noch ernsthaft hätte wehtun können – obwohl meine Verletzungen sowieso schnell wieder verheilt wären.
„Du solltest vielleicht noch ein bisschen warten, glaubst du nicht?“ Prüfend schaute er mich an, als könnte er so feststellen, in welchem Zustand ich war.
„Ach was! Das geht schon wieder. Ich wand mich aus seinem Griff und zeigte ihm so, dass alles gut war – was sogar der Wahrheit entsprach.
Schon jetzt fühlte sich mein Körper wieder besser an, und das, nicht einmal fünf Minuten, nachdem ich fast ertrunken wäre! Manchmal war es also doch von Vorteil, ein Gestaltwandler zu sein!
„Na gut, wenn du das sagst. Aber falls dir schwindlig wird, oder es dir schlecht geht, sagst du mir Bescheid, okay?“
„Ja, geht klar.“
„Gut.“ Alex schien wenigstens vorerst beruhigt. „Aber ein gutes hat die Sache doch: wir haben’s ans andere Ufer geschafft.“ Er lächelte zu mir herab und ich nickte ihm beeindruckt zu.
„Nicht übel, ich dachte wir überleben das nicht“, meinte ich und stieß ihm spaßhalber meinen Ellbogen in die Rippen.
Alex fand das zwar nicht ganz so komisch wie ich, aber er sparte sich auch jeden Kommentar.
„Du solltest vielleicht erst einmal trocknen, bevor wir weitergehen, sonst wirst du noch krankt“, sagte er stattdessen und machte eine Handbewegung, die mich mitsamt meiner nassen Klamotten einschloss.
„Ach was, ich werde schon trocken, während wir weitergehen!“
„Nein! Mach bitte nur einmal was ich sage. Bitte!“
„Mein Lieber, vergiss nicht, dass ich genau deshalb vor ein paar Minuten fast ins Gras gebissen hätte“, konterte ich und bohrte ihm meinen Zeigefinger in die Brust. Anscheinend nahm er das aber anders auf, als ich es beabsichtigt hatte. „Nein, weißt du was: du hast recht.“ Ich suchte verzweifelt nach Worten, um die Situation zu retten. „Lass uns warten bis wenigstens mein Gewand getrocknet ist.“
„Nur, wenn du willst.“
„Ja, klar.“
Und so machten wir ein Feuer. Alex beschloss, ein Stück in den Wald zu gehen, damit ich mich ungestört umziehen konnte. Dankbar nahm ich dieses Angebot an.
Als er weg war, fing ich sofort an, im Rucksack nach trockenem Gewand zu wühlen. Die Ausbeute war eher weniger beeindruckend und vor allem schmutzig, aber immer noch besser, als triefnass zu sein.
Es stellte sich heraus, dass ich gerade noch rechtzeitig fertig wurde, denn genau in dem Moment, kehrte Alex wieder zurück.
„Oh, sorry! Ich dachte du hättest dich schon umgezogen!“
„Jaja, ich bin schon fertig.“ Ich zeigte auf das nasse Bündel, das auf dem Boden lag.
„Okay, dann können wir jetzt gehen?“ Immer noch behielt er mich im Auge, aber anscheinend gab ich ihm keinen Grund zu Sorge.
„Ja, los. Lass uns endlich weitergehen.“
Stumm gingen wir los. Ich hatte zwar keine Ahnung, wohin wir genau gingen, denn ich war von meinem kleinen Nahtoterlebnis noch ziemlich durcheinander, aber ich vertraute Alex. Er wusste ganz sicher, in welche Richtung wir laufen mussten, um zu dem Berg mit der Kronenspitze zu kommen.
Wortlos schleppte er den Rucksack und führte mich zielstrebig in das nächste Dickicht hinein.


Aufstieg im Dunkeln



Um meinen Zustand an diesem Abend zu beschreiben, brauchte es nicht viel – eigentlich nur zwei einfache Wörter: müde und erschöpft.
Mein beinahe Unfall, hatte mich doch mehr beansprucht, als ich gedacht hatte. Die ersten paar Stunden nach dieser nassen Angelegenheit biss ich die Zähne zusammen, doch irgendwann ließen meine Kräfte nach und ich wurde immer langsamer – selbst Alex fiel das auf.
Das war dann wahrscheinlich auch der Grund, warum er vorschlug früher eine geeignete Schlafstelle zu suchen. Zu seiner Verwunderung stimmte ich sofort zu. Normalerweise war ich es immer gewesen, die ihn dazu hatte überreden müssen noch eine weitere Stunde durch zu marschieren. Aber heute konnte ich nicht mehr weiter.
Meine Beine trugen kaum noch mein Gewicht und bei jedem meiner Schritte drohten sie unter mir einzuknicken.
Endlich hatte Alex, der heute sehr viel aufmerksamer war als sonst, einen passenden Platz gefunden. Die Steinplatte war über und über von Moos bedeckt und befand sich unter ein paar riesigen Bäumen – von denen es hier überall reichlich gab.
„Morgen schaffen wir es ganz sicher“, meinte er, als er sich neben mich setzte und tief einatmete.
Ich nickte nur. Sogar zum sprechen war ich zu müde.
Gähnend legte ich mich hin und war nicht einmal fünf Minuten später eingeschlafen – und das, obwohl es schweinekalt war!

Die morgendliche Kälte und das hohe Zwitschern eines Vogels in einem nahegelegenen Baum ließ mich zusammenzucken. So schlecht wie in dieser Nacht hatte ich selten geschlafen – und das bedeutete bei mir schon so einiges.
Ich wusste, dass ich meinem Ziel nun immer näher kam, es praktisch schon erreicht hatte. Trotzdem wurde ich das ungute Gefühl nicht los, dass sich noch irgendetwas zwischen mich und Duncan stellen würde. Dabei dachte ich, ehrlich gesagt, nicht einmal ausschließlich an Ann. Natürlich war sie immer noch die Hauptgefahrenquelle, aber immer öfter fragte ich mich ob Alex überhaupt wollte, dass ich Duncan wieder ins Leben zurückholte. Mehrmals war ich wegen dieses Gedankens in der vergangenen Nacht hochgeschreckt, später aber ohne irgendein vernünftiges Ergebnis wieder eingeschlafen. Auf der einen Seite kam es mir absurd vor. Obwohl ich jetzt schon sehr lange mit Alex unterwegs war, kannte ich ihn noch immer nicht richtig. Okay, auch bei Duncan hatte die Zeit nicht ausgereicht um ihn wirklich näher kennenzulernen, aber ich wusste, dass da etwas zwischen uns war, das ich einfach nicht beschreiben konnte – etwas Ungreifbares.
Mein Kopf fuhr reflexartig herum als ich ein Rascheln vernahm. Sofort klopfte mein Herz wieder wie wild und pumpte Adrenalin durch meine Adern. Mit einem lauten Seufzer stellte ich fest, dass es nur Alex gewesen war, der sich auf den Rücken gedreht hatte. Dabei war er wohl auf einen Ast oder etwas Ähnliches gerollt… naja, sowieso eher unwichtig.
Noch etwas benommen rappelte ich mich auf und streckte mich ausgiebig. Meine Knochen protestierten knackend dagegen, jemals wieder auf dem harten Boden schlafen zu müssen – obwohl ich jetzt schon wusste, dass ich ihnen diesen Gefallen nicht würde tun können.
Mein Blick schweifte über die nähere Umgebung und ich sog prüfend die kühle Luft durch meine Nase ein – ohne Gefahr feststellen zu können.
Langsam schien auch Alex aufzuwachen. Zwar waren seine Augen noch geschlossen, aber seine Bewegungen verrieten ihn – so würde sich kein Schlafender dieser Welt am Kopf kratzen.
Augenblicklich verflog meine Befürchtung, Alex würde mir nicht helfen wollen. Lächelnd ging ich neben ihm in die Knie und beugte mich leicht über ihn, bis sich mein Gesicht genau über seinen befand – mit genügend Abstand dazwischen, versteht sich. Geduldig wartete ich darauf, dass er seine Augen endlich öffnete – was tatsächlich nach kürzester Zeit geschah.
Als er mich sah, wälzte er sich erschrocken zur Seite und stieß sich dabei seinen Kopf an einem umgeknickten Baumstamm.
„Was zum….?!“ zischte er und rieb sich mit schmerzverzerrten Gesicht seinen Hinterkopf.
„Ja, dir auch einen guten Morgen“, murmelte ich und stand wieder auf. Dass er in diesem Moment einen köstlichen Anblick darbot konnte der gute Alex ja nun wirklich nicht wissen. Weil ich mich nicht länger zurückhalten konnte, brach ich in schallendes Gelächter aus.
„Was ist denn so verdammt komisch?“ fragte er und richtete sich dabei auf, sehr wohl darauf achtend, sich nicht noch einmal irgendwo den Kopf zu stoßen.
„Ach gar nichts“, meinte ich immer noch gut gelaunt und wandte mich dem Rucksack zu. Dieser lag, genau wie am Abend zuvor, neben der Stelle an der ich geschlafen hatte – wie eine Art Abgrenzung zwischen Alex und mir.
Geschäftig schloss ich alle Fächer und legte mir einen Riemen über die Schulter. „Können wir?“ Lächelnd drehte ich mich zu Alex um, der sich verwirrt am Kinn kratzte.
„Äh, kann es sein, dass du irgendwelche giftigen Pilze gefuttert hast oder so?“ wollte er wissen und musterte mich mit ernster Miene.
Oh, ja! War schon klar!
Er dachte jetzt sicher, ich hatte sie nicht mehr alle, nur weil ich einmal nicht herumlief wie sieben Tage Regenwetter. Na und? Jeder hatte doch einmal seinen guten Tag! Und dieser hier war eben meiner!
„Ich habe keine Ahnung wovon du sprichst“, meinte ich schulterzuckend und drehte mich, ohne ihn weiter zu beachten, dem Wald zu.
Mit schnellen Schritten schloss er zu mir auf, als ich gerade über einen vermorschenden Baumstamm kletterte.
„Nein, im Ernst jetzt Mars. Irgendetwas stimmt doch mit dir heute nicht, oder liege ich da falsch?“
Jetzt nervte er mich allmählich. Der Kerl wusste aber auch ganz genau, wie man einem den Tag versauen konnte.
„Ich denke du bildest dir da nur etwas ein“, knurrte ich ohne mich zu ihm umzudrehen.
Ich hatte jetzt keine Zeit, aber vor allem auch einfach keine Lust auf eine Diskussion mit ihm. Mein erstes Ziel für diesen Tag sollte es sein, erst einmal nicht in die falsche Richtung zu laufen und davon hielt er mich gerade ab!
„Ach komm schon! Das glaubst du doch wohl selbst nicht!“ motzte er weiter. Gut! Wenn er es nicht anders wollte, dann sollte er es eben so haben. Eigentlich wollte ich nicht mit ihm über dieses Thema reden, weil es ihn verletzten würde, aber wenn er schon so darum bettelte – warum nicht?!
„Gut, weißt du was?“ fauchte ich und blieb so abrupt stehen, dass er einen Schritt zur Seite machen musste, um mich nicht umzurennen. „Ich freue mich darauf Duncan wiederzusehen.“ So jetzt war es raus!
Er hatte es wissen wollen, jetzt sollte er gefälligst damit leben!
Stur stapfte ich weiter. Seine Reaktion auf meine Worte ging mir eigentlich ziemlich am Allerwertesten vorbei. Er konnte es ja sowieso nicht ändern – und verstehen schon gar nicht.
Nachdem ich ein paar Meter gelaufen war, und ihn immer noch nicht hinter mir hörte, blieb ich doch stehen um nachzusehen, wo er steckte.
Und da stand er, den Kopf gesenkt, mit hängenden Schultern. Das schlechte Gewissen kam schneller, als ich mich dagegen wehren konnte. Alex hellbraune Haare waren inzwischen schon so lang, dass sie ihm in die Stirn fielen und mir so den Blick auf seine Augen verwehrten – und ich war dankbar dafür. Ich wollte nicht sehen, wie sehr ihn diese Tatsache traf.
Ab diesem Moment war mir mehr als klar, dass er mich wirklich, wirklich gern hatte – vielleicht sogar mehr als das. Aber ich hatte ihm von Anfang an klar gemacht, dass es nicht ging. Er wusste über Duncan und mich Bescheid, genau wie er auch wusste, dass ich ihn, Alex, nicht liebte oder Ähnliches.
Ich konnte nichts anderes tun, als zuzusehen wie er still dastand und litt – meinetwegen.
Mein Herz sagte mir, ich solle mich entschuldigen, ihn trösten. Mein Kopf wusste aber, dass meine Nähe ihm in dieser Situation nichts brachte – rein gar nichts. Es wäre nur ein weiterer Schlag ins Gesicht.
Frustriert über meine Hilflosigkeit lehnte ich mich gegen den nächst Besten Baumstamm und beobachtete abwechselnd Alex, der sich ohnehin nicht bewegte, und den Wald hinter ihm. Meine Gedanken waren überall und nirgendwo zugleich.
Wie konnte ich nur so dämlich sein und ihm so etwas auch ins Gesicht sagen? Das konnte nur schief gehen! Ich wusste doch ganz genau, wie er über mich dachte!
Am liebsten hätte ich mich auf dem Absatz umgedreht und meine Stirn so lange gegen die Rinde geschlagen, bis entweder der Baum, oder mein Knochen nachgegeben hätte. Wahrscheinlich war ich das dümmste Wesen im Universum – und das gefühlskälteste noch dazu.
Es musste mindestens eine Viertelstunde vergangen sein, da regte sich Alex endlich wieder. Ich war gerade damit beschäftig, die toten Fliegen im Netz einer Spinne zu zählen, als ich ihn hinter mir hörte.
Erst als er sich leise und etwas verschämt räusperte, drehte ich mich zu ihm um.
„Lass uns weitergehen, sonst kommen wir zu spät“, meinte er und nahm mir den Rucksack ab, der immer noch auf meinem Rücken ruhte. Ich nickte ihm zu und folgte ihm dann.
Obwohl wir ab diesem Zeitpunkt kein Wort mehr miteinander wechselten, war ich froh, dass er sich überhaupt wieder rührte – was hätte ich getan, wenn er einfach da hinten stehen geblieben wäre??
Ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass wir vielleicht in die falsche Richtung gehen könnten, folgte ich ihm durch die Gegend, Hänge hinauf und wieder hinunter.
Nicht einmal hielten wir um zu trinken oder uns nach etwas essbarem umzusehen – was ohnehin keinen Sinn gemacht hätte. Mein Bogen war futsch und ohne den konnten wir nicht vernünftig jagen.
Auch als sich mein Magen um die Mittagszeit schon merkwürdig hohl und leer anfühlte und sogar von Zeit zu Zeit laut knurrte, sagte ich kein Wort. Es war zu früh im Jahr um nach Beeren oder anderen kleinen Früchten zu suchen also wollte ich Alex nicht auch noch damit belasten.
Nach ein paar weiteren Kilometern kam mir in den Sinn, dass er es nun irgendwie geschafft hatte, dass er als „Opfer“ dastand und ich als miese, fiese Übeltäterin. Grübelnd folgte ich ihm weiterhin und die Stunden verronnen wie im Flug – wie immer, wenn wir unterwegs waren.
Am späten Nachmittag erreichten wir schließlich einen steil aufragenden Hang. Zum Teil bestand er aus losem Geröll, zum Teil aus mannshohen Felsbrocken. Dazwischen befanden sich immer wieder kleine Polster aus Moos oder Gras.
Meine Beine waren müder als sonst – sehr viel müder sogar. Konnte es vielleicht sein, dass ich doch krank wurde, allmählich? Eine Lungenentzündung wäre im Moment wohl das letzte, was ich brauchte.
Erschöpft ließ ich mich an einem relativ glatten Stein zu Boden gleiten und presste mir die Hände gegen die Schläfen. Mein Atem ging rasch und flach und mein Herz pumpte schneller als gewöhnlich – gewöhnlich bei solchen Reisen.
Auch Alex suchte sich ein Plätzchen, allerdings in einiger Entfernung zu mir. Immer noch sprach er kein Wort mit mir. Es schien sogar, als wäre ich für ihn gar nicht da.
Als ich so dasaß und nach Luft schnappte, wurde mir auf einmal bewusst, dass mir dieser Ort verdächtig bekannt vorkam. Aber ich war hier doch sicher noch nie gewesen! Nie!
Oder doch?
Verbissen grub ich in meinem Gehirn alte Erinnerungen hervor – sowohl gute, als auch schlechte. Das Ergebnis ließ mich erschrocken aufspringen und einen genaueren Blick auf den Hang über mir werfen.
Tatsächlich! Er ähnelte dem, auf dem ich den jungen Duncan gesehen hatte sehr. Aber war das nur ein dummer Zufall?
Ich meine, solche Hänge gab es wahrscheinlich rund um den Globus verstreut und dass ich gerade ausgerechnet vor diesem stand konnte es eigentlich nicht geben. Andererseits konnte es in meinem Leben, rein theoretisch, vieles gar nicht geben.
„Alex, wie weit kommen wir heute noch, was meinst du?“ fragte ich ohne meinen Blick von den schroffen kanten der Steine und Felsen vor mir zu wenden.
Alex zögerte, stand auf und trat neben mich, doch er konnte nicht ausmachen, was ich auf einmal so interessant fand – wie sollte er auch!
„Eigentlich hatte ich gedacht, wir belassen es für heute dabei“, murmelte er. Seine Stimme klang belegt und rau. Sein Gesicht war reserviert und weitgehend leer, das sah ich aus dem Augenwinkel.
„Wir müssen über den Berg“, sagte ich entschlossen und endlich regte sich wieder etwas in seinem Gesicht.
Als ich mich ihm zudrehte, stand nichts als Erstaunen und Verwirrung darin – und die Frage, ob ich noch alle Tassen im Schrank hatte.
„Spinnst du?“ entfuhr es. Fast musste ich über seine Miene lachen, hielt mich dann aber doch zurück.
Immer noch fest entschlossen mein Vorhaben in die Tat umzusetzen schüttelte ich meinen Kopf. „Wir müssen auf die andere Seite und wir müssen uns beeilen.“ Immer noch starrte ich den Hang an. Nun folgte Alex meinem Blick, aber anscheinend wurde er immer noch nicht schlau aus mir.
„Willst du uns wirklich so dringend umbringen, du Wahnsinnige?“ Ein Hauch von einem Lachen schwang in seiner Stimme mit, doch sein Gesicht blieb immer noch von Verwunderung gekennzeichnet.
„Nein, das nicht. Ich weiß nur, was ich will.“ Nun lächelte ich ihm siegessicher ins Gesicht. Er würde mitkommen, dass wusste ich sofort – schon als ich in seinen Augen dieses Funkeln sah.
Mir war klar, dass ich ihm mit meinen Worten am Morgen tief verletzt hatte. Trotzdem wusste ich instinktiv, dass er mich niemals allein lassen würde – genauso wenig wie ich ihn allein lassen würde.
Ich liebte ihn nicht, aber er war ein Teil meines Lebens geworden und so wollte ich ihn ab jetzt auch behandeln.
„Gut, aber alle Verletzungen die ich mir auf dem Weg einhandle, gehen auf dein Konto.“ Er bot mir seine Hand an, ob als Zeichen der Versöhnung oder als Zeichen dafür, dass ich die Verantwortung für alles trug, was auf diesem Berg geschehen würde wusste ich nicht.
Trotzdem schlug ich ein ohne lange zu zaudern – keine fünf Minuten später begannen wir den Aufstieg.
Schon auf den ersten Metern wurde mir klar, dass wir uns sehr beeilen mussten, wenn wir es in dieser Nacht schaffen wollten. Immer wieder gaben die losen Steine unter den Sohlen meiner durch gelatschten Turnschuhe nach. Auch Alex erging es kein Bisschen besser uns so beschlossen wir nach kurzer Zeit, uns eine andere Taktik zu recht zu legen.
Nach einigem Grübeln – was auf den wackligen Steinen gar nicht so einfach war – hatten wir aber endlich einen halbwegs machbaren Plan. Dieser sah voraus, dass wir abwechselnd ein Stück hinauf klettern sollten, wobei derjenige, der gerade den Rucksack trug weiter unten wartete. Dann sollte er das schwere Teil zum anderen hinaufwerfen und selbst nachkommen. So wurde die ganze Kletterei nicht auch noch durch unser Gepäck verlangsamt und außerdem liefen wir keine so große Gefahr das Gleichgewicht zu verlieren und Hals über Kopf abzustürzen.
Auch wenn die Idee an sich gar nicht mal so übel war, dauerte es einige Zeit, bis wir die dazugehörige Technik perfektioniert hatten und trotz aller Vorsicht holten wir uns bereits nach einer halben Stunde die ersten Abschürfungen. Beide nahmen wir es aber gelassen mit den Verletzungen und Alex machte sich mit der Zeit einen Spaß daraus, mir vorzuhalten, dass es meine Schuld wäre. Ich wusste, dass er es nicht ernst meinte, immerhin lachte er nun wieder bei jedem seiner Worte.
Als gerade die Sonne unterging, erreichten wir einen kleinen Vorsprung. So wie es aussah, wuchsen hier nirgends mehr Bäume oder andere große Pflanzen, die Deckung boten, aber ich wollte ohnehin nicht rasten. Ich wollte durchlaufen, immer weiter marschieren und solange nicht stehen bleiben, bis ich mein Ziel endlich erreicht hatte: Duncan.
Bei Alex sah das alles etwas anders aus. Im Gegensatz zu mir, war er ein ganz gewöhnlicher Mensch und auch wenn ich etwas angeschlagen war, konnte er auf Dauer so nicht mit mir mithalten.
Schnaufend, als wäre er gerade einen Kilometer gelaufen, stützte er sich neben mir mit den Händen an seinen Oberschenkeln ab. Sein Kopf hing schlapp hinab und seine Beine zitterten bedrohlich.
Wäre es nach mir gegangen, hätten wir diesen Ort schon wieder hinter uns gelassen, doch jetzt konnte er einfach nicht mehr. Als er wenigstens seine Atmung unter Kontrolle hatte, plumpste er wie ein voller Kartoffelsack zu Boden und legte sich auf den Rücken. Mit weit aufgerissenen Augen schaute er zu mir auf.
„Mars, ich….bin fix…und…fertig“, schnaufte er und legte sich einen Arm quer über die Stirn.
Mit verschränkten Armen stand ich über ihm und sah bittend zu ihm hinab, doch es half alles nichts. Wenn er nicht mehr konnte, konnte er nicht mehr. Ich wollte nicht riskieren, dass er in dieser Umgebung kollabierte.
Alles in mir rebellierte, als ich mich neben ihn setzte und mein Kinn auf meine Knie bettete.
„Vielleicht wäre es besser wenn…“ fing ich, doch sofort fiel mir Alex ins Wort.
„Nein, ich lasse dich nicht allein. Ich habe dich bis hier begleitet, also gehe ich den letzten Teil auch noch mit dir.“ Total erschöpft stand er wieder auf und zurrte die Riemen des Rucksacks enger.
„Das kann ich nicht mehr verantworten, Alex“, murmelte und starrte an ihm vorbei in die Ferne. Wir waren schon so hoch oben, dass wir eine ausgezeichnete Aussicht genießen konnten – zumindest falls uns das interessierte.
„Ach? Und ich kann nicht verantworten, dass du zu deinem Date zu spät kommst, also steh auf: wir gehen weiter.“
Was war er nur für ein Sturkopf – wenn er denn einer sein wollte! Egal wie dumm und hirnrissig es gerade auch war weiterzugehen, ich bewunderte seinen Willen es zu tun.
Wir kamen nicht mehr schnell voran – eigentlich eher schleichend. Ich erklomm hinter Alex Felsen um Felsen und achtete unauffällig darauf, was er tat. Schon als wir, nach dieser kleinen Unterbrechung, losgegangen waren, hatte ich mir vorgenommen ihn schon beim kleinsten Anzeichen für Erschöpfung oder Überanstrengung zu stoppen – wenn nötig auch mit Gewalt.
Zwischendurch ließ ich mich immer wieder ein paar Schritte zurückfallen, um seine Gesamtsituation und Verfassung besser einschätzen zu können, aber er biss anscheinend die Zähne zusammen.
Auch wenn seine Schritte langsamer und auch vorsichtiger geworden waren, kamen wir immerhin noch voran und das war es, was zählte.
Der letzte rote Schein der untergegangenen Sonne verglomm gerade über den Bergen im Westen und tauchte so auch den Hang, auf dem wir uns immer noch befanden, in ein leicht rötliches Licht.
Uns beiden war klar, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Dämmerung in die finstere Nacht übergehen würde. Wie wir nach Einbruch der Dunkelheit weiterkommen sollten wusste ich auch nicht so genau. Meine Augen waren zwar relativ gut – selbst im Dunkeln – aber Alex würde nachher sicher nichts mehr sehen. Was sollten wir dann also machen?
Ich konnte ihn nicht einfach auf diesem Berg zurücklassen und dann alleine weitergehen. Auf der anderen Seite würden wir es bei tiefster Nacht und im stockdunkeln nicht bis zum nächsten Morgen auf die andere Seite schaffen – und dabei befanden wir uns noch auf dem niedrigsten Teil dieses Berges!
Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass mein Gehirn auf Hochtouren arbeitete, während ich trotzdem versuchte mich auf Alex Bewegungen zu konzentrieren.
Eine halbe Stunde später war besagter Fall eingetreten: kein Tageslicht und kein Vorankommen mehr.
„Mars? Wo bist du?“ Alex drehte sich wankend zu mir um und streckte seine Hände in die Richtung, in der er mich vermutete.
„Ich bin hier, hinter dir.“ Mit zwei langen Schritten war ich neben ihm und umklammerte vorsorglich sein Handgelenk. Wenn er jetzt stürzen würde, wäre er verloren. Er war doch auch schon so geschwächt vom Aufstieg, da fehlte nur noch das er hinfiel und sich verletzte.
„Ähm… Alex, pass auf. Du hältst meine Hand jetzt fest“, ich hob unsere Hände hoch, „und du lässt nicht los, bis ich es dir sage, verstanden?“ Ich sah ihn eindringlich an, doch er konnte es nicht sehen – wir waren in die undurchdringliche Schwärze der Nacht gehüllt.
„Ja, geht klar.“ Nun verstärkte er seinen Griff um meine Hand. Als ich losging ließ er sich bereitwillig hinter mir herziehen.
Die anfangs noch feineren Geröllstücke gingen nun allmählich in fußballgroße Brocken über. In den Klüften dazwischen gähnte selbst für mich ein Abgrund neben dem nächsten. Meine Sinne waren bis zum Zerreißen angespannt und ich musste auch noch aufpassen, dass ich Alex nicht in den Abgrund führte.
Rein körperlich war ich also noch recht fit, aber all diese verwirrenden Gedanken brachten mich schließlich so weit, dass ich bei der ersten Gelegenheit eine Pause einlegte – wenn sie auch sehr kurz war.
Mein Kopf dröhnte und meine Augen brannten wie Feuer.
„Mars, ist alles in Ordnung?“ Ich spürte Alex warme, schwere Hand auf meiner Schulter, aber vermutlich war es genau das, was ich in diesem Augenblick brauchte – nämlich etwas Unterstützung.
„Ja, es geht schon. Es ist nur alles so… anstrengend“, presste ich mit zusammengekniffenen Augen zusammen.
„Wie soll ich das jetzt sagen…“ Ich blickte zu Alex auf. Außer seinen Umrissen und einem gelegentlichen Funkeln in seine Augen konnte ich nicht wirklich etwas erkennen. Er fuhr sich anscheinend gerade mit der Hand durchs Haar.
„Was meinst du?“ hakte ich nach und stellte mich aufrecht hin. Neben ihm kam ich mir immer so klein vor – dabei war ich mir ganz sicher, dass Duncan noch größer war als Alex.
„Wäre es wirklich so… so undenkbar einen Tag später anzukommen…“
„Alex!“ Ich drehte mich auf dem Absatz um und sprang über einen schmalen Spalt. Der Felsbrocken auf dem ich landete, wackelte bedrohlich unter meinem Gewicht. „Verstehst du überhaupt, was du das sagst?“
Meine Stimme war gerade laut genug, dass Alex mich noch verstehen konnte.
„Mars, komm zurück! Ich kann nichts sehen!“ forderte er und griff immer wieder mit seinen Händen ins Nichts. Wäre ich nicht plötzlich so stinkwütend auf ihn gewesen, hätte ich sein Herumgewedel vielleicht sogar komisch gefunden oder gelacht.
Aber in dieser Situation verging mir alles.
„Es wäre doch nur ein einziger Tag. Du hast so lange gewartet, da kommt es auf ein paar Stunden mehr oder weniger auch nicht mehr an“, versuchte er mir einzureden und hörte endlich auf in der Dunkelheit zu fischen.
„Genau das ist es ja! Ich warte schon viel zu lange darauf ihn wiederzusehen.“ Tränen schossen mir in die Augen, nur gut, dass Alex sie nicht sehen konnte. „Du hast ja keine Ahnung wie sich das anfühlt! Ich dachte er wäre tot!“ Ich brach in unkontrolliertes Schluchzen aus und sank zusammen – als hätte jemand auf mich eingeschlagen.
„Mars, weinst du?“ In Alex Stimme konnte ich deutlich Hilflosigkeit hören. Die Tränen bildeten etwas wie einen Schleier und ich konnte nun nichts mehr erkennen – überhaupt nichts mehr.
Zittrig stand ich auf und versuchte irgendwie wieder zu Alex zurückzukommen.
„Hey, da bist du ja!“ Schon fast etwas verdutzt hielt er mich an den Schultern fest als ich gegen ihn prallte.
„Es tut mir leid! Ich dachte nur…“
„Was? Das es mir nichts ausmachen würde? Da liegst du aber leider verdammt falsch!“ Neue Tränen schossen mir in die Augen und kullerten über meine Wangen.
„Ich… ich“, stotterte Alex und war anscheinend mehr als nur überfordert mit der Gesamtsituation – was ich verstehen konnte. Kerle hatten eben manchmal das Problem, dass sie sich in der Gefühlswelt einer Frau nicht zurechtfanden.
„Du kannst dir gar nicht vorstellen wie sehr es mich fertig gemacht hat, als er da vor mir lag… Ich wusste nicht mehr was ich tun sollte oder was für einen Sinn mein Leben noch hatte. Den Rest der Geschichte kennst du.“ Ich ließ meinen Kopf hängen, so dass mir meine Haare vors Gesicht fielen – was eigentlich nichts brachte, denn Alex konnte ohnehin nichts mehr sehen.
„Aber verstehst du nicht, was ich dir sagen will? Du hast jetzt so verdammt lange darauf gewartet und… Duncan hat nichts davon wenn du dich verletzt, nur weil du nicht eine Nacht warten konntest, weißt du?“ Er ging leicht in die Knie, so dass unsere Gesichter auf gleicher Höhe waren. Ich konnte immer noch nicht viel erkennen, aber seine Sorge rührte mich.
„Aber…aber!“ versuchte ich einen Ausweg zu finden, doch ich wusste schon jetzt, dass es keine angemessene Erwiderung auf sein Argument gab.
„Ich mache dir jetzt einen Vorschlag, okay?“ Ich wischte mir die Tränen aus den Augen. Das Weiß in Alex Augen leuchtete mir förmlich entgegen.
„Okay..“
Erleichtert darüber, dass ich endlich einlenkte, seufzte er und fuhr dann fort.
„Lass uns für heute Schluss machen. Wir suchen uns hier irgendwo ein Plätzchen und schlafen uns aus – wenigstens bis die Sonne aufgeht. Und morgen machen wir uns in aller Frühe auf den Weg.“
„Ja, aber dann werde ich wieder einen ganzen Tag verlieren!“ protestierte ich sofort und wollte mich umdrehen um ihn nicht mehr ansehen zu müssen.
„Bitte, tu’s für mich…“ hörte ich ihn hinter mir flüstern. Ach verdammt! Warum musste er jetzt mit dieser Tour kommen?! Er wusste sowieso, dass er so immer bekommen würde, was er wollte.
„Weißt du was du bist?“ Ich drehte mich in einer fließenden Bewegung zu ihm an und bohrte ihm meinen Zeigefinger in die Brust.
„Was?“ Ein Lachen klang in seiner Stimme mit.
„Ein verdammter Arsch.“ Jetzt musste auch ich fast lachen. Er hatte recht und ich wusste es. „Lass uns einen Schlafplatz suchen.“ Ich schnappte mir seine Hand und führte ihn so noch ein Stück weiter den Berg hinauf, wo ich schon zuvor eine ebene Fläche vermutet hatte.
Eigentlich war alles was ich wollte, Duncan wieder bei mir zu haben. Nur war es jetzt erst einmal wichtiger sich auszuruhen – vor allem für Alex.


Felswand



Es dauerte eine ganze Weile, bis wir endlich einen geeigneten Platz erreicht hatten. Alex war auf dem letzten Stück immer langsamer geworden und so hatte ich ihn praktisch nur noch hinter mir her gezogen. Einerseits konnte ich ja verstehen, dass er schon so müde war, immerhin trug er ja auch noch den schweren Rucksack. Trotzdem hätte ich einiges dafür gegeben, gleich weiterziehen zu können – wenn es sein musste, ohne Alex. Natürlich war mir klar, dass es unmöglich sein würde, es in dieser Nacht überhaupt bis zum Gipfel dieses Berges zu schaffen. Das Risiko, den Halt zu verlieren und einfach abzustürzen war viel zu groß, als das ich es eingehen wollte. Vor allem, weil auch Alex Leben auf dem Spiel stand.
Eine gute halbe Stunde, nachdem er mich also überredet hatte, es für diesen Tag bleiben zu lassen, erreichten wir den Fuß einer steilen, hoch aufragenden Felswand. Ein Vorsprung, den ich gerade so in der Dunkelheit ausmachen konnte, würde uns für diese Nacht als Unterschlupf dienen und uns vor dem Wetter schützen.
Mein Vater hatte mir einmal, als ich noch ganz klein war, erzählt, dass, vor allem im Gebirge, das Wetter schnell umschlagen konnte. Und Unwetter konnten in solchen Höhenlagen schnell tödlich enden.
Hätte Alex mich also nicht zurückgehalten, wäre ich blindlings in den Tod gerannt, ohne überhaupt noch einmal über die Konsequenzen nachzudenken.
Seufzend ließ ich mich auf einen flachen Stein fallen. Der Wind hatte aufgefrischt und machte die Luft nun noch kühler, als sie eigentlich sowieso schon war. Ich hätte alles gegeben, für ein Feuer und etwas zu essen. Leider hatte wir aber bei der Flussüberquerung meinen Bogen, und somit die einzige Möglichkeit uns Nahrung zu beschaffen, verloren. Feuerholz würde in diesem felsigen Gebiet auch nicht gerade einfach zu finden sein, was bedeutete, dass wir uns den Hintern abfrieren würden.
Ich hatte zwar inzwischen schon viele bitterkalte Nächte hinter mir, wahrscheinlich noch mehr als jeder Bergsteiger oder Extremsportler, der bekannt war. Trotzdem hatte ich mich noch immer nicht vollkommen an die niedrigen Temperaturen in dieser Region gewöhnt – und würde es wahrscheinlich auch nie.
Allein beim Gedanken an die bevorstehende Nacht lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken.
„Wir müssen ein Feuer machen, sonst werden wir erfrieren“, stellte Alex fest, als er sich neben mich setzte – es war fast, als hätte er dieselben Gedanken wie ich. Den Rucksack ließ er vor sich zu Boden fallen.
„Und womit du Intelligenzbestie?“, hakte ich etwas gereizt nach. Ich wusste, dass das nicht hätte sein müssen, immerhin war er so etwas wie mein Retter – ohne ihn wäre ich weitergeklettert, und irgendwann ganz sicher abgestürzt. „Sorry“, warf ich deshalb noch schnell nach.
„Naja, hör zu. Ich weiß, das klingt jetzt total blöd und vermutlich ist es auch eine dumme Idee, aber wir sollten alles, was wir nicht mehr brauchen, verbrennen. Deine Klamotten und die Decke behalten wir, und benutzen sie als Decken und Unterlage und der Rest muss weg.“
„Dann wird aber nicht mehr allzu viel übrig bleiben, meinst du nicht auch?“, fragte ich skeptisch nach und suchte in der Finsternis nach seinen Augen. Hier unter dem Vorsprung war es noch dunkler als unter freiem Himmel, was mir das Sehen noch zusätzlich erschwerte. Wenn ich also nur noch so wenig sehen konnte, dann sah Alex überhaupt nichts mehr.
„Es ist die einzige Möglichkeit, denkst du nicht auch?“ Ein betretenes Schweigen breitete sich zwischen uns aus. Er hatte ja recht, aber es musste doch noch einen anderen Weg gehen, immerhin konnten wir ja nicht unser gesamtes Gepäck verbrennen. Wenn ich mich nur verwandeln könnte, dann hätten wir das Problem mit der Kälte nicht. Ich könnte Alex die Nacht über warm halten und morgen könnte ich ihn den Berg hinauf tragen.
Alles wäre so viel einfacher, schneller und unkomplizierter. Nur schade, dass Duncan dieses Geheimnis vor seinem Tod nicht mit mir geteilt hatte.
„Ja, du hast recht. Aber wir sollten uns beeilen, ich habe das Gefühl, dass wir schlechtes Wetter bekommen…“ Und damit fing er auch schon an, sämtliche Fächer des Rucksacks aufzuziehen und alles, was er zwischen die Finger bekam aufzuhäufen – bis auf ein paar Klamotten, die Decke und natürlich die Messer.
Ich hingegen kickte ein paar Steine beiseite. Tatsächlich konnte ich den Wetterumschwung schon förmlich riechen – es würde eine sehr ungemütliche Nacht werden, soviel stand jetzt schon fest.
„Mars, wo sind die Streichhölzer?“, hörte ich Alex hinter mir fragen.
„Na in der kleinen Seitentasche müssen sie doch sein.“ Ich war ehrlich gesagt mehr als nur angespannt.
Automatisch pumpte mein Herz Adrenalin und Blut durch meine Adern. Mein Puls war viel zu hoch – das merkte ich auch ohne Messgerät.
„Ah, ich hab sie!“, rief er plötzlich und ließ mich so zusammenzucken.
„Sei ein bisschen leiser, ja?“, forderte ich ihn auf und ging neben ihm in die Hocke.
Ich konnte mir den verwirrten Ausdruck in seinen Augen lebhaft vorstellen, als er fragte: „Warum denn? Es ist doch hier niemand außer uns…“
„Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht ganz so sicher…“ warf ich ein und witterte prüfend, doch die Luft wollte mir scheinbar nichts verraten. Die Kälte brannte nur in meiner Nase und im Hals und meine Haare wurden von dem stürmischen Wind in mein Gesicht gepeitscht – und das, obwohl ich mich schon an einer windgeschützten Stelle befand.
„Wie sollen wir denn hier ein Feuer hinkriegen? Der Wind pustet uns ja fast das Hirn aus dem Kopf!“, rief ich Alex über eine weitere Böe hinweg zu. „Lass es bleiben, Alex! Die Idee war gut, aber das wird nichts!“
Ich glaubte zu hören, wie er enttäuscht seufzte und dann mit seinen Händen das ganze Zeug, dass er zu Boden befördert hatte, an sich zog. Gerade noch rechtzeitig, wie sich herausstellte, denn schon drohte der brüllende Wind ihm die Decke zu entreißen.
„Gib mir die Decke und die Wäsche. Ich richte uns einen Schlafplatz und du verstaust unsere Sachen wieder, in Ordnung?“, fragte ich und versuchte sein Gesicht auszumachen, aber es war einfach unmöglich.
„Ja, geht klar.“ Und schon hörte ich ein Klappern und Rascheln zu meinen Füßen.
Mit beiden Händen voller Stofffetzen stemmte ich mich gegen den Wind und wankte so nahe wie möglich an die Wand. Wenigstens hier war diese Kälte erträglich und die Böen weniger peitschend.
Kurze Zeit später – ich hatte gerade alles so auf dem Boden hergerichtet, dass wir uns nur noch zudecken mussten – hörte ich Alex Schritte hinter mir. Er ächzte unter dem Gewicht des Rucksacks und seines eigenen Körpers und ich hörte seine Füße über den Steinboden schleifen.
„Da bist du ja, ich dachte schon, der Wind hätte dich davon geweht“, scherzte ich trocken und stand auf, um ihm entgegen zu gehen – immerhin sah er noch weniger als ich. Schließlich fand ich seine Hand in der Dunkelheit und zog ihn hinter mir auf das kleine Nest zu, das ich hergerichtet hatte.
„Okay, ich muss sagen, dass du das nicht einmal so übel gemacht hast“, zog Alex mich auf. Mich wunderte, dass er, angesichts der derzeitigen Situation, überhaupt noch etwas zu lachen hatte, immerhin drohte uns beiden der Erfrierungstod.
„Ja, sieht wohl so aus. Hier hast du noch eine… nein warte, das ist eine Hose, hier.“ Ich warf sie über ihn und zog dann ein anderes Teil – vermutlich einen Pullover – über meine Beine. Schlussendlich landete noch eine weitere Schicht Stoff über uns, doch ich bezweifelte immer noch stark, dass uns das auf Dauer warm halten würde.
Wieder schien es, als hätte Alex dieselben Gedanken wie ich. „Hey, Mars?“
Ich drehte mich etwas in seine Richtung, damit ich ihn besser sehen konnte. „Ja?“ Irgendetwas an seiner Stimme machte mich neugierig, andererseits aber auch stutzig. ‚Bitte sag jetzt bloß nichts dummes!‘, betete ich innerlich.
„Weißt du, wenn wir uns ein wenig…“
„Sag jetzt nicht aneinander kuscheln du Idiot!“, bremste ich ihn aus, bevor er weitersprechen konnte.
„Gut, dann sag ich eben nichts weiter, aber wehe du jammerst dann, dass dir die Zehen abfrieren.“ Somit drehte er mir den Rücken zu.
Eins musste man ihm schon lassen: seine Argumente waren immer sehr gut! Mein Widerstand bröckelte sofort, aber noch hielt ich die Klappe. Immer mehr wurde mir bewusst, dass Alex mehr von mir wollte, als nur Freundschaft, aber auch, dass ich ihm das niemals geben würde können.
Wenn ich jetzt also nachgab, würde ich ihm nur falsche Hoffnungen machen, um sie dann sofort wieder zu zerstören und ihn damit zu verletzten – und das war nicht meine Absicht.
Andererseits hatte er vollkommen recht: so hatten wir überhaupt keine Chance nicht in den nächsten paar Stunden, die uns bevorstanden, zum Eiszapfen zu mutieren.
„Okay, du hast gewonnen“, lenkte ich schließlich seufzend ein. Ein leises Lachen war zu hören, dann wälzte Alex sich auf die andere Seite und lehnte sich an mich.
Ja, okay! Es war so schon etwas wärmer, aber das würde nichts daran ändern, dass wir uns den Arsch abfrieren würden. Widerwillig rutschte ich noch ein Stück näher an ihn heran, obwohl ich wusste, was er dadurch für einen Eindruck von der Situation bekommen musste.
Ich schloss meine Augen und versuchte zu schlafen, doch durch das wilde Heulen des Windes glaubte ich immer wieder das Gejaule eines Wolfes gehört zu haben – was ich mir, hoffentlich, doch nur einbildete!
Die Kälte nagte an mir, wie ein wildes, hungriges Tier. Gerade so konnte ich das Klappern meiner Zähne und unkontrolliertes Zittern unterdrücken – stattdessen biss ich mir so fest auf die Unterlippe, dass ich mein Blut schmeckte.
Nach gefühlten tausend Stunden drehte ich mich schließlich auf den Rücken. Zwar half das gegen diese verdammte Kälte kein bisschen, aber meine Schulter schmerzte schon zu sehr von diesem harten Steinboden, von dem mich nur eine dünne Stoffschicht schützte.
Alex neben mir erging es nicht besser, nur das er es, nach ungefähr einer Stunde, nicht mehr aushielt und so heftig anfing zu zittern, dass ich Angst bekam, er könnte sich seine Zähne ausschlagen, weil sie so fest aufeinander klopften.
„Alles o-o-okay bei dir?“ Das Sprechen machte es mir noch schwerer nicht die Beherrschung zu verlieren. Der Kampf, den ich gerade ausfocht, gehörte mitunter zu den schwersten meines ganzen Lebens – und dabei hatte es schon so viele gegeben…
„E-es g-geht so-o!“, stotterte Alex, wobei seine Schneidezähne nach jedem Wort wieder aufeinanderschlugen.
‚Ts, wer’s glaubt‘, dachte ich, sagte aber nichts weiter dazu. Er konnte ruhig zugeben, dass überhaupt nichts ging. Mir war klar, dass die Situation, in der wir uns gerade befanden, sehr gefährlich werden konnte, wenn wir nicht aufpassten.
Zwar schien es noch nicht zu regnen, aber irgendetwas lag in der Luft, das spürte ich ganz deutlich – und ich war mir zu hundert Prozent sicher, dass auch Alex, mit seinen einfachen Menschensinnen, das konnte!
Angestrengt versuchte ich die Kleidungsstücke über mir enger um mich zu schlingen, ohne dabei Alex abzudecken. Wenn wir wirklich erfrieren sollten, dann wäre das alles andere als das glorreiche Ende unserer Reise. Dann wäre alles umsonst gewesen!
Dieser Gedanke stachelte mich an. Ich nahm mir vor, nein ich schwor mir, dass ich nicht gegen den Wind und die Kälte verlieren würde – und Alex auch nicht!
„Alex, beweg deine Zehen!“ Umständlich richtete ich mich halb auf und versuchte sein Gesicht auszumachen, aber es gelang mir wieder nicht. Auch die Nacht schien nun vollends gegen uns zu Spielen.
„Was glaubst du, was ich die ganze Zeit mache?“, fragte Alex etwas gereizt, aber ich konnte ihn natürlich verstehen – immerhin erging es mir kein bisschen besser als ihm!
„Gut…“ Ich sagte es eher für mich selbst als für ihn, denn über den heulenden Sturm konnte er es sowieso nicht gehört haben.
„Duncan, ich bin bald bei dir!“, flüsterte ich mir immer wieder selbst zu. Mit Erinnerungen an ihn versuchte ich mich dazu zu zwingen, nicht einzuschlafen – denn Schlaf war eine große Gefahr bei solchen Temperaturen.
Trotz allem, dem guten zureden und den warmen Gedanken, fror ich weiter… und schlief irgendwann, erschöpft vom Kampf gegen die Naturgewalten, ein….

„Mars, da bist du ja endlich!“ Diese Stimme! Ich kannte sie doch!
Nur langsam fügte sich ein Bild in meinen Gedanken zusammen. Ich öffnete meine Augen, aber um mich war es stockdunkel.
„Mars, steh auf! Es ist nicht mehr weit!“ Wieder diese Stimme, aber ich konnte einfach nicht zuordnen wohin sie gehörte – sie klang so merkwürdig verzerrt.
„Wer bist du?“, schrie ich aus vollem Hals.
Ein trauriges Lachen war zu hören, dann erklang die Stimme wieder, doch dieses Mal hörte sie sich etwas anders an als zuvor. „Du hast mich also doch vergessen…“ Wie ein Echo hallten die letzten Töne nach.
Und schlagartig wurde mir klar, wer da mit mir sprach – es war Duncan!
„Duncan! Du bist es!“, rief ich nun in die Dunkelheit, aber diesmal bekam ich keine Antwort.
Stattdessen wandelte sich die vollkommene Schwärze um mich in etwas anderes. Zuerst konnte ich nur Konturen und Schatten erkennen, dann Farben und Lichter und schließlich lag eine Schutthalde vor mir. Das Weiß der Steine drohte sich in meine Netzhaut einzubrennen, weshalb ich heftig blinzeln musste.
„Duncan?!“ Wieder erhielt ich keine Antwort, aber ich wusste genau, dass er noch da war – ein Gefühl sagte es mir. Und dieses Gefühl erkannte ich auf den ersten Schlag.
Es war genauso, wie an dem Tag, als ich Ladysmith und mein Zuhause verlassen hatte, um in einer Höhle in der Wildnis zu leben – allein und zurückgezogen. Es war genauso wie damals, als ich Alex im Schnee gefunden hatte und ihn mit in meine Unterkunft schleppte, weil eben dieses Gefühl es für richtig hielt.
Und genauso war es auch jetzt wieder.
Und als hätte mir jemand eine Schleife von den Augen genommen, sodass ich wieder klar sehen konnte, erkannte ich plötzlich, dass es die ganze Zeit Duncan gewesen war. Er war gar nie richtig weg gewesen. Schon ganz am Anfang, kurz nach seinem Tod war er bei mir geblieben – in einer gewissen Weise.
Wie hatte ich das nur nicht spüren können?! Seine Anwesenheit war doch mehr als offensichtlich!
Erschrocken sog ich die Luft ein. Vor mir, auf einer ebenen Fläche erschien ein Nebelschleier. Genauso wie die ganze Umgebung, dauerte es auch bei ihm eine Weile, bis er Gestalt annahm.
Umso glücklicher machte es mich, dass dann Duncan vor mir stand – in Farbe und Lebensgröße.
„Du hast lange gebraucht.“ Er lächelte mich von oben herab an, genau wie er es so oft getan hatte.
Vor Erstaunen brachte ich keinen Ton heraus, ja nicht einmal bewegen konnte ich mich mehr!
„Bald hast du es geschafft“, flüsterte er nun etwas leiser in meine Richtung.
„Ja, ich weiß. Aber ich weiß nicht, wie ich dich… retten soll!“ Obwohl es eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre, war meine Stimme immer noch laut – vielleicht sogar etwas zu laut.
„Es gibt einen bestimmten Stein auf der anderen Seite des Berges…“ Duncan brach ab und zuckte zusammen, fast als hätte er Schmerzen. „Er hat eine Vertiefung in die der Ring genau passt. Wenn du ihn dort hinein legst, dann erledigt sich der Rest von selbst…“
Wieder zuckte er zusammen. Sein Gesicht war nun schmerzverzehrt. Ich wollte zu ihm gehen und ihn von diesen Qualen befreien, doch durch eine knappe Handbewegung hielt er mich davon ab.
„Bleib wo du bist, Mars. Wenn du noch näher kommst, halte ich es nicht mehr aus…“
„W-was hältst du nicht mehr aus?“, fragte ich verwirrt und etwas verletzt.
„Nicht jetzt! Du musst zusehen, dass du es schnell zu Ende bringst – Ann ist wieder hinter dir her!“ Wieder zuckte er zusammen, doch diesmal konnte er mich nicht mehr stoppen. Ich lief auf ihn zu, obwohl wir nicht mehr weit voneinander entfernt waren, und streckte meine Hand nach ihm aus.
Gerade als meine Finger seinen Körper berührt hätten, löste er sich wieder in Nebel auf. Ein brennender Schmerz lief durch meinen Körper und ließ mich zusammensacken.
„Sei vorsichtig….“, war das Letzte, was ich hörte, bevor alles wieder in Dunkelheit versank.



Schnaufend riss ich meine Augen auf. Mein Herz raste wie wild und obwohl ich eigentlich frieren müsste, schwitzte ich, als wäre ich in der prallen Sonne einen Marathon gelaufen. Die Kälte war völlig vergessen.
„Mars, was ist mit dir?“ Es war Alex. Schwach konnte ich seine Augen sehen. Ich schnappte nach Luft und setzte mich auf. Meine Hand wanderte automatisch an mein Herz, welches immer noch dahin galoppierte.
„Mars! Mars!“ Nun saß auch Alex neben mir. Verzweifelt rüttelte er mich an den Schultern, aber ich zeigte keine Reaktion auf seine Versuche, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – ich war wie gebannt!
„Oh Gott!“ Nun schwang echte Panik in seiner Stimme mit. Wahrscheinlich glaubte er, dass ich so eine Art Anfall hatte. Und endlich schaffte ich es, mich aus meiner Erstarrung zu lösen.
„Alles….okay.“ Meine Stimme war so leise, dass ich zuerst gar nicht sicher war, ob er mich überhaupt gehört hatte. Erst als er erleichtert seufzte und mich, ungefähr eine halbe Sekunde später, fest in seine Arme schloss, wusste ich, dass es mich doch verstanden hatte.
„Hey, ist ja schon gut! Was ist denn los?“ Nun war ich es, die sich Sorgen um ihn machte – er war plötzlich so ruhig geworden.
„Weißt du eigentlich was ich gerade für eine Angst hatte?!“ Fast klang es wie ein Vorwurf, aber er drückte mich noch fester an sich und zerstörte so den Eindruck.
„Ähm, nein… tut mir leid, das war keine Absicht.“ Etwas unbeholfen aber bestimmend drückte ich ihn von mir weg. Es war ja nicht so, dass wir vergessen sollten, wo wessen Platz war.
„Was war los mit dir?“ Er legte sich wieder halb hin und versuchte nicht wieder anzufangen zu zittern. So wie es aussah, hatte ihn meine kleine „Showeinlage“ ganz schön in Aufregung versetzt.
„Ich ähm… ach gar nichts…“ Diese Sache, die gerade zwischen Duncan und mir passiert war, war etwas Besonderes gewesen und ich hatte das Gefühl, sie geheim halten zu müssen.
„Du hast von ihm geträumt oder?“ Seine Frage ließ mich unwillkürlich zusammenzucken. Woher wusste er das denn?!
„W-was?!“ Mehr brachte ich im Augenblick nicht zustande. Ein leises, aber doch trauriges Lachen war zu hören.
„Du hast seinen Namen gerufen, ziemlich laut sogar. Träumst du oft von ihm?“ Wenn man glaubte, er konnte einen gar nicht mehr verwirren oder überraschen, dann kam er mit solchen Fragen!
„Nein, eigentlich.“ Langsam aber sicher wurde ich nachdenklich – und zwar so richtig.
Zuerst konnte ich mich nur an Duncans letzte Worte in meinem Traum erinnern, doch jetzt kam plötzlich alles wieder – von Anfang an.
Ein Punkt war mir sofort klar: Duncans und Anns Anweisungen, was den Ring betraf, waren unterschiedlich. Duncan wollte, dass ich ihn einfach in diese Vertiefung legte… Ann hingegen, dass ich ihn spaltete – und genau das wäre wahrscheinlich der größte Fehler meines Lebens gewesen.
Meine Vermutung, dass Ann mich angelogen hatte, bestätigte sich in eben diesem Augenblick, denn hätte ich den Ring wirklich zerstört, wäre mit ihm Duncan für immer verloren gewesen.
Ich klatschte mir mit der flachen Hand auf die Stirn. Fast hätte sie mich soweit gehabt. Fast hätte sie mich dazu gebracht, Duncan für alle Zeiten auszulöschen!
„Was hast du?“ Alex konnte mich nicht sehen, aber wahrscheinlich hörte er, dass ich lauter atmete als gewöhnlich. Der Wind war ja inzwischen wieder abgeflaut – wahrscheinlich war es sowieso schon früher Morgen – weshalb ich ihn jetzt auch viel einfacher verstehen konnte.
„Nichts, ich habe nur nachgedacht. Was denkst du, wann wir weitergehen sollten?“
„Keine Ahnung, aber sehr lange sollten wir nicht mehr warten, meinst du nicht auch?“ Wieder setzte er sich auf, doch diesmal schob er das ganze Zeug, das ihn bedeckt hatte, beiseite.
„Gut, dann mal los!“ Ungläubig starrte er zu mir hoch, als ich aufstand. Es musste wirklich schon ziemlich früh sein, denn jetzt konnte ich das Weiß seiner Augen wieder deutlich erkennen.
Behände stopfte ich Decken und Co. in den Rucksack, der neben Alex Kopf lag, während dieser sich mühsam aufrichtete. Er hatte wohl nicht ganz damit gerechnet, dass wir so früh losgehen würden. Naja, Überraschung!
Nur sehr, sehr langsam kam er in die Gänge, aber als er endlich aufrecht vor mir stand, half er mir tatkräftig.
Wie immer schwang er auch an diesem Morgen den Riemen des Rucksacks über seine Schulter und wartete geduldig, bis ich fertig gewittert hatte – das tat ich routinemäßig so gut wie immer, wenn wir unseren Standort wechselten.
„Okay, lass uns gehen.“ Da ich mir nicht ganz sicher war, ob er schon genug sehen konnte, nahm ich ihn, wie ein kleines Kind, an die Hand.
Fürs erste mussten wir keine größeren Hindernisse überwinden, was das Vorankommen doch ziemlich erleichterte. Allerdings hielt Alex mich manchmal etwas zurück, weil er sich scheinbar nicht ganz sicher war, wohin er als nächstes treten sollte.
Der Hang stieg zwar mit der Zeit immer steiler an, aber noch hatten wir so gut wie gar keine Probleme damit – wahrscheinlich, weil wir beide relativ ausgeruht waren.
Auch wenn es nun immer heller wurde, reichte das Licht bei weitem noch nicht aus, um Alex allein herumlaufen zu lassen, weshalb ich ihn weiterhin mit mir rumschleppte.
Als wir allerdings eine steil aufragende Felswand erreichten, standen wir vor einem richtigen Problem.
„Wie sollen wir da nur rauf kommen?“, fragte ich mich laut selbst.
„Wie sollen wir wo rauf kommen?“ Alex neben mir riss seine Augen weiter auf. Wahrscheinlich hoffte er, so mehr sehen zu könne, aber anscheinend funktionierte es nicht so, wie er es gern hätte. „Ich sehe nichts.“
„Tja, solltest du aber. Wir stehen vor einer Wand und ich habe keine Ahnung wie wir jetzt weiterkommen sollen… Wir werden noch einen Tag verlieren.“ Nach meinem Traum in der vergangenen Nacht erschien mir dieser Gedanke wie die reinste Folter. Ich war Duncan jetzt schon so verdammt nah, und trotzdem noch immer viel zu weit entfernt.
Verzweifelt ließ ich mich auf die Knie sinken und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Ich hatte damit gerechnet, dass ich weinen würde, aber es kam keine einzige Träne. Trotzdem war dieses Gefühl einfach nur erdrückend. Ich war knapp davor alles hinzuschmeißen – so kurz vor dem Ziel.
„Dann müssen wir eben einen Weg außen herum finden, das kann doch nicht so schwer sein.“
„Alex, erinnerst du dich noch daran, wie der Berg tagsüber ausgesehen hat?“, fragte ich. Er kapierte nicht sofort was ich mit meinen Worten bewirken wollte, aber als er es verstand, seufzte er entschuldigend.
„Du meinst also, es gibt keinen Weg außen herum?“
„Ja, genau das will ich sagen“, meine Stimme klang so tonlos wie noch nie zuvor. Kraftlos rappelte ich mich wieder auf, aber ich wusste, dass jeder weitere Schritt eine Qual werden würde.
„Ich habe einen Vorschlag, glaube ich…“ Es hörte sich fast so an, als würde Alex um seine Worte ringen müssen, als wollte er es eigentlich gar nicht sagen.
„Und der wäre?“ Ich schaffte es nicht einmal mehr, ihn anzusehen. Mein Kopf hing praktisch nur an meinem Körper, damit ich sehen konnte wie schlecht mein Leben war.
„Lass mich hier und kletter‘ allein da rauf. Ich finde schon allein einen Weg und wir treffen uns dann auf der anderen Seite dieses Berges….“ Die letzten Worte waren kaum noch hörbar.
„Ach, das kann ich nicht machen! Wir, wir müssen gemeinsam da…“
„Nein!“ Alex klang schon fast wütend, aber wahrscheinlich nur, weil es ihm so nur noch schwerer fiel sein Angebot aufrecht zu erhalten.
„Geh einfach, ich weiß, dass du viel besser sehen kannst als ich. Du schaffst das locker!“ Mit diesen Worten schupste er mich sanft ein Stück von sich weg.
„Danke, Alex“, flüsterte ich und erst jetzt rann eine einzelne Träne über meine Wange. Was er da gerade für mich tat war viel mehr, als ich vermutlich verdient hatte.
Ich schaffte es nicht, mich noch einmal umzudrehen, bevor ich eine Hand an die eisig kalte Steinwand legte. Hätte ich es doch getan, wäre ich vermutlich sofort umgekehrt und hätte gewartet, bis es hell genug wurde um gemeinsam einen Weg zu finden.
Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, den bronzenen Ring an meinem Finger glitzern zu sehen – als würde er mir sagen wollen, dass ich das richtige tat.
Also tat ich, was der Ring, mein Bauchgefühl und Alex mir sagten: ich ließ meinen besten Freund in irgendeiner, praktisch fremden Welt allein zurück, um weiterhin für Duncans Leben zu kämpfen.


Sonnenaufgang



Ich hatte das Gefühl keinen Millimeter mehr voran zu kommen. Gleichzeitig wusste ich aber auch, dass es nicht mehr weit sein konnte – auch wenn meine Finger brannten als würde ich sie in Glut tauchen.
Wie lange ich jetzt genau schon in dieser Felswand hing wusste ich inzwischen nicht mehr und eigentlich war es mir auch ziemlich egal. Die Hauptsache war es, überhaupt weiter zu kommen – und das tat ich ja irgendwie.
Etwas verhältnismäßig heißes rann über meinen Handrücken und verschwand vermutlich im Ärmel meines Pullovers. Jetzt war es also schon so weit, dass ich mir die Finger blutig geklettert hatte, na das war ja mal etwas ganz Besonderes!
Für den Bruchteil einer Sekunde hing ich nur an den Händen in der Luft, dann fanden meine Fußspitzen endlich wieder Halt und ich stemmte mich weiter nach oben, immer mit dem stummen Gebet im Hinterkopf, diese Wand möge bald ein Ende haben.
Und tatsächlich hatte sie das dann auch!
Keine fünf Meter ober mir befand sich eine schroffe Felskannte. Als ich mich über den kantigen Rand zog, riss ich meine Hose und meine Handflächen auf, aber ich wusste, dass die Wunden heilen würden – das taten sie immer.
Ohne mich noch einmal umzudrehen ging ich weiter. Mir war klar, dass ich mich beeilen musste, wenn ich es bis zum Sonnenaufgang schaffen wollte.
Dass Alex irgendwo weit hinter mir zurückgeblieben war, rückte nun in den Hintergrund. Ich konnte mich nicht auf Duncan und Alex gleichzeitig konzentrieren – das war einfach etwas zu viel für mich.
Stattdessen richtete ich meinen Blick starr auf den Boden vor mir. Merkwürdigerweise befanden sich hier weniger Steine als unten, dafür erstreckte sich hier oben eine richtige Wiese. Der Boden war weich und gab unter jedem meiner Schritte leicht nach. Meine Vermutung wäre ja eigentlich gewesen, dass der Sturm, der zuvor gewütet hatte, in höheren Regionen Schnee hinterlassen hatte, aber in diesem Punkt hatte ich mich wohl gründlich getäuscht. Die Gräser und Kräuter verströmten einen geradezu betörenden Geruch und erinnerten mich an die Zeit, in der ich oft mit meinen Eltern wandern gewesen war. Ich atmete tief ein und wieder aus.
Ein und wieder aus. Immer wieder.
So kam mir die Strecke, die ich zurücklegte schlussendlich gar nicht so weit vor. Irgendwann vernahm ich vor mir ein gleichmäßiges Gluckern. Eine leichte Brise trug schließlich auch den dazu passenden Geruch in meine Richtung – feuchtes Moos, nasse Steine und eiskaltes Wasser.
Den Bach erreichte ich erst ungefähr eine halbe Stunde, nachdem ich ihn erschnüffelt hatte, was mir irgendwie seltsam vorkam. Aber ich musste weiter.
Sehr viel Zeit blieb mir sicher nicht mehr und dass der Himmel im Osten, den ich von dieser Seite des Berges aus sehen konnte, sich allmählich immer heller färbte spornte mich noch zusätzlich an.
Duncan wäre nicht im Traum zu mir gekommen, wenn er nicht wirklich wollte, dass ich es schnell zu Ende bringe. Ich beschleunigte, übersprang das Rinnsal, das sich wie ein silbern glänzendes Band durch die Wiese zog und landete auf der anderen Seite auf einer schmalen Sandbank.
Vor mir bewegte sich etwas. Der Geruch war mir nicht ganz unbekannt, aber so richtig zuordnen konnte ich ihn dann auch wieder nicht. Da ich nicht das Gefühl hatte, in Gefahr zu sein, ließ ich mich nicht aufhalten und marschierte stur weiter.
Dass nur Sekunden später ein Schwarm Vögel wild zwitschernd vor mir aufflog und in alle Richtungen davonstob ließ mich höchstens einen Herzschlag lang inne halten. Ich hatte doch gleich gewusst, dass da nichts Beunruhigendes war!
Leicht kopfschüttelnd umkreiste ich einen niedrigen, dürren und völlig blattlosen Strauch und stolperte weiter.
Ja, die Vögel hatten mich höchstens daran erinnert, wie hungrig ich war! Wie lange ich wohl schon nichts mehr gegessen hatte? Einen Tag? Oder zwei?
Ich wusste es wirklich nicht mehr.
Seufzend rieb ich mir den Bauch ohne aber stehen zu bleiben. Ich hatte in meinem Leben schon so viele harte Nächte gehabt, doch diese hier war doch noch einmal eine Steigerung – so unwirklich sich das auch anhörte!

Stunden waren vergangen! Ich war ohne Pause weitergelaufen, hatte stellenweise sogar mein Leben riskiert, weil ich so schnell unterwegs gewesen war, dass ich schmale Schluchten oder andere gefährliche Hindernisse im Halbdunkel zu spät gesehen hatte.
Jetzt aber konnte es nicht mehr allzu lange dauern – ich spürte es einfach.
Ich befand mich auf einer ebenen Steinplatte. Ein anderer Berg warf seinen Schatten ins Tal hinab, so dass ich nicht genau sagen konnte, wie weit ich noch gehen musste… wie lange ich noch kämpfen musste.
Nur, dass es nicht mehr sehr weit sein konnte, wurde mir allmählich klar.
Hier und da wuchsen hier schon wieder niedrige Kiefern, die sich Schutz suchend an den, manchmal steilen, manchmal flacheren Hang drängten. Ohne diese Pflanzen beleidigen zu wollen – falls man eine Pflanze überhaupt beleidigen konnte – musste ich doch zugeben, dass sie recht verkrüppelt aussahen.
Zumindest mein Magen hatte sich in der Zwischenzeit wieder beruhigt, auch wenn ich zeitweise das Gefühl hatte, dass er sich bereits selbst verdaute. Dafür verkrampften die Muskeln in meinen Beinen zusehends.
Für mich eine besonders seltsame Situation, da ich, dank meiner Kräfte, doch normalerweise mehr als nur ausdauernd war. Tja, so wie es aussah hatte auch mein Körper irgendwann seine Grenzen – egal wie stark er auch war.
Obwohl es mir widerstrebte ging ich in die Hocke und versuchte für eine Weile zu entspannen. Meine Augen wanderten trotzdem ununterbrochen über den Hang, auf dem ich mich befand. Meine Nase hätte selbst den kleinsten Funken von Gefahr sofort erfasst und selbst das kleinste Geräusch hätte mich in Alarmbereitschaft versetzt.
Doch langsam wurde mir auch klar, dass alles nichts brachte. Auch wenn ich schon Stunden früher gewusst hätte, dass Ann oder sonst irgendjemand oder etwas auf mich zukäme, wie hätte ich mich wehren sollen?
Etwa mit Händen und Füßen wie in der Steinzeit? Ach nein! Selbst die Leute damals hatten schon Waffen um sich zu verteidigen. Ich hingegen war allem was noch kommen mochte vollkommen schutzlos ausgeliefert – falls man das überhaupt noch ausgeliefert nennen konnte.
Ich saß praktisch auf dem Silbertablett und zwar für hungrige Raubtiere aller Art sowie auch für Duncans wahnsinnige Schwester.
Seufzend richtete ich mich wieder auf und strich mir meine Haare aus dem Gesicht. Ja, jetzt würde es wohl wirklich nicht mehr lange dauern.
Es wurde schon immer heller. Ganz im Osten zeichnete sich ein rot-goldener Streifen ab. Aber mir blieb wahrlich nicht mehr genug Zeit, um über den Sonnenaufgang nachzugrübeln.
Ich drehte mich einmal um meine eigene Achse. Meine Augen nahmen alles auf, was im Umkreis von ein paar hundert Metern war. Nur von hellgrauen oder weißen Felsbrocken war weit und breit nichts zu sehen.
War ich hier falsch?
An der ganz falschen Stelle? Mein Herz fing an wie wild zu pochen. Noch einmal drehte ich mich. Mit zitternden Händen und einem flauen Gefühl im Bauch stellte ich nach ein paar weiteren Runden fest, dass weiter unten der Hang einfach aufhörte – fast als hätte ihn dort jemand fein säuberlich abgeschnitten und den Rest verschwinden lassen.
Langsam ging ich auf dieses „Ende“ zu. Ungefähr einen Meter vor der Kante blieb ich stehen und lehnte mich ganz leicht nach vorne. Es ging steil bergab.
Schon wieder eine von diesen verdammten Felswänden! Genervt verdrehte ich die Augen und trat noch ein Stückchen näher, wobei ich sorgsam darauf achtete, das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
Dort unten war doch etwas, oder nicht? Ich kniff meine Augen zu Schlitzen zusammen und konzentrierte mich, bis mein Kopf vor Anstrengung anfing zu dröhnen.
Da war doch etwas helles, oder lag ich etwa falsch?! Nein, meine Augen waren gut – dort unten war es!!!
Ohne länger zu überlegen lief ich nach rechts. Ich wusste nicht wie ich auf die Idee kam, dass ich an einer anderen Stelle besser hinab steigen konnte, aber ich hatte schon so eine Vermutung, warum mich mein Gefühl dorthin leitete.
„Danke, Duncan!“, flüsterte ich und schloss für den Bruchteil einer Sekunde meine Augen. Als wollte er mich in dem was ich tat bestärken, drückte mich der Wind sanft weiter. Ich konnte ein Lächeln kaum unterdrücken, er war es wirklich!
Und tatsächlich! Vor mir befand sich eine Art natürliche Treppe. Die Stufen waren zwar unregelmäßig – klarerweise! – aber wenn ich hier nicht hinunter kam, dann wohl nirgendwo!
Stolpernd stürzte ich los. Ich achtete nicht großartig auf meine Schritte, sondern eher darauf, wo sie mich hinführten – nämlich in eine natürliche Absenkung, die von schneeweißen, mannshohen Felsen umrahmt war!
Für mich gab es nun kein Halten mehr.
Obwohl ich schon so weit abgestiegen war, befand ich mich immer noch nicht einmal auf der Hälfte der Höhe des Berges – ein weiteres Zeichen dafür, was Alex und ich am Tag zuvor mit unserem Aufstieg auf der anderen Seite des Berges geschafft hatten.
Keuchend erreichte ich schließlich den Grund der Felswand. Meine Knie fühlten sich an, als würden sie jeden Moment nachgeben – obwohl ich mir sicher war, dass sie das nicht tun würden. Der Boden war übersät mit weißem, bis hellgrauem Kies und diese winzigen Steinchen bohrten sich schmerzhaft in die viel zu dünnen Sohlen meiner alten Schuhe.
Außer Atem brauchte ich ein paar Minuten, bis ich mich genauer umsehen konnte.
Es sah genauso aus, wie in dem Traum, den ich gehabt hatte – den mir Duncan gesandt hatte.
Eine Freudenträne stahl sich wie ein gemeiner Dieb aus meinem Augenwinkel und rollte über meine Wange. Ich konnte einfach nicht anders, als zu lächeln.
Endlich war ich am Zielt angekommen. Es würde nicht mehr lange dauern, dann könnte ich meinen Duncan wieder in die Arme schließen!
Aus meinem Lächeln wurde ein lautes Lachen. Müde, erschöpft und gleichzeitig überglücklich ließ ich mich einfach auf den Boden plumpsen und starrte in den Himmel.
Von Osten her zog bereits ein heller Schein bis fast ganz nach Westen. Am Horizont war ein breiter, dunkelroter Streifen erschienen.
Es konnte sich höchstens noch um eine Stunde handeln, bis die Sonne aufging.
Nur noch eine Stunde, in der ich auf ein Wiedersehen mit Duncan warten musste.
Wieder atmete ich zufrieden ein und schloss für ein paar Sekunden meine Augen.
Wo Alex wohl gerade war? Er würde sich doch wohl nicht in der Dunkelheit verletzt haben, oder?
Mein Herz fing wie wild an zu pochen. Aus meiner guten Laune wurde im Bruchteil von Sekunden ein schlechtes Gewissen.
Ich hatte meinen besten Freund zurückgelassen. Wie egoistisch war ich eigentlich?!
Wie konnte ich das nur tun?
Wütend auf mich selbst knirschte ich mit den Zähnen, fasste neben mir zu Boden und schleuderte eine Faust voll Steichen gegen die Felswand hinter mir. Mit einem gleichmäßigen Prasseln fielen sie dort zu Boden.
Ich war dumm gewesen ihn allein zu lassen – noch dazu mitten in der Nacht. Außerdem hatte Duncan mir doch gesagt, dass Ann wieder hinter uns her war… Und trotzdem war ich gegangen.
Und Alex, der schwebte jetzt meinetwegen in Lebensgefahr!
Tausende solcher Gedanken schossen mir durch den Kopf. Am liebsten hätte ich mich für jeden einzelnen davon selbst geschlagen, aber was hätte das gebracht?
Meine Wunden würden wieder heilen, Alex hingegen nicht. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ihm meinetwegen etwas zustieß!
Ich war hin und her gerissen. Ein Teil von mir wollte, dass ich augenblicklich aufstand und zu ihm zurückging. Der andere Teil, der um einiges stärker zu sein schien, nagelte mich hingegen am Boden fest und hinderte mich so daran, den ganzen Weg wieder zurück zu laufen.
In meiner Zerissenheit lag ich dort.
Minuten vergingen, verschwammen und ich bemerkte erst, dass es Zeit war aufzustehen, als ein Sonnenstrahl von der Steinwand hinter mir reflektiert wurde.
Verdutzt blinzelte ich ein paar Mal und setzte mich dann auf. Mein Herz fing unkontrolliert an zu rasen.
Das Band des hellen Lichts wanderte immer weiter zu Boden – ich konnte es nur sehen, weil ich mich extrem darauf konzentrierte.
Wie in Zeitlupe stand ich auf, vor Erschöpfung immer noch etwas wackelig auf den Beinen. Nur wenige Minuten später spürte ich die Wärme der aufgehenden Sonne bereits auf meinem Hinterkopf und wandte ihr mein Gesicht zu.
Der kleine, bronzene Ring an meinem Finger funkelte mehr denn je und schien sich mit mir freuen zu wollen.
Etwas geblendet schaute ich mich nun um.
Nur ein paar Meter von mir entfernt stand ein hüfthoher Felsen. Er gehörte eindeutig nicht zu der Formation, die eine Art Umrandung dieser Absenkung bildeten.
Langsam ging ich darauf zu und suchte noch während ich mich näherte mit den Augen seine Oberfläche ab – bis ich schließlich in der Mitte der Oberseite fündig wurde.
Eine winzige, kreisrunde Vertiefung, zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich wusste sofort, dass ich nicht nur den Ort, sondern auch den Stein gefunden hatte, den ich brauchte, um Duncan wieder zurück zu holen. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit.
Die Sonne im Osten stieg immer höher und höher und tauschte bald ihren rot-orangen Schein gegen das goldene Licht ein, das sie tagsüber auf die Erde sandte.
Einen Moment lang war ich wie gebannt. Noch nie zuvor war sie mir so wichtig und großartig vorgekommen wie in diesem Augenblick. Manchmal brauchte man eben anscheinend wirklich etwas länger um zu begreifen, dass Dinge, die man eigentlich für selbstverständlich hinnahm, auch etwas ganz Besonderes waren.
Widerwillig riss ich mich von der goldenen Kugel los und starrte nun den Felsen vor mir wieder an.
Ich wusste instinktiv was zu tun war, nur war ich mir noch nicht ganz sicher, ob ich das auch konnte.
Wieder kam eine Brise auf und wehte mir einen blumigen Geruch in die Nase. Ich wusste, dass es Duncan war, der mich dazu bewegen wollte, weiter zu machen.
Wieder lief alles wie in Zeitlupe ab. Der Wind wehte mir meine Haare ins Gesicht, aber ich bekam es nicht einmal richtig mit.
Meine Hände zitterten wie wild, als ich den Ring von meinem Finger zog und noch einen Moment auf meiner offenen Handfläche liegen ließ.
Würde er verschwinden, wenn ich Duncan zurück holte? Wäre er dann für immer weg?
Aber warum dachte ich überhaupt darüber nach? Was war schon ein dämlicher, kleiner Ring, wenn ich ihn gegen Duncans Leben austauschen konnte – gar nichts!
Nun wurde ich entschlossener. Immer noch zitterte ich am ganzen Körper, hatte es jetzt aber wenigstens unter Kontrolle.
Es wunderte mich, dass ich die winzige Vertiefung im Stein nicht verfehlte, doch es gelang mir tatsächlich im ersten Anlauf.
Wieder stiegen mir Tränen in die Augen, aber diesmal ließ ich sie freiwillig laufen. Es war so gut wie vorbei.
Ich machte einen Schritt rückwärts und wartete.
Und wartete.
Und wartete.
Nichts geschah. Die Tränen der Freude wandelten sich in Tränen der Trauer. Würde es doch nicht funktionieren?
Es war also doch unmöglich jemanden von den Toten wiederzubeleben. Der ganze, weite Weg hierher war umsonst gewesen. Ich hatte Alex ohne Grund Gefahren ausgesetzt, die es nicht gäbe, wäre ich nicht hierher gereist.
Ich bemerkte, wie ich in die Knie ging. Ich stürzte einfach und wollte es nicht verhindern.
Jetzt, wo ich wusste, dass ich Duncan nicht wiedersehen würde, war mir alles egal. Mein Leben war wertlos und er hatte sich umsonst geopfert. Sollte Ann doch endlich kommen und mich holen und aufhören ihre Spielchen mit mir zu spielen und mich so noch länger zu quälen. Ich wollte nicht mehr weiter.
Ich wollte nicht mehr atmen oder denken müssen. Ich wollte, dass mein Leben endlich endete – hier und jetzt.
Meine Knie schlugen schmerzhaft auf den körnigen Boden auf. Die Steinchen bohrten sich durch den dünnen Stoff meiner Hose in meine Haut. Mir machte es nichts mehr aus.
Ich zuckte nicht zusammen, als der Wind erneut gegen meinen gebeugten Oberkörper drückte. Ich verstand ja nicht einmal woher ich die Kraft nahm noch zu sitzen.
Ein Knistern ertönte, aber ich konnte nicht sehen woher es kam – es war mir im Grunde auch egal.
Meine Haare fielen mir über die Schulter und nahmen mir so die Sicht auf alles. Es war fast so, als wäre ich, wenigstens für kurze Zeit, in meiner eigenen, kleinen Welt – in einer sicheren Welt, ohne Schmerz und Leid.
Das Geräusch wurde lauter, jedoch nicht unangenehm sondern eher wie das Knistern eines warmen Feuers.
Immer mehr Tränen liefen meine Wangen hinab und tropften von meinem Kinn.
Das Knistern ging derweil in ein Rascheln über. Ich wollte nicht neugierig sein. Ich wollte, dass mir alles egal war.
Die Wahrheit war aber, dass ich nicht abstreiten konnte, dass es mich interessierte, was dieses seltsame Geräusch auslöste.
Viel langsamer als ich eigentlich wollte hob ich meinen Kopf, bis ich wieder etwas sehen konnte.
Als hätte mich jemand umgeworfen, kippte ich hinten über und schob mich weiter weg von dem Felsen – und somit auch dem Ring.
Tausende und Abertausende goldene und silberne Funken stoben aus dem Stein hervor und schossen gen Himmel. Es sah fast so aus, als würden sie mit der aufgehenden Sonne um die Wette strahlen wollen.
Mir klappte vor Erstaunen der Mund auf als ich den Flugbahnen der glänzenden Pünktchen folgte. Anstatt nämlich zu verblassen oder einfach zu verschwinden, formten sich die Lichtbällchen an ihrem höchsten Punkt in Schmetterlinge und flatterten in alle Himmelsrichtungen davon.
Ich war wie gebannt und konnte mich nicht einen Millimeter bewegen. Sogar zu atmen vergaß ich ganz, so dass ich, nach ungefähr einer halben Minute, hektisch anfing nach Luft zu schnappen.
Nach einiger Zeit veränderten die Funken zuerst ihre Farbe – nämlich in strahlendes weiß – und ihre Form. Sie wurden viel größer aber anstatt sich in Schmetterlinge zu verwandeln sammelten sie sich oberhalb des Rings und bildeten so einen riesigen… Klumpen.
Ich wusste nicht warum, aber aus irgendeinem Grund fingen meine Hände noch schlimmer an zu zittern. Meine Zähne schlugen aufeinander als würde ich kurz davor stehen zu erfrieren. Mein Zustand hatte sich erneut geändert – von einer Sekunde auf die andere.
Schon fast panisch versuchte ich noch mehr Distanz zwischen den Stein und mich zu bringen, indem ich mich ein weiteres Stück nach hinten schob.
Meine Finger bohrten sich dabei wie Klauen in den losen Kies doch mit den Beinen schien ich einfach keinen Halt finden zu können.
Ich wusste ja noch nicht einmal wovor ich mich fürchtete. Dieses Farbenspiel, das das Licht vor mir an die Oberflächen der hellen Felsen malte war doch atemberaubend schön! Wieso also hatte ich so eine verdammte Angst davor?
Ein lauter Knall riss mich aus meinen Gedanken. Sofort hatte diese gleißende Lichtwolke wieder meine Aufmerksamkeit. Sie war nun noch größer geworden, aber auch unförmiger. Längst glich sie nicht mehr einer Kugel, sondern eher einer langen, breiten Linie… oder einem Körper.
Ich kniff die Augen zusammen. Das Licht blendete mich und ich hatte große Probleme noch irgendetwas erkennen zu können aber nach ein paar Sekunden gewöhnten sich meine Augen schließlich doch daran.
Ich schnappte vor Schreck nach Luft. Es sah nicht nur aus wie ein Körper, es war auch einer!
Ich konnte leicht muskulöse Oberarme erkennen, lange Beine und einen Brustkorb der sich leicht zu heben und zu senken schien – oder bildete ich mir das nur ein?
Mein Blick schweifte den Hals hinauf und blieb schließlich an dem Profil des Gesichts hängen. Einem Gesicht, das ich so gut kannte. Es hatte sich kaum verändert… eigentlich gar nicht.
Vielleicht sah es auch einfach nur älter aus, weil die Haare, die selbst in Mitten des strahlenden Lichts noch dunkel aussahen, nicht mehr so lang waren wie das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte.
Wieder hielt ich den Atem an.
Es war eindeutig Duncan, der da vor mir in der Luft schwebte – fast vollkommen regungslos und einem Geist ähnlicher als einem lebenden Menschen.
Meine Unterlippe fing unkontrolliert an zu zittern. Wieder weinte ich, doch diesmal waren es Freudentränen.
Ich wusste selbst nicht mehr so recht, was ich überhaupt denken sollte.
Einmal könnte ich platzten vor Freude und Glück, im nächsten Moment war ich so am Boden zerstört, dass ich am liebsten nur noch sterben würde…
Ich wurde aus meinen wirren Gedanken gerissen, als das Licht noch einen Grad heller wurde und ich so meine Augen mit den Händen abschirmen musste.
Als ich sie wieder runter nahm war es dunkel – verhältnismäßig dunkel. Außer der aufgehenden Sonne gab es keine Lichtquelle mehr, doch meine Augen waren noch an die ehemalige Helligkeit gewöhnt und so konnte ich rein gar nichts sehen – schon wieder an diesem jungen Tag.
Während ich also durch hektisches Blinzeln versuchte etwas zu erkennen, hörte ich vor mir ein leichtes Keuchen.
Auf einen Schlag erstarrte ich und hielt den Atem an. Die Umrisse vor mir wurden klarer und hoben sich nun endlich voneinander ab.
Duncan lag ausgestreckt vor mir auf dem Boden – und bewegte sich nicht. Nur sein Brustkorb hob sich, wie er es vorhin schon getan hatte.
Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich mich wieder bewegen konnte – geschweige denn denken!
„Duncan!“, flüsterte ich und krabbelte unbeholfen auf ihn zu. Irgendwie fühlt es sich fast so an, als würden meine Arme und Beine unter mir nachgeben wollen – als wären ich auf eine fremde Art und Weise gelähmt.
„Duncan! Duncan!“ Endlich hatte ich ihn erreicht. Zögernd legte ich meine Hände auf seine Schultern. Erst jetzt bemerkte ich, dass sein Oberkörper nackt war, während seine Beine in einer langen, schwarzen Hose steckten.
Ich konnte seine Augen nicht sehen. Verzweifelt suchte ich in seinem Gesicht nach Anzeichen, dass er sie endlich öffnen würde – aber ich fand nichts.
Nur sein Mund klappte von Zeit zu Zeit leicht auf und er schnappte nach Luft.
Ich sank neben ihm auf die Knie, meine Hände ruhten immer noch auf seinen Schultern. Ich fühlte durch meine Fingerspitzen seinen Herzschlag.
Mir wurde augenblicklich warm und ich merkte, dass ich lächelte.
Mein Blick heftete geradezu an seinem Gesicht. Ich hatte gewusst, dass er gut ausgesehen hatte. Das was ich hier jetzt vor mir sah übertraf aber selbst den Duncan in meinen Träumen um einiges.
Hätte ich ihn nicht so aufmerksam beobachtet, wäre es mir vermutlich nicht aufgefallen. So aber sah ich sofort, dass seine Wimpern leicht zitterten, als seine Lider anfingen zu zucken.
Es war fast, als würde mein Herz einen Schlag aussetzen nur um dann doppelt so schnell weiter zu schlagen.
Und dann öffnete er endlich seine Augen und starrte in den morgendlichen Himmel.
Mich hielt nichts mehr. Ohne nachzudenken fiel ich ihm um den Hals und drückte ihn so mit meinem ganzen Gewicht nieder. Es war mir egal, dass er gerade erst wieder ins Leben zurück gekommen war. Alles war noch zählte war, dass er hier bei mir war.
Und eins war ja wohl jetzt schon klar: mich würde er nie wieder loswerden!
Ich spürte seinen Atem auf meiner Haut und nach ungefähr einer Minute auch seine Hände auf meinem Rücken. Widerwillig drückte ich mich ein Stück von ihm weg, nur um ihm in die Augen sehen zu können.
Sie waren immer noch genauso schwarz wie an dem Tag, an dem er gestorben war.
„Marissa…“ Länger ließ er mich ihn nicht mehr ansehen – obwohl ich das noch Stunden machen könnte – und zog mich wieder an sich nur um sich gleichzeitig auf zu setzten.
„Du hast es geschafft!“, flüsterte er mir ins Ohr und klang dabei so glücklich und liebevoll, dass es mir einen warmen Schauer über den Rücken jagte.
Ich konnte darauf nichts antworten. Ich war einfach zu… geplättet. Anders konnte man es wirklich nicht mehr sagen. Mein Körper fühlte sich an, als hätte jemand einen riesengroßen Felsbrocken von mir herunter gehoben. Endlich konnte ich wieder frei atmen.
„Ich liebe dich“, hörte ich ihn sagen bevor er seine Lippen auf meine presste. Überrascht machte mein Herz einen Sprung. Dann schloss ich meine Augen und ließ mich einfach fallen. Ich wusste, dass es jetzt vorbei war.
Oder besser gesagt: ich glaubte, dass es vorbei war.
Denn eine wichtige Tatsache hatte ich vor lauter Aufregung vergessen: Alex…


Am Abgrund



Minutenlang saßen Duncan und ich so am Boden und sahen uns einfach nur schweigend an. Ich war noch immer nicht dazu in der Lage irgendetwas zu sagen, aber er verstand das anscheinend, denn er versuchte erst gar nicht mich zum Sprechen zu bewegen.
Irgendwann half ich ihm dann umständlich auf die Beine. Er war einfach noch nicht wieder in der Form, in der er vor seinem Tod gewesen war. Aber hey, er war ja immerhin wieder auferstanden – sozusagen – da durfte er sich eine kleine Pause gönnen.
Glücklich lächelnd schmiegte ich mich an ihn und genoss die Wärme der Sonne auf meiner Haut und das wunderbare Gefühl ihn wieder umarmen zu können.
Nach einiger Zeit konnte ich wirklich nicht mehr sagen wie lange wir so dastanden, aber ich wusste, dass unsere Zweisamkeit jäh unterbrochen wurde.
Ein lautes Knurren, gefolgt von einem schmerzerfüllten Schrei ließen mich zusammen zucken.
Duncan war sofort in Alarmbereitschaft – genau wie ich.
„Alex!“, stieß ich hervor und packte Duncan an der Hand um ihn hinter mir her zu zerren. „Duncan, bitte! Hilf ihm!“, flehte ich ihn an während ich ihn durch einen Spalt zwischen zwei niedrigeren Felsen schob.
Entschuldigend sah er auf mich herab. „Mars, ich kann ihm nicht helfen. Ich bin kein Wolf mehr….“ Er sah mich nicht an während er das sagte, hörte sich aber mehr als nur traurig an.
„Wie meinst du das?“, hakte ich panisch nach, wobei sich meine Stimme ungefähr so anhörte wie wenn man einem Hund auf den Schwanz trat – hoch und gequält.
„Ich kann mich nicht mehr verwandeln. Ich habe dir doch meine Magie gegeben, erinnerst du dich?“, fragte er und versuchte sich an einem Lächeln – was jedoch kläglich missglückte.
„Aber…!“
„Nein, Mars. Ich kann es nicht mehr… Aber du kannst es!“ Er drehte sich so gut es ging zu mir herum, nahm mein Gesicht in seine Hände und beugte sich zu mir herab, bis unsere Augen auf einer Höhe waren.
„Ich weiß aber nicht wie!“, klagte ich. Mir stiegen die Tränen in die Augen.
Alex Leben lag jetzt in meinen Händen, aber ich konnte ihm nicht helfen. Ich hatte keine Ahnung wie man sich verwandelte – ich hatte es ja noch nicht einmal versucht!
„Hilf mir!“, flehte ich und klammerte mich an ihm fest, „Bitte hilf mir!“
Seine Lippen streiften kurz meine, dann bohrte sich sein Blick in meinen. „Du kannst das, Mars. Du bist der stärkste Mensch den ich kenne. Glaub an dich!“
„Ich kann nicht…“
„Du bist aber seine einzige Chance! Ann ist bei ihm und das weißt du! Und jetzt geh und rette ihn schon!“, forderte er mich auf und versuchte dabei zu lächeln.
In nächsten Moment ließ er mich los und quetschte sich das letzte Stück durch die Felsspalte, bis er dahinter auf einem kleinen Wiesenstück zum Stehen kam.
Ich folgte ihm wie ein Schatten.
„Ich begleite dich.“ Mit diesen Worten ergriff nun er mich an der Hand und rannte los. Eines musste man ihm schon einmal lassen: er war immer noch verdammt schnell, auch wenn er längst kein Gestaltwandler mehr war. Trotzdem musste ich mich extrem zurückhalten um ihn nicht mit mir zu reißen und so zum Sturz zu bringen.
„Duncan, nicht!“, stieß ich hervor als ich merkte was er da gerade tat. Er zog mich in einen Kampf, bei dem er ohne weiteres wieder getötet werden könnte! Und dieses Mal würde ich ihn nicht zurückholen können…
„Warte!“ Ohne Vorwarnung blieb ich stehen, was Duncan ins Taumeln brachte. Er schaffte es gerade noch so sein Gleichgewicht wieder zu finden und nicht zu stürzen.
„Was soll das?“, fragte er fast aggressiv. Ich wusste, dass es ihm im Blut lag sich Kämpfen zu stellen und Menschen zu helfen, aber er war jetzt nicht stärker als Alex… und so ein leichtes Opfer für Ann.
„Du bleibst hier, Duncan“, sagte ich nur stumpf und entwand ihm meine Hand.
„Was…warum?“, wollte er nun von mir wissen. Er sah wirklich so aus, als würde er meine Beweggründe nicht verstehen.
„Du bist ein Mensch. Ann wird dich töten.“
„Nein, wird sie nicht. Aber wenn wir hier noch mehr Zeit verschwenden werden wir zu spät kommen… und dann wird Alex sterben, das weißt du!“
„Woher weißt du von…“
„Das ist jetzt nicht wichtig!“, unterbrach er mich und wandte sich wieder halb zum Gehen.
„Es tut mir leid, Duncan.“ Ich schloss kurz die Augen um ihn wenigstens nicht ansehen zu müssen. „Falls ich es nicht schaffe sollst du wissen, dass ich dich liebe…“
Und schon war ich weg. Ich sah im Augenwinkel noch, wie Duncan mir empört hinterher starrte, zurückhalten konnte er mich aber nicht. Ich war schneller losgerannt als er überhaupt reagieren hatte können, war ihm geschickt ausgewichen und raste nun den Hang hinter ihm hinunter.
Mit jedem meiner Schritte trat ich mehr und mehr Geröll los, aber ich ignorierte das lauter werdende Rieseln unter mir.
Ich wusste, dass Duncan mir folgte – wenn auch um einiges langsamer. Diesmal musste ich Ann ohne ihn antreffen, nicht so wie beim letzten Mal. Denn da hatte Duncan es geschafft mich einzuholen und wie es ausgegangen war wusste ich noch allzu gut… er war gestorben!
Von diesen Gedanken angetrieben erhöhte ich mein Tempo ein weiteres Mal und flog jetzt schon fast dahin. Ich war schon oft gerannt, aber noch niemals so schnell – nie!
Wieder hörte ich einen Schrei vor mir. Sehr weit konnte es jetzt nicht mehr sein – ich konnte Alex Angst schon fast riechen.
Und noch ein anderer Geruch lag in der Luft… Anns.
Also hatte Duncan recht gehabt und Ann hatte Alex gefunden. Und dabei war ich doch gar nicht so weit von ihm entfernt gewesen. Wäre ich doch nur bei ihm geblieben!
Wieder machte ich mir furchtbare Vorwürfe.
Doch es blieb noch ein ganz anderes Problem zu lösen.
Wenn ich ein wenigen Sekunden meiner größten Rivalin gegenüber treten würde, wie sollte ich mich dann wehren? Warum hatte Duncan mir nicht gesagt, wie man sich verwandelte? Wusste er es vielleicht nicht mehr? Oder war es ihm… Nein! Es war ihm nicht egal, da war ich mir ganz sicher.
Was hatte er nochmal gesagt? Ich solle an mich glauben?
Aber wie meinte er das?
Ein donnerndes Knurren ließ mich zusammenzucken. Diesmal folgte allerdings kein Schrei, was mich schon das Schlimmste vermuten ließ.
Wenn diese miese Schlange jetzt auch noch Alex verletzt haben sollte, würde ich ihr höchst persönlich den Arsch aufreißen!
Vor Zorn bemerkte ich erst, dass ich bereits mitten im Geschehen war, als ich den ponygroßen, nachtschwarzen Wolf vor mir sah. Sie war allerdings gerade damit beschäftigt den, bereits blutend am Boden liegenden Alex auf einen Abgrund zuzutreiben und sah mich so nicht kommen.
Es war fast, als würde sich mein Gehirn einfach abschalten. Ich dachte nicht mehr, ich handelte nur noch aus reinem Instinkt.
Noch aus dem Lauf heraus warf ich mich gegen sie. Mein Ellbogen bohrte sich zwischen ihre armlangen Rippen, was sie qualvoll aufheulen ließ. Erst taumelte sie nur, doch mit einem so plötzlichen Angriff hatte sie wohl nicht gerechnet und verlor schließlich doch noch das Gleichgewicht.
Ich landete dabei halb auf ihr. Leider brauchte ich aber eine Sekunde zu lang um mich in Sicherheit zu bringen, denn noch bevor ich ausweichen konnte erfasste mich eine ihrer Vorderpfoten und schleuderte mich ungefähr zehn Meter von ihr weg.
Meine Knochen knackten, als ich wieder auf dem Boden aufprallte.
Alex keuchte erschrocken und versuchte aufzustehen um mir zur Hilfe zu eilen, doch auch Ann hatte sich wieder gefasst und knurrte ihn wütend an.
Ja, ich hatte sie wirklich wütend gemacht – sehr wütend sogar.
Gerade so schaffte ich es, ihren gewaltigen Kiefern auszuweichen, als sie auf mich zusprang.
Lange konnte ich mich danach allerdings nicht ausruhen, denn schon schoss sie wieder auf mich zu.
„Was willst du, Ann!?“, schrie ich. Ich wusste ganz genau was sie wollte, aber ich musste irgendwie Zeit gewinnen.
Zur Antwort bekam ich nur ein erneutes tiefes Grollen, aber wenigstens griff sie mich nicht sofort an.
„Du hast doch sowieso schon verloren. Ich habe Duncan wieder zurück geholt und es geht ihm gut“, plapperte ich einfach weiter. Ich musste sie irgendwie ablenken. Es musste doch irgendetwas geben, was mir dabei half mich zu verwandeln! Hilfesuchend schaute ich mich um, doch alles was ich zu sehen bekam waren Anns gefletschte Zähne und Alex, der immer noch halb aufgerichtet im Dreck lag.
Okay, vielleicht war es falsch gewesen ihr von Duncan zu erzählen, denn sie kam erneut auf mich zugerast.
Leider schaffte ich es diesmal nicht mehr rechtzeitig unter ihrem Kopf hindurch zu tauchen. Sie erwischte meinen rechten Arm und noch bevor ich ihn hätte wegziehen können biss sie genussvoll zu.
Ein grässliches Knacken war zu hören. Das Gefühl schwand aus meinen Fingern, doch Schmerz verspürte ich noch keinen – wie gesagt: noch!
Stattdessen trat ich geistesgegenwärtig mit meinem linken Bein seitlich gegen ihren Kopf und schaffte es so tatsächlich meinen demolierten Arm zu befreien. Durch eine lange, ausgefranste Wunde schoss Blut und lief meinen Unterarm hinab bis es von meinem Fingerspitzen tropfte.
Aus einem Reflex heraus presste ich meine unversehrte Hand darauf, was einen brennenden Schmerz durch meinen ganzen Körper jagte.
Zwar hatte sie mich losgelassen, doch nun sah es fast so aus als hätte sich ein teuflisches Grinsen in ihre wölfischen Züge geschlichen.
Wieder wollte sie mich anfallen. Ich sah es in ihren blutroten Augen. Ihr gesamter Körper duckte sich bedrohlich – machte sich bereits zum Sprung.
Ich fixierte sie starr mit meinem Blick. Sollte sie doch versuchen mich jetzt zu töten. Ich hatte mich schon so lange nicht mehr stark gefühlt – heute war sozusagen der erste Tag.
SIE würde das ganz bestimmt nicht verderben. Ich hatte Duncan gerade erst zurück bekommen und ich hatte noch mein ganzes verdammtes Leben vor mir.
So würde ich auf jeden Fall nicht enden – zumindest nicht heute!
Wütend biss ich die Zähne zusammen und nahm meine Hand von der, immer noch stark blutenden Wunde.
„Komm schon, Ann. Hör auf mit diesen kindischen Spielchen!“, forderte ich sie mit ruhiger, jedoch lauter Stimme auf.
Im ersten Moment sah sie auch wirklich ein wenig beeindruckt aus, doch dies wandelte sich bald in tiefsten Hass um – und dieser wiederum richtete sich voll und ganz gegen mich.
Ich konnte schon fast körperlich spüren, wie sehr sie mich töten wollte. Es verursachte mir ein unangenehmes Gefühl im Magen. Ich ließ mich davon aber nicht aus der Fassung bringen.
Sie hatte ihre Chance mich zu töten ja immerhin schon oft genug gehabt, oder etwa nicht? Jetzt war endlich einmal ich an der Reihe ihr Schmerz zuzufügen.
Ich wusste, dass ich es konnte – und, dass ich es tun würde! Ich war stärker als Ann, ich musste nur noch herausfinden wie ich diese Stärke aus mir herausbekommen konnte…
Ich sah wie sie sich ein paar Schritte rückwärts von mir weg bewegte und prüfend ihre Nase hob. Sie witterte!
Gleichzeitig schnellten unsere Köpfe in eine Richtung. Meine Augen suchten hektisch den Hang ein Stück über uns ab… und mir blieb fast das Herz stehen.
Da stand Duncan. Er war vollkommen außer Atem, schwitzte leicht und schaffte es trotzdem irgendwie seine Schwester hasserfüllt anzufunkeln. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich sehen wie er wütend seine Kiefer aufeinander presste.
„Nein“, flüsterte ich – nicht einmal Ann konnte es gehört haben.
Wieder hörte ich Alex schnauben, dann war das Knirschen von Steinchen zu hören, wenn sie übereinander reiben. Allen Anscheins nach versuchte er gerade mehr Abstand zwischen sich und den schwarzen Riesenwolf zu bringen.
„Duncan, lauf!“, rief ich ihm zu, als ich bemerkte, dass Ann sich nun in seine Richtung zum Sprung bereit machte. Bei ihrer Größe und Kraft hätte sie ihn in zwei Sätzen erreicht und zu Boden gerissen. Den Rest wollte ich mir nicht einmal vorstellen!
„Lauf!“, brüllte ich, aber Ann reagierte schneller als er. Noch bevor mein Schrei ganz verklungen war schien sie auf ihn zuzufliegen.
Ich konnte nicht mehr denken!
Mein Blickfeld verdunkelte sich für den Bruchteil einer Sekunde, dann waren da dieser grelle Lichtblitz und ein leichtes Brennen in meinen Armen und Beinen.
Alles um mich herum schien einen leichten Grauton angenommen zu haben, dafür nahm ich aber Gerüche wahr, die mir bis dahin unbekannt gewesen waren. Ich hörte Geräusche die weit von mir entfernt waren genauso wie Anns Herzschlag vor mir – und auf diesen stürzte nun wiederum ich zu.
Meine Zähne durchbohrten ihr Fell, ihre zähe Haut und das Fleisch darunter als bestünde sie aus weicher Butter. In dem Moment, in dem sie eigentlich Duncan hätte erreichen müssen, stürzten wir beide zu Boden – von der gewaltigen Wucht meines Aufpralls wie betäubt.
Ich realisierte erst so richtig was geschehen war, als ich Ann mit einer einzigen, kraftvollen Kopfbewegung ein riesiges Stück Fleisch aus dem Körper riss und sich ein metallischer Geschmack in meinem Maul ausbreitete.
Ich hatte es geschafft! Ich hatte mich in einen Wolf verwandelt!
Ein schmerzerfülltes Jaulen und Winseln vor mir holte mich zurück in die Gegenwart. Ann taumelte ein Stück vor mir zurück. Ihre totbringenden, roten Augen waren hasserfüllt auf mich gerichtet. Ich wusste, dass sie mich jetzt nur noch lieber töten wollte, doch dieses Verlangen ging jetzt nicht nur mehr von ihr aus. Ich wollte sie genauso gerne tot vor mir am Boden liegen sehen.
Mit einem gehässigen Knurren stürzte ich mich erneut auf sie. Langsam wurde mir klar, dass ich auf dem besten Weg war die Kontrolle über mich zu verlieren, aber ich konnte mich nicht stoppen. Die Wut, die sich schon viel zu lange in mir aufgestaut hatte, wollte jetzt endlich raus – und so ließ ich es zu, ohne mich weiter dagegen zu wehren.
Meine Sinne und mein Denken veränderten sich immer mehr und bald wurde alles was ich dachte oder tat nur noch von einer Emotion gesteuert: Rache.
Meine kräftigen Kiefer schnappten immer wieder nach dem schwarzen Wolf vor mir, doch auch wenn ich größer und vielleicht auch stärker war erwischte ich sie nicht einmal – mir fehlte die Übung. Geschickt wich Ann meinen Angriffen aus, sprang einmal zur Seite, dann einen halben Meter nach hinten oder presste sich gegen den Boden. Alles was sie tat brachte mich nur noch mehr in Rage. Dazu kam noch ihr beißender Geruch – würde das Böse nach etwas riechen, wäre es sicher sie gewesen!
Wie in einem Rausch führte ich die Serie meiner Attacken fort, doch Müdigkeit schien sich weder auf meiner, noch auf Anns Seite einzustellen. Es war einfach frustrierend.
Dann brachte ich in meinem, ganz und gar von einem Wolf beherrschten Kopf endlich einen klaren Gedanken zustande. Ich griff sie zwar noch immer an, setzte meine Bisse diesmal aber absichtlich knapp neben ihr ins Nichts. Notgedrungen musste sie vor mir zurückweichen, denn auch wenn ich mich gerade dazu durchgekämpft hatte einen anderen Plan zu verfolgen als sie durch meine Bisse töten zu wollen, so würde ich keine Gelegenheit auslassen ihr nicht doch eine totbringende Wunde zuzufügen.
Ich war mir sicher: für einen Zuschauer musste es so aussehen, als würde ich nicht wissen was ich tat – und genau das wollte ich! Ann sollte meinen Gedanken nicht folgen können, sonst wäre ich nur wieder im Nachteil gewesen.
Ich wusste nicht wie lange ich sie so auf den Abgrund hinter ihr zutrieb, doch als ich gerade wieder vor stieß – begleitet von meinem und ihrem Knurren und Zähne fletschen – blitzte etwas wie Erkenntnis in Anns Augen auf.
Mit einem Mal drehte sie den Spieß um. Jetzt war nicht mehr ich diejenige, die versuchte ihrer Gegnerin mit den zeigefingerlangen Zähnen die Kehle aufzureißen – sie war es!
Erschrocken sprang ich zurück doch es war zwecklos. Ihre Erfahrung und der wendige Körperbau kombiniert mit meiner Tollpatschigkeit führten dazu, dass sich mindestens einer ihrer Reißzähne einen Sekundenbruchteil später schmerzhaft in meine Schulter bohrte. Grollend riss sie an mir, aber ich gab nicht nach. Stattdessen packte ich sie nun meinerseits im Nacken und zerrte so gut ich konnte an ihr.
Der Schmerz, der gleich darauf meinen Körper durchströmte war geradezu betäubend.
Für einen kurzen Moment war mein Blick getrübt und der menschliche Teil meines Körpers befürchtete schon, dass ich nun ohnmächtig werden würde. Es kam aber ganz anders.
Mit einem weiteren Brennen riss Ann mir schließlich praktisch die Haut vom Körper – auch wenn es nur ein kleiner Fleck war. Mein Jaulen ging in ein Winseln über und ich taumelte rückwärts ein Stück von ihr weg.
Ann stand vor mir. Aus ihrem Maul hing ein blutiger Hautfetzen – er hatte einmal zu meinem Körper gehört. Der Pelz, der anscheinend einmal sandbraun gewesen war, hatte sich rot gefärbt und war verkrustet.
Wäre ich jetzt ein Mensch, hätte ich mich mit Sicherheit bei diesem Anblick übergeben. So spürte ich den Schmerz aber kaum mehr denn erneut gewann der Wolf die Überhand.
Ich konnte nicht einmal mehr reagieren, da stieß ich mich schon kraftvoll mit meinen neuen, muskulösen Hinterbeinen vom Boden ab und knallte eine halbe Sekunde später mit voller Wucht gegen Ann.
Ich hatte erwartet, dass sie mich sofort wieder angriff und sich in mir verbeißen würde, aber wieder kam es anderes als ich geglaubt hatte. Vor Wut und Hass und Rachegefühlen war mir nicht aufgefallen, wie weit ich meine Kontrahentin wirklich schon zurück gedrängt hatte – und das bekam ich jetzt auf grausamste Weise zu spüren.
Für einen Augenblick flogen wir beide auf den Felsrand zu, aber irgendwie schaffte ich es mich in der Luft so zu drehen, dass ich mich gerade so mit den Vorderpfoten an der scharfen Kante festhalten konnte – leider nur für einen Herzschlag.
Denn gleich darauf spürte ich erneut diesen brennenden Schmerz, diesmal an meiner Flanke.
Ich schaffte es nicht mein und Anns Gewicht zu halten – schon gar nicht, da Wolfspfoten nicht dazu gemacht waren sich irgendwo festzuhalten oder gar zu klettern.
Mein Blick huschte ein letztes Mal zu Duncan, der immer noch genau dort stand, wo Ann ihn zuvor fast erwischt hatte. Seine Augen waren vor Schreck weit aufgerissen und ich erahnte, dass er jeden Moment auf mich zu rennen würde, aber es war zu spät.
Gemeinsam mit dem nachtschwarzen Wolf stürzte ich in die Tiefe und mein letzter Gedanke galt nun IHM, den ich gerade wieder zurückbekommen hatte… und doch schon wieder verlor…
Der freie Fall dauerte länger als erwartet.
Ich spürte wie der Wind an meinem Pelz riss und wie Ann, in ihrer Panik, ihre Zähne nur noch tiefer in mein Fleisch trieb.
Aber Tatsache war, dass ich mehr als nur glücklich war. Ich hatte mein Ziel erreicht – Duncan weilte wieder unter den Lebenden. Und mit diesem Wissen traf ich schließlich auf den Boden auf…



Zurück
~Duncan~



Mein Schrei blieb mir beinahe im Hals stecken. So schnell ich konnte rannte ich an den Rand dieser Schlucht, die gerade mein Mädchen verschluckt hatte.
Ich konnte einfach nicht mehr. Kraftlos fiel ich auf die Knie während sich meine Hände von allein in den Boden bohrten. Diesen Schmerz konnte man sich kaum vorstellen – geschweige denn ertragen!
„Duncan?“, hörte ich jemanden hinter mir fragen. Ich gab keine Antwort. Nicht einmal als sich etwas auf meine Schulter legte sah ich auf. Ich hatte gerade genug mit mir selbst zu tun.
Tränen stiegen in meine Augen, aber ich wollte sie zurückhalten. Vor diesem Fremden, Alex, um Marissa zu weinen hätte den Schmerz nur noch unerträglicher gemacht als er sowieso schon war.
„Du bist Duncan, oder?“, fragte er nun ein weiteres Mal, aber ich reagierte immer noch nicht.
Es war meine Schuld, dass sie gegen Ann kämpfen musste. Hätte ich ihr nur nie die Wolfskräfte übertragen.
Natürlich wäre ich dann jetzt nicht mehr am Leben, aber das war es nicht wert – sie hatte praktisch ihr Leben gegen meines eingetauscht.
Ich wusste, ich würde ohne sie ohnehin keinen Sinn mehr sehen zu existieren. Ich würde mich früher oder später sowieso umbringen – obwohl wahrscheinlich eher früher…
„Wir müssen zu ihr!“, forderte mich Alex nun schon nervöser auf und trat neben mich.
Mit ausdrucksloser Miene schaute ich zu ihm auf.
Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzogen, die nur eine Emotion zeigte: Trauer. Im Gegensatz zu mir hatte er es nicht geschafft seine Tränen zurück zu halten, denn auf seinen Wangen konnte ich gut ihre Spuren erkennen.
„Es ist zwecklos“, murmelte ich und brachte nicht mehr die nötige Kraft auf um ihn noch länger anzusehen – oder meinen Kopf in dieser Position zu halten.
„Nein, ist es nicht! Mars ist stark!“ Nun hörte ich wie sich Schritte entfernten – er ging.
Im Augenwinkel konnte ich sehen, wie er näher an den Rand der Schlucht trat und versuchte einen halbwegs sicheren Abstieg zu finden.
Ungefähr zehn Sekunden beobachtete ich ihn so – ohne, dass er es bemerkte – aber irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Seine Worte, und waren sie noch so sinnlos, hatten mir einen Funken Hoffnung gegeben.
Wenn ich jemanden kannte, der einen solchen Absturz überleben konnte, dann war es meine Mars.
Also erhob ich mich und folgte Alex, der bereits angefangen hatte hinab zu steigen.
Ich nahm nicht genau denselben Weg wie er und war etwas schneller, weshalb ich ihn ungefähr auf halber Höhe der Wand – es waren zirka fünfundzwanzig Meter – überholte.
Meine nackten Füße fanden anscheinend besseren Halt als er mit seinen alten, durch gelatschten Turnschuhen.
Unten angekommen bot sich mir ein Bild des Grauens.
Ann war tot, das konnte ich sofort sehen – sie hatte sich nicht mehr in ihre menschliche Gestalt zurück verwandelt. Ihr pechschwarzes, dreckiges und mit Blut verkrustetes Fell wurde vom Wind sanft hin und her gewogen – als würde sie noch atmen. Allein der Gedanke, dieses Monster könnte noch am Leben sein, ließ sich mir die Nackenhaare aufstellen.
Langsam näherte ich mich meiner toten Halbschwester.
Zuerst befürchtete ich, dass sie Mars unter sich begraben haben könnte, doch dann entdeckte ich ihren zarten Körper in einer Mulde. Mir war gleich aufgefallen, dass sie so viel dünner war als früher. Ihre Beine und Arme standen in grässlichen Winkeln von ihrem Körper ab – unnatürlichen Winkeln.
Mir drehte sich der Magen um, aber ich musste jetzt durchhalten.
Ohne Ann auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen rannte ich zu Mars und kniete mich neben sie.
Mein Herzschlag dröhnte mir so sehr in den Ohren, dass ich glaubte ich würde sowieso jeden Moment an einem Herzinfarkt sterben – nur leider trat dieser Fall nicht ein.
Hinter mir hörte ich erneut Alex Schritte und erneut ignorierte ich ihn. Hätte ich noch den Wolf in mir wüsste ich wie er auf die Anwesenheit eines fremden Mannes in Mars Nähe reagiert hätte – mit Knurren. Aber ich war kein Wolf mehr, auch nicht ansatzweise. Ich war ein normaler Mensch, doch Marissa war es nicht.
Wenigstens hielt Alex einen gewissen Abstand ein, auch wenn ich förmlich spüren konnte, dass er unbedingt zu Mars wollte.
So vorsichtig wie möglich schob ich meine Hände unter ihren regungslosen Körper. Meine Hoffnung schwand immer mehr.
Sie bewegte sich nicht, ich konnte keinen Herzschlag ertasten.
Es war dieser Moment in dem der Damm brach. Die Tränen, die sich bereits am oberen Rand der Schlucht angekündigt hatten, brachen nun gewaltsam aus mir heraus – auch wenn es bei weitem nicht so viele waren wie ich geglaubt hatte.
Kraftlos kippte ich vorne über – Mars immer noch in meinen Armen – und verbarg mein Gesicht an ihrem Hals.
„Ist sie…“, begann Alex, aber seine Worte ertranken in seinen eigenen Tränen.
Ich hätte bejaht, aber in genau dem Augenblick, in dem ich mich wieder aufrichtete um sie noch ein letztes Mal anzusehen, fühlte ich ein schwaches Pochen. Es war kaum fühlbar und ich bezweifelte im ersten Moment, dass es wirklich da war. Sekunden verstrichen.
Ich war irritiert und verwirrt und versuchte meine Gedanken wieder in Ordnung zu bringen. Und da!
Das Pochen wurde kräftiger und schneller – fast zu schnell.
Erschrocken wich ich vor dem, immer noch regungslosen Körper zurück. Knapp hinter mir knirschten Steine, als dieser Alex sich mir näherte. Vielleicht hätte ich ihn verjagt, aber gerade war ich einfach nur wie gebannt. Alex atmete lautstark aus – was mich bei diesem Anblick allerdings wenig wunderte.
Mars Oberkörper lag einfach nur da und bewegte sich keinen Millimeter, genau wie ihr Kopf. Ihre Arme und Beine hingegen schienen selbstständig geworden zu sein. Ohne Unterlass bewegten sie sich unter dem fast schon rhythmischen Knacken ihrer Knochen.
Ich fühlte wie sich mein Magen schmerzhaft zusammen zog und musste schlucken um mich nicht zu erbrechen. Alex neben mir ging es anscheinend kein bisschen besser.
Es vergingen ungefähr fünf Minuten, dann hörten Mars Gliedmaßen endlich auf sich zu bewegen. Eine fast schon erdrückende Stille breitete sich über uns aus.
„Was ist jetzt?“, wollte Alex wissen. Ich wusste nicht warum, aber ich konnte ihm die Frage nicht einmal übel nehmen. Hätte ich nicht gewusst, dass hier sowieso niemand war, der mir eine Antwort darauf geben konnte, hätte ich wahrscheinlich auch wissen wollen was gerade vor sich ging. So aber schwieg ich einfach.
Mein Blick war starr auf Mars Gesicht geheftet – es sah so friedlich aus.
Wieder verstrich viel Zeit. Ein paar Mal glaubte ich, dass Alex es bald nicht mehr aushalten und sie schütteln würde, aber er tat es doch nicht.
Und dann geschah etwas Merkwürdiges.
Eine leichte Brise kam auf und wirbelte Staub und einige heruntergefallene und vertrocknete Blätter auf. Ein winziger Windtrichter bildete sich knapp hinter Mars regungslosen Körper. Das morgendliche Sonnenlicht ließ auch noch die kleinsten Staubpartikel golden leuchten. Die Blätter nahmen einen bronzenen Farbton an.
Ich war wie gebannt von diesem Anblick, und hätte ich nicht dieses Geräusch gehört, hätte ich vermutlich nicht mitbekommen was als nächstes passierte.
Mars Oberkörper bäumte sich auf. Einmal, zweimal. Dann blieb sie kurz bewegungslos liegen, nur um sich im nächsten Moment kerzengerade aufzurichten.
Der erneut aufkommende Wind zerrte leicht an ihren dunkelbraunen Haaren, die mir die Sicht auf ihr Gesicht nahmen. Wieder schnappte sie nach Luft, das war auch das Geräusch, dass mich zuvor aus meinen Gedanken gerissen hatte.
„Oh mein Gott!“ Alex, der gerade noch neben mir gekniet hatte, wich strauchelnd zurück. Die Steinchen unter seinen Beinen knirschten.
Ein weiteres Mal flaute der Wind ab und mit ihm schien auch Mars Kraft zu schwinden. Ohne Vorwarnung sackte sie plötzlich zusammen, und ich schaffte es gerade so irgendwie sie aufzufangen bevor sie auf dem Boden aufkam.
Zitternd saß ich also da, Mars in meinen Armen. Ich wusste nicht was zu tun war, aber eines wusste ich ganz genau.
„Wir müssen sie nach Hause bringen“, murmelte ich. Ich wusste, dass Alex es gehört hatte, denn nicht einmal fünf Sekunden später stand er schon vor mir um mir auf die Beine zu helfen.

Es war ein seltsames Gefühl sie so zu sehen. Ihr verschmutztes Gesicht zwischen den hellgelben Zierkissen des Sofas im Wohnzimmer.
Ich saß jetzt schon seit drei Stunden hier – seit wir es endlich zurück nach Ladysmith gekommen waren. Nachdem wir es irgendwie geschafft hatten Mars von diesem Berghang herunter zu schaffen und auf meinen Rücken zu hieven – ich hatte darauf bestanden sie zu tragen - waren wir in Richtung Osten aufgebrochen. Warum Osten?
Tja, das hatten wir nicht gewusst. Wir hatten auch nicht abgesprochen wohin wir gehen sollten – wir hatten es einfach getan. Und ich war Alex dankbar dafür gewesen, dass er die meiste Zeit geschwiegen hatte.
Nur sehr selten hatte er sich erkundigt, ob ich nicht eine Pause einlegen wollte, doch selbst wenn meine Knochen schon protestiert hatten blieben wir nicht einmal stehen. So kam es auch, dass wir am späten Nachmittag einen Highway erreichten. Natürlich war er nicht stark befahren, aber es war immerhin besser als nichts –und eindeutig ein Zeichen von Zivilisation.
Wahrscheinlich hatten wir einfach nur Glück, denn nicht einmal eine Stunde später nahm uns ein Trucker – zugegebenermaßen war er etwas verwirrt als er Mars sah, stellte aber keine weiteren Fragen – mit in den Süden. Unweit von Vancouver gelang es Alex dann uns ein Auto zu besorgen. Er äußerte sich zwar nicht dazu, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er den alten Toyota geklaut hatte.
Der Rest des Weges war einfach. Wir versuchten nicht aufzufallen und schafften es so nach Vancouver Island – und schließlich auch nach Ladysmith.
Ein Klappern aus der Küche ließ mich hochschrecken.
Nachdem wir ein provisorisches Lager für Mars auf der Couch eingerichtet hatten war Alex noch einmal aufgebrochen. Er meinte, dass er uns etwas zu essen besorgen wollte. Gerade war er dabei die Küche zu vergewaltigen – so hörte es sich zumindest an.
Ich lehnte mich in dem weichen Polstersessel zurück und betrachtete weiter Mars Gesicht. Sie sah so verändert aus. Ihre Haare waren eindeutig kürzer als das letzte Mal, als ich sie gesehen hatte – so wie es aussah, hatte sie es geschnitten. Ihre Wangen waren leicht eingefallen und unter ihren Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet. Anscheinend hatte sie nicht sehr viel Schlaf bekommen. Wenn ich daran dachte was sie durchgemacht hatte wollte ich am liebsten schreien. Stattdessen seufzte ich nur.
„Hey, Mann.“ Alex war ins Wohnzimmer gekommen, in beiden Händen hielt er eine Tasse. Wortlos reichte er mir eine.
„Danke.“
„Keine Ursache.“ Er nahm einen Schluck, verzog das Gesicht – ich bekam das nur am Rande mit, denn eigentlich schaute ich immer noch Mars an – und stellte die Tasse dann auf den niedrigen Tisch.
„Wie geht es ihr?“, wollte er nach ein paar Sekunden wissen.
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Sie bewegt sich nicht sehr viel… sie tut eigentlich gar nichts.“
„Glaubst du, dass sie wieder ganz gesund wird?“, fragte er. Ich konnte die Besorgnis aus seiner Stimme heraus hören. Mir war klar, dass er sie nicht nur als eine Freundin sah – das wusste ich schon seit ich ihn das erste Mal in ihrer Nähe gesehen hatte. Ein fremdes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus, aber ich versuchte wenigstens es zu ignorieren, auch wenn es mir schwerer fiel als gedacht.
„Natürlich. Sie ist ein starkes Mädchen.“ Bei diesen Worten streckte ich eine Hand aus und strich sanft mit den Fingerspitzen über ihre Wange. Die Haut war heiß und ich war mir sicher, dass ein normaler Mensch eine so hohe Temperatur nicht überlebt hätte. Aber Mars war kein normaler Mensch mehr und das musste ich mir selbst immer wieder klar machen, denn wenn man sie so daliegen sah, machte sie nicht gerade den Eindruck, dass sie besonders viel ertragen konnte.
„Hoffentlich“, murmelte Alex. Ich war mir ziemlich sicher, dass es nicht für meine Ohren bestimmt gewesen war und merkte, wie sich mein Körper automatisch anspannte. Nur langsam kapierte ich was mit mir los war: ich war ganz offensichtlich eifersüchtig!
Ein paar Minuten vergingen, dann erhob sich Alex wieder und verschwand in die Küche. Ich atmete erleichtert auf.
Vielleicht war er ja ganz in Ordnung, oder gar nett, aber ich wusste jetzt schon, dass wir beide niemals Freunde sein könnten. Mir war klar, dass er mir Mars niemals wegnehmen würde können, aber der winzige, animalische Teil in mir versuchte hartnäckig mir etwas anderes einzureden.
Seufzend stützte ich mein Gesicht in meine Hände. Wie lange sie wohl noch schlafen würde? Ich hoffte inständig, dass es nicht mehr allzu lange dauern würde…
Just in dem Moment, in dem sich dieser Gedanke in meinem Kopf gebildet hatte, hörte ich das dumpfe Rascheln der Wolldecke über ihrem Körper. Wie von der Tarantel gestochen fuhr ich hoch. Meine Augen scannten wie von selbst ihren Körper – von den Zehenspitzen bis zu den Augen. Und da!
Ihre Augenlider flatterten ganz leicht. Es war zwar eine kaum merkliche Bewegung, aber sie war ganz eindeutig da!
Gespannt lehnte ich mich leicht über sie. Das Flattern wurde zu einem ausgewachsenen Zucken, dann erstarrte sie wieder. Enttäuscht fuhr ich mir mit der Hand durchs Haar und stand auf. Ich fand, dass ich mir eine kleine Pause gönnen sollte, drehte mich um und ging Richtung Ausgang.
Die Luft draußen vor dem Haus war eindeutig besser als im Wohnzimmer. Ich machte ein paar Schritte und bewegte mich auf den Waldrand zu, nur um meinen Kreislauf wieder etwas anzukurbeln. Ich war mir nicht sicher, aber wahrscheinlich schadete es nicht, wenn ich mich ab und an ein wenig bewegte.
Es war schon dunkel geworden – immerhin war es inzwischen fast elf Uhr abends – trotzdem fühlte ich mich nicht gefährdet. Die einzige Bedrohung, die es in meinem Leben je gegeben hatte, hatte Mars ausgelöscht. Ich konnte nicht in Worte fassen wie dankbar ich ihr dafür war.
„Duncan!“ Mein eigener Name riss mich aus meinen Gedanken. Als wäre ich gerade erst aus einer Starre erwacht drehte ich mich zum Haus um. Mir fiel erst jetzt auf, wie weit ich mich wirklich davon entfernt hatte. Alex stand auf der schmalen Veranda und stützte sich mit einer Hand am Holzgeländer ab.
„Duncan!“, rief er erneut, als hätte er nicht bemerkt, dass ich ihn längst gehört hatte. „Sie ist aufgewacht! Sie fragt nach dir!“, hallte es zu mir herüber.
Für einen Moment war es, als wäre die Zeit stehen geblieben. Ich war weder dazu in der Lage mich zu bewegen, noch einen klaren Gedanken zu fassen. Stattdessen stand ich wie angewurzelt etwa dreißig Meter vom Haus entfernt auf der breiten Kiesauffahrt und tat… gar nichts.
Erst als Alex sich umdrehte um wieder durch die Tür zu verschwinden löste sich meine Starre. Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin setzte sich mein Körper in Bewegung, erst langsam, dann immer schneller. Es fühlte sich seltsam an sich so zu bewegen. Verwundert stellte ich fest, dass meine Lungen bereits zu brennen anfingen, als ich noch nicht einmal den Eingang erreicht hatte. Etwas wackelig übersprang ich die drei Stufen zur Veranda hinauf und schlitterte durch die Tür, wobei ich fast gegen die gegenüberliegende Wand gekracht wäre.
„Wo ist er?“, hörte ich eine zarte Stimme fragen. Ich musste sie nicht sehen, um zu wissen, dass es Marissa war, die gesprochen hatte.
„Ich habe ihn schon gerufen, er hat die ganze Zeit hier gewartet, dass du aufwachst und ist nur kurz nach draußen gegangen um frische Luft zu schnappen“, versuchte Alex sie zu beschwichtigen. Im nächsten Moment stand ich auch schon im Wohnzimmer.
Mars hatte sich leicht aufgerichtet. So wie es aussah hatte Alex ein Polster unter ihren Rücken geschoben, damit sie sich nicht anstrengen musste. Als sie mich hereinkommen sah fingen ihre Augen an zu strahlen wie die Sterne.
Ich spürte deutlich wie sich mein Herzschlag von einem Moment auf den nächsten noch mehr beschleunigte. Ohne Alex eines Blickes zu würdigen – was diesmal nicht einmal böse gemeint war – fiel ich neben dem Sofa auf die Knie und verdrängte ihn so, unbeabsichtigt, von seinem Platz. Er wich wortlos zur Seite, wenig später hörte ich Schritte, die sich immer weiter entfernten, bis sie schließlich in der Diele verhallten.
Atemlos suchte ich mit meinen Augen ihr Gesicht nach irgendwelchen Anzeichen von Schwäche oder Schmerz ab. Nur eine verkrustete Blutspur auf ihrem Wangenknochen schien noch daran zu erinnern was erst heute Morgen passiert war.
Für ein paar Sekunden schwiegen wir, doch dann hielt ich es nicht mehr aus und zog sie in meine Arme – vielleicht etwas zu überstürzt.
Mars schnappte nach Luft, aber ich schaffte es einfach nicht sie wieder los zu lassen. Dieses Gefühl sie endlich wieder bei mir zu haben, nach so langer Zeit, war berauschend und ich glaubte in diesem Augenblick der glücklichste Mann der Welt sein zu müssen.
„Ich dachte ich hätte dich verloren“, flüsterte ich und strich ihr mit einer Hand die Wirbelsäule entlang.
Etwas wie ein Lachen löste sich aus Marissas Kehle, dann schmiegte sie sich noch enger an mich. „Schön, dass du jetzt endlich einmal weißt, wie das ist“, scherzte sie. Vielleicht glaubte sie, sie wäre schon wieder bei Kräften, aber ihre Stimme verriet eindeutig, dass dem noch nicht so war – sie brauchte noch etwas Zeit.
Wenn auch widerwillig schob ich sie auf Armlänge von mir um sie ein weiteres Mal unter die Lupe zu nehmen.
Mars fing an zu grinsen.
„Was?“, fragte ich. Zuerst glaubte ich, sie hätte einen Krampf, weil sie plötzlich anfing wie wild zu zittern, doch dann bemerkte ich, dass sie Tränen in den Augen hatte.
Keine Sekunde später pressten sich ihre Lippen auf meine. Sie waren so weich und warm wie in meiner Erinnerung nur eben noch tausendmal besser – und vor allem echter.
„Ich hab dich vermisst“, wisperte sie schließlich und lehnte ihre Stirn an meine.
„Ich dich auch. Du hast keine Ahnung wie sehr…“ Ich schloss meine Augen und genoss die Wärme, die von ihrer Haut ausging.
„Wo hast du nur gesteckt, die ganze Zeit über? Ich hätte deine Hilfe gebraucht.“ Ihre Stirn löste sich von meiner. Ich hörte wie sie sich gegen das Sofa lehnte.
Enttäuscht öffnete ich meine Augen wieder. Ihre Berührung hatte mir gut getan, aber sie wollte Antworten – das spürte ich ganz deutlich – und die würde ich ihr auch geben.
„Ich… weiß es nicht genau“, versuchte ich ihr zu erklären, was nicht einmal so einfach war. Ich wusste selbst nicht genug über diesen Ort, an dem ich die ganze Zeit über gewesen war, als dass ich ihr sehr viel darüber hätte erzählen können.
„Es war nicht der Himmel, oder?“, hakte sie nach, nachdem ich einige Zeit geschwiegen hatte.
Ich schüttelte nur stumm den Kopf. Wenn das der Himmel gewesen sein sollte, würde ich lieber ewig leben. Die ganze Zeit über war ich allein gewesen, nur mit mir selbst. Die Zeit verging, wenn man mich fragte, noch viel langsamer auf der Erde und alle Farben schienen verblasst – als würde man die Welt durch Milchglas betrachten.
„Erzähl mir davon“, bat Mars und schaute mich dabei so flehend an, dass ich fast glaubte der Wolf in ihr hätte die Kontrolle übernommen – so etwas nannten die Menschen wohl einen Hundeblick.
„Na gut.“ Wie von selbst fanden meine Hände ihre, die sie entspannt in ihren Schoss gelegt hatte. „Was willst du wissen?“
„Wer war noch bei dir? Wie hat alles ausgesehen?“ Für einen Herzschlag blitzte Neugierde in ihren Augen auf.
Ich merkte, dass sich mein Mund bei diesem Anblick automatisch zu einem Grinsen verzog.
„Du hast von mir geträumt, weißt du noch?“
Hastig nickte sie, wobei ihre schulterlangen Haare auf und ab flogen.
„Genau so hat es ausgesehen…“ Ich schloss kurz meine Augen. Zu behaupten, dass dieser Ort nicht schön gewesen war, wäre eine glatte Lüge gewesen, aber ich hatte mich zu einsam gefühlt, als dass ich die Landschaft hätte genießen können.
„Dann…“ Mars schluckte geräuschvoll. „Dann war Ann also auch bei dir?“ Sie flüsterte diese Frage nur. Ich konnte die Angst in ihrer Stimme deutlich hören.
„Nein, ich war immer allein. Wie kommst du darauf, dass sie bei mir gewesen sein könnte?“ Meine Stirn legte sich von selbst in Falten – eine alte Angewohnheit.
„Sie war da, in einem meiner Träume. Du warst jünger als jetzt und sie noch ein kleines Mädchen.“ Sie kniff die Augen zusammen und schien sich anscheinend mehr Details in die Erinnerung rufen zu wollen. So wie es aussah fiel er dennoch nichts mehr ein.
„Du hast sie nicht gesehen?“, wollte sie wissen und klang dabei mehr und mehr verängstigt.
„Nein. Wie gesagt ich war immer allein.“
Mars biss sich auf die Unterlippe. „Glaubst du, dass sie es schafft zurück zu kommen? Sie ist doch tot, oder?“
„Sie kommt nicht zurück, Mars, keine Angst. Es ist vorbei.“
Erleichtert seufzte sie auf und versank nun fast vollends in den Kissen.
„Dieser Alex hat dir sehr geholfen, oder?“ Nur mühsam schafften es diese Worte über meine Lippen, doch ich musste es einfach wissen, denn wenn er Mars tatsächlich geholfen hatte schuldete ich ihm meinen Dank.
„Ja, er war immer für mich da… und ich auch für ihn. Wir haben uns gegenseitig geholfen so gut wir konnten.“
Ich schluckte. Alex war mir nicht gerade sympathisch, aber da Mars ihn anscheinend mochte durfte ich mich nicht komplett gegen ihn stellen.
„Hast du etwas dagegen, wenn ich kurz zu ihm gehe? Ich würde mich gerne bei ihm… bedanken.“
Mars strahlte mich freudig an, als hätte ich ihr gerade ein riesiges Geschenk gemacht. „Du bist der Beste!“
Ich lächelte sie noch einmal an, stand dann auf und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn bevor ich das Wohnzimmer verließ.
Ich fand Alex auf der untersten Stufe der Treppe. Er hatte die Teetasse neben sich abgestellt und sein Gesicht in seinen Händen verborgen. Neben ihm war noch Platz, also setzte ich mich.
„Danke“, presste ich schließlich hervor, nachdem ich lange genug mit mir gerungen hatte.
Alex drehte ruckartig seinen Kopf in meine Richtung. Er sah erstaunt und verwirrt zugleich aus. „Wofür?“
Ich atmete tief ein und setzte mich aufrechter hin. „ Dafür, dass du Mars geholfen hast. Ich weiß nicht, ob sie es allein geschafft hätte. Ich schätze mal, ich schulde dir was.“
Ich hatte gedacht, dass er zuvor schon verwirrt ausgesehen hatte – aber da hatte ich mich gehörig geirrt!
„Okay…ähm… keine Ursache“, stammelte er und klimperte verunsichert mit dem Löffel in der Tasse herum.
Seufzend erhob ich mich. Ich hatte Alex gesagt was ich sagen wollte. Was ich jetzt wollte war einfach wieder zu Mars zurückzukehren – und das tat ich auch.
Als ich das Wohnzimmer betrat schlief sie friedlich und ruhig. Ein paar Haarsträhnen waren in die Stirn gefallen und verdeckten ihre geschlossenen Augen. Vorsichtig wischte ich sie weg und steckte sie hinter ihr Ohr.
Wenn ich sie so sah wurde mir klar, dass ich sie nie wieder gehen lassen würde. Ich könnte es gar nicht, selbst wenn ich wollte.

Engel



Ich spürte etwas zwischen meinen Fingern, zog, zerrte und klammerte mich daran fest so gut ich konnte. Meine Augen zuckten unter geschlossenen Lidern panisch hin und her, immer wieder.
Mein Herz schlug unregelmäßig und viel zu schnell. Mein Atem ging flach und rasch.
Feuchtigkeit breitete sich auf meiner Stirn und meinen Wangen aus. Ich fühlte alles, jede noch so kleine Reaktion meines Körpers und doch gelang es mir nicht mich von dem loszureißen, was gerade in meinem Kopf vor sich ging. Mir war bewusst, dass ich schlief, doch in der Dunkelheit die mich umgab tauchten immer wieder Augen auf. Ich kannte sie nur zu gut, denn sie waren blutrot und potenziell tödlich.
Und ich wusste, sie waren nur auf mich fixiert.
Nach Luft schnappend fuhr ich hoch. Meine Haare klebten an meiner Haut, genauso auch mein Gewand. Zwischen meinen verkrampften Händen befanden sich Fetzen der Decke, die mich eigentlich hätte warm halten sollen. Entsetzt starrte ich darauf.
Mein Blick zuckte suchend durch den Raum und blieb schließlich in dem Sessel neben dem Sofa hängen. Duncan saß vollkommen entspannt an einen der Polster gelehnt da und schlief. Ich hörte ihn leise ein- und ausatmen. Augenblicklich fing mein Herz an schneller zu schlagen. Er war wirklich wieder hier – bei mir!
So leise ich nur konnte schälte ich mich aus der zerfetzten Decke und tapste auf ihn zu. Ich war noch etwas wackelig auf den Beinen, aber immerhin schaffte ich es nicht hinzufallen oder zusammenzusacken.
Kurz vor ihm blieb ich stehen.
Seine schwarzen Haare waren kaum merklich länger geworden. Seine Wimpern warfen Schatten auf seine Wangen. Obwohl er schlief hatte sich ein besorgter Ausdruck auf seine Züge gelegt und ich fragte mich, was wohl in seinem Kopf vorgegangen war, bevor er eingeschlafen war.
„Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“ Erschrocken zuckte ich zusammen und fuhr herum.
Alex stand in der Tür und beobachtete mich argwöhnisch. Das Sonnenlicht, das durch ein Fenster in den Raum fiel ließ ihn merkwürdig verzerrt aussehen.
„Mach das nicht noch einmal!“, fuhr ich ihn an. Ich wollte nicht, dass es so hart klang, aber ich fand, dass ich für die nächsten zwanzig Jahre genug Schrecken gehabt hatte.
„Tut mir leid.“ Leise kam er näher, ging aber an mir vorbei und setzte sich ans kurze Ende des Sofas. „Können wir reden?“, fragte er nach kurzem Schweigen.
Verdutzt setzte ich mich neben ihn. Ohne ein Wort zu sagen ergriff er meine Hände und verbarg sie in seinen.
„Ich werde gehen, Mars“, murmelte er ohne mich dabei anzusehen.
Etwas in mir sträubte sich gegen jedes Wort in diesem Satz. Ich wollte ihm meine Hände entziehen, aber er hielt sie eisern fest.
„Wieso? Ist es wegen Duncan?“, fragte ich der Panik nahe. Ich wusste, dass es vielleicht merkwürdig klang, aber ich brauchte Alex genauso, wie ich auch Duncan brauchte. Zwar nicht auf dieselbe Art und Weise, aber er war mein engster Freund und ich hätte ihm mein Leben anvertraut.
Er schwieg.
„Er hat sicher nichts dagegen, wenn du hier bleibst – ehrlich!“, versuchte ich ihn zu beruhigen, doch so wie es aussah versagte ich.
„Ich mache mir keine Gedanken darüber, ob er vielleicht ein Problem damit haben könnte, dass ich hier bin, weißt du? ICH habe ein Problem damit! Ich kann das so nicht…“ Alex schüttelte den Kopf und war im nächsten Moment aufgestanden.
„Was hast du jetzt vor? Gehst du zurück zu deiner Familie?“ Auch ich hatte mich erhoben. Mein gesamter Körper zitterte – genau wie meine Stimme.
Eine Weile stand Alex einfach nur so da. Er hatte mir den Rücken zugewandt, doch seine Schultern bebten kaum merklich als fiele ihm das Atmen schwer.
„Ich weiß es nicht…“
„Dann bleib doch!“ Ich wagte einen Schritt auf ihn zu.
„Das geht nicht.“ Unvermittelt drehte er sich zu mir um. In seinen Augen standen Tränen. „Weißt du eigentlich, dass du mir das Leben gerettet hast?“
Meine Stirn legte sich fast schon automatisch in Falten. „Was… Wie kommst du jetzt darauf?“
„Ich kann mich an alles noch ganz genau erinnern. Als wäre es gestern gewesen, sozusagen. Und weißt du warum?“
Wortlos starrte ich ihm in die Augen. Mein Mund war trocken und ein dicker Kloß hatte sich in meinem Hals gebildet. Schließlich schüttelte ich nur den Kopf.
„Ich dachte wirklich, dass ich sterben würde – an diesem Tag. Alles tat mir weh und ich hatte einfach keine Kraft mehr. Als ich dich das erste Mal sah, dachte ich, dass du ein Engel wärst.“ Eine leichte Röte breitete sich über sein Gesicht aus. Etwas beschämt wandte ich meinen Blick ab. Was auch immer er vorhatte, ich wollte, dass er sofort damit aufhörte.
„Manchmal“, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, „manchmal glaube ich immer noch, dass du ein Engel bist. Und wenn es nur in meinen Träumen ist.“ Alex drehte sich vollständig zu mir um und zupfte mit einer Hand am Saum seines verdreckten T-Shirts. Meinem Blick wich er jedoch aus.
„Alex, ich…“ In meinem Kopf herrschte das reine Chaos. Ich wusste weder was ich sagen, noch was ich tun sollte, denn ich wusste, dass alles die Situation nur noch verschlimmern würde. „Du wusstest doch von Anfang an, dass ich zu Duncan gehöre…“
Ein Schnauben ließ mich zusammenzucken. „Glaubst du, dass ich es nicht versucht hätte? Glaubst du wirklich ich hätte nicht alles getan um dich nur als eine Freundin zu sehen?“ Wieder atmete er laut aus. „Anscheinend hab ich’s nicht geschafft.“
Stumm stand ich einfach da und ließ den Wortschwall, denn er durch den Raum schleuderte, über mich ergehen. Als ich nach fast einer Minute immer noch keine Anstalten machte etwas zu erwidern ging er einfach – und ich war nicht einmal in der Lage ihm zu folgen.
Stattdessen fühlte ich, wie sich eine kalte Leere in meinem Inneren ausbreitete – ähnlich wie damals, als ich Duncan verloren hatte, nur nicht ganz so stark – und meine Knie anfingen bedrohlich zu zittern. Kurz bevor sie mir ganz den Dienst versagten schaffte ich es noch auf das nahegelegen Sofa.
Inzwischen hatte mein gesamter Körper angefangen zu beben als stünde er unter Strom und ich wusste sofort was der dicke Kloss in meinem Hals zu bedeuten hatte. Keine Sekunde später kullerte eine Träne über meine Wange und tropfte schlussendlich von meinem Kinn. Von meinem lauten Schluchzen wurde Duncan wach.
„Mars? Marissa?“, hörte ich ihn fragen. Er klang mehr als verwirrt. „Weinst du etwa?“
Einen Moment später kniete er neben dem Sofa auf dem Boden und versuchte vorsichtig die Hände, in denen ich mein Gesicht verbarg, in meinem Schoß zu zwingen.
„Was ist passiert?“, flüsterte er. Ich hatte zwar meine Augen geschlossen, spürte aber trotzdem wie sein Blick besorgt über meine Züge wanderte – von meinen Augenbrauen bis zu meinen Lippen.
„E-es ist… Alex.“ Meine Stimme war nicht mehr als ein brüchiges Wispern und kaum verständlich. Ich wollte weiter sprechen, doch als ich meinen Mund öffnete brachte ich nur weitere Schluchzer zustande.
„Was ist mit ihm? Mars, bitte! Hör doch auf zu weinen.“ Kaum hörbar zog er sich neben mich aufs Sofa und nahm mich in den Arm. Automatisch sank mein Kopf an seine Schulter.
Es vergingen ein paar Minuten, bis ich wieder im Stande war verständliche Worte zu formen. „Alex ist gegangen.“ Ich holte tief Luft bevor ich weiter sprach. „Er hat es nicht ausgehalten, dass ich zu dir gehöre und deshalb hielt er es für das Beste, wenn er geht.“
„Es tut mir leid“, murmelte Duncan in meine Haare. Ich wusste, dass es ihm eigentlich egal war, doch für mich tat er wenigstens so, als wäre es das nicht – und dafür hätte ich ihn am liebsten geküsst.
„Weißt du, als ich alleine in dieser… Höhle gelebt habe, da war ich oft einsam. Dank Alex war ich wenigstens nicht mehr allein und jetzt ist es so, als hätte ihn mir jemand weggenommen.“
„Dieser Jemand bin dann wohl…-“, bevor er noch weitersprechen konnte drehte ich mich blitzschnell zu ihm um und verschloss mit meinen Lippen seinen Mund.
„Nein“, flüsterte ich, nachdem ich es schweren Herzens geschafft hatte mich wieder von ihm zu lösen. „Dich würde ich für niemanden auf der Welt mehr eintauschen.“
Ein leichtes Lächeln schlich sich in seine Züge, dann lehnte er seine Stirn an meine.

Sechs Jahre später…
Das Holz der Hollywoodschaukel knarrte leise, als ich mein Gewicht etwas weiter nach vorne verlagerte. Ein leichter Wind ließ meine Haare durch die Luft tanzen und riss hie und da ein bunt gefärbtes Blatt von einem Baum oder Strauch.
Hinter mir hörte ich die Hintertür des Hauses ins Schloss fallen. Es folgten Schritte auf der schmalen Holzveranda und schließlich das kaum hörbare Rascheln von Stoff.
Automatisch wandten sich meine Ohren in die Richtung, aus der die Geräusche kamen.
„Ich liebe es, wenn du das machst“, flüsterte plötzlich Duncan über mir. Ich lehnte mich leicht nach hinten um ihm ins Gesicht sehen zu können. Die aufgekommene Brise wiegte auch seine Haare sanft hin und her und verliehen seinem Äußeren etwas Magisches und diesen Ausdruck konnte nicht einmal sein Dreitagebart schmälern. Ja, man könnte fast sagen, auch wenn er längst kein Gestaltwandler war, steckte noch etwas von einem Wolf in ihm.
„Was genau meinst du denn?“, hakte ich nach als er anfing mit seinen Fingerspitzen über meinen Scheitel zu streichen.
„Na, deine Wolfsohren. Du hast ja keine Ahnung wie niedlich du mit denen aussiehst.“ Ein Lachen lag in seiner Stimme.
„Niedlich also? Na warte! Ich zeige dir gleich, dass ich auch ganz anders kann“, neckte ich ihn und griff nach hinten um ihn neben mich auf die schaukelnde Bank zu ziehen. Bereitwillig ließ er es geschehen.
„Oh ja, unglaublich niedlich“, schnurrte er mir ins Ohr, kaum, dass er sich gesetzt hatte. Ich konnte mir ein Kichern nicht verkneifen, so kindisch das auch war.
„Und?“ Die plötzliche Änderung in seinem Tonfall ließ mich zusammenzucken. Hin und her gerissen schüttelte ich das längliche Plastikteil in meiner rechten Hand. Es war, als würde es Tonnen wiegen.
„Ich weiß es noch nicht“, flüsterte ich. Ein Kloß hatte sich in meinem Hals gebildet – vor Aufregung. In meinem Leben war ich selten so nervös gewesen.
„Sehen wir gemeinsam nach?“, fragte er etwas zögerlich und legte eine Hand an meine Wange. Etwas zögerlich reichte ich ihm den Test und lehnte mich gegen seine Schulter.
Sekunden verstrichen, dann atmete Duncan tief ein. Ich wollte nicht auf den Schwangerschaftstest in seiner Hand sehen, ich wollte, dass er mir das Ergebnis direkt ins Gesicht sagte.
„Ich glaube… wir bekommen ein Kind.“ Unsere Blicke trafen sich. Im nächsten Moment schlang ich meine Arme so fest um seinen Oberkörper, als hätte ich Angst, dass er einfach aufstehen und weggehen würde. Ich hatte seine Reaktion nicht gesehen, doch ein tiefes Lachen direkt an meinem Ohr war Antwort genug.
„Ich kann es gar nicht fassen! Ich werde Vater!“ Duncan klang überglücklich und drückte mich nun seinerseits fest an sich.
Ich hatte mich nie als Mutter gesehen. Ich war auch noch nie richtig gut mit Kindern zu Recht gekommen. Das hier war allerdings… das absolut Beste, was mir in meinem Leben bisher passieren konnte.




ENDE




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Tag der Veröffentlichung: 24.05.2010

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