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Prolog

Es würde laufen wie immer.

Mein Tag – mein Wille.

Doch in der Nacht hatte ich keinen mehr.

Ich hatte keine Wahl.

 

 

 

 

Ich war schon immer anders gewesen als alle anderen, das hatte mich nie gestört – bis jetzt.

Als ich noch jünger war, hatte ich ein relativ normales Leben. Freunde hatte ich zwar keine, aber das störte mich auch nicht weiter. Ich war ein Außenseiter – schon immer.

Vermutlich hatte ich mich auch aus diesem Grund daran gewöhnt ständig schief angesehen zu werden, ganz egal wohin ich kam. Vielleicht lag es an meinem Aussehen, vielleicht mit meiner Ausstrahlung. Ich wusste es nicht.

Auf meine Altersgenossen hatte ich wegen meiner schwarzen Haare, meiner blassen Haut und meiner stechend blauen Augen immer abschreckend gewirkt. Manchmal warfen sie mir deshalb Wörter wie Zombie oder Leichengirl hinterher, aber mir war das egal, ich hatte mit den Jahren gelernt solche Bemerkungen zu verdrängen.

Selbst meine Eltern hatten Angst vor mir. Das würden sie zwar niemals zugeben, aber ich wusste es – ich fühlte es. Wahrscheinlich war das der Grund, warum sie mich in ein Internat für schwer erziehbare Kinder steckten als ich gerade einmal zehn Jahre alt war und kein bisschen schwer erziehbar. Immer wieder hatten sie mir gesagt wie schwer es ihnen fiel mich gehen zu lassen und das sie mich liebten. Zu Anfang hatte ich ihnen noch geglaubt, aber je länger ich in diesem Internat war, desto mehr wurde mir klar, dass ich meine Eltern wahrscheinlich nie wieder sehen würde.

Und um ehrlich zu sein war mir das auch ganz recht so. Die Vorstellung, dass man seine Kinder einfach wegsperrte, nur weil sie anders waren, ließ mich jedes Mal vor Wut erzittern.

Mein Leben im Internat war eintönig.

Ich vermisste den kleinen Garten hinter dem Haus meiner Eltern. Die Blumen dort hatten immer etwas Beruhigendes ausgestrahlt – wie kleine, bunte Farbkleckse im grauen Alltag. Jetzt war das Einzige, was auch nur annähernd an Farbe erinnerte die Tomatensoße in der Internatskantine.

Jeden Tag war jemand anderes fürs Kochen eingeteilt – ich hasste es wie die Pest. Warum? Nun ja, hinter dem Tresen der Essensausgabe fühlte ich mich wie in einem Schaufenster – angestarrt und ausgeschlossen. So oft es ging, drückte ich mich deswegen vor dem Küchendienst.

Meine Mahlzeiten nahm ich immer nur am Ende der Essenszeiten ein – und zwar in meinem Zimmer. Aber nicht einmal dort war ich alleine. Ich teilte mir die kleine, triste Kammer mit drei anderen Mädchen. Zwei von ihnen waren höchst gewalttätig, wenn man mich fragte. Sie liebten es schwächere Schüler zu vermöbeln bis sie ins Krankenzimmer mussten. Ich konnte sie nie ausstehen – vom ersten Tag an nicht.

Das andere Mädchen, ich glaube sie hieß Amanda, war viel ruhiger. Sie saß oft am Schreibtisch und zeichnete auf einer Serviette die sie aus der Kantine mitgenommen hatte.

Des Öfteren wurde sie zum Opfer der Schlägermädels, die sich, zum Leitwesen aller anderen, gut miteinander verstanden. Nur mich rührten sie nie an – auch dann nicht, wenn ich schlief und ein wehrloses Opfer abgegeben hätte.

Die Jahre verstrichen, wenn auch sehr langsam.

Ich wurde sechzehn und war eine der wenigen die so lange das Internat besuchten – oder besser gesagt: besuchen mussten.

Meine Eltern hatten sich schon seit mehr als drei Jahren nicht mehr gemeldet. Ich war froh darüber. Sie sollten mir bloß fern bleiben – wer wusste, wie ich sonst reagiert hätte.

Die Belegung in meinem Zimmer wechselte beinahe jährlich denn keiner war so lange weggesperrt wie ich.

Der Tag meiner „Entlassung“ rückte mit jedem Tag näher, auch wenn es sich anfühlte, als würde es eine Ewigkeit dauern. Noch zwei weitere Jahre sollten vergehen, bis ich die Tür des Internats endlich zum letzten Mal hinter mir schloss. Es war ein so befreiendes Gefühl – unvorstellbar.

Viel hatte ich nicht, was ich mitnehmen konnte, nur ein paar Klamotten, einen zerknitterten Zeichenblock und ein bisschen Kleingeld.

Es war mein achtzehnter Geburtstag und somit Zeit auf eigenen Beinen zu stehen und meine unschöne Vergangenheit zu vergessen.

Mein erster Weg führte mich in ein Obdachlosenheim, nirgends sonst hätte ich unterkommen können. Mein Geld reichte lange nicht für ein Hotelzimmer, wenn ich Glück hatte konnte ich mir am nächsten Morgen eine Kleinigkeit zu essen kaufen.

Das Zimmer musste ich mir wieder mit zwei anderen teilen – diesmal mit zwei Männern. Ich fühlte mich sehr unwohl dabei, versuchte es aber zu ignorieren. Die beiden rochen merkwürdig, was wahrscheinlich daran lag, dass sie sich ein paar Wochen lang nicht mehr gewaschen hatten – zumindest sahen sie so aus. Dieser beißende Geruch, der von ihnen ausging, ließ mich nicht einschlafen, aber wenigstens hatte ich ein Dach über dem Kopf und musste nicht zwischen ein paar Mülltonen in irgendeiner Seitenstraße schlafen.

Dass mich meine zwei Zimmergenossen nicht anfassten, wunderte mich dann aber doch sehr. Ich wusste zwar, dass ich nicht unbedingt eine Schönheit war, aber gerade hässlich war ich auch nicht. Auch wenn mich Leute in meinem Alter mieden, hatte ich schon öfters bemerkt, dass mir einige Jungs verstohlene Blicke zugeworfen hatten.

Um vier Uhr morgens verließ ich dann das Zimmer und machte mich auf den Weg in die Innenstadt. Dort hoffte ich einen Arbeitsplatz zu finden. Tatsächlich entdeckte ich schon nach kurzer Zeit, nur ein paar Straßen vom Stadtzentrum entfernt im Fenster eines Internetcafés ein weißes Schild mit der Aufschrift „Aushilfe gesucht“.

Hoffnungsvoll betrat ich den engen Eingangsbereich, atmete noch einmal durch und trat dann an die Theke. Hier drin roch es stark nach Zigarettenrauch, Café und Staub - ein Blick durch den Raum erklärte auch sofort, warum. Der hintere Teil des Zimmers war stark abgedunkelt – dort standen ein paar laut surrende PCs. Hier, im vorderen Bereich, leuchteten ein paar Glühbirnen zwischen den blauen Rauchwolken.

Um diese Uhrzeit schien nicht viel los zu sein.

Die einzige Person, die ich entdecken konnte, war eine Frau mittleren Alters, die hinter der Theke stand und ein Glas abtrocknete.

„Entschuldigung.“ Meine Stimme zitterte leicht. Es war eine Chance die ich unbedingt ergreifen musste, wenn ich ein normales Leben führen wollte.

Die Bedienung blickte auf. Sofort weiteten sich ihre Augen und ihre Nasenflügel blähten sich.

„Ja?“ Sie versuchte höfflich zu sein, ich bemerkte ihre Furcht vor mir trotzdem. Ich deutete mit dem Daumen auf das Schild hinter mir.

„Sie suchen eine Kellnerin?“ fragte ich und stützte mich dabei mit den Händen an der Theke ab. Die Frau wich reflexartig zurück. Mir war es egal, ich kannte diese Reaktion schon gut genug.

„Ja, genau. Möchten Sie sich bewerben?“ fragte sie etwas skeptisch und musterte mich genau. Ich war ganz bestimmt nicht richtig für ein Bewerbungsgespräch angezogen und wusste auch gar nicht was ich eigentlich sagen sollte, trotzdem nickte ich nach einer kurzen Pause.

„Haben Sie Erfahrung in diesem Bereich?“ fragte die Frau und legte den Kopf schief. Anscheinend traute sie mir diese Arbeit nicht ganz zu.

Ich schüttelte langsam den Kopf. „Nein, hören Sie. Ich komme gerade erst aus einem Internat. Ich habe kein Geld, keine Klamotten und kein Dach überm Kopf. Ich brauche diesen Job!“ Ich starrte sie bittend an.

Sie schien sich das Hirn zu zermartern und kaute auf ihrer Unterlippe herum.

„Wie alt sind Sie?“ fragte sie ohne mich anzusehen. Sie schien wirklich nachzudenken was sie mit mir machen sollte.

„Gerade erst achtzehn geworden“, flüsterte ich, gerade laut genug damit sie es verstehen konnte.

Die Bedienung nickte. „In Ordnung, können Sie gleich anfangen?“ Ihre Lippen formten die Andeutung eines Lächelns und ich konnte nicht anders als zurückzulächeln. Ich war einfach nur so dankbar und erleichtert, dass ich es gleich auf Anhieb geschafft hatte.

„Ich heiße übrigens Tanja, mit wem habe ich das Vergnügen?“ fragte sie und streckte mir die Hand entgegen.

Ich ergriff sie und antwortete. „Nicole, aber Nici reicht.“

Sie ließ meine Hand wieder los und griff nach einem Schlüssel, der an ihrem Gürtel hing.

„Okay, am besten lassen wir die Höflichkeiten gleich weg. Komm mit“ Sie ging zu einer mehr oder weniger verborgenen Tür zwischen den Regalen und bedeutete mir ihr zu folgen. Ich hastete um die Theke herum und schloss schnell zu ihr auf. Hinter der dunklen Holztür verbarg sich ein länglicher Gang. Tanjas dunkelbraune Locken wippten bei jedem ihrer Schritte auf und ab.

Der trostlose Gang endete mit einer blauen Metalltür die laut quietschte als die zierliche Tanja sie aufdrückte. Ich folgte ihr in den nächsten Raum. Eine Art Garderobe erstreckte sich nun vor mir. Die dunkle Holzvertäfelung der Wände machte ihn noch kleiner als er sowieso schon war und der Geruch des Linoleumbodens stieg mir beißend in die Nase. Ich musste mir den Reflex verkneifen die Luft anzuhalten.

Tanja trat zu Seite um etwas mehr Platz zwischen uns zu bringen.

„Okay, also das hier ist unsere Garderobe. Du kannst deine Sachen hier deponieren, wenn du willst. Die Hintertür ist da drüben.“ Sie zeigte mit der Hand auf die gegenüberliegende Wand, „Von dort aus kommst du in eine Seitenstraße. Auf der anderen Straßenseite ist ein kleines Motel, du kannst ja mal nachfragen ob die noch ein Zimmer frei haben.“ Sie musterte mich ganz genau. Ich tat so als würde ich mich im Raum umsehen, in Wirklichkeit beobachtete ich Tanjas Reaktion auf mich.

Sie schien nervös zu sein– sie tippte immer wieder mit der Schuhspitze auf den Boden und blinzelte unruhig -, obwohl sie sich alle Mühe gab das vor mir zu verbergen.

„Gut, brauch ich irgendeine Uniform oder so?“ fragte ich und legte meine Tasche in die Ecke neben einen alten Schrank.

Tanja ging an mir vorbei und auf einen kleinen Metallkasten an der Wand zu.

Mit einer Handbewegung öffnete sie die knarzende Tür und zog ein dunkelblaues T-Shirt hervor. Sie reichte es mir, nahm aber ihre Hand sofort weg nachdem ich es an mich genommen hatte.

„Hier bitte, ich geb dir fünf Minuten. Zieh dich um und komm dann nach vorne. Ich muss dringend wieder hinter die Theke.“

Mit diesen Worten drehte sie sich um und verschwand. Die Tür fiel mit einem dumpfen Schlag ins Schloss, nun war ich allein in dem Raum.

Ich drehte mich einmal im Kreis.

Das Zimmer hatte nicht einmal ein Fenster, das Licht kam von einer Neonleuchte an der Decke. Wahrscheinlich roch es deshalb so streng hier drin. Nachdem ich mich noch ein bisschen umgesehen hatte schlüpfte ich aus meinem ausgeleierten, dunkelgrauen T-Shirt und zog das Neue über. Es hing wie ein Kartoffelsack an mir herunter, aber richtig gewundert hatte mich das nicht. Ich war schon immer sehr zierlich gewesen – was nicht immer ein Vorteil war. Denn das bedeutete auch, dass ich nicht unbedingt mit übermäßiger Kraft gesegnet war – aber eigentlich kam ich auch so meistens gut zurecht. Nur sah ich jetzt mit diesem viel zu großen Shirt etwas dämlich aus.

Langsam kehrte ich zurück in den Gastraum, wo die Luft immer noch genauso stickig und irgendwie neblig zu sein schien, wie auch schon zuvor.

Tanja reichte gerade einem Gast seinen Kaffee über die Theke. Als die beiden mich bemerkten, veränderte sich sofort die Stimmung im Raum, als hätte jemand die Temperatur hinunter gedreht.

Ich stellte mich neben Tanja.

„Okay, gut. Du kannst gleich mal anfangen den Tisch da hinten abzuräumen.“ Sie deutete mit einer Hand in die letzte Ecke des Raums während sie mit der anderen den Wasserhahn aufdrehte.

„Geht klar.“

Ich beeilte mich extra. Nach nicht einmal drei Minuten war der Tisch abgeräumt und sauber gewischt. Tanja staunte nicht schlecht als ich mit der letzten leeren Tasse zu ihr zurückkehrte. Danach musste ich nur noch ein paar Mal servieren und am Abend war es Zeit die Computer herunter zu fahren.

„Also, ich hätte ehrlich gesagt nicht gedacht, dass du diesen Job so gut machst“, gab Tanja zu während sie das letzte Geschirr in die Regale zurückräumte, „Hier hast du mal das Gehalt für diesen Monat. Deine Schicht beginnt morgen erst um halb drei. Komm nicht zu spät.“ Mit diesen Worten ging sie zum Eingang und sperrte ab.

Ich machte mich unterdessen auf den Weg in die Garderobe. Mein Arbeitsgewand faltete ich zusammen und verstaute es in meiner Tasche. Dann ging ich zur Hintertür hinaus.

Ein leichter Wind wehte mir ins Gesicht. Erst wenn man hier draußen, unter freiem Himmel stand, bemerkte man richtig wie sehr es im Café eigentlich stank.

Ich atmete ein paar Mal tief ein und aus. Mein Blick scannte derweil automatisch die Umgebung – Mülltonnen, Dreck, ein paar Ratten.

Die Gasse endete ein paar Meter links von mir, wo sich ein paar schwarze Säcke zu einem Turm aufhäuften. Also ging ich in die andere Richtung.

Auf dem Bürgersteig wehte der Wind deutlich stärker als in der engen Seitenstraße. Erneut schaute ich mich um. Viel war hier nicht los.

Ein paar rostige Autos standen am Straßenrand und an der nächsten Ecke war ein kleiner Friseursalon. Endlich entdeckte ich auch die Leuchtschrift auf der gegenüberliegenden Straßenseite, und fragte mich wie ich sie nur hatte übersehen können – obwohl das, angesichts der Tatsache, dass die Buchstaben schon ziemlich verblichen waren, gar keine so große Überraschung war.

Eilig überquerte ich die bröcklige Straße und öffnete die schwere, vergitterte Eingangstür. Auch hier roch es merkwürdig – es hatte etwas von Schimmel und feuchten Wänden. Langsam fragte ich mich, ob in dieser Stadt alle Wohnungen und Geschäfte so stanken.

Eine flackernde Glühbirne hing kahl und einsam an der Decke. Das enge Treppenhaus wirkte muffig und drohte mich zu erschlagen. In der rechten Wand war ein kleines Fenster in das eine gelblich verfärbte Plexiglasscheibe eingelassen war.

Ich trat an den Schalter und klopfte vorsichtig gegen den Kunststoff. Ein glatzköpfiger Mann saß dahinter auf einem knarzenden Bürosessel und blätterte in irgendeinem Revolverblatt. Wie von einer Biene gestochen zuckte er zurück als er mich entdeckte.

„W-was kann ich für Sie tun?“ stotterte er und legte zittrig die Zeitung auf den Tisch.

Ich schaute ihn eine Sekunde lang an. „Haben Sie ein Zimmer frei?“

Die Augen des alten Mannes weiteten sich vor Schreck, dann bemühte er sich wieder um einen normalen Gesichtsausdruck.

„J-ja Moment.“ Auch wenn er sein Gesicht jetzt wieder unter Kontrolle hatte, seine Stimme spielte immer noch nicht mit.

Es war schon sehr merkwürdig. Ich wusste ja, dass die Leute ängstlich auf mich reagierten und sich von mir fernhielten, aber so schlimm war es noch nie gewesen. Schließlich nickte er und schaute mich vorsichtig an.

„Gut, dann erst mal für diese Nacht bitte.“ Ich versuchte ein Lächeln aufzusetzen, aber die Reaktion des Alten machte mir irgendwie Angst – vor mir selbst.

„Macht dann fünfzehn bitte“, sagte er nach einer kurzen Pause.

Zögernd griff ich in meine Hosentasche und zog ein paar Scheine heraus um sie anschließend durch den Schlitz am unteren Rand der Glasscheibe zu schieben. Mit einem leisen Klirren reichte er mir den Zimmerschlüssel und verließ dann wie auf der Flucht das kleine Büro durch eine schmale Tür in der hinteren Ecke.

Ich konnte nicht anders als wie versteinert stehen zu bleiben und ihm nachzuschauen, so geschockt war ich. Eigentlich war ich ja einiges gewohnt, aber das gerade hatte sich angefühlt wie eine schallende Ohrfeige.

Nun musste ich mich bemühen nicht auf der Stelle in Tränen auszubrechen – und ich war eigentlich nicht sehr nahe am Wasser gebaut. Schnell stieg ich die abgewetzte Holztreppe zu meinem Zimmer hinauf – in den dritten Stock.

Oben angekommen war ich völlig außer Atem. Ich musste dringend anfangen Sport zu betreiben. Mittlerweile flossen mir die Tränen in Strömen übers Gesicht. Ich schaffte es gerade so den Schlüssel ins Schloss zu stecken und aufzuschließen.

Als die Tür langsam aufschwang und ich den Raum dahinter sehen konnte, traf mich fast der Schlag.

Meine Tränen stoppten beinahe von selbst.

Ich hatte mit allem gerechnet – bröckelndem Putz, schäbigen Teppichen und ausgefranzten Decken. Aber das hier war ja schon fast ein Hotel.

Ich trat in den winzigen Vorraum und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Wände waren in einem hellen Blau gehalten und der Teppich passte mit seinem meerblauen Farbton genau dazu. Auch die Bettdecke hatte eine wunderschöne blaugrüne Farbe. Ich konnte nicht anders als mich sofort wohl zu fühlen.

Das war wohl das schönste Zimmer, das ich bis jetzt in meinem Leben bewohnen durfte.

Ich ließ meine Tasche einfach im Eingangsbereich fallen und trat in den vorderen Teil des Raumes – den Schlafbereich.

Das abendliche Licht fiel durch zwei große Fenster in den Raum. Dass die Vorhänge fehlten störte überhaupt nicht – ganz im Gegenteil. Dadurch wirkte das Zimmer sogar noch größer als es sowieso schon war.

Und ich sollte noch einmal überrascht werden.

Ich sah mir gerade die Einrichtung genauer an, da entdeckte ich eine helle Holztür in einer Ecke. Zögerlich drückte ich die Klinke hinunter und spähte in die Dunkelheit vor mir. Ich tastete mit einer Hand über die Wand. Sie war kalt und hart – gefliest. Endlich fanden meine Finger eine Erhebung und ich drückte den Schalter.

Voller Erstaunen stellte ich fest, dass mein neues Zuhause sogar ein Badezimmer hatte und nicht, wie erwartet, eine Gemeinschaftsdusche in jedem Korridor.

Ich kehrte ins Schlafzimmer zurück und schaltete das Licht dabei in beiden Räumen aus.

Alles was ich jetzt wollte war schlafen – und zwar sofort. Erschöpft ließ ich mich auf die Matratze fallen und war wenige Minuten später schon eingeschlafen.

 

Blinzelnd öffnete ich meine Augen.

Dumpfes Licht erhellte das Zimmer.

Ich war sofort hellwach und sprang geradezu aus dem Bett. Ein Blick auf die Uhr an der Wand sagte mir, dass es gerade erst halb zehn wurde.

Immer noch ein bisschen müde fuhr ich mir mit der Hand durch die Haare und machte mich auf den Weg ins Badezimmer.

Ich drehte das Wasser in der Dusche auf und wartete aber es wurde einfach nicht warm. Na gut, irgendeinen Hacken musste die Sache hier ja auch haben.

Also duschte ich eben mit eiskaltem Wasser und trocknete mich dann mit einem meiner alten T-Shirts ab.

Auch wenn ich jetzt fror fühlte ich mich so gut wie schon lange nicht mehr.

Als ich mich angezogen hatte ging ich zurück ins Zimmer und suchte mir eine kleine Schublade, in der ich mein Geld verstecken konnte. Bald war ein sicheres Plätzchen gefunden und ich konnte mich entspannt auf mein Bett fallen lassen.

Mein Leben konnte nun endlich in die richtige Richtung gehen. Ich würde mir nie wieder ein Zimmer mit Leuten teilen müssen, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte.

Das war meine Möglichkeit endlich ein menschenwürdiges Dasein zu führen.

Ich starrte noch eine Weile die Decke an und stand irgendwann auf.

Ein Blick aus dem Fenster verriet mir, dass es draußen nieselte. Ich machte mir deswegen keinen Stress und zog mir einfach noch ein langärmliges Shirt drüber.

Anschließend nahm ich den Zimmerschlüssel und ging nach unten.

Der alte Mann saß heute nicht in dem kleinen Büro, nicht einmal Licht brannte hinter der Scheibe.

Ohne mich noch einmal umzusehen trat ich auf die Straße. Ich hatte recht gehabt, die Luft war erfüllt von millionen winziger Wassertröpfchen.

Ich nahm mir vor heute einmal die Umgebung zu erkunden.

Unterwegs sah ich nur ein paar Menschen, aber diese wechselten sofort die Straßenseite wenn sie mich bemerkten und verschwanden dann in irgendwelchen Gassen.

Ich kam mir merkwürdig vor, obwohl mich das abweisende Verhalten meiner Mitmenschen normalerweise kalt ließ. Es war, als wäre ich ein Alien und gehörte nicht auf diesen Planeten – in ihre Welt.

Der Nieselregen ging nun allmählich in Nebel über.

Ich zog mir die Kapuze meines Shirts über und überquerte die Straße, immerhin wollte ich nicht denselben Weg zurücklaufen den ich gekommen war.

Mein kleiner Spaziergang hatte mehr als zwei Stunden eingenommen. Ich beschleunigte meine Schritte, denn ich war mir ziemlich sicher, dass es keinen so guten Eindruck bei Tanja gemacht hätte, wenn ich schon an meinem zweiten Arbeitstag schon zu kam.

Irgendwann beschleunigten sich meine Schritte wie von selbst und ich legte beinahe die gesamte Strecke in diesem Tempo zurück.

Völlig außer Atem hielt ich schließlich vor dem Motel. Der Schriftzug war nicht beleuchtet, doch die, von der Sonne, geblichenen Buchstaben schienen trotzdem zu strahlen.

Eilig überquerte ich die Straße wieder, trat ins Motel und stieg so schnell es ging die Treppe hinauf.

Sportlichkeit. Das war es wohl, was mir im Moment am meisten fehlte.

In meinem Apartment – ich hatte mir gedacht, das wäre ein recht zutreffender Begriff für dieses Zimmer – zerrte ich das dunkelblaue T-Shirt aus meiner Tasche und schlüpfte hinein. Dann sperrte ich die Tür hinter mir ab und flog geradezu die Stufen wieder hinunter.

Gut, dass mein Arbeitsplatz nicht so weit von meinem Heim entfernt war, sonst wäre ich mit aller höchster Wahrscheinlichkeit zu spät gekommen und wären meinen Job gleich wieder los gewesen.

So leise wie möglich schob ich mich durch die Hintertür und ging durch die Garderobe und den Gang ins Café.

Tanja zog gerade die Jalousien hoch und bemerkte mich zuerst gar nicht. Erst als ich die Tür hinter mir ins Schloss zog drehte sie sich zu mir um.

„Hallo“, sagte sie schlicht und kam um die Theke herum um die Cafémaschine einzuschalten. Dabei ließ sie mich nicht eine Sekunde aus den Augen.

„Was soll ich machen?“ fragte ich und schaute mich suchend um.

Tanja trat einen Schritt vor mir zurück und nickte in Richtung der Computer.

„Du kannst die alle einschalten.“

Mit diesen Worten verschwand sie fluchtartig in die Garderobe.

Allmähliche fragte ich mich wirklich, ob mir vielleicht Antennen aus dem Kopf wuchsen. Warum sollten heute sonst alle solche Angst vor mir haben – mehr noch als sonst immer.

Tanja hatte sich gestern ja ganz gut im Griff gehabt, aber von ihrer Ruhe war nichts mehr zu spüren. Sie schien sogar Panik zu bekommen, wenn sie zu lange neben mir stand.

Ich tat was sie mir gesagt hatte und drückte die Start-Knöpfe an allen Geräten. Es waren sogar mehr als die fünf, die man vom Eingang aus sehen konnte. Der Raum ging um eine Ecke, wo noch einmal sieben PCs standen.

Surrend fuhren sie hoch.

Ich beachtete dieses nervige Geräusch nicht weiter und ging zurück zum Eingangsbereich.

Nach nicht einmal fünf Minuten klingelte die Türglocke. Ich stand gerade mit dem Rücken zum Eingang und trocknete eine Tasse ab.

Sofort drehte ich mich zu meinem ersten Gast herum um seine Bestellung aufzunehmen.

Ein kleiner, gebrechlich wirkender Mann setzte sich auf einen der Hocker und wartete geduldig – zumindest bis zu dem Augenblick, als er mein Gesicht sah.

Er zuckte zurück und wäre fast rücklings vom Sessel gekippt, wenn er sich nicht in der letzten Sekunde an der Holzplatte der Theke festgehalten hätte.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte er mich an. Ich machte mir inzwischen schon Sorgen, dass er einen Herzinfarkt bekommen könnte, aber derweil sah er noch ziemlich gesund aus - bis auf die Tatsache, dass alle Farbe aus seinem Gesicht gewichen war.

„Guten Tag, was darf ich ihnen geben?“ fragte ich und versuchte mich darauf zu konzentrieren ihn anzulächeln – was mir überhaupt nicht gelang.

Der Mann sah mich einfach nur mit offenem Mund an und brachte keinen Ton heraus.

„Ist alles in Ordnung?“ fragte ich als er immer noch nichts sagte.

Langsam löste er sich aus seiner Erstarrung und schüttelte seinen Kopf leicht hin und her.

„I-ich hätte gern einen Cappuccino, bitte.“ Endlich hatte er seine Sprache wieder gefunden und setzte sich gerade hin.

Ich nickte und lächelte ihn freundlich an, dann drehte ich mich um.

Der Café für den merkwürdigen Typen war schnell gemacht und ich konnte mich kurz in die Garderobe flüchten.

Tanja saß dort und telefonierte gerade angeregt mit jemandem. Als sie mich sah, legte sie beinahe augenblicklich auf und versuchte zu lächeln.

„Was gibt’s?“ fragte sie und stand auf.

„Ich wollte nur mal nachsehen wo du bist. Nicht, dass ich irgendwas falsch mache…“, versuchte ich mich zu rechtfertigen.

„Ich komme sofort“, sagte sie und ging zur Hintertür hinaus.

Ich schnaufte noch kurz durch und ging dann wieder zurück, denn einen Gast ganz allein zu lassen kam mir doch etwas seltsam und vor allem unhöflich vor.

Der Mann saß noch auf dem Hocker und rührte in seiner Tasse.

„Brauchen Sie etwas?“ Ich stütze mich an der Theke ab und schaute ihn genau an. Seine Stirn, die fließend in eine Glatze überging, lag in Falten und ein paar dunkle Altersflecken zeichneten sich auf seinen Schläfen ab.

Automatisch lehnte er sich nach hinten um mehr Platz zwischen uns zu bringen. „Nein, danke. Ich würde einfach gerne meinen Café trinken, wenn Sie nichts dagegen haben“, fuhr er mich an, so dass mir die Röte ins Gesicht schoss.

„Tut mir leid“, murmelte ich und drehte mich um, um wieder ein paar Tassen und Gläser in die Regale zu räumen.

 

Dieser Tag schien sich unendlich hinzuziehen.

Alle Gäste die noch folgten benahmen sich merkwürdig – genauso wie Tanja und der alte Mann.

Sie schienen vor mir fliehen zu wollen, als wäre ich ein wildes Tier das ihnen jeden Moment das Fleisch von den Knochen reißen könnte.

Dieser Gedanke gefiel mir überhaupt nicht.

Wie sollte ich denn ein normales Leben führen, wenn mich die Gesellschaft total ausschloss?

Niedergeschlagen und mit einem unguten Gefühl in der Magengegend verließ ich gegen neun Uhr das Café und ging zurück zum Motel.

Das Licht in dem kleinen Büro beim Eingang brannte - Gott sei Dank.

Mit einem Seufzer trat ich an die Scheibe und klopfte vorsichtig.

Der Mann erschrak, gleich wie am Tag zuvor, auch heute wieder.

„Ich würde gerne das Zimmer für diesen Monat mieten, geht das?“ fragte ich unsicher.

Er kratzte sich an seiner Glatze und fing dann an, hektisch in einem Block herumzublättern.

„Okay, wir machen einen Sonderpreis.“ Die Stimme des Mannes war heute kräftiger, aber leider schwang auch mehr Angst in ihr mit als gestern.

„Gut, danke. Ich bringe das Geld morgen. Ist das in Ordnung?“ fragte ich und wippte von den Fersen auf die Fußballen und dann wieder zurück.

Er nickte. Wie auf ein Startsignal sprang er auch dieses Mal wieder auf und verschwand.

Ich wusste nicht was los war und wahrscheinlich würde ich es sowieso nicht verstehen. Trotzdem fühlte ich mich angegriffen und verletzt.

Und irgendetwas in mir schien sich… zu verändern.

Ich ging die Treppe hinauf – zum ersten Mal an diesem Tag langsam – und merkte, dass ich auf einmal alles etwas verschwommen und verschoben sah.

Im zweiten Stock musste ich anhalten und mich setzen, sonst wäre ich bestimmt umgefallen. Erst nach mehr als fünf Minuten schaffte ich es irgendwie wieder auf die Beine zu kommen. Langsam und tastend kämpfte ich mich noch einen Stock nach oben.

Meine Hände zitterten wie wild als ich den Schlüssel ins Schloss steckte.

Ich hatte keine Zeit mehr ihn wieder herauszuziehen, denn plötzlich wurde mir übel und ich schaffte es gerade noch ins Badezimmer bevor ich mich in die Kloschüssel erbrach.

Ganze zehn Minuten lang wurde ich von furchtbaren Krämpfen geschüttelt, dann konnte ich endlich wieder halbwegs normal durchatmen ohne, dass mir schlecht wurde.

Vielleicht lag es an dem Essen, dass ich in meiner Pause schnell runter geschlungen hatte. Vielleicht auch an etwas Anderem.

Ich fühlte nur, dass etwas mit mir ganz und gar nicht stimmte.

Auch wenn sich mein Magen langsam beruhigte war meine Sicht immer noch getrübt und schien manchmal zu verwischen.

Irritiert schüttelte ich den Kopf, doch es half nichts.

Nachdem ich meinen Schlüssel geholt hatte ließ ich mich aufs Bett sinken. Nur die kleine Kunststofflampe auf dem Nachttischchen erleuchtete den Raum.

Die Holzdecke schien sich zu bewegen. Manchmal kam sie näher, dann rückte sie wieder in weite Ferne – so dachte ich zumindest.

Nur langsam klärte sich mein Blick und doch war es nicht mehr gleich wie vorher.

Alles hatte einen leichten Blaustich bekommen.

Ich bekam es langsam mit der Angst zu tun.

Was geschah mit mir?

 

 

1. Kapitel

 

Am nächsten Morgen wachte ich früh auf.

Zunächst wagte ich es nicht, meine Augen zu öffnen, aus Angst, mir könnte wieder übel werden. Erst nach ein paar Minuten blinzelte ich, immer noch verschlafen, und schaute mich vorsichtig um.

Immer noch lag ein leichter Blauschimmer auf allem was ich gerade ansah.

Ich fühlte mich merkwürdig geschwächt und hatte das Gefühl sehr lange geschlafen zu haben.

In Wahrheit waren es gerade einmal sechs Stunden gewesen.

Vielleicht war ich ja krank?

Eine Grippe oder ein Schnupfen?

Aber was hatte das dann mit meiner Übelkeit von gestern Abend zu tun?

Ich klappte die Decke zur Seite und schwang meine Beine aus dem Bett.

Wackelig stand ich da und versuchte das Gleichgewicht zu halten. Nach ein paar Sekunden gelang mir das auch ganz gut und ich machte mich langsam auf den Weg ins Badezimmer.

Eine Dusche – wahrscheinlich wieder kalt – würde mir bestimmt gut tun und mir dabei helfen wach zu werden. Vielleicht funktionierten ja dann meine Augen wieder normal.

Während ich vielleicht vergeblich darauf wartete, dass das Wasser warm wurde, kämmte ich meine Haare mit den Fingern.

Normalerweise waren sie glatt wie Seide und glänzten wie Eis. Heute, allerdings, war davon nichts zu sehen. Sie waren strohig, glanzlos und verfilzt – wie ein schwarzes Vogelnest.

Irgendetwas musste also doch nicht ganz stimmen.

Das Wasser war heute zum Glück lau warm. Ich genoss es, wie es sich den Weg über meinen Körper bahnte und mich wärmte. Ein Gefühl der Behaglichkeit durchströmte mich – so musste es sein wenn man ein richtiges Zuhause hatte.

Nach einer guten halben Stunde drehte ich den Hahn zu. Das warme Wasser musste jetzt alle sein – meine Nachbarn würden mich dafür hassen.

Aber mir war es egal, ich dachte im Moment nur an mich - und das obwohl ich eigentlich kein Egoist war.

Aber heute war eine Ausnahme.

Mit dem T-Shirt, das ich an meinem ersten Tag im Café getragen hatte, trocknete ich mich ab und tapste dann ins Schlafzimmer.

Eine Hose war schnell gefunden und kurz darauf zog ich auch einen Pullover aus der Tasche. Ich würde ihren Inhalt wahrscheinlich im Laufe der nächsten Tag in den kleinen Schrank im Zimmer räumen, immerhin fühlte es sich mehr als merkwürdig an aus einer Tasche zu leben.

Bald war ich angezogen, nur meine Haare sahen noch etwas wüst aus.

Mich störte es zwar nicht, aber Tanja würde sicher etwas dagegen haben, wenn ich so bei der Arbeit auftauchte. Wieder versuchte ich die wilden Büschel zu glätten und diesmal gelang es mir sogar etwas besser.

Auch wenn es nicht halb so gut aussah wie ich es gern gehabt hätte, so konnte ich wenigstens aus dem Haus gehen.

Ich warf meine Tasche unters Bett und trat ans Fenster.

Das Wetter hatte sich seit gestern kein bisschen gebessert. Es schien sogar stärker zu regnen.

Ich hatte nie etwas gegen Regen gehabt, aber zurzeit nervte er mich einfach nur. Und bestimmt nicht nur weil ich keine Regenjacke oder gar einen Schirm hatte.

Ich hatte schlicht und einfach etwas dagegen nass zu werden.

Ein Grollen riss mich aus den Gedanken. Es war mein Magen.

Ich legte eine Hand auf meinen Bauch, als könnte das etwas an meinem Hunger ändern.

Seit ich das Internat verlassen hatte, hatte ich erst eine Mahlzeit zu mir genommen. Jetzt erst bemerkte ich wie hungrig ich wirklich war. Es tat schon fast weh, nur an etwas Essbares zu denken.

Ich schnappte mir etwas Geld aus dem Versteck und ging in den Flur.

Das Licht war aus und es war dunkel. Trotzdem konnte ich erstaunlich gut sehen. Es war fast als hätte ich ein Nachtsichtgerät auf, nur eben mit einem Blaustich statt einem grünen.

So war die Treppe kein Problem und auch das Öffnen der schweren Holztür am Eingang fiel mir leicht – und das obwohl ich normalerweise ein richtiger Schwächling war.

Sobald ich draußen stand, blendete mich graues Licht, das durch die Nebeldecke fiel.

Ich musste ein paar Mal blinzeln, doch dann nahm alles sofort wieder diese blaue Farbe an.

Als erstes musste ich jetzt einen Platz zum Frühstücken finden.

Tanjas Café kam auf jeden Fall nicht in Frage. Erstens weil ich dort arbeitete, zweitens weil ich diese furchtbar stickige Luft nicht länger als nötig ertragen wollte und drittens weil war es um diese Uhrzeit noch geschlossen.

Also wandte ich mich nach rechts und ging die Straße hinunter.

Alles was ich hier fand waren Wohnungen und ein geschlossenes Geschäft. Erst eine Straße weiter entdeckte ich eine Konditorei mit angeschlossenem Café.

Das Schild über der Tür schien mich geradezu einzuladen, also ging ich hinein.

Dieser Laden war der totale Gegensatz zu meinem Arbeitsplatz: hell, freundlich, modern und ohne diesen stinkenden Qualm.

Eine ältere Dame hinter einer Glasvitrine schlichtete gerade Kuchen auf ein Tablett. Als ich mich ihr näherte schien sie in der Bewegung einzufrieren.

Zwar versuchte sie mich anzulächeln, aber alles was sie zustande brachte war eine gruslige Grimasse.

„Guten Tag“, sagte sie mit einer piepsig hohen Stimme.

Ich nickte nur. Ich wollte sie nicht noch mehr beunruhigen indem ich sie ansprach.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und fixierte mich mit ihren hellgrauen Augen.

Ich ließ meinen Blick ein paar Mal über die Torten in der Auslage wandern und entschied mich dann für eine mit Gelee und Erdbeeren.

„Diese“, ich zeigte mit dem Zeigefinger auf die Erdbeertorte, „und eine Tasse Café bitte.“

Die Frau nickte und machte sich eifrig an die Arbeit. Während sie das Tortenstück auf ein Teller platzierte fing sie plötzlich an zu reden. „Sie können sich an einen Tisch setzten, ich bringe Ihnen das dann.“

Also drehte ich mich um und setzte mich an einen der kleinen, runden Tische. Die Sitzbank war äußerst bequem und der helle Stoff war angenehm weich und flauschig.

Nach nicht einmal fünf Minuten kam die Frau mit meiner Bestellung an den Tisch, nur um das Teller und die Tasse auf den Tisch zu stellen und ohne ein weiteres Wort sofort wieder zu verschwinden.

Entweder bildete ich mir alles nur ein, oder aber die Angst der Menschen vor mir wurde mit der Zeit immer schlimmer.

Wenn es wirklich so war, was war dann der Grund dafür?

Und warum sollte eine so zierliche Person wie ich auf irgendjemanden überhaupt gefährlich oder bedrohlich wirken?

Während mir diese und viele andere Fragen durch den Kopf schossen, nahm ich einen Schluck von meinem Café und stach danach ein Stückchen von der Torte ab. Sie schmeckte genauso wie es aussah – einfach köstlich.

Man könnte sagen, es war eine Geschmacksbombe, aber vielleicht lag das auch nur daran, dass ich so gutes Essen einfach nicht gewöhnt war.Nachdem ich schon gut die Hälfte der Mehlspeise hinunter geschlungen hatte, bemerkte ich, dass mich jemand beobachtete.

Ein Mann, höchstens zwanzig Jahre alt, stand an der Theke und spähte immer wieder zu mir herüber.

Ich versuchte ihn zu ignorieren, aber irgendwann wurde das Gegaffe so auffällig, dass ich nicht anders konnte als zurück zu starren, aber nicht einmal jetzt schaffte es dieser Fremde aufzuhören mich von oben bis unten zu mustern als wäre ich ein Wesen von einem anderen Planeten.

Genervt senkte ich den Blick und trank den Rest meines Cafés.

Als ich die Tasse wieder senkte – welch ein Wunder – wurde ich immer noch angestarrt.

Inzwischen machte mich der Kerl richtig wütend und das obwohl ich ihn nicht einmal kannte. Aber seine bloße Ausstrahlung nervte mich in diesem Moment so dermaßen, dass ich mich beherrschen musste um nicht zu ihm zu gehen und ihm meine Meinung zu sagen. Gott sei Dank war ich viel zu schüchtern und feige um das in die Tat umzusetzen.

Ich winkte eine Kellnerin zu mir an den Tisch und bezahlte die Rechnung – immer unter Beobachtung.

Nachdem die kleine Frau mit dem Geschirr davon gegangen war, stand ich auf und ging zum Ausgang.

Der Typ besaß sogar die Frechheit sich noch einmal zu mir umzudrehen als ich die Tür hinter mir zuzog.

Langsam aber sicher bekam ich es mit der Angst zu tun.

Alle Menschen denen ich in meinem Leben je begegnet war hatten sich vor mir gefürchtet als hätte ich eine ansteckende Krankheit.

Ich war es gewohnt gemieden zu werden, aber nicht, dass man mich so anstarrte.

Irgendetwas an dem Kerl sagte mir auch, dass ich Angst vor ihm haben sollte, eben weil er keine vor mir hatte.

Ich merkte wie sich meine Schritte wie von selbst beschleunigten als ich den Weg zu meinem Apartment einschlug. Immer noch fühlte ich mich unwohl in meiner Haut, und das lag bestimmt nicht daran, dass alles um mich herum bläulich war.

Es musste etwas mit dem Mann aus der Konditorei zu tun haben.

Vielleicht verfolgte er mich?

So unauffällig wie nur möglich schaute ich über meine Schulter, doch hinter mir war nichts.

Auch wenn ich zuerst gedacht hatte, dass das Wetter heute noch schlechter war als gestern, war es, bis auf den Nebel, doch ein ganz schöner Tag.

Nur, dass dieser mir jetzt die Sicht, auf das was hinter mir lag, nahm. Das bedeutete aber auch, dass sich jemand mühelos in den geisthaften Schwaden verbergen konnte, ohne, dass ich es mitbekommen hätte.

Vielleicht ging gerade meine Fantasie mit mir durch.

Warum sollte mich jemand verfolgen, der mich gar nicht kannte und noch nie gesehen hatte.

‚Warum nicht? ‘ sagte mir eine Stimme in meinem Kopf.

Nochmals beschleunigte ich und fiel jetzt in eine Art Laufschritt. Es war mir aber sowas von egal wie das wohl auf jemanden aussah der mir zufällig durch ein Fenster zusah.

Endlich kam das Motel in Sicht. ‚Sicherheit‘, schoss es mir durch den Kopf. Ich warf mich mit aller Kraft gegen die Tür und hastete die Stufen hinauf.

Erst als ich meine Zimmertür hinter mir versperrte fühlte ich mich wieder sicher.

Wahrscheinlich litt ich unter Verfolgungswahn, aber Vorsicht war auf jeden Fall besser als Nachsicht.

Erleichtert sank ich an der Tür entlang zu Boden und schloss die Augen. Ich war noch nie so froh darüber gewesen eine Tür zu haben, hinter der ich mich verstecken konnte.

Nach ein paar Minuten stand ich auf und legte das Wechselgeld ins Versteck zu meinem restlichen, winzigen Vermögen.

Erst jetzt bemerkte ich, dass es hier drin merkwürdig roch. Ein beißend, scharfer Geruch stieg mir in die Nase.

Vielleicht war eine Putzfrau hier gewesen. Gab es so etwas überhaupt in einem Motel?

Etwas irritiert von diesem chemischen Geruch schaute ich mich im Zimmer um.

Tatsächlich war mein Bett gemacht und als ich ins Bad ging, lag ein Handtuch auf dem geschlossenen Klodeckel.

Gut, dann sparte ich mir die Arbeit sauber zu machen.

Etwas Zeit blieb mir noch. Ich beschloss das Geld, das ich bis jetzt verdient hatte, zu zählen, denn irgendwann wollte ich ja schließlich in eine richtige Wohnung ziehen – auch wenn dieser Wunsch noch in ungreifbarer Ferne zu sein schien.

Ganze zehn Minuten brauchte ich um die ganzen Münzen und Scheine zu zählen. Am Ende kamen vierhundertsiebenundsechzig Dollar und neunzig Cent heraus – gar nicht mal so übel.

Zufrieden verstaute ich das Geld wieder an seinem Platz und dann sagte mir ein Blick auf die Uhr an der Wand auch schon, dass es Zeit war zur Arbeit zu gehen.

Ich schlüpfte also wieder in mein Arbeitsshirt und verließ das Apartment.

Der Nebel war in der kurzen Zeit zwar nicht verschwunden, aber wenigstens war er etwas zurückgegangen. Das verhinderte aber nicht, dass ich mich weniger beobachtet fühlte als zuvor – ganz im Gegenteil.

Immer noch beschlich mich der Verdacht, dass mir jemand hinterherschlich selbst wenn es ziemlich abwegig klang.

Aber gestern Abend war etwas mit mir passiert und es machte mir Angst, genauso wie allen anderen Menschen denen ich begegnete.

Bis auf diesen merkwürdigen Kerl eben, der ganz schön neugierig zu sein schien.

Und auch wenn ich mich fürchterlich darüber aufgeregt hatte, dass er mich so angestarrt hatte, wusste ich jetzt nicht einmal mehr wie er eigentlich ausgesehen hatte.

Wenn mich auf der Stelle jemand nach seinen Klamotten gefragt hätte, hätte ich keine Antwort geben können. Merkwürdig.

Als wäre er aus meinem Gedächtnis gelöscht worden.

Mit dieser Erkenntnis im Hinterkopf überquerte ich die Straße, legte ein paar Meter auf dem Bürgersteig zurück und bog dann in die Seitenstraße ein die zur Garderobe des Internetcafés führte.

Ich musste mich mit aller Kraft gegen die schwere Tür stemmen um sie weit genug zu öffnen damit ich durch den Schlitz passte.Tanja stand vor dem Schrank und legte gerade ihre Regenjacke in das oberste Fach.

Zur Begrüßung nickte sie mir zu. Ich erwiderte diese Geste und ging, ohne einen weiteren Blick auf sie, in den Gastraum.

Es war erst halb zwei und eigentlich noch geschlossen, also waren auch noch keine Gäste da.

Wie schon am Tag zuvor ging ich nach hinten und schaltete die Computer ein.

Unter lautem Surren und Knattern leuchtete ein Bildschirm nach dem anderen auf.

Ich schlenderte zurück hinter die Theke und fing an das saubere Geschirr aus der Spülmaschine in die Regale zu räumen.

Als ich ungefähr die Hälfte der Teller und Tassen verstaut hatte, kam Tanja aus der Garderobe und ging zur Eingangstür um das Geschlossen-Schild auf geöffnet umzudrehen und aufzuschließen.

Dann stellte sie sich an die Cafémaschine und füllte Wasser und Bohnen nach. So arbeiteten wir ungefähr fünf Minuten lang schweigend nebeneinander.

Eine beinahe spürbare Spannung lag zwischen uns in der Luft.

Ich brauchte nicht lange nachdenken um darauf zu kommen woran das wohl lag – nämlich an mir.

Trotzdem versuchte ich mich zu entspannen und meine Arbeit zügig zu erledigen. Tanja war vor mir fertig und schnappte sich eine der unzähligen Zeitungen von der Theke, die sie täglich neu dort auslegte. Langsam blätterte sie durch die Seiten und spähte dabei des Öfteren zu mir herüber.

Endlich war auch ich fertig und schaute mich um.

„Du kannst die Pflanzen da hinten gießen“, sagte Tanja, der mein Blick keineswegs entfallen war und deutete mit dem Daumen über ihre Schulter in den Computerbereich.

Ich nickte stumm und schnappte mir die kleine Gießkanne, die neben dem Abfalleimer in der Ecke stand.

Während ich darauf wartete, dass sich die Kunststoffkanne mit Wasser füllte, klingelte die Türglocke. Ich hörte wie Tanja aufstand und den Gast freundlich begrüßte.

Dann nahm sie seine Bestellung auf und kramte Tasse und Untersetzter aus den Regalen hervor.

Ich griff derweil nach dem Henkel und verschwand mit dem Wasser für die Pflanzen in den hinteren Teil. Viel war hier nicht, was man gießen konnte.

Nur ein erbärmlich wirkender Gummibaum vegetierte in einer Ecke traurig vor sich hin. Ich fragte mich, ob er vielleicht etwas Licht und Sonne gebrauchen könnte, aber immerhin war das hier Tanjas Laden nicht meiner. Sie konnte mit dem armen Kerlchen machen was sie wollte.

Ich kehrte zurück in den vorderen Bereich und entdeckte den alten Mann, den ich schon einmal bedient hatte, auf einem der Hocker.

Er rührte in der Tasse und machte einen zufriedenen Eindruck – zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem er mich kommen sah. Dann wich sein Lächeln einer ausdruckslosen Maske und seine Hand mit dem Löffel erstarrte in der braunen Brühe die er gerade noch umgerührt hatte.

Ich spürte ein leichtes Kribbeln in meinen Wangen und ging mit gesenktem Blick an ihm vorbei.

Langsam schämte ich mich richtig für mich selbst. Ich hatte nichts verbrochen, trotzdem behandelten mich alle wie einen gefährlichen Serienkiller.

Verschämt lehnte ich mit dem Rücken zu ihm an der Arbeitsfläche und versuchte wieder ein Lächeln in mein Gesicht zu zaubern.

Ich wusste wie wichtig das in diesem Beruf war, denn wer wollte schon seinen Café von einer unfreundlichen Bedienung serviert bekommen – ‚oder von einer, von der man Angst hatte‘, fügte ich gedanklich hinzu.

Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare.

Tanja kehrte gerade aus der Garderobe zurück. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass sie gegangen war, so sehr war ich in meinen Gedanken versunken gewesen.

Ihr entspannter Gesichtsausdruck wich sofort, als sie mir ins Gesicht sah. Obwohl sie sich sichtbar bemühte die Maske der Gelassenheit aufrecht zu halten versagte sie kläglich.

Warum sollte sie auch schauspielern nur um mich nicht zu verletzen?

Sie hatte mich nur aus Mitleid eingestellt und bereute diese Entscheidung nun sichtlich. Ich schenkte ihr einen entschuldigenden Blick.

„Nici, du musst bitte kurz allein klarkommen. Ich hab einen Ernstfall in der Familie und muss weg.“

Nun drehte ich mich doch zu dem Gast herum und schaute Tanja an. „Geht klar. Bis wann kommst du wieder?“ Ich war mir keinesfalls sicher, dass ich das hier alleine schaffte.

Tanja schaute kurz auf ihre Armbanduhr. „Ich weiß nicht ob ich überhaupt noch einmal komme. Wenn nicht, musst du bitte abschließen. Nimm den Schlüssel dann einfach mit, ich hab noch einen zweiten.“

Mit diesen Worten verschwand sie auch schon wieder durch die versteckte Tür.

Nun war ich auf mich gestellt. Mit Eigenständigkeit hatte ich kein Problem, aber mit diesem Gast hier schon.

Er funkelte mich teils böse, teils verärgert an, so dass ich irgendwann eine Gänsehaut bekam.

„Darf ich Ihnen noch einen geben?“ fragte ich mit zitternder Stimme, als er seine Tasse geleert hatte. Meine Frage schien ihn wie ein Schlag zu treffen, denn er rutschte vom Hocker und machte einen Schritt zurück.

„Nein, danke“, fuhr er mich an, schnalzte das Geld auf die Holzplatte zwischen uns und suchte das Weite.

Verletzt sammelte ich die Münzen ein.

Warum?

Ich verstand die Welt nicht mehr.

Es war fast, als wäre ich der Löwe in mitten einer riesigen Zebraherde die alle vor mir flüchteten.

Aber warum war ich der Löwe?

Warum nicht jemand anderes?

Und warum kannte ich die Antworten auf meine Fragen nicht?

Wie in Zeitlupe sortierte ich das Geld in die richtigen Fächer der Kassa ein. Die Türklingel riss mich schließlich wieder aus meiner Gedankenwelt.

Langsam hob ich den Blick und erstarrte.

Vor mir stand der Mann von heute Morgen. Der Einzige der scheinbar keine Angst vor mir hatte.

Ich schluckte einmal leer und setzte dann ein Lächeln auf – zumindest versuchte ich es.

„Guten Tag.“ Meine Stimme klang schwach und schüchtern. Ich richtete mich zu meiner vollen Größe auf.

„Guten Tag.“ Ein breites Grinsen lag auf dem Gesicht des Mannes. „Ich hätte bitte gerne einen Latte Macchiato und dann würd ich noch gerne einen ihrer PCs benutzen.“ Selbstbewusst lehnte er sich in meine Richtung während sein Grinsen noch breiter wurde.

Ohne es zu wollen wich ich einen Schritt zurück, nickte aber trotzdem. „Ich bringe es Ihnen sofort“, flüsterte ich und machte mich an die Arbeit.

Was wollte der hier?

Verfolgte er mich etwa wirklich?

Oder bildete ich mir doch nur alles ein und es war ein Zufall, dass er hier war?

Mit zitternden Händen folgte ich dem merkwürdigen Typen nach hinten, wo er sich inzwischen vor einen der Bildschirme gesetzt hatte.

Klappernd stellte ich die Tasse neben der Tastatur ab. „Brauchen Sie noch etwas?“ Meine Stimme war immer noch sehr leise und hörte sich verängstigt an.

„Nein, danke.“ Das spärliche Licht hier hinten, war nicht gerade beruhigend. Ganz im Gegenteil.

Ich hatte bis jetzt noch nicht direkt ins Gesicht des Mannes geschaut – wie gesagt, bis jetzt. Eigentlich sah er nicht einmal so übel aus: kastanienbraunes, verwuscheltes Haar und schokobraune Augen. Dazu war er noch relativ groß und schien auch ziemlich muskulös zu sein. Also alles in allem nicht gerade hässlich.

Das änderte aber nichts daran, dass er mir unheimlich war, eben weil ich ihm nicht unheimlich war.

Verwirrt schüttelte ich leicht den Kopf und ging dann einfach wieder.

Was passierte hier, verdammt nochmal?

Kaum, dass ich am Tresen angekommen war, ging auch schon wieder die Eingangstür auf.

Zwei Jungs, im Alter von ungefähr sechzehn Jahren, kamen herein.

Sie blödelten herum und lachten über irgendeinen Witz. Allerdings nur so lange bis ich sie begrüßte.

Wie auch sonst? Ihre Gesichter verzogen sich in angsterfüllte Grimassen.

„W-wir wollen bitte nur kurz zu den Computern“, stotterte der größere der beiden.

Ich nickte ihm zu und drehte mich dann um, um die Tasse des alten Mannes einzuräumen.

Wie lange sollte es noch so weitergehen?

Würden alle Leute ewig vor mir Angst haben?

Die zwei verschwanden nach hinten und setzten sich jeweils an einen Computer.

Ich klappte die Tür der Spülmaschine zu und lehnte mich gegen die Theke.

Zuerst beobachtete ich das Treiben auf der Straße für eine Weile, dann nahm ich mir aber doch eine Zeitung und lass darin.

Mehr als zwei Stunden vergingen.

Dann kam der Kerl mit den braunen Augen nach vorne an die Theke um zu bezahlen.

Zitternd vor Angst gab ich ihm sein Wechselgeld und lehnte mich dann so weit wie möglich zurück.

Erst als er durch die Tür verschwunden war konnte ich wieder einigermaßen normal atmen.

Kurz darauf verließen auch die zwei Jugendlichen das Café. Hastig räumte ich das schmutzige Geschirr weg und schaltete erst einmal die Hälfte der PCs ab.

Es war inzwischen schon halb sieben und höchstwahrscheinlich würden keine Gäste mehr auftauchen.

Auch wenn normalerweise bis halb neun geöffnet war, beschloss ich früher zuzumachen, ganz einfach aus dem Grund, dass ich mich merkwürdig fühlte.

Mein Kopf schmerzte seltsam dumpf. Immer wieder ließ mich ein Stechen in die Lungen zusammenzucken und meine Knie gaben leicht nach, so dass ich mich an der Arbeitsfläche abstürzen musste um nicht ganz umzukippen.

Um sieben schloss ich schließlich ab und ging, nachdem ich die restlichen Computer heruntergefahren hatte, durch die Garderobe hinaus in die Gasse.

‚Schnell noch abgeschlossen und dann nichts wie weg von hier‘, sagte ich mir und taumelte auf die Straße zu. Wie durch ein Wunder hatte der Nebel im Laufe des Tages tatsächlich nachgelassen und war teilweise ganz verschwunden.

Jetzt, in der Dämmerung, hingen nur noch einzelne Nebelfetzen in der Luft.

Plötzlich fing es in meinem Kopf an zu pochen als wollte mein Gehirn den Schädelknochen durchbrechen. Vor Schmerz sank ich auf die Knie und vergrub meine Hände in den Haaren.

Ich krümmte mich am Boden wie ein Wurm hin und her und versuchte einen Schrei zu unterdrücken. Unablässig drückte mein Hirn gegen meinen Schädel.

Es wurde immer schlimmer. Mir wurde schwarz vor Augen.

Nicht einmal eine Minute später riss ich sie wieder auf und starrte in den grau-blauen Himmel.

Der Schmerz war beinahe ganz verschwunden, nur ein leichtes und dumpfes Drücken erinnerte noch daran.

Nach Luft ringend drehte ich mich auf den Bauch und kämpfte mich auf die Knie hoch.

Es fiel mir schwer mich auf das zu konzentrieren was gerade passiert war so erschöpft war ich jetzt.

Mit zitternden Beinen überquerte ich die Straße und schaffte es gerade so die Tür zum Motel aufzudrücken. Am Fuße der Treppe hielt ich nochmals an um Luft zu holen, dann erklomm ich schwer atmend die ersten Stufen bis ich schließlich im zweiten Stock zusammenbrach.

Ich konnte keinen Finger mehr rühren. Meine Muskeln verweigerten mir den Dienst und ich schaffte es einfach nicht wieder auf die Beine zu kommen.

Ich hatte keine Ahnung mehr wie lange ich so hilflos auf dem Boden lag, aber egal wie lange es auch dauerte, ich konnte nicht mehr.

Es war, als wäre alle Kraft aus meinem Körper geschwunden.

Müde rollte ich mich zusammen und versuchte die Kälte, die langsam die Treppe herauf kroch, von mir abzuschirmen. Fröstelnd schlang ich meine Arme eng um meinen Oberkörper und zog die Knie ans Kinn. Ich würde diese Nacht wohl oder übel hier verbringen müssen, außer irgendjemand kam vorbei und half mir.

Allerdings standen die Chancen dafür eher schlecht, denn ich hatte, außer mir, noch niemanden hier gesehen, ausgenommen dem alten Mann beim Eingang.

Verzweifelt versuchte ich nochmals mich aufzurichten – ohne Erfolg.

Also schleppte ich mich in eine Ecke und rollte mich zu einer winzigen Kugel zusammen, in der Hoffnung, dass doch noch jemand vorbei kam.

Die Zeit schien viel zu schnell zu verrinnen.

Irgendwann, vermutlich war es schon halb zehn, wurden die Neonleuchten an der Decke ausgeschaltet. Zuerst war es dunkel, aber dann wurde es wieder hell um mich – dank meines neuen, unheimlichen Sehvermögens.

Zwar war das Treppenhaus jetzt bläulich, aber wenigstens lag ich nicht im Stockdunkeln.

Nach einer weiteren halben Stunde schaffte ich es sogar einzuschlafen.

 

Ich riss die Augen auf, ruckartig und wie ferngesteuert.

Ein paar Mal blinzeln, dann konnte ich glasklar sehen – und das, obwohl es immer noch dunkel war.

Ich lag nach wie vor im zweiten Stock des Motels in der Ecke. Mein Rücken schmerzte, doch mein Körper reagierte nicht darauf. Ich fühlte mich klein und trotzdem stark.

Mit einer geschmeidigen Bewegung kam ich auf die Beine und schaute mich um.

Alles war still, ich war allein.

Doch jetzt bekam ich es mit der Angst zu tun. Zwar freute ich mich, dass ich wieder stehen konnte, aber eigentlich hatte ich das nicht gewollt.

Mein Körper schien ein Eigenleben zu entwickeln.

Ich versuchte meine Schritte zu der Treppe in den dritten Stock zu lenken, doch stattdessen ging ich auf das Geländer zu.

Mein Oberkörper lehnte sich über das Metallgitter. Ich schaute hinunter.

Ich konnte nicht einmal mehr steuern, in welche Richtung ich meine Augen bewegen wollte.

Hilflos musste ich mit ansehen, wie ich mich kraftvoll vom Boden abstieß und elegant auf dem dünnen Geländer landete.

Panik durchflutete mich. Was sollte das?

Warum hatte ich keinen eigenen Willen mehr?

Na gut, der Wille war da, nur der Rest von mir machte sich selbstständig.

Ohne meinen Einfluss, balancierte mein Körper auf dem schmalen Metallstreifen.

Ich hielt die Luft an. Immer weiter neigte er sich über den Abgrund und verlor schließlich den Halt.

Nun würde ich also sterben.

Ausgerechnet so?

Was wohl in der Zeitung stehen würde?

Achtzehnjährige begeht Selbstmord in billigem Motel?

Immer weiter fiel ich und der Boden kam immer näher. Ich wollte die Augen schließen. Ich wollte nicht sehen wie ich aufschlug.

Und noch weniger wollte ich es hören, das Knacken meiner Knochen.

Der Boden kam, der Aufprall kam, aber nichts brach.

Innerlich schnappte ich nach Luft, während mein Körper noch nicht einmal zitterte. Eine Sekunde lang stand ich da, in der dunklen Eingangshalle.

Dann ging ich mit großen Schritten auf die Tür zu. Anders als sonst, schaffte ich es ohne Anstrengung sie zu öffnen.

Ich trat in eine wunderschöne, sternenhelle Nacht. Das war der Anfang meines persönlichen Albtraums.

 

 

2. Kapitel


Die Straße war völlig leer und vor allem dunkel. Nicht einmal die Straßenlaternen waren an.

Ich fühlte mich unwohl. Was geschah denn nur mit mir?

Was hatte ich getan, dass mein Körper seinen eigenen Kopf bekommen hatte?

Ich drehte mich nach rechts. Mit weit ausholenden Schritten legte ich den Weg bis zur nächsten Ecke zurück. Auch dort war keine Menschenseele zu sehen.

Je weiter ich ging, desto mehr nahm meine Umgebung ein kräftiges Blau an. Ich kam mir vor wie in einem ziemlich unrealistischen Traum.

Nach einem weiteren halben Kilometer bog ich in eine noch dunklere Seitengasse ein. Die rechte Wand bestand aus bröckelnden Backsteinen. An der linken Seite stand eine ganze Reihe von Mülltonen. Darüber führte eine rostige Feuertreppe in die Höhe.

Ohne lange zu zögern sprang ich gegen die Backsteinwand und stieß mich von dieser ab. Mit einer kraftvollen Bewegung zog ich mich über den Rand der Feuertreppe und richtete mich auf. Innerlich stöhnte ich auf vor Schreck.

Wie zum Teufel hatte ich – oder besser gesagt mein widerspenstiger Körper – das hinbekommen?

Ich war nicht sportlich. Ich hatte nicht einmal genug Kraft in den Armen um Liegestützen zu machen. Und jetzt erklomm ich mit Leichtigkeit irgendwelche Gebäude.

Meine Beine bewegten sich nun auf die knarzenden Stufen zu. Fünf Stockwerke waren in Sekundenschnelle überwunden und bald stand ich auf dem flachen Dach des Hauses.

Die Aussicht von hier oben war einfach nur berauschend. Es musste wohl eines der höchsten Gebäude in der näheren Umgebung sein – sozusagen das Dach der Stadt.

Nur leider konnte ich diesen Ausblick überhaupt nicht genießen - immerhin befand ich mich gerade in einer nicht unbedingt normalen Situation.

Ich steuerte den Rand des Hauses an.

‚Bitte spring da jetzt nicht runter! ‘ flehte ich.

Und als hätte man meine Gebete erhört, bewegte ich mich rückwärts von der Kante weg. Dafür steuerte ich jetzt den nächsten Abgrund an – auf der anderen Seite des Hauses.

Mit einem gekonnten Sprung überwand ich die Schlucht zwischen diesem und dem nächsten Gebäude und landete mit weit ausgebreiteten Armen auf der schrägen Dachfläche.

Ich wollte schreien und mir die Augen zuhalten, aber wie sollte ich das anstellen? Hätte ich die Kontrolle, wäre ich gar nicht hier!

Langsamer als zuvor bewegte ich mich weiter. Es fühlte sich fast so an, als würde ich mich an etwas anschleichen, immer darauf bedacht bloß nicht entdeckt werden.

Auch dieses Dach war schnell überquert und jetzt stand ich wieder vor einem Abgrund. Nur schien dieser hier unüberwindbar, immerhin war das nächste Haus mehr als fünfzig Meter entfernt.

Soviel Verstand schien mein Körper zu haben, um nicht zu springen.

Stattdessen drehte ich mich um und kletterte an der Fassade hinunter bis ich einen winzigen Balkon erreichte. Ich hatte bis zu diesem Tag nicht gewusst, dass ich Höhenangst hatte.

Wie gesagt – bis zu diesem Tag.

Auch wenn mein Körper keine Anzeichen von Angst zeigte, mein Geist hätte – falls er das gekonnt hätte – am liebsten losgeschrien und wie wild um sich geschlagen.

Was auch immer hier gerade vor sich ging, ich wollte nur noch, dass es aufhörte – und zwar bald!

Der kleine Balkon krachte unter meinem Gewicht bedrohlich, wahrscheinlich hatte ihn schon länger niemand mehr betreten. Das Glas der Tür war trüb, trotzdem schien in dem Raum dahinter Licht zu brennen.

Ich streckte mein Hände aus und hebelte mit einer wohl wissenden Bewegung die Tür aus. Lautlos stellte ich den Holzrahmen zur Seite und schlüpfte in die Wohnung. Nur eine kleine Lampe in einer Ecke brannte und spendete spärliches Licht.

Ich schaute mich um.

Anscheinend war ich in einem Kinderzimmer.

Ein quietsch bunter Schrank an der einen Wand, ein flauschiger Teppich am Boden und ein kleines Bettchen in einer Ecke deuteten jedenfalls darauf hin.

Da stellte sich allerdings die Frage, was ich hier zu suchen hatte?

Beinahe lautlos bewegte ich mich auf das Bett zu. Ein winziger Körper zeichnete sich unter der dünnen Baumwolldecke ab.

Ein Kleinkind, gut behütet in seinem vertrauten vier Wänden – mehr hatte das kleine Mädchen in seinem Leben wohl noch nicht zu Gesicht bekommen, außer vielleicht die Häuser seiner Verwandten.

Und plötzlich beschlich mich das ungute Gefühl, dass sie niemals mehr als das sehen würde – und zwar wegen mir.

Noch nie zuvor war ich so von meinem Körper getrennt gewesen wie jetzt. Ich spürte die Bewegungen nicht mehr, die er machte. Nur mein Gehirn blieb mir noch übrig – als überflüssige Steuerzentrale.

Ich beugte mich über das zusammengerollte Kind und musterte es, während sich meine Hände nach der Decke ausstreckten. Mit einer ruckartigen Bewegung war diese verschwunden und landete auf dem Fußboden. Die Kleine schien davon nicht sehr viel mitzubekommen.

Immer noch tief schlafend drehte sie sich einfach auf die andere Seite, so dass ich nun nur noch ihren Rücken und Hinterkopf sehen konnte. Ihre feinen Locken lagen wie ein Kranz um ihren kleinen, rundlichen Kopf auf dem Kissen.

Ich bekam Angst und zwar vor dem was jetzt passieren könnte – und höchstwahrscheinlich auch würde. Ich bekam Angst vor dem was ich in diesem Augenblick war und was sich schon immer, mein ganzes Leben lang, in meinem Innersten verborgen hatte.

Ich wollte es nicht sein, die das Leben eines unschuldigen Kindes beendete bevor es überhaupt richtig begonnen hatte.

Gleichzeitig wusste ich auch, dass diese Entscheidung nicht in meiner Hand lag – genau wie so vieles an diesem Abend.

Etwas Dunkles schien mich eingenommen zu haben und nun die Kontrolle über meinen gesamten Körper zu verlangen. Aber so schwach war ich nicht.

Wenn ich schon meinen Körper verloren hatte, so würde ich umso härter um meinen Geist kämpfen, denn ich hatte es im Gefühl: verlor ich auch noch dieses bisschen Selbstbeherrschung, war es um mich geschehen.

Meine Hände schienen schneeweiß zu sein als ich sie nach dem Hals des Mädchens ausstreckte. Die eine wanderte zu ihrer Kehle und drückte fest zu während die andere sich auf die weichen Lippen presste.

Voller Entsetzen wurde ich nun Zeuge eines Verbrechens das ich selbst beging.

Ich versuchte alles.

Ich wollte nur noch, dass es aufhörte. Aber das tat es nicht. Stattdessen wurde es nur noch schlimmer.

Das Mädchen wimmerte und krümmte sich unter mir, doch vergebens.

Je mehr sie sich wehrte, desto kaltblütiger und fester drückte ich zu – nahm ihr die Luft zum Atmen.

Der Kampf war bald zu Ende.

Mit einem gurgelnden Geräusch verebbten die Bewegungen und erdrückende Stille breitete sich im Zimmer aus.

Nicht einmal meinen eigenen Atem konnte ich mehr hören.

Nun zitterten meine Hände merklich – ich hatte also wenigstens ein bisschen ausrichten können mit meinem Kampf gegen mich selbst. Schlaff sanken sie neben den toten Körper des Kindes, wo sie auch liegen blieben.

Doch statt, wie ich eigentlich vermutet hätte, zu gehen, kniete ich mich nun nieder.

Noch immer hatte ich nicht wirklich verarbeitet, was gerade geschehen war.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand, und noch dazu ein Kind, durch meine Hand sterben konnte. Ich tat normalerweise keiner Fliege etwas zuleide.

Nun war ich allerdings eine Mörderin – von einem Moment auf den Anderen. Warum?

Es musste einen Grund geben, oder?

Irgendetwas Merkwürdiges geschah mit mir – schon seit ich denken konnte.

Und alle Menschen hatten gemerkt, dass ich gefährlich war – und potenziell tödlich - nur ich war zu dumm um es zu verstehen. Vielleicht wollte ich es auch nicht verstehen…

Dabei hätte ich es schon so viel früher sehen müssen, viel früher als alle anderen.

Aber das hatte ich nicht. Darum musste jetzt eine Unschuldige sterben.

Nur weil ich anders war?

Wie anders?

Ich war böse. Anders konnte ich es in diesem Augenblick nicht ausdrücken.

Menschen mieden mich, ich hatte das Gefühl nicht dazu zu gehören. Dafür kannte ich nun endlich den Grund.

Ich war böse.

Ein Teil von mir hoffte, dass die Eltern jetzt plötzlich im Zimmer stehen und bemerken würden, was ich angerichtete hatte. Aber keiner kam um mich zu bestrafen.

Das Zittern in meinen Händen hatte aufgehört, aber ehrlich gesagt war es mir egal. Ich konnte nur dieses tote Mädchen anschauen, dessen Leben ich einfach ausgelöscht hatte.

Meine rechte Hand hob sich.

Über dem Herzen des Kindes schien sie hängen zu bleiben – wie eingefroren, schwebte sie dort in der Luft.

Was dann geschah ließ mich alles, was bis jetzt passiert war, vergessen.

Wie aus dem Nichts erschien ein blauer Lichtball zwischen meiner Hand und dem Mädchen.

Eine Sekunde lang blieb er dort, dann senkte er sich langsam ab und verschwand in ihrem Brustkorb.

Ich war völlig fassungslos.

Was zum Teufel ging hier vor sich?

War das Magie? Ein Zauber?

Ein Traum? Ein Albtraum?

Das kühle, blaue Licht, das mit dem Ball erschienen war, war mit ihm im Körper des Kindes verschwunden. Aber nur eine halbe Minute später erhob er sich wieder – wie die Sonne am Morgen – stieg immer höher und berührte schließlich meine Handfläche.

Es war ein Gefühl als würde ich in eisiges Wasser greifen.

Mit meinem Fingern umschloss ich den Ball und führte ihn zu meinem Mund. Die Farbe der Lichtkugel hatte sich verändert.

War sie zuvor noch blau gewesen, so hatte sie jetzt einen weißen Schein angenommen, umgeben von einem leichten, bläulichen Schimmer.

So furchtbar dieses Schauspiel auch war, so war es gleichzeitig auch atemberaubend schön. Wie von selbst löste sich die Kugel nun von meiner Hand und näherte sich meinen Lippen.

Es musste für jemanden, der dies zufällig mit ansah, mehr als Furch einflößend sein.

Was er wohl sehen würde?

Eine junge Frau mit blasser Haut und nachtschwarzen Haaren, die sich nachts in eine Wohnung schlich, ein Mädchen erwürgte und anschließend einen Lichtball aus ihrem Körper stahl, während ihre Augen im Schein eben dieses Lichts blau leuchteten.

Selbst für mich hörte es sich gruslig an – und ich war mitten drin.

Wieder versuchte ich gegen meinen Körper anzukämpfen, doch je öfter ich es versuchte, desto schwächer wurde mein Wille. Irgendwann kapitulierte ich, weil es einfach keinen Sinn mehr hatte.

Die Kugel verschwand in meinem Mund und füllte diesen mit eisiger Kälte, während es im Zimmer wieder stockdunkel wurde – für normale Menschen jedenfalls. Ich konnte immer noch alles sehen. Von der Kleinen, die reglos im Bett lag, bis hin zu den kleinen Plastikfiguren die jemand liebevoll auf einer Ablage an der Wand aufgereiht hatte.

Die Kälte wanderte meinen Hals hinunter, füllte meine Lungen und erstarrte, als sie mein Herz erreichte.

Für einen kurzen Moment glaubte ich, es würde aussetzen, aber ich sollte mich täuschen. Es pumpte nun nur noch schneller und eifriger, als hätte ihm jemand einen Anstoß gegeben – oder mehr Energie.

Auch mein Geist erholte sich plötzlich, auch wenn es nicht reichte um die Kontrolle wieder zu gewinnen, wenigstens konnte ich jetzt wieder klarer denken. Obwohl das, in diesem Moment wahrscheinlich schlecht war.

Ich wollte nämlich nicht darüber nachdenken, dass ich gerade erst vor ein paar Minuten ein anderes Lebewesen getötet hatte, noch dazu eines, das Familie hatte und dem noch ein langes, glückliches Leben bevorstand.

Endlich löste sich mein Körper aus seiner Starre.

Eilig bewegte ich mich auf die Balkontür zu, kletterte über das Geländer und ließ los – einfach so.

Als wäre es das Normalste auf der Welt, landete ich wohl behalten auf dem Asphalt, den ich zuvor nur aus gut zwanzig Metern als dunkelblaue Fläche ausmachen konnte.

Nun sprintete ich los.

Nach nicht einmal fünf Minuten hatte ich die Wohnung weit hinter mir gelassen. Niemand würde mich jetzt mehr verdächtigen, dass ich einen Mord begangen hatte.

Und genau das war es, was mir Angst machte. Es wäre besser für alle, wenn man mich erwischte und wegsperrte. Das hätte schon viel früher geschehen sollen, aber bis jetzt hatte ich ihnen keinen Anlass dazu gegeben.

Jetzt aber, wurde es Zeit das Monster zu bannen. Und ich war das Monster, darin bestand kein Zweifel.

Auf jeden Fall aber hatte ein großer Teil von mir seine Menschlichkeit verloren – vielleicht für immer.

Nach mehr als fünf Kilometern laufen verlangsamten sich meine Schritte merklich. Irgendwann ging ich nur noch in gemächlichem Tempo weiter, fast als wäre ich von der Arbeit auf dem Weg nach Hause.

Ich durchschritt eine belebte Gasse ohne einmal nach links oder rechts zu schauen. Trotzdem bemerkte ich wie die Menschen vor mir zurückwichen wenn ich ihnen zu nahe kam.

Als wäre ich von einer riesigen Seifenblase umgeben, die alles von mir fernhielt.

Das Merkwürdige daran war, dass ich das zuvor noch nie bemerkt hatte – ganz einfach weil es vorher nicht da war.

Endlich durch die Menge hindurch, beschleunigte ich wieder ein wenig. Mit den Menschen, verschwand auch das Licht.

Die Straßenbeleuchtung war aus und so musste ich wieder auf meine Sehhilfe zurückgreifen. Ich wusste nicht, wohin ich ging. In diesem Teil der Stadt war ich noch nie zuvor gewesen.

Irgendwie war es mir auch lieber, nicht zu wissen wo ich war, oder wohin ich noch gehen würde.

Dieser Gedanke machte mir Angst.

Ich bog in eine dunkle Seitenstraße ein.

Ich hatte ein Kind getötet, so halte es die ganze Zeit über in meinem Kopf.

Und langsam wurde mir auch klar, dass es noch nicht das letzte in dieser Nacht gewesen sein sollte.


Schnaufend riss ich die Augen auf.

Hatte ich geträumt?

Nein, so etwas konnte sich nicht einmal mein Unterbewusstsein ausdenken. Also stimmte alles.

Dass ich auf der Treppe zusammengebrochen war. Dass ich die Kontrolle über meinen Körper verloren hatte.

Dass ich in eine Wohnung eingebrochen war.

Weiter wollte ich nicht denken.

Das Gesicht des Mädchens schien sich in meine Netzhaut eingebrannt zu haben. Genauso wie die Gesichter der beiden anderen Kinder – einem schwarzhaarigen Jungen mit ungefähr fünf Jahren und ein ungefähr zehnjähriges Mädchen.

Alle drei waren nun tot und das war meine Schuld. Ich drehte mich zur Seite und schaltete die Lampe auf dem Nachttisch ein. Die Uhr zeigte halb acht Uhr morgens an. Es wurde Zeit aufzustehen.

Widerwillig stellte ich meine Füße auf den Boden und ging ins Bad. Der Anblick, der sich mir im Spiegel bot, war mehr als erschütternd.

Meine Haut war gräulich mit einem leichten blauen Stich – was wahrscheinlich an meinem neugewonnenen Sehfehler lag.

Meine Haare glänzten wie flüssige Seide und waren um ein ganzes Stück länger als am Tag zuvor. Außerdem schien sich der Schnitt verändert zu haben. Anstatt einfach schlaff hinab zu hängen, waren die schwarzen Strähnen nun durch gestuft und hingen mir teilweise ins Gesicht.

Meine Lippen hatten ein kaltes Eisblau angenommen – wie bei einer Wasserleiche.

Das alles war schon sehr seltsam und vor allem furchteinflößend. Aber es war noch lange nicht die größte, oder am bedrohlichsten wirkende Veränderung in meinem Gesicht.

Mich traf fast der Schlag, als ich in meine eigenen Augen sah.

Sie waren schon immer blau gewesen. Das war zwar seltener bei Menschen mit schwarzen Haaren, aber nicht wirklich außergewöhnlich.

Nun strahlten sie mir allerdings wie zwei riesige Saphire, in hellstem Türkis, entgegen.

Ungläubig hob ich meine Hand und fuhr mit den Fingerspitzen über meine Gesichtszüge. Ich konnte die Berührungen auf meinen Wangen, Lippen und Augenlidern spüren, aber ich konnte nicht glauben, dass ich das sein sollte.

So sah ich einfach nicht aus.

Verwirrt und geschockt drehte ich dem Spiegel den Rücken zu und drehte das Wasser in der Dusche auf.

Nach ein paar Minuten war es halbwegs warm und ich stellte mich in die enge Kabine.

Normalerweise beruhigte mich eine warme Dusche immer, nur heute funktionierte es einfach nicht. Anstatt mich zu entspannen, beunruhigte mich die Platzknappheit, also trat ich aus der Dusche. Sofort fühlte ich mich besser, aber auch müder.

Was war los mit mir?

Warum tötete ich Kinder?

Was sollten diese Veränderungen an mir?

Mit all diesen Fragen im Kopf kehrte ich in mein Zimmer zurück und angelte mir ein paar Klamotten aus meiner Tasche.

Nachdem ich mich angezogen hatte, schlichtete ich das restliche Gewand in ein Fach des Schranks und setzte mich auf die Bettkante. Ich würde bald Wäsche waschen müssen, wenn ich nicht wie eine Obdachlose herumlaufen wollte.

Es war erst halb neun, warum sollte ich mich also nicht gleich auf die Suche nach einem Waschsalon machen?

Ich warf die Schmutzwäsche in meine Tasche, sammelte ein paar Münzen aus dem Versteck und verließ die Wohnung. Der Flur war, wie schon öfters, nicht beleuchtet, was mich aber auch nicht weiter störte.

Zielsicher stieg ich die Treppe hinunter und öffnete die schwere Holztür.

Draußen wehte ein scharfer Wind. Ich bereute sofort, nicht meinen Fleecepullover angezogen zu haben. So musste ich meine dünne Weste eng um meinen Oberkörper schlingen um nicht vor Kälte los zu zittern.

Nach einer ganzen Weile des Suchens, fand ich schließlich wirklich einen Saloon zwei Straßen vom Motel entfernt.

Als ich diesen betrat, schlug mir der Geruch von Waschmittel und Zigarettenrauch entgegen. An einer Wand standen ungefähr zehn weiße Waschmaschinen in einer Reihe. Am hinteren Ende des Zimmers war ein Geldwechselautomat. Diesen steuerte ich an.

Nachdem ich das Geld gewechselt hatte, drehte ich mich zu den Maschinen um.

Ein alter, klapprig wirkender Mann saß auf einem der Plastikklappstühle.

Seine Reaktion auf mich wollte ich lieber nicht sehen, vielleicht bekam er ja sogar einen Herzinfarkt oder Schlimmeres.

Obwohl ich ein entsetztes Stöhnen aus seiner Richtung hörte, ignorierte ich ihn so gut es ging. Ich lud meine Klamotten in eine Waschmaschine und warf ein paar Münzen ein. Dann drückte ich den Startknopf und ließ mich auf einen freien Stuhl fallen.

Ich hatte keine Ahnung wie lange es dauern würde, bis der Waschgang beendet war und leider blieb mir so viel Zeit zum nachdenken. Das dumpfe Grummeln der Waschmaschine vermochte meine überlauten Gedanken nicht zu übertönen, oder mich gar von ihnen abzulenken.

Außerdem fühlte ich mich immer unwohler, je länger ich in diesem Raum war.

Nach mehr als einer halben Stunde – ich wusste nicht ob es gewöhnlich war, dass ein Waschgang so lange dauert, oder ob es an den altertümlichen Geräten lag – erstarb das tosende Poltern schließlich.

Ich stopfte die nasse Wäsche in meine Tasche und verließ fluchtartig das Gebäude.

Der alte Mann hatte mich die ganze Zeit über von der Seite angestarrt, aber das war doch noch lange kein Grund wegzulaufen oder?

Vielleicht lag die Schuld aber auch bei mir, immerhin hatte ich getötet nicht er und ich war es auch, die wie ein Zombie durch die Gegend lief.

So schnell ich konnte, legte ich den Weg zu meinem Apartment zurück. Heute waren außergewöhnlich viele Menschen auf der Straße – viel mehr als sonst immer – und ich hatte die ganze Zeit über so ein merkwürdiges Kribbeln in der Magengrube.

Endlich in meinem neuen Zuhause angekommen, sperrte ich die Tür hinter mir sorgfältig ab, dann suchte ich mir einen geeigneten Platz an dem ich meine Klamotten trocknen lassen konnte.

Gut, dass es nicht viele Teile waren, sonst hätte ich nämlich ein echtes Problem bekommen. Ich schaffte es irgendwie, die Querstange aus dem Schrank so zwischen die beiden Türen eben des Möbelstücks zu klemmen, dass ich das Gewand aufhängen konnte. Die Konstruktion war zwar ziemlich wackelig und hätte vermutlich nicht eine weitere Socke getragen, aber sie hielt.

Nun ging ich ins Bad.

Ein Blick in den Spiegel verriet, dass meine Haare immer noch zu lang und meine Haut zu blass war, aber wenigstens meine Lippen nahmen allmählich wieder ihre normale Farbe an. Etwas beruhigter kehrte ich ins Schlafzimmer zurück.

Mir blieben nur noch zehn Minuten, bis ich zur Arbeit musste.

Entsetzt darüber, dass ich die Zeit so übersehen hatte, schlüpfte ich in mein Arbeitsgewand und lief, nachdem ich abgeschlossen hatte, die Treppe hinunter.

Die Eingangstür klemmte leicht, also musste ich mich mit meinem ganzen Gewicht dagegenstemmen um sie weit genug zu öffnen.

Auf der Straße war immer noch viel zu viel los. Ich schlängelte mich zwischen zwei Männern, die gerade laut diskutierten und dabei mit ihren Händen in der Luft herumfuchtelten, hindurch und überquerte im Laufschritt die Straße.

Auf dem anderen Bürgersteig angekommen, überholte ich eine Gruppe älterer Damen und bog in die Seitengasse ein.

Wieder musste ich mein ganzes Gewicht einsetzen um die Metalltür zu öffnen. Etwas außer Atem stolperte ich in die Garderobe.

Tanja saß auf einem niedrigen Hocker in der Ecke und wischte sich etwas Schmutz von den Schuhen.

Zuerst versuchte sie ein Lächeln aufzusetzen, doch als sie mein Gesicht sah verblasste es sofort wieder. Ein Ausdruck blanker Angst formte sich in ihren Zügen.

„Nici?“ fragte sie und stand auf um mich besser ansehen zu können. Dabei achtete sie aber genau darauf, mir nicht zu nahe zu kommen.

„Ja?“

„Oh mein Gott! Was ist mit dir?“ Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.

Ich biss mir auf die Lippe. Mit dieser Reaktion hätte ich rechnen müssen. „Nichts.“

„Du siehst krank aus!“ stieß sie lauter hervor als sie eigentlich gewollt hatte – zumindest glaubte ich das.

„Mir geht’s gut…“ flüsterte ich und schaute zu Boden. Mir ging es ja auch gut, bis auf die Tatsache, dass ich Schuld am Tod einiger Kinder war.

„Willst du nicht lieber nach Hause gehen?“ fragte Tanja. In ihrer Stimme klang echte Besorgnis mit, aber auch Furcht.

Ich schüttelte bloß den Kopf. Ich brauchte das Geld dringend, auch wenn mich die Gewissheit etwas Furchtbares getan zu haben, fast auffraß.

„Okay…“ sagte Tanja schlicht und verließ vor mir die Garderobe.

Ich wartete einen Augenblick, um ihr einen Vorsprung zu geben und nicht gleichzeitig mit ihr in dem engen Gang zu sein. Dann machte auch ich mich auf den Weg in den Gastraum.

Tanja hatte schon aufgeschlossen und drehte gerade das Schildchen an der Tür um. Ich machte mich an meine bereits vertraute Aufgabe die Computer einzuschalten. Nicht einmal fünf Minuten später stand ich wieder hinter der Theke.

Ich bereitete mich schon einmal drauf vor, dass dies einer der härtesten Tage in meinem Leben werden würde. Zum einen wurde das Kribbeln in meinem Magen mit der Zeit immer schlimmer und zum anderen plagte mich mein Gewissen.

Sollte ich vielleicht zur Polizei gehen und beichten was ich getan hatte?

Aber was sollte ich ihnen denn genau sagen?

‚Entschuldigen Sie bitte, ich möchte mich gerne stellen. Ich habe gestern drei Kinder erwürgt und ihnen anschließend eine merkwürdige Lichtkugel aus der Brust gestohlen? ‘

Da könnte ich mich auch gleich einweisen lassen.

Aber müsste nicht irgendetwas in den Nachrichten kommen? Immerhin waren drei Kinder tot.

Ich beugte mich über die Arbeitsfläche und schnappte mir eine Zeitung.

Ein Blick auf das Titelblatt zeigte mir aber sofort, dass es sich um das Journal vom Vortag handelte, also legte ich sie wieder zurück. Beim zweiten Versuch erwischte ich die aktuelle Ausgabe.

Auf der Titelseite prangte das Bild irgendeines Politikers den ich nicht kannte, aber ein kleineres Bild daneben zeigte ein Kind, dessen Gesicht zensiert worden war. Trotzdem erkannte ich das kleine Mädchen von gestern sofort. Sie war mein erstes Opfer gewesen.

Mit nun zitternden Fingern faltete ich die Zeitung auf der nächsten Seite auf und las den Bericht über die drei toten Kinder.


Merkwürdige Todesfälle – drei Kinder sterben an mysteriösen Umständen!

Gestern Nacht ereigneten sich in einer Stadt gleich drei Morde. Innerhalb kürzester Zeit wurden drei Kinder im Alter von drei bis elf Jahren in ihren Betten erdrosselt.

Die Polizei glaubt, dass es sich um einen unbekannten Täter handelt, schließt aber auch nicht aus, dass ein Elternteil für den Tod der Kinder verantwortlich ist.

Die zweite Theorie ist allerdings fraglich, da die Kinder in verschiedenen Stadtvierteln wohnten und ihre Eltern sich weder vom sehen her, noch persönlich kannten.

Die zuständigen Behörden bitten daher um Hinweise, was den Mörder betrifft.

Auch wird gebeten seine Kinder nicht unbeobachtet zu lassen und nachts öfters nach ihnen zu sehen bis die Gefahr gebannt ist.


Mit Tränen in den Augen schlug ich die Seite zu und warf die Zeitung zu den anderen auf den Stapel. Sie verdächtigten sogar die Eltern!

So etwas durfte nicht sein!

Vielleicht sollte ich mich doch stellen. Es wäre doch sicher besser so.

Aber ich war erst aus diesem grässlichen Internat entkommen… Sollte ich mich schon wieder einsperren lassen?

Mein Körper sträubte sich dagegen. Automatisch lief mir eine Gänsehaut über den Rücken.

Nein, ich würde mich nicht noch einmal wie ein Tier wegsperren lassen.

Vielleicht konnte ich irgendwann vergessen was ich getan hatte, immerhin hatte ich nicht einmal mehr die Kontrolle über mich selbst gehabt.

Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe und trommelte mit den Fingern auf die Holzplatte.

„Nici, alles okay mit dir?“ fragte Tanja, die sich auf einen der Hocker niedergelassen hatte. Aus meinen Gedanken gerissen schaute ich auf.

Zuerst brachte ich keinen Ton heraus, also nickte ich einfach nur und versuchte meine Stimme wieder zu finden.

„Hast du das von den Kindern gelesen?“ fragte sie und legte den Kopf schief, wobei ihr Gesicht einen traurigen Ausdruck annahm.

„Ja“, stieß ich tonlos hervor. Musste sie jetzt damit anfangen? Wie sollte ich da jemals vergessen können?

„Furchtbar nicht?“ fragte sie und drehte die oberste Zeitung so, dass sie das Bild des Kindes sehen konnte.

„Ja, furchtbar“, flüsterte ich und drehte mich um, um den Geschirrspüler auszuräumen. Nur wenige Minuten später, betrat der erste Gast das Café.

Ich drehte mich besser nicht zu ihm oder ihr um. Ich wollte ja nicht, dass dieser unbekannte Gast vor Angst vom Hocker fiel.

Außerdem hatte ohnehin Tanja seine Bestellung aufgenommen, so dass ich weiter Geschirr wegräumen konnte ohne gestört zu werden.

„Nici, ich muss schnell nach hinten telefonieren. Kommst du klar?“ fragte sie nachdem der Gast sein Getränk bekommen hatte.

Wieder nickte ich nur und räumte die letzten Löffel in eine Schublade. Langsam drehte ich mich zur Theke um.

Es war wieder dieser alte Mann – scheinbar ein Stammgast hier.

Er lass eine Zeitung, während der Löffel in seiner Tasse unablässig gegen das billige Porzellan schlug. Als er umblätterte, fiel sein Blick auf mich und blieb an meinen Augen hängen.

Beschämt schaute ich zu Boden.

Nachdem er ausgetrunken hatte, bezahlte er und verließ fluchtartig das Café – gleich wie am Tag zuvor.

Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar.

Was hatte ich wohl in meinem vorigen Leben angestellt, dass ich jetzt so bestraft werden musste? Ich kannte die Antwort nicht.

Ohne mich besonders zu beeilen räumte ich das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine und lehnte mich gegen die Arbeitsfläche. Viel Zeit verging nicht bis die Türglocke erneut erklang und ein weiterer Gast eintrat. Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als ich sah wer es war.

Der seltsame Typ aus der Konditorei – schon wieder.

Ich versuchte ein Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern, was mir aber ziemlich schwer fiel.

„Guten Tag“, grüßte ich höfflich und stellte mich gerade hin.

Der Mann trat an die Theke und musterte mich. Kein bisschen Angst zeigte sich in seinem Gesicht.

Wenn er welche hatte, überspielte er sie wirklich gut.

„Guten Tag. Ich hätte bitte gerne einen Cappuccino und ein Glas Wasser.“

Ich nickte, lächelte noch einmal und drehte mich um, um die Bestellung auszuführen.

Sobald der Gast mein Gesicht nicht mehr sehen konnte, verblasste mein Lächeln auch schon wieder. Vielleicht würde ich das nie wieder richtig können?

War das also der Preis dafür, dass ich gemordet hatte?

Vielleicht.


3. Kapitel

 

Mehr als eine Stunde verging, bis der merkwürdige Fremde das Café wieder verließ. Im Gegensatz zu allen anderen Menschen, gab er mir sogar Trinkgeld und ging dann seelenruhig zur Tür.

Tanja tauchte wenige Minuten später mit einem entschuldigenden Ausdruck im Gesicht wieder auf. Mit der Ausrede, dass es in ihrer Familie wieder Schwierigkeiten gab, verschwand sie anschließend aber auch sofort wieder und kam den ganzen Tag nicht wieder.

Ich konnte es ihr nicht einmal übel nehmen.

Niemand würde mit jemandem zusammenarbeiten wollen, der einem gefährlich vorkam. Aber warum schmiss sie mich dann nicht einfach raus? Immerhin war sie ja der Boss und konnte mich eigentlich, ohne irgendeinen Grund zu nennen, feuern.

Auch wenn es mir so lieber war, verdenken würde ich es ihr wohl nicht. Gut, dass sie nicht wusste, dass ich wirklich gefährlich war – zumindest für ihre Kinder.

Hatte sie überhaupt welche?

Was, wenn ich eines ihrer Kinder erwischt hätte?

Ich könnte mir das niemals verzeihen, denn Tanja war bis jetzt immer freundlich zu mir gewesen, auch wenn sie Angst vor mir hatte.

Die Zeit schien nicht mehr vergehen zu wollen. Zwei Stunden fühlten sich an wie ein halber Tag.

Ich kann nicht beschreiben wie gut es sich anfühlte, als ich endlich abschloss. Zum Schluss schaltete ich die Computer aus und verließ eilig das Zimmer.

Je weiter ich mich von dem stickigen Raum entfernte, desto besser ging es mir. Nachdem ich auch die Hintertür abgeschlossen hatte, wandte ich mich der Straße zu.

Immer noch waren viel zu viele Menschen unterwegs. Ich hatte größte Mühe mich durch die kleinen Grüppchen aus verschiedensten Leuten hindurch zu schlängeln.

Endlich kam die Tür des Motels in Sicht, doch ich brauchte mehr als doppelt so lang wie normal um dorthin zu gelangen.

Die Scharniere knarzten rebellierend, als ich mich gegen das ausgeblichene Holz stemmte. Außer Puste trat ich ein und blickte mich in dem dunklen Raum um. Im Fenster hinter der Plexiglas Scheibe brannte seit Tagen einmal wieder Licht.

Der glatzköpfige Mann blätterte in einem Automagazin und ließ sich nicht ablenken. Zögernd tippte ich gegen das durchsichtige Plastik. Erschrocken blickte der Mann auf und starrte mich an.

„Entschuldigung“, begann ich vorsichtig und schaute ihn dabei an, „ ich wollte ihnen ja vor zwei Tagen die Miete bringen…“

„Jaja, ich erinnere mich!“ stieß der Mann hervor und lehnte sich in seinem Sessel zurück.

„Ja, kann ich das jetzt gleich bringen?“ fragte ich und trat einen Schritt zurück um ihn nicht noch mehr zu beunruhigen.

„Nein! Ich komme heute Abend und hol es ab!“ Mit diesen Worten stand er auf, schaltete das Licht aus und verschwand einfach.

Verwirrt stand ich nun in dem dunklen Treppenhaus und versuchte zu verarbeiten, dass er gerade vor mir geflüchtet war. Zuerst konnte ich mich nicht an diesen Gedanken gewöhnen, aber irgendwann löste ich mich schließlich aus meiner Starre und stieg wie ein Zombie die Stufen hinauf.

Vor der Tür zog ich meinen Zimmerschlüssel aus einer Hosentasche und steckte ihn ins Schloss. Wie ein Roboter drehte ich ihn herum, bis ein leises Klacken zu hören war und drückte dann die Klinke hinunter.

Wie schon am Tag zuvor, roch es auch heute nach Putzmittel, aber auch nach etwas Anderem.

Die, ohnehin schon blaue Bettdecke, die durch meinen Sehfehler noch dunkler wirkte, war ordentlich gefaltet und meine getrocknete Wäsche lag auf einem Hocker in der anderen Ecke des Zimmers.

Wieder stieg mir dieser neue, Geruch in die Nase. Ein fremder Geruch, wie Aftershave und Rauch.

Vielleicht irrte ich mich ja auch, aber irgendjemand war doch hier gewesen, oder?

Ich schaute mich genau um, schaltete dann auch noch das Licht ein um besser sehen zu können. Trotzdem entdeckte ich keine Spuren.

War die Putzfrau etwa ein Mann?

Ich grübelte einige Minuten darüber nach, ließ den Gedanken dann aber mit einem Kopfschütteln fallen. Eine männliche Putzfrau, wie dämlich war das denn?

Ich hatte jetzt auch eigentlich keine Lust mir über die Putzkräfte in diesem Haus den Kopf zu zerbrechen. Stattdessen ging ich ins Badezimmer.

Ein neues Handtuch lag auf dem Badewannenrand. Ein Blick in den Spiegel zeigte, dass wenigstens meine Haut- und Lippenfarbe wieder einigermaßen normal war. Nur noch ein leichter blauer Schimmer war zu sehen, was wahrscheinlich aber an mir lag.

Gähnend wandte ich mich von meinem Spiegelbild ab und drehte den Wasserhahn in der Dusche auf.

Nach einer knappen Minute wurde es warm und ich stieg in die beengende Kabine. Lange hielt ich es dort zwar wieder nicht aus, aber es reichte um mich aufzuwärmen.

Da ich heute erst um neun Uhr abgeschlossen hatte, war es nun schon halb zehn.

Ich wickelte mich in das Handtuch und ging ins Schlafzimmer, wo ich mir eines meiner hässlichsten T-Shirts und eine alte Hose aus dem Schrank zog und hinein schlüpfte.

Erst jetzt bemerkte ich, dass jemand gegen meine Tür hämmerte.

Zuerst hatte ich Angst, dass mich jemand ausrauben und überfallen wollte, doch dann sah ich ein wie abwegig dieser Gedanke war.

Auf Zehenspitzen ging ich zur Tür und öffnete, während ich einen Fuß gegen die untere Türkannte stemmte.

Immerhin wusste ich nicht, wer da klopfte und es gab keine Kette oder ein zusätzliches Schloss das mich absicherte.

Ich öffnete einen Spalt weit und spähte hinaus.

Zuerst sah ich nur die polierte Glatze, dann das zerknitterte Gesicht und schließlich die gebückte Haltung.

Erleichtert zog ich die Tür ganz auf und versuchte den Mann anzulächeln.

„Wie viel schulde ich Ihnen?“ fragte ich und trat einen Schritt zurück.

Nervös trat der Mann von einem Fuß auf den Anderen. „Zweihundert.“

Ich nickte, auch wenn mich fast der Schlag traf.

Nun war gut die Hälfte meines bisherigen Einkommens futsch – und zwar auf einmal!

Ich musste schwer schlucken. Es würde knapp werden, wenn ich nicht bald mehr Geld bekam. Schweren Herzens reichte ich dem Mann die Scheine.

Ohne nachzuzählen, drehte sich der Alte um und ging die Treppe hinunter. Sobald er außer Sichtweite war schloss ich die Tür und sperrte wieder ab.

Sofort beruhigte ich mich etwas.

Langsam kehrte ich zum Bett zurück und setzte mich darauf. Vor den Fenstern war es schon stockdunkel. Nur manchmal, wenn ein Auto vorbeifuhr, wurde die Fassade des gegenüberliegenden Gebäudes beleuchtet.

Niedergeschlagen rollte ich mich auf der Bettdecke zusammen und schaltete das Licht aus.

Eine drückende Dunkelheit umgab mich. Ich hatte zwar keine Angst, weil ich wusste, dass ich schon nach ein paar Minuten wieder beinahe normal sehen konnte, aber wohl fühlte ich mich trotzdem nicht.

Müde schloss ich die Augen.

Nach nicht einmal fünf Minuten war ich bereits im Reich der Träume.

 

Es wurde hell – ohne Vorwarnung und ohne Gnade.

Ich wollte, dass das blaue Licht verschwand.

Langsam gewöhnte sich mein Gehirn, das aus dem Schlaf gerissen worden war, an die neue Helligkeit.

Und die Wahrheit war, dass es stockdunkel in meinem Zimmer war. Mein ausgeprägter Sehsinn verursachte die Täuschung, dass es hell wäre.

Meine Augen waren weit aufgerissen, darum war ich also aufgewacht.

Aber warum?

Die Antwort machte mir Angst und gefiel mir überhaupt nicht.

Mein Körper machte sich selbstständig –schon wieder!

Mit aller Kraft versuchte ich mich darauf zu konzentrieren meine Augen wieder zu schließen, doch sie blieben weit offen.

Panik durchflutete mich. Ich konnte mich nicht bewegen.

Wie versteinert lag ich auf der Matratze und starrte die Decke an.

Ruckartig setzte ich mich auf.

Ich wehrte mich mit aller Kraft dagegen, aber viel konnte ich nicht ausrichten. Schließlich erreichte ich nur, dass ich ein paar Minuten länger aufrecht im Bett saß, dann aber doch ganz aufstand und im Zimmer stand.

Einen Augenblick lang bewegte ich mich nicht, doch dann setzte ich mich ruckartig in Bewegung.

Anstatt mich aber zur Tür zu drehen, bewegte ich mich auf das Fenster zu.

Entsetzt musste ich mit ansehen, wie sich meine Hände nach dem Fensterrahmen ausstreckten und ihn nach oben schoben. Mit einem Satz war ich auch schon auf dem Fensterbrett und ging leicht in die Hocke, um mir nicht den Kopf am Rahmen zu stoßen.

Naja, eigentlich tat ich das ja gar nicht, aber mein Körper schien mich nicht verletzen zu wollen – hoffentlich!

Oder vielleicht doch?

Ich stieß mich von dem schmalen Holzbrett ab und hätte am liebsten losgeschrien. Der Boden raste mir viel zu schnell entgegen und da war nichts was meinen Aufprall auf dem harten Asphalt bremsen könnte.

Unausweichlich traf ich auf der Straße auf, aber nicht wie erwartet. Anstatt meine brechenden Knochen zu hören, war nur ein dumpfer Aufprall zu erahnen. Wie schon bei meinem letzten Sprung aus solcher Höhe blieb ich völlig unversehrt.

Mein Kopf wandte sich zuerst nach links, dann nach rechts.

Kein Mensch war auf der Straße, was mich aber eigentlich auch nicht wunderte. Der Dunkelheit, die mich umgab, nach zu urteilen, war es ungefähr ein Uhr – also mitten in der Nacht.

Die Nacht machte mir keine Angst, auch die Schatten um mich herum nicht. Ich hatte inzwischen aber immer mehr Angst, alles noch einmal miterleben zu müssen. Ich war mir nicht sicher, dass ich das durchstehen würde.

Nun rannte ich los.

Einige Zeit ging es gerade aus, aber irgendwann bog ich in eine kleinere Seitenstraße ein. Hier schien es noch dunkler zu sein – schon fast erdrückend. Trotzdem blieb ich nicht stehen und ging zielsicher weiter. Die Straße weitete sich bald wieder und ich gelangte auf einen gepflasterten Platz – eine Art Hinterhof. Gras und Unkraut wucherte zwischen den Steinen und verlieh diesem Ort ein heruntergekommenes Aussehen.

Schon fast laufend überquerte ich den Platz und stieß eine rostige Metalltür, die scheinbar in eine Lagerhalle führte, auf. Tatsächlich fand ich mich zwischen den hohen Regalen einer Kühlhalle, die aber schon einige Zeit außer Betrieb sein musste, wieder. Eine instabil wirkende Treppe führte an einer der Wände in den nächsten Stock. Hier waren einmal Büroräume – wahrscheinlich die einer Lagergenossenschaft - gewesen, soweit ich das im Vorbeigehen beurteilen konnte. Nach ein paar Metern führte der Gang um eine Ecke und endete schließlich vor einer geschlossenen Holztür.

Mit Leichtigkeit gelang es mir diese zu öffnen und in den dunklen Raum dahinter zu treten. Wahrscheinlich war dies das Büro des Geschäftsführers gewesen, so sah es zumindest aus.

Ein übergroßer Schreibtisch stand verlassen in der Ecke. Der Raum war allgemein sehr geräumig und tagsüber vermutlich auch schön hell.

Lange hielt ich mich hier allerdings trotzdem nicht auf und steuerte auf eines der insgesamt fünf Fenster zu. Mit meinem Ellbogen durchstieß ich das milchig-trübe Glas.

Ein Klirren war zu hören und ein Scherbenregen ergoss sich auf den Boden und meine nackten Füße.

Meine nackten Füße!?

Entsetzen stieg in mir auf. Ich war also auf einem kleinen Spaziergang, mitten in der Nacht und nur mit einer alten, kurzen Hose und einem löchrigen T-Shirt bekleidet.

Es musste doch eigentlich eiskalt sein, oder?

Aber ich spürte überhaupt nichts. Nicht den kleinsten Windhauch und schon gar nicht den kalten Boden. Auch als ich auf ein paar Glassplitter trat, die unter meinen Sohlen knirschten, spürte ich keinen Schmerz.

Warum musste so etwas immer mir passieren?

Ich hatte das flaue Gefühl im Magen, dass sich die Geschehnisse der letzten Nacht wiederholen würden – und zwar heute!

Am liebsten hätte ich umgedreht und wäre davongelaufen, nur schade, dass ich das nicht konnte.

Geschickt erklomm ich auch dieses Fensterbrett und lehnte mich so weit wie möglich von dem Gebäude weg.

Der Boden war mindestens fünf Meter entfernt, was für meinen merkwürdigen, angsteinflößenden Körper wohl kein Problem darstellen würde. Trotzdem hatte ich panische Angst abzustürzen und zu sterben.

Obwohl, verdient hätte ich es alle Mal. Immerhin war es meine Schuld, dass drei Kinder nie erwachsen werden konnten. Sie hatte keine Chance gehabt, warum sollte ich also eine haben?

Das Leben war so unfair!

Mit ein paar kräftigen Bewegungen zog ich mich die Fassade hinauf.

Von hier aus konnte man zwar nicht weit sehen, aber immer noch weit genug. Zu weit.

Zwei Straßen weiter brannte Licht in einem Fenster. Es war nicht das Licht, das mir Angst machte, sondern der bunte Teddyvorhang hinter der viel zu dünnen Scheibe.

Ich spürte wie es mich förmlich dorthin zog als wäre ich an ein unsichtbares Seil gebunden, das an mir zerrte und mich an dieses Fenster zwingen wollte.

Aber ichwollte nicht schon wieder töten.

Wieder versuchte ich mich gegen meinen Körper zu wehren, aber wie gewohnt machte es nicht viel Sinn.

Ich sprintete über das flache Dach der Lagerhalle und hielt kurz vor der Kante an, nur um mich sofort über den Abgrund zu schwingen und die schmale Straße zwischen diesem und dem nächsten Gebäude mit einem Sprung zu überwinden.

Dort angekommen, federten meine Beine mein Gewicht scheinbar mühelos ab und ich lief sofort weiter.

Die Distanz zwischen mir und dem Fenster schwand zusehends und mein Körper schien das zu spüren. Ich beschleunigte immer weiter.

Die nächste Straße, die zu überwinden war, war um einiges breiter. Diesen Sprung konnte ich nicht schaffen – dachte ich zumindest.

Wieder stieß ich mich vom Dach ab und sprang.

Doch ich hatte mich geirrt. Ich überbrückte die Schlucht zwischen den Häusern mit Leichtigkeit. Mit einem lauten Knirschen meiner Knochen knallte ich gegen die nächste Wand.

Ich hatte nicht viel Zeit zu reagieren bevor ich hinab rutschte.

Noch während ich fiel, gruben sich meine Finger in den groben Putz, der mit leisem Knistern hinab rieselte. Schließlich fand ich tatsächlich Halt, nur zwei Meter über dem Boden.

Wie ein Chamäleon kletterte ich die senkrechte Wand wieder hinauf und zog mich am Fensterrahmen hoch.

Durch den Vorhang konnte ich nicht erkennen, was in dem Raum geschah, aber ich wusste ganz genau, dass sich dort auf jeden Fall ein Kind befand – ich spürte es.

Mein Körper wurde immer verlangender. Er wollte jetzt diesen blauen Energieball und zwar sofort.

Was mir in der letzten Nacht schon aufgefallen war – je mehr dieser Lichtkugeln ich in mir aufnahm, desto dringender schien ich sie zu brauchen.

Fast als wäre ich süchtig danach.

Gierig hechelnd, wie ein hungriger Wolf, hob ich das Glas einfach aus seiner Verankerung und ließ es in den Raum gleiten ohne einen Ton zu verursachen. Danach folgte ich und sank lautlos neben das Fenster.

Wie auch in den drei vorigen Kinderzimmern, wurde dieses von einem kleinen Nachtlicht erleuchtet.

Ein dunkelblauer Teppich bedeckte den Großteil des Bodens und überall hingen Kinderzeichnungen. Ein Mädchen, ich schätzte sie auf ungefähr sechs Jahre, lag zusammengerollt unter einem dünnen Baldachin in einer Ecke des Zimmers.

Ich hasste mich jetzt schon für die Tat die ich gleich begehen würde.

Die Kleine sah einfach nur bezaubernd aus - wie eine kleine Fee. Sie hatte helle Locken, die ihr übers Gesicht fielen und eine schneeweiße Haut.

Noch einmal kämpfte ich gegen den Drang an, meine Hände auszustrecken und nach ihrem dünnen Hals zu greifen, doch wieder verlor ich. Es war zermürbend nichts gegen dieses Bedürfnis ausrichten zu können.

Nicht einmal eine Sekunde später umschlossen meine Finger bereits die zierliche Kehle und drückten mit aller Kraft zu. Ohne etwas dagegen tun zu können, musste ich auch heute zusehen, wie ich tötete.

Hätte ich Macht über meinen Körper gehabt, hätte ich jetzt vermutlich kotzen müssen, so ekelte es mich vor mir selbst.

Das Mädchen regte sich nicht einmal. Sie glitt einfach nahtlos vom Schlaf in den Tot.

Trotzdem ließen meine Hände erst nach ein paar Minuten von ihr ab. Dann begann wieder das alte Schema.

Was mir aufgefallen war, war, dass der Lichtball bei jedem der Kinder einen anderen Farbton hatte. Einmal war er eher grünlich, dann wieder rot oder blassrosa.

Auch diesmal erfüllte mich wieder eine eisige Kälte, die von meinem Herzen auszuströmen schien und sich in meinem ganzen Brustkorb ausbreitete, bis sie schließlich auch die letzte Zelle meiner Fingerspitzen erreicht hatte.

Ein Schauer erfüllte meinen Körper –das war mir neu!

Bis jetzt hatte ich nichts gespürt, bis auf eben diese ungeheure Kälte. Aber dieses Zittern, das durch meinen Körper gegangen war wie eine Welle, machte mir Angst.

Das tote Kind lag immer noch vor mir, friedlich als würde es einfach nur schlafen. Trotzdem spürte ich, dass sich plötzlich etwas veränderte.

Von einer Sekunde auf die Andere durchfuhr mich ein furchtbarer Schmerz – oder besser gesagt meinen Kopf.

Unbeeindruckt davon kniete mein restlicher Körper immer noch über dem Mädchen.

Ich hätte geschrien, wenn ich es nur gekonnt hätte. Immer wieder durchfuhren mich Stromstöße, wie Blitze zuckten sie in meinem Gehirn.

Und irgendwann gab es schließlich auf. Es fühlte sich an, als würde ich in warmes, seichtes Wasser eintauchen.

Mein Geist hatte sich von meinem Körper befreit – wenigstens für kurze Zeit. Auch wenn meine Augen eigentlich weit geöffnet waren, konnte ich nichts sehen.

Es war einfach als würde ich schweben – in einem Bad aus Wohlgefühl und Wärme.

 

Mein Kopf dröhnte.

Ich befürchtete, dass er explodieren würde, falls ich meine Augen öffnete. Trotzdem wagte ich einen Versuch, denn schlimmer, als mein bisheriges Leben konnte es nicht werden.

Grelles Licht blendete mich und ich schloss die Lider sofort wieder.

Meine Reaktion auf die Helligkeit hätte ich eigentlich voraussehen müssen, aber ich hatte nicht ahnen können, dass es so schlimm werden würde.

Die Lichtstrahlen bohrten sich wie tausende spitzer Nadeln in mein Gehirn. Mit einem Stöhnen legte ich meine Hand schützend über meine Augen.

Und dann durchfuhr es mich wie ein Blitz. Ich wusste auf einmal wieder alles.

Und am liebsten hätte ich sofort wieder vergessen.

Die Gesichter aller Kinder, die ich bisher getötet hatte, hatten sich in meine Netzhaut eingebrannt. Und dort würden sie wohl auch für immer bleiben.

Wenigstens konnte ich etwas aufatmen.

Auch wenn es schrecklich war, dass ich überhaupt gemordet hatte, wenigstens war in der letzten Nacht nur ein Kind gestorben.

Doch genau diese Tatsache schien mich aufzufressen wie Säure, die sich ihren Weg durch meine Eingeweide fraß und mich irgendwann ganz zersetzen würde.

Langsam stand ich auf und ging ins Badezimmer.

Ich wusste nicht, wie ich wieder ins Apartment gekommen war – vermutlich durchs Fenster.

Zögerlich warf ich einen Blick auf mein Spiegelbild.

Wie schon am Morgen zuvor sah ich gruslig aus: meine Haut war schneeweiß mit einem leichten blauen Schimmer und meine Lippen leuchteten in einen Eisblau.

Lange konnte ich mich nicht ansehen, denn ich hasste mich. Ich hasste mein Gesicht, meine Haare, meinen Körper – einfach alles!

Ich war zu einem Monster geworden, kurz nachdem ich ein richtiges Leben begonnen hatte.

Falls es einen Gott gab, hasste er mich ebenfalls.

Entschlossen drehte ich dem Spiegel den Rücken zu. Ich würde nicht noch einmal töten!

Da ich mich nicht der Polizei stellen würde, musste ich mich auf einen andere Art und Weise ruhigstellen – für immer.

Ohne mich zu waschen, kehrte ich ins Schlafzimmer zurück und trat ans Fenster. Die Straße unter mir war wie ausgestorben, nur ein altes Ehepaar führte ihren Dackel spazieren.

‚Es ist Sonntag! ‘ schoss es mir durch den Kopf.

Sonntag, dass bedeutete dass ich nicht arbeiten musste weil Tanjas Café sonntags immer geschlossen war.

Gut, dann hatte ich genug Zeit um meinen Plan in die Tat umzusetzen.

So schnell ich konnte, schlüpfte ich in saubere Wäsche und rannte zur Tür. Ich machte mir nicht einmal die Mühe abzuschließen – ich würde sowieso nicht wieder kommen.

Die Stufen zum Eingangsbereich des Motels flog ich förmlich hinab.

An der Tür angekommen, musste ich kurz verschnaufen, drückte dann aber mit aller Kraft die Holztür auf.

Die Sonne schien mir ins Gesicht.

Oje, mein Gesicht! Ich hatte ganz vergessen, dass ich aussah wie ein Zombie!

Mit gesenktem Kopf rannte ich los – Richtung Stadtrand.

In den Taschen meiner Hose klimperte es. Gut, ich hatte also auch ein bisschen Kleingeld dabei!

Ich rannte immer weiter, bis ich schließlich meine Hände auf die Oberschenkel stützen und nach Luft ringen musste. Wie das für einen Fremden aussehen musste wollte ich lieber gar nicht wissen.

Als ich mich wieder halbwegs aufrecht hinstellte, sah ich ein knallgelbes Taxi an mir vorbeifahren.

„Hey! Halt!“ schrie ich.

Das Auto hielt tatsächlich an und die Beifahrertür wurde geöffnet. Der Taxifahrer hätte fast einen Schlag bekommen, als er mich sah. Trotzdem setzte ich mich neben ihn und zog die Tür zu.

Der Mann mittleren Alters umklammerte das Lenkrad des Wagens so fest, dass ich Angst hatte er könnte es zerquetschen. Ohne ihn anzusehen kramte ich in meiner Tasche nach den Münzen.

„Wie weit komme ich mit zehn Dollar?“ fragte ich und starte das Geld an.

Kurz dachte er nach, dann antwortete er mit brüchiger Stimme.

„Kommt drauf an wo Sie hinwollen?“ Es war mehr eine Frage als eine Feststellung.

„Gibt es in der Nähe eine Klippe oder einen Berg?“

Wieder kurzes Schweigen. „Ja, ganz in der Nähe ist ein alter Steinbruch. Wollen Sie dahin?“

Ich nickte nur stumm. Damit war das Gespräch auch schon wieder beendet.

Ich starrte durch die Windschutzscheibe während die Stadt an mir vorbeirauschte.

Je länger wir fuhren, desto kleiner wurden die Gebäude und schon bald erreichten wir den Stadtrand.

Mein Entschluss stand felsenfest.

Ich konnte nicht riskieren, dass noch mehr Kinder wegen mir starben, aber ich wollte auch nicht den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen.

Langsam veränderte sich die Gegend.

Die Distanzen zwischen den Häusern der Vorstadt wurden allmählich immer größer – es ging aufs Land zu. Felder und Wiesen lagen zwischen den Vorgärten der bunten Holzhäuschen.

Ich konnte mich nicht einmal an diesem Anblick erfreuen. Mein Leben würde bald enden und zwar durch meine eigene Hand.

Ich wusste, dass es feige war, aber ich wollte es selbst zu einem Ende bringen.

Der Taxifahrer hustete und riss mich so aus meinen Gedanken. Inzwischen hatten wir den Ausläufer eines Waldes erreicht.

Der Wagen verlangsamte und hielt schließlich quietschend am Straßenrand, genau an der Stelle, wo ein Schotterweg zwischen den Bäumen verschwand.

Ich reichte dem Fahrer das Geld, das ich ihm schuldete und stieg schwerfällig aus.

Dann drehte ich mich um und lief den Schotterweg entlang.

Ein dumpfes Knirschen hinter mir verriet, dass das Taxi weg war.

Ohne mich noch einmal umzudrehen ging ich weiter. Ich hatte keine Ahnung, ob ich überhaupt auf dem richtigen Weg war, aber ich hatte ja alle Zeit der Welt. Das Merkwürdige an dieser Situation war, dass ich keine Angst hatte. Ich würde Selbstmord begehen und war kein bisschen nervös.

War das eigentlich normal? Nein, ich denke nicht.

Unaufhaltsam bahnte ich mir meinen Weg weiter durch das immer dichter werdende Unterholz.

Nun kam es auch öfter vor, dass große Äste oder Felsbrocken den Pfad blockierten, doch ich umging sie einfach und kehrte dann auf den Schotterstreifen zurück.

Wie ein weißliches Band im Unterholz führte er mich zuverlässig in den Untergang. Um mich herum wurde es immer grüner und langsam fing ich an mir wirklich Sorgen zu machen, ob ich mich nicht vielleicht verirrt hatte.

Fast musste ich lachen, beim Gedanken daran, dass ich mir Sorgen machte den Steinbruch nicht zu finden.

Gerade stieg Panik in mir auf, als ich um die nächste Kurve bog.

Eine, gut zwanzig Meter hohe Wand, erhob sich vor mir. Der helle Stein reflektierte das grelle Sonnenlicht und trotzdem schien ich im Schatten zu stehen.

Ein schöner Ort, für meinen letzen Gang.

 

 

 

4. Kapitel

Der Weg auf den oberen Rand der Felsen war anstrengender, als ich gedacht hatte.

Dass die Sonne erbarmungslos herab brannte machte es nicht gerade angenehmer, aber das musste es auch gar nicht mehr sein. Es war jetzt sowieso schon egal ob ich schwitzte oder erschöpft war oder ob meine Beine schmerzten. Ich würde sie ja nicht mehr allzu lange brauchen.

Irgendwie tat es mir fast leid, dass mein Leben so früh beendet werden musste, und noch dazu von mir selbst. Aber ich wollte nicht weitermorden und das Risiko, dass ich es doch tat war, einfach zu groß.

Ich konnte nicht damit leben, dass ich jemandem das Leben genommen hatte, also nahm ich mir mein eigenes.

Kleine Steine knirschten unangenehm unter den Sohlen meiner alten Turnschuhe. Seit ich aus diesem Taxi gestiegen war, musste mehr als eine Stunde vergangen sein. Und endlich hatte ich auch den höchsten Punkt der Steinwand erreicht.

Senkrecht ging es gut fünfzig Meter hinab – es war sehr viel höher, als ich gedacht hatte.

Langsam erfüllte ein merkwürdiges Gefühl meine Magengegend und schlich durch meine Brust und meinen Hals in meinen Rachen. Ich wurde also doch noch nervös.

Meinen Kopf schüttelnd spähte ich vorsichtig über den Grad in den Abgrund. Mit meiner Schuhspitze löste ich dabei ein paar Steinchen, die geräuschvoll hinab stürzten.

Ich musste einmal laut schlucken, denn ich war kein Stein - ich würde zerbersten wie eine Glaskugel.

Mir zitterten die Knie als ich mich so nahe an den Abgrund stellte, dass meine Zehen bereits über den Rand ragten. Ich schloss meine Augen.

Mein Leben war kurz gewesen – und äußerst unangenehm. Von meinen Eltern war ich verstoßen worden, das hatte ich ihnen nie verziehen. Von allen anderen Menschen war ich gemieden worden, damit hatte ich gelernt zu leben.

Aber das, was jetzt mit mir passierte, war zu viel für mich.

Ich hatte nie jemandem etwas zu leide getan – bis vor meiner Entlassung aus dem Internat. Warum ich mich nun so plötzlich zum Bösen veränderte wusste ich nicht, und ich würde es auch nie erfahren.

Alles was ich wusste war, dass ich nicht so weitermachen konnte, weil ich es nicht ertragen hätte noch mehr Leben zu zerstören, denn dass ich Kinder tötete war die eine Seite, aber dass beinahe die ganze Stadt in Angst und Schrecken lebte, weil sie befürchten mussten, dass ihre Kinder eines Morgens einfach nicht mehr aufwachen würden, war fast noch schlimmer.

Mit immer noch geschlossenen Augen verlagerte ich mein Gewicht immer weiter nach vorne. Ich spürte wie zuerst meine Fersen und dann meine Fußballen den Halt verloren und ich einfach überkippte. Ich spürte den Wind, der an mir vorbeiwehte, als ich fiel. Und ich spürte, dass ich meinen Körper nicht mehr beherrschte.

Nein!

Ich wollte nicht meine Arme ausbreiten und meine Beine dem Boden entgegenstrecken. Was ich noch weniger wollte war, dass sich meine Augen öffneten und ich den immer näher kommenden Grund sah.

Ich wusste, dass mein Selbstmordversuch gescheitert war, noch bevor ich überhaupt den Boden berührte. Mein Körper übernahm wieder die Kontrolle, während ich mich unaufhaltsam dem Steinboden näherte. Der Aufschlag war viel heftiger, als alle bisherigen.

Meine Beine gaben ein gefährliches Knacksen von sich als sie gegen den harten Boden schlugen. Mit einer eleganten Rolle federte ich die enorme Wucht des Aufpralls ab und blieb dann in einer Mulde liegen.

Ich hatte viel Staub aufgewirbelt und konnte beinahe nichts sehen weil meine Augen tränten. Hustend und keuchend starrte ich in den blauen Himmel.

Langsam verschwand das bedrückende Gefühl aus meinen Gliedmaßen. Zuerst konnte ich nur meinen kleinen Finger bewegen, doch bald darauf schaffte ich es sogar meine Hand zur Faust zu ballen. Ich konnte wieder tun, was ich wollte.

Langsam setzte ich mich auf und verbarg mein Gesicht in meinen aufgeschundenen Händen. Tränen der Wut und der Trauer rannen über meine Wangen, tropften von meinem Kinn und fielen zwischen die staubigen Steine unter mir.

Es war ein furchtbares Gefühl zu wissen, dass man so gut wie keine Chance hatte dem Bösen in sich selbst beizukommen.

Mit zitternden Beinen richtete ich mich auf und starrte in den Himmel. Ich glaubte, dass mein Kopf zerbersten wollte. Langsam ging ich den schmalen Schotterweg durch den Wald zurück, ließ mir dabei aber eindeutig mehr Zeit als auf dem Hinweg.

Die Kiesel knirschten unter meinen Sohlen, doch mir war es egal. Mir war alles egal.

Ich wollte die Menschen vor mir schützen, aber ich hatte es nicht geschafft. Wofür war ich eigentlich überhaupt gut?

Ich konnte nur töten und Angst verbreiten.

Und sonst?

Hatte ich jemals etwas richtig Gutes getan?

Nein, mir fiel zumindest nichts ein.

Eine leichte Brise wehte mir ein paar schwarze Strähnen ins Gesicht, doch auch das störte mich nicht. Ich ging unbeirrt weiter und ließ mich nicht ablenken.

Nicht einmal als ein Reh vor mir auf den Weg sprang blieb ich stehen. Erst als das Tier sich nicht bewegte hielt ich an und musterte es ganz genau.

Es war ein sehr schönes Exemplar. Das hellbraune Fell glänzte leicht im Sonnenlicht und die Augen hatten einen wunderschönen Schimmer. Fasziniert näherte ich mich bis auf ein paar Meter. Trotzdem bewegte sich das Reh nicht von der Stelle und schien sogar neugierig zu sein.

Als ich meine Hand nach ihm ausstreckte, schnupperte es interessiert daran.

Verwundert kniff ich die Augen zusammen. Wie konnte das sein?

Sogar große, bärenhafte Männer fürchteten sich vor mir, aber dieses scheue Reh nicht.

Warum bloß?

Stellte ich vielleicht nur für Menschen eine Gefahr dar?

Aber wie konnte das sein?

Gemächlich drehte sich das Reh schließlich um und verschwand völlig entspannt zwischen ein paar Büschen. Ich richtete mich wieder auf und fuhr mir mit der Hand durchs Haar.

Wie gruslig.

Kurze Zeit blieb ich noch an Ort und Stelle, dann machte ich mich wieder auf den Weg.

Es war wahrscheinlich erst Mittag, aber ich musste zurück in die Stadt bevor es dunkel wurde.

Obwohl, wenn ich es mir so überlegte würde mir die Dunkelheit wohl auch keine Probleme machen. Trotzdem, der Gedanke dann noch hier draußen, im nirgendwo, zu sein bereitete mir Unbehagen.

Nach relativ kurzer Zeit tauchte vor mir die Straße auf – schwarz zwischen den dunkelgrünen Bäumen. Jetzt hatte ich allerdings das Problem, dass ich keine Ahnung hatte aus welcher Richtung ich eigentlich gekommen war. Wohin also gehen?

Auf der einen Seite ging es geradewegs den Berg hinauf, auf der anderen ins Tal hinab.

Ich beschloss bergab zu gehen.

Wahrscheinlich war ich schon um die zwei Stunden unterwegs, als sich mir, mit einem dumpfen Brummen, das langsam lauter wurde, ein Auto näherte.

Nur nebenbei bemerkte ich, dass es bremste und in Schrittgeschwindigkeit neben mir herrollte.

Zuerst ignorierte ich den Wagen, denn man lernte ja schon als kleines Kind, dass man nicht zu Fremden ins Auto steigen soll – sich ihnen am besten gar nicht erst näherte.

Der Fahrer war allerdings hartnäckig.

Als ich immer noch nicht stehen blieb, kurbelte er das Fenster der Beifahrertür hinunter.

„Hey!“ rief er mir über den Lärm des Motors hinweg zu.

Langsam drehte ich meinen Kopf in seine Richtung. Das konnte doch wohl alles nicht wahr sein!!!

Der Fahrer des Autos war niemand geringeres als der merkwürdige Typ aus Tanjas Café – der Einzige der keine Angst vor mir hatte. Ich schluckte geräuschvoll.

„Soll ich dich mitnehmen?“ fragte er und setzte ein breites Lächeln auf.

Ich schüttelte hysterisch den Kopf und wich von dem Auto zurück. Was wollte der bloß von mir?

„Es ist aber noch ganz schön weit in die Stadt, dass weißt du schon oder?“ Er legte den Kopf schief und schaute mich aus seinen ehrlichen, schokobraunen Augen an.

Moment mal! Ehrliche Augen?

Ich kannte ihn nicht einmal! Vielleicht war er ja ein Serienmörder!

Mir lief eine Gänsehaut den Rücken hinab.

ICH war hier der einzige Mörder im Umkreis von mehreren Kilometern. Angstschweiß bildete sich auf meinen Handflächen. Ich ballte sie zu Fäusten.

„Gut.“

Mit diesen Worten zog ich die Beifahrertür auf und setzte mich auf den weichen, dunkelgrauen Ledersitz. Erst jetzt bemerkte ich, wie teuer die Ausstattung des Autos war.

Es war irgendein Mercedes – ein schöner Wagen, komplett in schwarz gehalten. Sogar die Fensterscheiben waren getönt.

Langsam schloss ich die Tür und gurtete mich an. Unwohlgefühl und Angst durchfluteten mich und ich wollte eigentlich nur noch weg. Trotzdem versuchte ich mich so gut wie möglich unter Kontrolle zu halten und meine Furcht nicht zu zeigen – es schien zu funktionieren.

„Du arbeitest doch in diesem Internetcafé oder?“ fragte er nachdem ich nichts sagte.

Ich nickte nur stumm und starrte durch die Windschutzscheibe.

„Und? Verdienst du gut dort?“ stocherte er nach und musterte mich genau.

„Geht so“, murmelte ich und blickte ihn zum ersten Mal richtig an.

Seine braunen Haare waren total standen wirr von seinem Kopf ab, genau wie schon beim letzen Mal im Café. Da das Fenster der Fahrertür einen Spalt geöffnet war, wehte ihm ein leichter Wind ins Gesicht.

„Nicht sonderlich gesprächig, was?“ Er zuckte mit den Schultern und konzentrierte sich dann wieder auf die Straße.

Ich antwortete nicht. Immer mehr hatte ich das Gefühl, davonrennen zu müssen – einfach so aus Reflex. Wenige Minuten später kam endlich die Stadt in Sicht.

Ich atmete einmal laut aus – zu laut, wie ich feststellte. Der Kerl hatte es gehört.

„So schlecht fahr ich auch wieder nicht“, beschwerte er sich und ein Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus.

Ich wandte meinen Blick ab.

Wir erreichten die ersten Ausläufer des Städtchens. Immer enger drängten sich die Häuser aneinander und irgendwann kam das Zentrum der Stadt näher.

„Sie können mich jetzt raus lassen.“ Meine Stimme bebte leicht als ich meine Hand an den Türgriff legte.

Mit einem Nicken gab er mir zu verstehen, dass er anhalten und mich aussteigen lassen würde. Die Erleichterung, die ich empfand, als ich ausstieg, konnte ich nicht beschreiben.

So schnell wie möglich und ohne mich noch einmal umzudrehen ging ich davon und bog um die nächste Ecke.

Es war schon Abend geworden, man sah es überall. Der Himmel färbte sich allmählich in einem grellen orange, das gleichzeitig aber auch violett wirkte.

Ich war noch nie in diesem Teil der Stadt gewesen, aber irgendwie kam mir hier alles so bekannt vor.

Ja, natürlich kam es mir bekannt vor!

Bei einem meiner nächtlichen Killerspaziergänge hatte ich wohl einmal diesen Weg nach Hause eingeschlagen. Nun konnte ich mich aber nicht mehr wirklich an den Weg erinnern und irrte hilflos umher. Mehrere Male lief ich in Sackgassen und musste wieder zurück auf die Hauptstraße – es war furchtbar.

Irgendwann wurden die Schatten zwischen den Gebäuden immer länger und dunkler. Die Temperatur sank spürbar und die Härchen auf meinen Unterarmen stellten sich auf. Ich musste zusehen, dass ich nach Hause kam, bevor ich noch erfror.

Nur wie sollte ich das anstellen, wenn ich nicht einmal annähernd wusste in welche Richtung ich laufen sollte?

Die Sonne war jetzt auch endgültig untergegangen und hatte die letzte Wärme des Tages mit sich genommen.

War es vor nicht einmal einer viertel Stunde noch angenehm mild gewesen, so wehte jetzt ein beißender Wind durch die Gassen und Straßen der Stadt. Tja, und ich stand mit einem dünnen T-Shirt bekleidet mitten drin.

Ich hätte sterben sollen, da hatte ich mir keine Gedanken über meine Klamotten gemacht. Auch Geld hatte ich jetzt keines mehr. Mit einer Heimreise hatte ich sowieso nicht gerechnet.

Mit einem leisen Surren ging die Straßenlaterne, an der ich gerade vorbeiging, an und mit ihr auch alle anderen in dieser Straße.

Vor Kälte zitternd, schlang ich meine Arme um meinen Oberkörper und drehte mich einmal um meine eigene Achse, auf der Suche nach etwas, was mir irgendwie bekannt vorkam. Aber ich fand nichts, sosehr ich mich auch anstrengte.

Schließlich bog ich um die eine Ecke, doch auch dort kam mir nichts vertraut vor. Langsam stieg Verzweiflung in mir auf.

Was, wenn ich mein Apartment nicht fand?

Musste ich diese Nacht auf der Straße verbringen?

Ich ging einfach immer weiter, aber mit der Zeit verlor ich völlig den Faden und blickte einfach nicht mehr durch. Erschöpft und etwas verängstigt lehnte ich mich gegen eine Hauswand und atmete ein paar Mal tief durch. Ich musste jetzt unbedingt ruhig bleiben und versuchen von hier weg zu kommen. Obwohl ich mir selbst gut zuredete, stiegen mir Tränen in die Augen. Mit einer schnellen Handbewegung wischte ich sie weg.

Ich durfte jetzt nicht schwach sein.

Ein Auto fuhr vorbei. Das Licht der Scheinwerfer blendete mich kurz, dann war es auch schon wieder verschwunden.

Immer noch zitternd ging ich über die Straße und bog in eine Seitenstraße ein. An einer Wand standen ein paar Mülltonen gegen die Kartons und Schachteln gelehnt worden waren.

Ich musste mich jetzt entscheiden.

Entweder irrte ich die ganze Nacht durch diese verdammte Stadt, oder ich suchte Schutz zwischen diesen verdreckten Kartons. Ich entschied mich nach ein paar Augenblicken für letzteres.

Erstens hatte ich keine Lust weiter durch diesen eisigen Wind zu laufen und zweitens war ich einfach nur todmüde und völlig erschöpft.

Also zog ich eine der Mülltonnen einen halben Meter von der Wand weg, legte den Hohlraum dahinter mit Pappe aus und schaffte es sogar eine Art Dach zu bauen. Dann krabbelte ich auf allen Vieren in die entstandene Höhle und zog einen Karton vor die Öffnung, um mich vor dem Wind und der Kälte zu schützen. Der Geruch hier hinter den Tonnen war zwar unangenehm, aber ich würde es schon irgendwie aushalten - oder besser gesagt aushalten müssen.

Ich legte mich auf die Seite, zog die Beine an meinen Körper und schloss die Augen.

Es dauerte sehr viel länger als sonst, bis ich eingeschlafen war, aber irgendwann klappte es doch.

 

Ein lautes Surren weckte mich.

Mit einem steifen Nacken kroch ich aus meinem Unterschlupf und blinzelte erst ein paar Mal. Die Sonne schien und es war relativ warm.

Zuerst streckte ich mich und gähnte ausgiebig, dann sah ich mich um. Ich war immer noch in dieser schmalen Straße mit den vielen Mülltonen. Auf der Hauptstraße herrschte schon viel Betrieb, aber hier kam kein Mensch hin.

Meine Gelenke knackten, als ich mich in Bewegung setzte. War ich in der letzen Nacht gar nicht auf meiner Mördertour gewesen?

Ich konnte mich zumindest nicht daran erinnern.

Und wäre ich nicht in meinem Apartment, wenn ich wieder getötet hätte?

Bis jetzt war es immer so gewesen.

Ich verließ die Gasse nicht auf dem gleichen Weg, auf dem ich sie betreten hatte, sondern ging in die andere Richtung. Hier herrschte noch mehr Verkehr als auf der anderen Straße, aber das bedeutete auch, dass ich nicht so sehr auffiel.

Auch diesen Ort hatte ich noch nie gesehen, zumindest soweit ich mich erinnern konnte. Ich wandte mich nach links und ging den Bürgersteig eine gute halbe Stunde entlang. Dabei ließ ich mir viel mehr Zeit als am Tag zuvor, auch wenn ich nicht mehr hatte.

Ganz im Gegenteil. Eigentlich musste ich mich beeilen um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. Nur wollte ich – anders als gestern Nacht - nichts überstürzen und versuchte einen kühlen Kopf zu bewahren. Heute funktionierte das auch ganz gut.

Die Straße führte nach einer Weile um eine Ecke, und hier glaubte ich schon einmal gewesen zu sein.

Mein Blick schweifte über die Häuserfassaden und ich fand tatsächlich ein Gebäude, das mir bekannt vorkam. Ich hatte es schon einmal vom Café aus gesehen, als Tanja mal wieder nicht da war.

Auf dieses Haus steuerte ich nun zu.

Immer mehr Hoffnung keimte in mir auf und als ich dann auch das Café selbst sehen konnte, konnte ich einfach nur erleichtert lächeln. Von hier aus fand ich den Weg zu meinem Zuhause ganz einfach.

Die Eingangstür des Motels knarrte bedrohlich als ich sie endlich aufschob und eintrat. Hier drin war es um einiges kühler als auf der Straße und auch dunkler, aber ich wusste wo ich hinmusste. Zielsicher steuerte ich auf die Treppe zu und brachte sie in Rekordzeit hinter mich.

Oben war ich zwar etwas außer Atem, aber es dauerte nicht allzu lange bis sich mein Puls wieder einigermaßen beruhigte.

In einer meiner Taschen fand ich sogar den Zimmerschlüssel, obwohl ich mich nicht einmal mehr erinnern konnte ihn eingesteckt zu haben. Ich schloss auf und trat ein.

Der Raum hatte sich kein bisschen verändert – wie denn auch, ich war ja nicht da gewesen.

Als erstes ging ich ins Bad und musterte mich im Spiegel. Meine Haare waren zerzaust und sahen etwas wüst aus, aber ansonsten ganz okay. Meine Haut war blass wie immer, aber wenigstens ohne diesen grässlichen Blauton. Auch meine Lippen hatten ein blasses Rosa angenommen. Nur meine Augen leuchteten noch in diesem eigenartigen Türkis-blau.

Alles in Allem sah ich eigentlich ganz normal aus und das beruhigte mich ungemein.

Nachdem ich durchgeatmet hatte, drehte ich den Wasserhahn in der Dusche auf.

Während ich darauf wartete, dass das Wasser endlich warm wurde, warf ich schnell einen Blick um die Ecke auf die Wanduhr. Es war kurz vor elf Uhr vormittags, was bedeutete, dass mir noch ein bisschen Zeit blieb.

Ausgezeichnet.

Ohne lange zu zögern stellte ich mich gleich mit Klamotten in die Dusche und ließ das Wasser über meinen Körper laufen. Es tat so gut diese Wärme zu spüren.

Nach und nach entledigte ich mich der einzelnen Kleidungsstücke und genoss einfach die Dusche. Wahrscheinlich war ich mehr als eine halbe Stunde in der Kabine, aber ehrlich gesagt war es mir sowas von egal. Es war warm und es tat gut – ich hatte es mir verdient!

Immerhin hatte ich eine Nacht auf der Straße hinter ein paar Mülltonen geschlafen – und dabei niemanden getötet!

Meine Finger waren total verschrumpelt als ich das Wasser abdrehte. Ich stieg aus der Kabine und wickelte eines der Handtücher um meinen Körper. Dann ging ich ins Schlafzimmer und zog die Schubaden der Kommode auf.

Viel war nicht in der rechteckigen Lade, aber ich hatte mit der Zeit gelernt mit wenig auszukommen. So fand ich auch schnell ein passendes T-Shirt und eine ausgewaschene Jeans.

Die schmutzigen Klamotten, in denen ich geschlafen hatte, ließ ich derweil einfach neben der Tür liegen. Ich konnte mich später immer noch darum kümmern.

Schnell schlüpfte ich in das Gewand und legte mich dann quer über das Bett. Es war so schön weich und kuschelig und ich fühlte mich einfach nur wohl. Für ein paar Minuten schloss ich einfach meine Augen und genoss es nichts zu tun und an nichts zu denken.

Aber irgendwann musste ich wieder aufstehen. Die Arbeit rief förmlich nach mir.

Mit einem lauten Seufzen rappelte ich mich auf und kramte nach meinem Arbeitsgewand. Schnell streifte ich das T-Shirt über und ging dann zur Tür.

Auf dem Weg ins Café fiel mir auf, dass die Leute mir heute nicht so sehr auswichen wie sonst.

Sie machten zwar immer noch einen weiten Bogen, wenn sie mich sahen, aber wenigstens schauten sie mich nicht an als wäre ich ein Gespenst.

Was für ein Fortschritt!

Mit gesenktem Blick bog ich in die Seitenstraße ein und zog die Metalltür zur Garderobe auf. Tanja saß nicht, wie gewohnt, in einer Ecke und telefonierte. Sie war nicht einmal im Raum, also dachte ich, sie wäre im Gastraum.

Als ich die Tür öffnete und hinter die Theke trat, konnte ich sie zuerst immer noch nicht entdecken. Dann aber sah ich sie hinten an den PCs. Vermutlich schaltete sie sie gerade ein.

Ich machte mich also daran, das frisch gesäuberte Geschirr in die richtigen Regale zu räumen.

„Nici, du siehst gut aus heute!“ behauptete Tanja als sie schließlich hinter der Theke auftauchte.

Ich schaute auf und schenkte ihr ein Lächeln. „Danke, du aber auch!“ Dann drehte ich mich wieder der Spülmaschine zu.

Den Rest des Nachmittags sprach sie allerdings trotzdem nicht mit mir, und ich sprach sie auch nicht an. Immerhin wollte ich sie ja nicht gleich überstrapazieren, auch wenn ihre Angst nun ein wenig zurückgegangen war.

Irgendwann, gegen vier Uhr, tauchte wieder der alte Stammgast auf. Im Gegensatz zu Tanja, bemühte er sich nicht sonderlich mir einen schönen Tag zu machen. Er bestand sogar darauf, dass meine Chefin seine Bestellung aufnahm.

Mir sollte es nur recht sein, dann bekam ich eben Geld für Arbeit, die ich gar nicht gemacht hatte.

Heute war viel mehr los als sonst.

Zwei ältere Damen kamen wenig später herein und machten es sich in einer der ungefähr sieben Sitzgruppen im vorderen Bereich gemütlich. Sie waren sehr freundlich zu mir, weswegen ich mich auch ganz besonders mit ihren Bestellungen beeilte.

Danach kamen noch ein paar jüngere Leute und bestellten, nur um sich dann an die Computer zu setzen und im Internet zu surfen.

Ich war irgendwie ganz froh darüber, dass mehr Gäste da waren als sonst.

So hatte ich immer etwas zu tun und Tanja musste nicht die ganze Zeit mit mir hinter der Theke stehen und sich fürchten. Auch ihr schien das zu gefallen, denn sie war ganz besonders gut gelaunt.

Ich füllte gerade ein Glas mit Orangensaft, als die Türglocke klingelte.

Nichts hätte mich an diesem Tag aus der Fassung bringen können – außer diesem Kerl!

Verdammt, was wollte der hier!?!

Mit einem falschen Lächeln im Gesicht drehte ich mich zu ihm um. „Ich komme gleich zu Ihnen.“ Dann brachte ich den Saft an einen Tisch und kehrte, wenn auch widerwillig, hinter die Theke zurück. „So bitte, was kann ich für Sie tun?“

Der Kerl runzelte kurz die Stirn, musterte mich einen Augenblick lang und bestellte dann einfach eine Tasse Café.

Was für ein Auftrag! Also war er wohl doch wegen mir hier!

Aber warum?

Mir kam es schon fast vor, als würde er mir hinterher schnüffeln, leider konnte ich das aber nicht beweisen. Und was hätte ich schon machen können wenn ich mir sicher gewesen wäre, dass er es tat?

Zur Polizei gehen?

Nein, bestimmt nicht. Ich hatte mich nicht gestellt, also würde ich diesem Typen auch nicht das Leben schwer machen indem ich ihm ein Rudel Bullen an den Hals hetzte.

Obwohl, gereizt hätte es mich in diesem Moment schon irgendwie.

Er saß einfach lässig auf einem der Hocker und rührte in der Tasse.

„Und, bist du rechtzeitig nach Hause gekommen?“ fragte er irgendwann und schaute dabei auf die Tischplatte.

Ich stand gerade mit dem Rücken zu ihm und wischte die hintere Arbeitsfläche mit einem Lappen ab, weil ich zuvor ein bisschen geschüttet hatte. Ruckartig drehte ich mich um und kniff die Augen zusammen. „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht!“ fauchte ich und lehnte mich ein Stückchen zurück.

Der Kerl schien etwas verdutzt über meinen Tonfall zu sein, überspielte dies aber relativ gut.

„Gute Frage. Ich war bloß neugierig.“ Mit diesen Worten formten sich seine Lippen zu einem Lächeln und seine Stimme wurde viel weicher als zuvor.

Ich konnte nicht anders als meine aggressive Haltung aufzugeben und mich etwas zu entspannen. Okay, ich hatte wirklich überreagiert. Er war nur irgendein Fremder, der sich eben dafür interessierte wann ich nach Hause kam.

Ts – ja von wegen!

Der spionierte mir nach! Ich wusste es!

Sofort verschränkte ich die Arme vor der Brust und lehnt mich gegen die dicke Holzplatte hinter mir.

„Warum schnüffeln Sie mir nach?“ fragte ich und zog dabei eine Augenbraue hoch.

Tja, Volltreffer würde ich sagen! Der Kerl schnitt Grimassen, bei denen ich schon befürchtete er habe Krämpfe. Irgendwann kriegte er sich dann aber doch wieder ein und sah mich aus weit aufgerissenen Augen an.

„W-wie bitte?“ fragte er leicht stotternd.

„Sie haben schon richtig gehört.“ Ich legte den Kopf schief, damit ich ihn besser mustern konnte.

Seine Mundwinkel zitterten leicht und nun war seine gesamte Körperhaltung angespannt.

„Wie kommst du drauf, dass ich dir nachschnüffle?“ Er flüsterte jetzt nur noch und beugte sich über die Theke, damit nur ich ihn hören konnte.

Ich setzte ein Grinsen auf. Gewonnen!

„Ich habe Sie zum ersten Mal in dieser Konditorei gesehen. Seitdem tauchen Sie jeden Tag hier auf und als ich im Wald war, waren Sie auch auf einmal da. Ich kann mich ja auch täuschen, aber das können doch alles keine Zufälle sein oder?“

Das Gesicht des Mannes versteinerte. Es sah aus als würde er eine Maske tragen, so ausdruckslos war seine Züge in diesem Moment.

Ich konnte mir ein triumphierendes Kichern nicht mehr länger verkneifen, schaffte es aber vorher noch mich umzudrehen, damit der komische Kautz es nicht mitbekam.

„Was gibt’s da zu lachen?“ Die Stimme des Fremden war auf einmal gar nicht mehr so leise.

Er schien ziemlich aufgebracht zu sein, obwohl seine Gesichtszüge immer noch versteinert waren.

„Tut mir leid, ich wollte Sie nicht beleidigen.“ Ich drehte mich sofort wieder zu dem Gast um und schaute ihm schuldbewusst ins Gesicht.

Er senkte aber einfach nur den Blick und tat so als wäre ich nicht da.

Egal wie alle anderen jetzt auf mich reagierten, der Kerl war mir trotzdem noch unheimlich.

Ich beschloss der kläglichen Pflanze hinten bei den Computern einen Schluck Wasser zu spendieren und ging davon.

Tanja war vor einer ganzen Weile in die Garderobe verschwunden. Wahrscheinlich telefonierte sie schon wieder, aber ihre Privatgespräche gingen mich ja nichts an.

Mir war zwar schleierhaft wie sie einem völligen Neuling in diesem Gewerbe einfach den Laden überlassen konnte, aber das zeigte doch nur, dass ich gut arbeitete, oder?

Der Kerl saß immer noch angespannt auf dem Hocker als ich zurückkam.

„Ich möchte dann bitte bezahlen“, flüsterte er mit leicht brüchiger Stimme.

Ich musste ihn wohl ganz schön beleidigt haben, wenn er so reagierte.

Wahrscheinlich war nur meine, viel zu lebendige, Fantasie mit mir durchgegangen.

„Okay.“

Er überreichte mir einen Schein, den ich sofort in die Kasse legte und das Restgeld zusammensuchte.

Dann hielt ich ihm die Hand mit den Münzen hin.

„Hier bitteschön. Ach ja, danke, dass Sie mich neulich mitgenommen haben…“

Er nickte nur, nahm das Geld und ging.

Ich biss auf meiner Unterlippe herum. Hoffentlich hatte ich jetzt nicht einen von Tanjas Gästen davon gescheucht, das wäre nämlich schlecht für meine Kariere – jedenfalls wenn sie es erfuhr.

Nachdem der verärgerte Gast gegangen war, verschwanden langsam aber sicher auch alle anderen.

Zuletzt gingen die beiden älteren Damen, aber nicht ohne mir vorher noch einmal zuzuwinken, was ich nur freudig erwiderte. Schön, dass wenigstens diese beiden kein bisschen Angst gezeigt hatten.

Ich schnaufte kurz durch, dann ging ich nach hinten in die Garderobe.

Wie ich schon vermutet hatte, saß Tanja in einer Ecke und plapperte unermüdlich in den Telefonhörer.

Ich lächelte ihr nur kurz zu und machte ihr dann klar, dass ich jetzt abschloss. Sie nickte und war nicht einmal eine Sekunde später schon wieder in ihr Gespräch vertieft.

Ich hatte in meinem ganzen Leben vielleicht fünf Mal ein Telefon benutzt, und fand die Von-Angesicht-Zu-Angesicht-Methode doch um einiges besser.

Den kahlen, düsteren Gang hatte ich schon sehr bald hinter mir gelassen und umkurvte jetzt die Theke um zur Tür zu gehen.

Nachdem ich abgeschlossen und das Geöffnet-Schildchen auf geschlossen gedreht hatte, schaltete ich noch schnell alle Rechner aus und machte mich dann wieder auf den Weg zur Garderobe.

Tanja hatte unterdessen von der sitzenden in die stehende Position gewechselt, was ihrem Sprechfluss keinen Abbruch tat. Ich winkte ihr zu und schlüpfte anschließend durch die Hintertür hinaus.

Hier, zwischen den Häusern, war es eisig kalt. Immer wieder fielen große Tropfen vom Himmel und landeten auf dem Asphalt zu meinen Füßen. Nicht mehr lange und es würde wie aus Eimern schütten. Ich musste mich also ein bisschen beeilen, falls ich trocken heim kommen wollte.

Auch wenn der Weg zum Motel wirklich nicht lange war, erwischte mich der Regen gerade als ich die Stufen zur Tür hinaufstieg.

Ein paar Tropfen trafen mich an den Schultern, andere am Kopf. Naja, schaden würde mir das bisschen Wasser sicher nicht – ich war ja nicht aus Zucker.

Was mir als erstes auffiel als ich durch die Tür trat war die stickige Luft im Motel.

Warum das so war konnte ich mir ja denken.

Außer der Tür hatte dieses Stockwerk keine andere Möglichkeit belüftet zu werden, und die Eingangstür war niemals offen – zu meinem Pech, denn sonst hätte ich mir viel Kraft gespart.

Wegen des Sauerstoffmangels im Treppenhaus, war der Aufstieg zu meinem Apartment sehr viel anstrengender als das letzte Mal.

Völlig aus der Puste musste ich erst einmal richtig durchatmen bevor ich aufschließen konnte. Die Luft in meinem Zimmer war doch um einiges angenehmer.

Bis auf den leichten Duft nach Putzmittel roch es hier angenehm frisch, was wohl auch davon kam, dass ich einen der Fensterflügel gekippt hatte, bevor ich gegangen war.

Müde und erschöpft vom langen Arbeitstag schmiss ich mich rücklings aufs Bett, das mein Gewicht abfederte, als wäre ich federleicht.

Eigentlich hatte ich noch vorgehabt zu duschen bevor ich ins Bett ging, aber der Schlaf übermannte mich so plötzlich, dass ich keine Chance hatte.

Mit einem leisen Seufzer glitt ich ins Reich der Träume.

 

 

5. Kapitel

 

Zwei Wochen später….

Ich hatte wirklich geglaubt, dass mein Leben wieder normal werden könnte, nach diesem Tag im Café.

Leider hatte ich mich geirrt.

Nichts war normal.

Noch in derselben Nacht hatte ich wieder getötet.

Am Morgen darauf war ich völlig fertig gewesen. Am liebsten hätte ich mein Zimmer den ganzen Tag nicht verlassen. Aber es war Dienstag, und so hatte ich zur Arbeit gehen müssen, wenn ich meinen Job nicht verlieren wollte.

Was mich bei der Arbeit erwartete, hatte ich ja eigentlich schon gewusst. Tanja war abweisender als je zuvor und die Gäste bekamen panische Angst, wenn ich ihnen zu nahe kam.

Ich hatte mich bemüht alles mit einem falschen Lächeln zu überspielen, aber an diesem Tag hatten mich meine begrenzten, schauspielerischen Möglichkeiten jämmerlich im Stich gelassen.

So sehr ich mich auch bemüht hatte, alles was ich zustande brachte war eine kläglich wirkende, Angst einflößende Grimasse. Natürlich hatte das nicht gerade dabei geholfen, diesen Tag gut zu überstehen.

Das einzige, was mich etwas getröstet hatte, war, dass der komische Typ nicht kam.

Normalerweise war er immer zwischen drei und vier Uhr aufgetaucht, und als er das an diesem Tag nicht getan hatte, konnte ich nicht anders als durchzuatmen.

Hätte ich nur nicht den restlichen Tag arbeiten müssen.

Tanja war viel früher in der Garderobe verschwunden als sonst, und das hatte etwas zu bedeuten. Sie musste wirklich furchtbare Angst vor mir haben, obwohl sie sie wirklich tapfer überdeckte – oder es zumindest versuchte.

Und so waren die Tage langsam vergangen. Einige, wenige verflossen zu meinem Glück rasch, aber die meisten hatten sich hingezogen wie alter Kaugummi.

Mir war während dieser Zeit so einiges aufgefallen.

Zum Beispiel, dass ich nie das Verlangen nach Essen oder Trinken verspürte.

Mein Körper hatte nie auch nur ansatzweise angedeutet, dass er Wasser oder Nahrung bräuchte.

Einmal hatte ich dann versucht etwas Normales zu essen – es war ein einfaches Butterbrot gewesen – hatte aber feststellen müssen, dass ich es einfach nicht vertrug. Mir war übel geworden und ich musste mich länger als eine Stunde dauernd übergeben.

Ich hatte schon mit dem Gedanken gespielt zum Arzt zu gehen, aber mein Aussehen war einfach nur abschreckend. Meine Augen leuchteten geradezu, ich hoffte immer, dass alle glaubten ich trüge Kontaktlinsen. Dieses grelle, stechende Türkisblau sah alles andere als natürlich aus und war schließlich auch der Grund, warum ich den Gästen in Tanjas Café nicht mehr in die Augen sah, wenn ich ihre Bestellung aufnahm.

Aber nicht nur meine Augen sahen gruslig aus.

Meine Haut war am ganzen Körper extrem bleich. Wenn die Sonne schien und ich auf der Straße unterwegs war – was nicht oft vorkam – strahlte ich wie eine Leuchtreklame weil meine Haut das Licht in alle Richtungen reflektierte.

In den letzten fünf Tagen hatte ich mein Apartment deshalb auch nur verlassen um zur Arbeit zu gehen.

Allein auf dem Weg zum Café zog ich so viel Aufmerksamkeit auf mich, dass die Leute manchmal sogar mit dem Finger auf mich zeigten – natürlich aus reichlicher Entfernung.

Mein Leben war nicht mehr das, was es hätte sein sollen.

Ich hatte nie so leben wollen, wie ich es jetzt tat – und ich wünschte es auch niemandem.

Ich war ein Einsiedler, sprach mit niemandem und hatte keine Freunde.

Selbst Tanja, die – trotz meiner dunklen Ausstrahlung – relativ freundlich zu mir gewesen war, wurde jedes Mal nervös und gleichzeitig wütend wenn ich zur Arbeit kam, das konnte ich richtig spüren.

Ich wusste, dass sie nur auf einen Fehler von mir wartete um mich feuern zu können. Also bemühte ich mich in letzter Zeit noch mehr um einen guten Eindruck bei ihr zu hinterlassen.

Was sich in meinem Leben allerdings am drastischsten geändert hatte, waren die Nächte.

Es gab keine mehr, die ich in meinem Bett verbrachte.

Die letzte die ich überstanden hatte, ohne ein Kind zu töten war, als ich auf der Straße schlafen musste.

Das lag jetzt schon zwei Wochen zurück.

Seitdem war in jeder einzelnen, verfluchten Nacht mindestens ein Kind gestorben, und ich hatte jedes Mal hilflos dabei zusehen müssen. Irgendwann hatte ich aufgehört dagegen anzukämpfen, weil es mich einfach innerlich aufgezehrt hatte. Ich wusste, dass es keinen Sinn machte und ließ es einfach.

Und so verging, selbst für mich, die Zeit.

Die Bewohner der Stadt wurden immer panischer. Einige Familien zogen weg, weil sie Angst um ihre Kinder hatten. Die Polizei in der Stadt war in ständiger Alarmbereitschaft. Sie holten sich sogar Hilfe aus den umliegenden Orten, weil sie einfach überfordert waren. Bereits in der ersten Woche machten mehr Männer einen Waffenschein, als im ganzen vergangenen Jahr. Die Frauen schmissen ihre Jobs um ständig bei ihren Kindern sein zu können. In einigen Vierteln der Stadt schoben Männer jede Nacht Wache und schossen auf fast alles, was sich ihrem Haus näherte.

Andere bauten Sicherheitsvorrichtungen in und um ihre Wohnungen auf – ohne Erfolg. Zweimal hatte ich mich bereits ungehindert in ein solches, gesichertes Gebäude schleichen können, ohne dass es jemand bemerkt hatte. Das war allerdings, bevor die Leute anfingen, mit Wachhunden herumzulaufen und alles und jedem zu misstrauen.

Ich war ein Schatten, den man weder fassen, noch sehen konnte. Wenn mein Körper die Kontrolle über mich hatte, war ich zu Dingen fähig, die ich sonst nie geschafft hätte.

Das Erklettern von Häuserfassaden wurde zu einer einfachen Übung für mich.

Nach etwas mehr als einer Wochen merkte ich auch, dass meine Arme und Beine kräftiger wurden, und ich nicht mehr so leicht außer Atem kam wie früher.

Allerdings waren nun auch immer mehr Leute auf der Straße als sonst. Jeder war wachsam. An vielen, öffentlichen Plätzen wurden Überwachungskameras installiert, die verdächtige Personen filmen sollten.

Ich hatte keine Ahnung, wie viele Männer und Frauen pro Nacht festgenommen und verhört wurden, nur weil irgendjemand dachte, dass sie die Mörder sein könnten.

In einem Wort also: Die Stadt war zur Festung geworden.

Und ich?

Ich verhielt mich immer merkwürdiger. Ich vertrug das Essen nicht mehr, das mir vor ein paar Wochen noch geschmeckt hatte. Das führte dazu, dass ich viel Gewicht verlor. Durch meine neu gewonnenen Muskeln sah ich nun dürr und knochig aus.

Tanja hatte mich mehr als einmal – wenn auch in aggressivem Tonfall – gefragt, ob ich krank sei. Ich hatte ihr immer versichert, dass es mir gut ginge.

Das war ja wohl die größte Lüge meines Lebens!

Mir ging es, weder körperlich, noch seelisch, gut. Mein Leben war eine einzige Katastrophe.

Ich hätte noch einen Selbstmordversuch gestartet, wenn ich nicht gewusst hätte, dass es sowieso zu nichts führte.

Jeden Tag, wenn ich das Café verließ und ins Motel zurückkehrte, hatte ich Panik. Ich versuchte so lange wie möglich wach zu bleiben, um meinen nächtlichen Streifzug wenigstens hinauszuzögern. Manchmal war ich bis zwei Uhr wach, schaffte es aber irgendwann einfach nicht mehr meine Augen geöffnet zu halten und schlief doch ein.

Und dann war ich, nicht einmal eine halbe Stunde später, schon auf dem Weg zu meinem nächsten Opfer. Mein Spaziergang dauerte meist nicht einmal eine Stunde. Wie ich danach wieder in mein Apartment zurückkam wusste ich nicht.

Mein Gedächtnis versagte immer, kurz nachdem ich den Energieball in mir aufgenommen hatte und sich das eisige Gefühl in mir ausbreitete.

Und am Morgen danach wachte ich auf und wusste ganz genau, was ich getan hatte.

Selbst jetzt, nach zwei Wochen des Mordens, konnte ich mich immer noch an die Gesichter, all meiner Opfer erinnern.

Sie waren alle so schrecklich jung gewesen.

In der vergangenen Woche, hatte ich ein Mädchen getötet, das noch nicht einmal die Augen öffnen konnte.

Ich hasste mich selbst und dieser Selbsthass sprang auf alles und jeden über, dem ich begegnete. Nicht, dass sie mich sonst gemocht hätten. Die Menschen gingen mir jetzt nicht mehr nur aus dem Weg, nein, sie warfen mir wütende Blicke zu. Bei manchen ging es sogar so weit, dass sie ihre Hände zu Fäusten ballten – einfach so.

Sie wussten nicht einmal, warum sie mich eigentlich hassten. Es war ein Reflex.

Es tat mir weh, wenn sie das taten, auch wenn ich wusste, dass ich es verdiente. Nur leider, bekam mein Herz jedes Mal einen weiteren Riss, wenn mir so etwas passierte.

Heute war wieder einer dieser Tage, an denen ich mir wünschte, nicht aufgewacht zu sein.

Nur langsam öffnete ich meine Augen. Es war eine Art Gewohnheit von mir geworden, langsam zu erwachen und ganz sicher zu gehen, dass ich selbst die Kontrolle über meinen Körper hatte.

Erst wenn ich mir dessen ganz sicher war, stand ich auf und ging ins Bad.

Den Spiegel hatte ich mit einem Handtuch abgedeckt. Ich wollte mein Gesicht nicht sehen – am besten niemals wieder!

Selbst jetzt, nachdem ich gerade erst aus dem Bett gekrochen war, fühlte ich mich müde.

Inzwischen wartete ich schon gar nicht mehr ab, bis das Wasser einigermaßen warm war. Mit ein bisschen Glück bekam ich ja einen Herzinfarkt und starb endlich, damit es vorbei war.

Ja, solche Gedanken hatte ich immer. Jeden Tag, jede Sekunde.

Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als die Erlösung durch den Tod.

Meine nächtlichen Taten machte mich seelisch so fertig, dass ich den Tod mit offenen Armen empfangen hätte. Ich ging sogar extra langsam über die Straße – ich wollte jede Chance nützen.

Leider, hatte mich bis jetzt noch niemand überfahren – noch nicht einmal ansatzweise.

Ich stand nur sehr kurz in der Dusche, nur um die Nacht von mir zu waschen. Dann ging ich zum Waschbecken, spritze mir etwas Wasser ins Gesicht und verließ das Badezimmer.

Im Schlafzimmer ging ich, wie jeden Tag, zum Kleiderschrank und zog die Schublade mit meiner Wäsche heraus.

Dreimal war ich inzwischen wieder bei der Wäscherei gewesen. Trotzdem würde es bald wieder Zeit werden, meine Klamotten zu säubern, sonst hätte ich Tanja ihren Grund für meine Entlassung bald geliefert.

Ich nahm eines der sauberen T-Shirts und eine schwarze Jeans und schlüpfte hinein.

Das Oberteil hing wie ein Kartoffelsack an meinem Körper und die Hose war eindeutig viel zu groß. Mir fehlte aber das Geld für neues Gewand. Ich musste also das alte Zeug behalten, bis ich genug zusammengespart hatte.

Es war sowieso egal was ich anhatte, ich war ein Außenseiter.

Heute war es schon viel später als sonst – schon fast halb elf.

Die Zeit reichte zwar nicht aus um die Wäsche zu waschen, aber um zur Arbeit zu gehen war es eindeutig noch zu früh. Ich warf mich aufs Bett und starrte die Decke an.

Sie war schneeweiß – wie immer. Ich hob meine Hand. Wenigstens neben dem weißen Anstrich der Decke hatte sie etwas Farbe. Nur leider die Falsche!

Statt ins braun oder wenigstens rosa zu gehen, wirkte sie bläulich. Ich seufzte und ließ meine Hand wieder sinken.

Das war alles einfach nur unfair!

Ich hatte nie irgendetwas Schlechtes getan. Und jetzt sollte ich mein Leben damit verbringen, kleine Kinder zu töten?

Ich wischte mir mit der Hand übers Gesicht und richtete mich dann auf.

Es war Zeit zu gehen. Langsam, wie aus einer Starre erwacht, zog ich mein Arbeitsgewand an und ging auf die Tür zu.

Draußen schloss ich noch ab, danach ging ich hinunter.

Mit jedem Tag, den ich hier verbrachte, schien der Weg zur Arbeit mühsamer zu werden. Es fühlte sich an wie eine Strafe.

Viel zu schnell brachte ich die knarrenden Stufen der Treppe hinter mich. Die Eingangstür war geschlossen – wie immer.

Mühsam stemmte ich sie auf und trat auf die Straße. Die Sonne schien mir entgegen – das tat sie in letzter Zeit öfters. Eine leichte Brise bewegte die warme Luft und sorgte für etwas Abkühlung. Es musste mindestens zwanzig Grad haben.

Was mir noch aufgefallen war: Mein Körper verspürte keine Hitze oder Kälte. Es war irgendwie immer gleich warm.

Ich kam mir nur etwas komisch vor, weil ich als einzige mit einem langärmligen T-Shirt unterwegs war, aber sollten sich die Menschen halt das Maul über mich zerreißen – das taten sie ja sowieso schon.

Langsam überquerte ich die Straße, auf der heute viel mehr Verkehr war als sonst immer – allein in der kurzen Zeit in der ich nun im Freien war, fuhren zwei Polizeiautos vorbei -, und bog nach ein paar Metern in die Gasse ein. Hierher kam keine Sonne.

Die Metalltür war nur angelehnt, so dass ich mich nicht ganz so anstrengen musste wie gewöhnlich. Ich schob mich durch einen Spalt, der gerade mal breit genug war, dass ich durch passte und blickte mich in der Garderobe um.

Tanja war, zu meiner Verwunderung, nicht hier. Wahrscheinlich machte sie vorne schon einmal alles fertig. Ich zog die Tür hinter mir zu und ging dann in den Gastraum.

Und tatsächlich, sie beugte sich gerade hinunter und wollte einen der PCs einschalten, als sie mich bemerkte. Sofort erstarrte sie in der Bewegung und schaute mich aus schmalen Augen an.

Ich versuchte sie anzulächeln, aber es misslang mir einmal mehr. Man würde nie glauben wie schwer es sein kann zu lachen, wenn man in meiner Situation ist. Ich konnte es einfach nicht mehr.

Tanja zeigte keine Regung und starrte mich weiterhin an. Ich stellte mich mit dem Rücken zu ihr und fing an, die Spülmaschine auszuräumen – meine Hauptaufgabe hier.

Kurze Zeit später erschien meine Chefin neben mir und blätterte eine der Zeitungen auf der Theke auf. Sie tat so, als wäre ich nicht hier, und ich war dankbar dafür.

Doch auch wenn sie so tat, als würde sie sich nicht vor mir fürchten, ich sah die Gänsehaut, die meine bloße Anwesenheit auf ihren Unterarmen verursachte, trotzdem.

Verletzt senkte ich den Blick und griff meine eigentliche Arbeit wieder auf. Fünf Minuten später kamen die ersten Gäste.

 

Der Tag hatte keine Besonderheiten gebracht. Es war ziemlich ruhig gewesen, was wohl auch an dem extrem hohen Temperaturen und dem Sonnenschein draußen lag. Mich wunderte es nicht, dass so gut wie keine Gäste kamen. Na gut, die meisten Stadtbewohner waren wahrscheinlich dabei ihre Wohnungen zu sichern und sich Waffen zu kaufen.

Tanja drehte das Schild am Eingang heute viel früher um als sonst – schon um halb sieben. Mit einem einfachen, wortlosen Nicken entließ sie mich für diesen Tag.

Ohne irgendetwas zu sagen ging ich durch die Garderobe in die leere Gasse. Es war immer noch relativ warm. Ich drückte die Tür ins Schloss und ging auf die Hauptstraße zu. Irgendwie fühlte ich mich merkwürdig – noch merkwürdiger als sonst.

Und das hatte schon etwas zu bedeuten!

Nervös schaute ich mich um. Ein paar Autos standen am Straßenrand – wie immer eben – und auf der anderen Straßenseite spazierte eine junge Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand und schaute sich verängstigt um.

Die Situation sollte für mich nicht so eine Gefahr darstellen, oder?

Aber aus irgendeinem Grund, den ich einfach nicht zu fassen bekam, fühlte ich mich genau in diesem Moment gefährdet. So vorsichtig wie schon lange nicht mehr, überquerte ich die Straße und schaute immer wieder über meine Schultern – aber nichts war zu sehen.

Mich ließ das Gefühl nicht los, dass hier irgendetwas gewaltig faul war.

Eilig stieg ich die paar Stufen zur Eingangstür des Motels hinauf, lehnte mich gegen diese und trat ein.

Im Raum dahinter war es dunkel und kühl wie immer. Ich hatte mich inzwischen schon so daran gewöhnt im Dunkeln gut sehen zu können, dass es mich schon gar nicht mehr störte. Auch, dass ich alles mit einem Blaustich sah war nichts Neues mehr für mich.

Immer noch verängstigt hastete ich die Stufen hinauf, bis ich vor meiner Tür anhielt.

Wie gesagt verschafften mir die nächtlichen Streifzüge gute Kondition und mehr Kraft, aber darauf hätte ich liebend gern verzichtet. Der Preis, den ich dafür zahlen musste, war viel zu hoch.

Mit zitternden Händen schob ich den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn so lange, bis ein leises Klacken mir verriet, dass ich nun eintreten konnte. In meinem Zimmer roch es wieder nach Putzmittel. Langsam aber sicher ging mir dieser brennende Geruch nach Chemie schon auf die Nerven.

Ich knallte die Tür hinter mir zu und sackte zusammen.

Was sollte das jetzt?

Mein Körper zitterte, als würde er auf einem Presslufthammer sitzen. Ich hatte keine Schmerzen, oder sonstige Beschwerden und konnte mir darum auch nicht wirklich denken, was das zu bedeuten hatte. Einige Minuten lang ging es so weiter, dann beruhigten sich meine Gliedmaßen wieder.

Ich schnappte nach Luft.

So etwas war mir noch nie in meinem Leben passiert!

Jetzt hatte ich noch mehr Angst als vorhin auf der Straße. Irgendetwas war heute anders, ich hatte es doch gleich gewusst.

Müde richtete ich mich auf und schlurfte ins Badezimmer. Zum ersten Mal seit langer Zeit, zog ich das Handtuch wieder vom Spiegel und schaute mich an.

Es hatte sich nichts verändert. Meine Haut war bleich, meine Augen stechend Türkis und die Farbe meiner Lippen ging ins Bläuliche.

Und ich blutete aus der Nase!

Schnell ging ich zur Toilette und raffte etwas Papier zusammen um es mir ins Gesicht zu drücken. Jetzt erst fiel mir auf, dass ich auch schon lange nicht mehr aufs Klo musste – lag wahrscheinlich daran, dass ich nichts aß!

Einige Minuten lang presste ich das Toilettenpapier gegen meine Nase und hoffte, dass es aufgehört hatte. Nachdem ich das Papier wegnahm und im Spiegel prüfte, ob noch immer Blut aus meiner Nase tropfte, atmete ich erleichtert aus – es war nichts mehr zu sehen.

Ich spritzte mir etwas Wasser ins Gesicht und legte mich dann im Schlafzimmer aufs Bett.

Warum war ich bloß auf einmal so müde und erschöpft?

Ich schloss kurz die Augen, rief mir dann aber in Erinnerung, dass ich jetzt noch nicht schlafen konnte.

Oder besser gesagt durfte.

Ich wollte es machen wie immer und das Unvermeidliche so lange wie möglich hinauszögern – nur an diesem Tag gelange es mir nicht.

Es dauerte nicht einmal fünf Minuten und ich hatte den Kampf verloren. Ich schlief ruhig ein.

 

Wie immer wachte ich mitten in der Nacht auf, weil sich meine Augen von selbst öffneten.

Ich wollte das nicht, aber ich konnte nichts tun – wie schon so oft.

Einem Zombie ähnlich richtete ich mich auf und bewegte mich mit eckigen Bewegungen auf die Tür zu. Es war erst einmal vorgekommen, dass ich mit normalen Klamotten das Haus verließ, aber das konnte mich nicht trösten.

Wie immer folgte der Sprung in die Tiefe und wie immer musste ich dabei zusehen.

Die Eingangstür öffnete sich beinahe von selbst und das Mondlicht schien mir durch die entstandene Öffnung entgegen.

Ein Auto fuhr vorbei, dann war die Straße menschenleer und in das silberne Mondlicht getaucht.

Ich drehte mich nach links und schob mich an der Hauswand entlang. Hier führten viele schmale Gassen von der Hauptstraße weg. Ich benutzte wieder die alt bewährte Klettertechnik um auf ein zerfallendes Gebäude zu kommen.

Oben wartete ich ein paar Sekunden, um sicher zu stellen, dass ich unbeobachtete war und stürmte dann los.

Das Dach war sehr schmal und leicht geneigt, aber das machte mir nichts aus. Ich rannte weiter und stieß mich kurz vor der Kannte ab. Auf dem benachbarten Dach wurde mir die Luft aus den Lungen gepresst, weil der Aufprall fiel härter war als gewöhnlich, aber ich federte ihn trotzdem mit Leichtigkeit ab und stand Sekunden später schon auf der anderen Seite des Gebäudes. Unten herrschte reges Treiben.

Ein Mann führte einen großen, dunklen Hund an einer Leine am Bürgersteig auf und ab.

Vorsichtig schwang ich mich über den, leicht erhöhten, Rand und hielt mich an einem Rohr fest das in die Tiefe führte. An diesem konnte ich auch bequem hinab rutschen.

Ein leises Platschen war zu hören, als ich in einer Pfütze landete. Ich hielt die Luft an und presste mich mit dem Rücken so fest wie möglich gegen die Wand. Als ich mir sicher war, dass der Hund nichts gehört hatte, lief ich weiter durch die dunkle, enge Gasse.

Ich weiß nicht, wie lange ich so durch die Straßen der Stadt schlich, aber es musste bestimmt einige Zeit vergangen sein. Und irgendwann kam eine hell erleuchtete Wohnung in Sicht.

Da wollte ich jetzt doch wohl nicht hin oder?

Die Menschen, die dort lebten, waren noch wach! Sie würden mich sehen! Außerdem fuhr in diesem Moment ein weiteres Polizeiauto die Straße entlang und ich wusste ganz genau, dass die Beamten sofort auf mich schießen würden.

Nach einigem Zögern rannte ich weiter auf das Haus zu und kletterte gut drei Meter die Fassade hinauf, jede Ritze ausnützend. Am Fensterbrett krallte ich mich schließlich fest und hielt inne.

Ein hellblauer Vorhang verdeckte mir die Sicht, aber das Verhalten meines Körpers zeigte eindeutig, dass sich nur noch eine dünne Glasscheibe zwischen mir und meinem Opfer befand.

Ich hing mindestens fünf Minuten reglos an diesem Fensterbrett, doch dann bewegte ich mich ohne Vorwarnung wieder und hangelte mich noch ein Stück nach oben – und schlug mit der bloßen Faust das Glas ein. Das Geräusch war viel zu laut! Ich zuckte innerlich zusammen.

Es klirrte und ein Scherbenregen ergoss sich über mich. Ich senkte nur kurz den Blick um keine Splitter in die Augen zu bekommen, dann schwang ich mich in den Raum.

Das typische Kinderzimmer – wie immer.

Bunte Bilder an den Wänden, kleines Nachtlicht in der Ecke und ein Bettchen mit einer kuschligen Decke. Und in einem Schaukelstuhl in der Ecke neben dem Bett saß eine junge Frau.

Kurz dachte ich, sie würde aufwachen, aber sie drehte sich nur leicht nach links. Wahrscheinlich hatte sie tagelang neben dem Bett ihres Kindes gewacht und war nun von der Müdigkeit überrumpelt worden.

Völlig geräuschlos schlich ich an ihr vorbei und trat an das Bettchen. Ich riss die Wolldecke von dem kleinen Körper und hielt ihr – es war ein Mädchen – den Mund zu, bevor sie überhaupt reagieren konnte.

Der Kampf dauerte nicht lange. Ein paar Mal wand sich die Kleine unter mir, dann war es vorbei. Immer wieder warf ich dabei einen Blick über meine Schulter und schaute nach, ob die Mutter nicht doch aufgewacht war. Dann erschien wieder der Energieball und ich nahm ihn in mich auf.

Die Kälte erfüllte mich und ich fühlte mich geschwächt und gleichzeitig kam ich mir vor wie der stärkste Mensch auf der Welt. Doch dieses Gefühl erfüllte nur meinen Körper, nicht aber mein Gehirn, denn das steuerte immer noch ich. Und ich wusste, dass das was ich tat furchtbar war – und unverzeihlich.

Mit einem letzten Blick auf die Frau in der Ecke schwang ich mich aus dem Fenster und landete auf Händen und Füßen auf dem Bürgersteig.

Anders als sonst wurde es jetzt aber nicht schwarz, sondern blieb wie es war. Wieder rannte ich los und begriff, dass ich noch nicht fertig war. Dieses kleine Mädchen sollte nicht mein letztes Opfer in dieser Nacht gewesen sein!

Ich war entsetzt.

Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit kämpfte ich wieder mit mir. Ich versuchte einfach nur meine Finger zu bewegen und zuerst dachte ich tatsächlich, dass ich es schaffen könnte, aber mir wurde bald klar, dass das nicht stimmte.

Ich rannte immer noch und blieb plötzlich abrupt stehen. Vor mir auf der Straße patroulierten drei Männer mit Gewehren über den Schultern und verschränkten Armen.

Nachdem diese um die nächste Ecke verschwunden waren, drehte ich mich nach rechts, schaute nach oben und sprang ohne Vorwarnung gegen die Wand die vor mir ungefähr zehn Meter in die Höhe ragte.

Wieder krallten sich meine Finger in den Putz und ich wunderte mich, dass sie nicht bluteten. Mein Körper war unbeeindruckt von diesen Strapazen, und ich hatte auch noch nie Kratzer an mir entdeckt wenn ich morgens aufwachte, aber ich fragte mich doch, wie das überhaupt möglich sein konnte.

Immer weiter kletterte ich mich nach oben. Ich war mir sicher, dass es richtig gruslig, ja sogar abartig aussah, was ich da gerade tat- gut, dass es dunkel war. Ich blickte nicht einmal hinunter während ich mich das Gebäude hochzog.

Plötzlich hörte ich ein leises Zischen und im nächsten Moment spürte ich einen brennenden Schmerz in meiner Schulter.

Moment!

Ich spürte den Schmerz!

Das war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt um die Kontrolle über seinen Körper zurückzubekommen!

Ich war mindestens fünf Meter hoch geklettert und genauso tief würde ich jetzt gleich fallen. Und in genau dem Moment passierte es auch schon.

Meine Finger fanden keinen Halt mehr in der Wand und ich fiel rückwärts in die Tiefe. Der Aufprall war extrem hart, allerdings bei weitem nicht so hart, wie wenn ich auf dem Boden aufgeschlagen wäre. Mein Körper wurde von etwas weichem aufgefangen und blieb dann starr vor Schreck liegen.

Anscheinend war ich auf einer Art Matte aufgeschlagen, die irgendjemand dorthin gelegt haben musste, nachdem ich losgeklettert war.

Aber wer?

Die Patrouille war zurückgekommen, schoss es mir durch den Kopf.

Ich bewegte hektisch meine Augen über den Himmel, der sich über mir erstreckte. Dann drehte ich langsam meinen Kopf nach links, aber auch dort konnte ich nichts und niemanden entdecken.

Ein brennender Schmerz ließ mich aufschreien als ich nach rechts schauen wollte. Irgendetwas musste mich an der Schulter getroffen und ziemlich stark verletzt haben.

Aber was? Und wer wusste, dass ich hier war? Und warum ich hier war…

Beim zweiten Versuch schaffte ich es unter großen Schmerzen doch, meinen Kopf in die andere Richtung zu drehen und wünschte mir sofort, es nicht getan zu haben. Drei Männer schritten aus einer Seitenstraße auf mich zu. Sie hatten mich also doch gefunden!

Der Mond erhellte zwar die breite Hauptstraße auf der ich mich befand, aber nicht diese schmalen Gassen.

Ich wusste nicht genau wer da auf mich zukam, aber ich wusste, dass ich mich lieber verdrücken sollte.

Ich litt Höllenqualen als ich mich aufrichtete. Mit der einen Hand griff ich nach meiner Schulter, um zu ertasten, wie tief die Wunde war. Gleichzeitig stolperte ich los.

Anscheinend hatten auch meine Beine bei dem Sturz etwas abbekommen, denn ich bewegte mich extrem langsam und kam fast nicht von der Stelle.

Ich hörte Schritte hinter mir, die immer näher kamen. Schließlich holten sie mich in einer dieser dunklen Gassen ein. Mit einem kräftigen Tritt in meine Kniekehlen sank ich zu Boden und wimmerte wie ein verletzter Hund.

Ich drehte mich vorsichtig auf den Rücken, sehr darauf bedacht mit meiner verletzten Schulter nicht den Boden zu berühren, und starrte die drei Männer an, die wie Hochhäuser über mir aufragten und mich umzingelten.

Gut, ich wollte ja unbedingt sterben. Wenn es also jetzt so weit war, dann sollte es so sein.

Dann könnten die Kinder der Stadt wieder ohne Angst leben.

 

6. Kapitel

 

Ein stechender Schmerz ließ mich aufzucken. Langsam fing ich an mich zu bewegen und fuhr mir mit den Fingern übers Gesicht. Auf meiner Stirn deutete ein klebriger Fleck an, dass ich blutete – oder geblutet hatte.

Allerdings stammte der Schmerz, der mich geweckt hatte, nicht von dieser Wunde. Ein kräftiges Pochen im Hinterkopf ließ mich fast verrückt werden. Außerdem war das Brennen in meiner Schulter keinesfalls verschwunden.

Aber was war eigentlich passiert?

Das Letzte an das ich mich erinnerte war, dass ich auf dem Boden lag und zu diesen drei Kerlen hochgeschaut hatte. Dann hatte ich wohl einen Schlag bekommen und war ohnmächtig geworden. Tja, und wo ich jetzt war wusste ich nicht.

Es war stockdunkel und roch nach feuchtem Beton. Vielleicht in irgendeinem Keller. Auf jeden Fall gab es hier weder ein Fenster noch irgendeine andere Lichtquelle. Wie lange ich schon hier war wusste ich auch nicht. Vielleicht waren seit meinem Absturz schon Tage vergangen, vielleicht aber auch nur ein paar Stunden.

Langsam richtete ich mich auf und achtete dabei besonders auf meine verletzte Schulter.

Obwohl ich, wegen der Dunkelheit, nichts sehen konnte, musste doch irgendwo eine Öffnung sein, denn irgendwie musste ich hier ja reingekommen sein. Jetzt fing ich auch noch an zu zittern.

Kein Wunder, immerhin trug ich immer noch mein kurzes T-Shirt von der Arbeit und Jeans. Schuhe hatte ich keine an, die hatte ich mir abgestreift, als ich mein Apartment betreten hatte.

Also war mir kalt und ich hatte Angst.

Wunderbar!

Mit zittrigen Beinen stellte ich mich auf und streckte die Hände aus, um, erstens, nicht gegen ein Hindernis zu knallen, und, zweitens die Wand finden zu können.

Der Raum schien nicht allzu groß zu sein, denn nach einem Schritt war auch schon wieder Schluss mit meiner Erkundungstour.

Schritt für Schritt ging ich weiter die kalte, harte Wand entlang und suchte nach Vertiefungen oder einer Tür. Aber alles was ich fand war eine Feuchte stelle die mit glitschigem Schleim überzogen war.

Krabbelnd kehrte ich wieder, ungefähr, auf meinen alten Platz zurück und rollte mich zu einer kleinen Kugel zusammen.

Was wohl jetzt mit mir geschehen würde? Würde man mich gleich töten, oder vorher noch einen Prozess machen?

Mir wäre ersteres lieber gewesen. Den Eltern der getöteten Kinder in die Augen zu schauen hätte ich nicht über mich gebracht.

Irgendwann bemerkte ich, dass sich meine Augen mit Tränen füllten und ich schluchzte. Das würde hier aber ganz bestimmt niemanden beeindrucken, also versuchte ich es unter Kontrolle zu bringen. Tatsächlich schaffte ich es, dass es irgendwann aufhörte.

Nun saß ich allein, verletzt und frierend in diesem Keller, oder was auch immer es war, und hatte einfach nur panische Angst. Auch wenn sich diese noch nicht richtig zeigte, wusste ich, dass sie da war und nur darauf wartete mich zu überrollen.

Wie würden sie mich erledigen? Erschießen? Erhängen? Mit der Giftspritze?

Um ehrlich zu sein, behagte mir keine der Vorstellungen, aber wen wundert das schon. Wer grübelt schon gerne über die Art seines Todes nach? Ich kenne zumindest niemanden.

Ich versuchte mich auf etwas anderes zu konzentrieren, aber so sehr ich mich auch bemühte, es gelang mir einfach nicht meine Gedanken zu ordnen.

Mit der Zeit wurde ich zudem noch müde. Ich wusste nicht wie lange ich so dasaß, aber nach einer gefühlten Stunde schlief ich einfach ein.

Als ich aufwachte lag ich auf dem Rücken, was die Schmerzen in meiner Schulter nur noch verschlimmerte. Ich setzte mich auf, wobei ich die Luft zwischen meinen Zähnen aus stieß , weil ein plötzlicher Stich im Schulterblatt mich zusammenzucken ließ. Ich kniete mich hin und tastete mit der Hand vorsichtig über die schmerzende Stelle. Ein Loch im T-Shirt zeigte, dass mich dort irgendetwas getroffen hatte.

Hatte vielleicht doch jemand auf mich geschossen? Aber das hätte mich doch bestimmt getötet, immerhin hätte der Schuss meine Lunge getroffen.

Ich schob das Shirt ein Stück nach oben und fuhr mit dem Zeigefinger über die Wunde. Zuckend ließ ich die Hand sofort wieder sinken. Ich hatte den Rand eines ausgefransten Loches berührt, was mir höllische Schmerzen bescherte.

Nach ein paar Augenblicken verschwanden die Tränen zogen sich die Tränen aus meinen Augen zurück und ich stand wankend auf.

Da ich an den Wänden keine Öffnung gefunden hatte, streckte ich meine Hände nun nach der Decke aus.

Nur das da leider keine Decke war, zumindest erreichte ich sie nicht. Hätte mich irgendwie auch gewundert, wenn der Raum so niedrig gewesen wäre.

Enttäuscht verharrte ich noch einen Moment in dieser Position, dann ging ich in die Hocke und tastete vorsichtig mit den Handflächen über den Boden. Vielleicht war ich in einer Art Turm und eine Falltür führte hinaus. Aber auch der Boden war, bis auf ein paar Dellen, flach und nichts deutete darauf hin, dass hier ein Ausgang versteckt war.

Jetzt bekam ich wirklich Angst. Hatte man mich etwa lebendig eingemauert und wollte mich hier verhungern lassen?

Ich musste bei diesem Gedanken schwer schlucken. Verdient hätte ich es alle Mal, aber war es nicht unmenschlich jemanden so hinzurichten? War es nicht unmenschlich gewesen, dass ich die Kinder getötet hatte?

Ich schüttelte den Kopf. Am besten war es, wenn ich mir darüber nicht den Kopf zerbrach. Ich würde schon noch früh genug merken, wie ich sterben würde. Dann blieb noch mehr als genug Zeit um sich zu fürchten.

Also setzte ich mich wieder auf den Boden, diesmal aber in eine Ecke, und zog die Knie ans Kinn. Ich fror immer noch, aber das war wohl eines meiner kleineren Probleme.

Nun ließ ich auch den Tränen wieder freien Lauf, weil ich einfach keine Kraft hatte, sie zurückzuhalten.

So rollten sie über meine Wangen, meinen Hals hinunter und verschwanden dann im Stoff des T-Shirts.

Ich wusste nicht, wie lange ich weinte, aber es fühlte sich an wie Tage. Irgendwann waren dann auch einfach keine Tränen mehr da und ich schluchzte. Aber da ich mir ziemlich sicher war, dass das sowieso keiner mitbekam, war es mir egal.

Normalerweise war ich immer jemand gewesen, der selten bis gar nicht weinte, aber jetzt konnte ich es einfach nicht zurückhalten. Ich hatte es wenigstens versucht.

Es verging sicher ein halber Tag, bis sich endlich etwas veränderte.

Ich war mir zwar nicht sicher, aber ich glaubte, Geräusche gehört zu haben. Natürlich konnte es leicht sein, dass ich es mir nur eingebildet hatte. Und was das Ganze noch schwieriger machte: ich hatte keine Ahnung aus welcher Richtung die Geräusche gekommen waren.

Also drängte ich mich mit dem Rücken so fest wie möglich gegen die Wand und vergaß dabei meine Schulter, was mit erneuten Schmerzen belohnt wurde. Ich stöhnte leise auf, kippte vorne über und biss mir auf die Unterlippe, weil ich sonst mit Sicherheit losgeschrien hätte.

Obwohl ich dachte, dass ich keine Tränen mehr übrig hatte, spürte ich wie meine Augen feuchter wurden und brannten.

Wieder hörte ich diese Geräusche. Es hörte sich an wie Schritte, gemischt mit einem Klappern und Scharen.

Ruckartig richtete ich mich wieder auf und knallte dabei erneut mit meiner Schulter gegen die Wand. Diesmal konnte ich den Schrei aber nicht mehr unterdrücken und krümmte mich am Boden.

Erst als ich erneut Schritte hörte, presste ich mir eine Hand auf den Mund und erstickte so jeglichen Laut.

Nun schien auch irgendetwas zu geschehen, nur wusste ich noch nicht was es war.

Ich ließ meine Augen den stockdunklen Raum absuchen, auf der Suche nach irgendetwas. Vielleicht Licht oder etwas Ähnlichem.

Zuerst sah ich nichts, aber die Schritte waren noch immer deutlich zu hören. Auch wenn ich immer noch nicht wusste in welcher Richtung ich eigentlich suchen sollte.

Also machte ich mich in der Ecke so klein ich konnte, ohne meine Schulter dabei zu strapazieren.

Mein Atem ging flach und stoßweise, dafür pumpte mein Herz, als hätte sein letztes Stündchen geschlagen – vielleicht war es auch wirklich so weit.

Irgendwann dachte ich, Licht gesehen zu haben, traute aber meinen Augen nicht ganz.

Als dann am Boden wirklich ein Quadrat erschien, musste ich mich zurückhalten um nicht vor Angst zu wimmern.

Ich hatte also doch recht gehabt – der Eingang war in der Decke!

Unbewusst richtete ich mich auf und drückte mich flach gegen die Wand. Das Quadrat aus Licht am Boden wurde nun immer größer, bis es einen guten Meter Durchmesser hatte.

Als nächstes wurde irgendetwas heruntergelassen und landete mit einem metallischen Klirren und Schaben auf dem Boden. Ich konnte zuerst nicht erkennen was es war, da sich meine Augen erst an das Licht gewöhnen mussten, aber schon nach ein paar Sekunden sah ich die Sprossen und wusste, dass es sich um eine Leiter handelte.

War ja irgendwie auch klar, wie sollten sie mich sonst holen?

Wahrscheinlich hatten sie mich einfach in dieses Loch geworfen, als sie mich gefangen hatten.

Für einen Moment hielt ich die Luft an, denn ein großer Schatten bewegte sich immer wieder vor das Licht. Vielleicht waren es auch zwei, ich konnte es von meiner Ecke aus nicht genau erkennnen.

Aber einen kleinen Vorteil hatte dieser Platz doch.

Wenn so ein komischer Kerl runterkommen würde, würde er mich nicht sofort sehen, weil ich hinter der Leiter war.

Vielleicht schaffte ich es ja ihn zu überwältigen? Ich ging in meinem Kopf das Szenario durch. Am Ende lag ich blutend am Boden und der Kerl lachte über meinen jämmerlichen Versuch gegen ihn zu kämpfen.

Also schlug ich mir diese Möglichkeit aus dem Kopf. Ich wollte immerhin nicht noch mehr Blessuren davontragen, als ich sowieso schon hatte.

Statt mich auf meinen Angriff vorzubereiten, schaute ich mich in dem Raum um.

Hier konnte man sich nirgendwo verstecken. Die Wände waren kahl und am Boden gab es genauso wenige Versteckmöglichkeiten. Da konnte ich auch gleich hier bleiben.

Ich machte mich so klein wie nur irgendwie möglich und starrte die Leiter an.

Als die Leiter zu wackeln anfing, stockte mir wieder der Atem. Der Schatten verdeckte jetzt beinahe das ganze Licht, sodass es im Raum wieder dunkler wurde.

Ich machte mich noch kleiner – obwohl ich nicht wusste, dass das überhaupt möglich war – und gab keinen Mucks von mir.

Zuerst kamen die Füße in Sicht. Militärstiefel, soweit ich das sehen konnte. Als nächstes die Beine. Sie waren ziemlich lang, wahrscheinlich durchtrainiert und in eine schwarze Hose gehüllt. Dann folgten der breite Oberkörper mit den beiden starken Armen und zuletzt der Kopf in Sicht.

Ich konnte das Gesicht nicht sehen, weil die Öffnung nun von irgendetwas anderem verdeckt wurde. Was ich allerdings schon sehen konnte, waren die unzähligen Muskeln – und gegen diesen Typen hatte ich kämpfen wollen! Was für ein Witz!

Ich schluckte einmal laut. Zu laut, wie sich herausstellte, denn er drehte sich mit einer ruckartigen Bewegung zu mir um und griff nach etwas, das an seinem Gürtel hing.

Ich konnte jetzt so gut wie gar nichts mehr sehen, was mir noch mehr Angst machte.

„Aufstehen“, befahl der Mann. Seine Stimme war rau und er schien nicht für Späße aufgelegt zu sein – was mich ehrlichgesagt auch überhaupt nicht wunderte.

Zitternd schob ich mich die Wand entlang nach oben, wobei ich wieder meine Schulter vergaß. Die Wunde streifte den rauen Beton und ich konnte abermals einen Schrei nicht unterdrücken.

Wimmernd sank ich zurück auf die Knie.

Der Kerl hatte aber kein Mitleid mit mir. „Aufstehen!“ wiederholte er. Seine Stimme war jetzt eindeutig lauter und ungeduldiger.

Ich richtete mich ein weiteres Mal auf, ließ aber genügend Abstand zur Wand um mir eine wiederholte Demütigung zu ersparen.

Als ich endlich stand, kam der Mann auf mich zu, bis er direkt vor mir stand.

Ich drehte meinen Kopf zur Seite und schloss die Augen. Mein Atem dröhnte mir in den Ohren und mein Blut pulsierte wie ein Wildwasser durch meinen Körper. Wahrscheinlich konnte man das sogar in drei Meter Entfernung hören.

Und der Typ stand nicht einmal einen halben Meter vor mir, also hörte er es erst recht.

Ein paar Sekunden stand ich völlig reglos da, dann griff der Mann nach meinem Unterarm. Reflexartig riss ich ihn weg und machte einen Schritt zur Seite. Der Mann reagierte beinahe sofort und versperrte mir wieder den Weg – ich hörte es am Rascheln seiner Kleidung.

Und dennoch brachte ich es nicht über mich, meine Augen wieder zu öffnen.

Als er wieder nach meinem Arm griff, wehrte ich mich nicht. Es hatte sowieso keinen Sinn. Ich wollte mich nicht auf einen Kampf mit ihm einlassen, weil dieser ganz bestimmt schlecht für mich ausgegangen wäre.

Etwas Hartes schloss sich um mein Handgelenk, dann war ein Klacken zu hören. Das gleiche geschah auch mit dem anderen Arm. Nur langsam begriff ich, dass er mir Handschellen anlegte.

Also bekam ich doch einen Prozess?! Nein, bitte! Alles nur das nicht!______________________

Jetzt wehrte ich mich doch und schlug mit meinen, aneinander geketteten Händen auf ihn ein.

Wahrscheinlich lachte er sich innerlich halb tot über diesen erbärmlichen Angriff. Irgendwann reichte es ihm aber dann doch und er umfasste mit seinen Händen meine Handgelenke.

Viel konnte ich nicht sehen, aber anscheinend machte er sich tatsächlich über mich lustig.

Mit einer kraftvollen Bewegung schob er mich schließlich zur Leiter und deutete nach oben.

Ich wusste nicht recht, wie ich da hinaufkommen sollte, immerhin waren meine Hände aneinander gekettet. Zuerst schaute ich die ersten Sprossen an, dann den Kerl und dann meine Hände.

Ich war mir zu hundert Prozent sicher, dass ich nicht allein hinaufkommen würde.

„Ich brauche Hilfe“, stotterte ich und deutete mit dem Kopf nach oben.

Hier unter der Öffnung konnte ich schon mehr sehen, und obwohl ich die Gesichtszüge nur erahnen konnte, glaubte ich gesehen zu haben wie er die Augen verdrehte.

Im nächsten Moment packte er mich auch schon an der Hüfte und schwang mich über seine Schulter. Und so trug er mich auch die Leiter hinauf, als wäre ich federleicht.

Auch dieser Raum war nur spärlich beleuchtet. Zwei nackte Glühbirnen hingen an der Decke und leuchteten traurig vor sich hin.

Sobald wir dieses Loch hinter uns gelassen hatten, warf mich der Typ geradezu zu Boden. Ich konnte mich nur knapp abfangen, ansonsten wäre ich mit dem Gesicht voraus auf einem alten Bretterboden gelandet.

„Warte hier.“ Mit diesen Worten verließ er mich. Ich hatte keine Chance gehabt ihn mir genauer anzusehen, so schnell war er verschwunden.

Nachdem ich wieder einigermaßen gerade stand, schaute ich mich etwas im Raum um. Auch hier konnte ich nicht viel erkennen, aber immer noch mehr als in meinem Gefängnis von vorhin.

Wahrscheinlich musste ich da nachher sowieso wieder runter. Sobald die Gerichtsverhandlung, oder was auch immer mich jetzt erwartete, vorbei war, würde ich wieder eingesperrt werden, das wusste ich.

Mein Blick schweifte weiter durch den Raum und blieb schließlich an dem schwarzen Loch neben mir hängen. Der Anblick dieser Öffnung allein genügte schon, und ich bekam eine Gänsehaut.

Ich machte einen Schritt von dem schwarzen Abgrund weg und lehnte mich gegen die Wand. Wie schon viel zu oft an diesem Tag – oder in dieser Nacht – vergaß ich auch jetzt wieder auf meine Wunde an der Schulter.

Diesmal war der Schmerz aber um einiges schlimmer als zuvor. Ich sank keuchend zu Boden. Meine Rippen knackten beim Aufprall. Unfähig mich zu bewegen lag ich auf der Seite und versuchte Tränen und Schreie zu unterdrücken. Nun dröhnte auch mein Kopf, weil er bei meinem Sturz ungebremst auf den Boden geknallt war. Ich hörte Wort wörtlich die Vögelchen zwitschern.

Auf einmal hörte ich etwas. Schritte näherten sich mir, verlangsamten sich und hielten schließlich neben meinem Kopf an.

Ich schaffte es nicht einmal hinauf zu schauen. Mir war einfach nur übel und ich musste heftig schlucken um nicht zu kotzen.

„Los steh auf“, sagte jemand. Es war nicht dieselbe Stimme wie zuvor. Diese war zwar genauso rau und tief, aber gleichzeitig um einiges sanfter.

Als ich keine Anstalten machte aufzustehen, schlossen sich Hände um meine Oberarme und ich wurde auf die Beine gezogen. Mir war aber so schwindlig, dass ich mich nicht einmal mit aller Mühe aufrecht halten konnte. Die Hände blieben wo sie waren und halfen mir das Gleichgewicht zu halten.

Mein Kopf hing schlaff hinunter. Ich blinzelte ein paar Mal und schüttelte meinen Kopf leicht hin und her. Dann hob ich den Kopf leicht und erschrak.

Diese schokobraunen Augen und die wuscheligen Haare in dunkelbraun kannte ich doch! Ja und wie!

Es war der Kerl aus dem Café. Der, der mich im Wald aufgegabelt und zurück in die Stadt gebracht hatte.

Taumelnd schüttelte ich seine Hände ab und wich zurück.

„Du!“ fauchte ich und merkte, dass ich am ganzen Körper zitterte.

Er legte den Kopf schräg und schaute mich an, als hätte ich etwas falsch gemacht.

Als er sich auf mich zubewegte und seine Hand nach mir ausstreckte, sprang ich erschrocken zurück und knallte mit voller Wucht gegen die Wand.

Wie durch ein Wunder traf es diesmal nicht die Schulter, sondern meinen Kopf.

Der Aufprall war einfach zu viel. Schwarze Punkte tanzten plötzlich vor meinen Augen.

Ich wurde ohnmächtig.

 

Flatternd hoben sich meine Augenlider. Zuerst war ich geschockt, weil ich dachte, ich hätte schon wieder die Kontrolle verloren, dann bemerkte ich aber, dass ich selbst die Augen geöffnet hatte.

Es hört sich zwar verrückt an, aber irgendwann ist man sich nicht mehr so sicher, ob man wirklich macht, was man selbst will.

Diesmal war es aber so.

Wieder war es dunkel um mich. Ich befürchtete schon, dass ich wieder in diesem komischen Loch war, aber hier roch es anders.

Außerdem lag ich nicht auf Beton, sondern allen Anscheins auf einer Matratze.

Verwirrt tastete ich meine nähere Umgebung ab. Ja, so wie es aussah befand ich mich wirklich in einem Bett.

Aber warum?

Ich drehte mich leicht zur Seite und streckte meine Hand aus. Bald erreichte ich den Rand der Matratze und setzte mich auf. Wo war ich jetzt schon wieder?

Erst jetzt viel mir etwas auf. Ich konnte im Dunkeln nichts sehen?

Warum? Ich hatte mich schon so daran gewöhnt, dass es mich jetzt fast erschreckte, dass ich es nicht gleich bemerkt hatte.

Wo war meine merkwürdige Fähigkeit hingekommen, alles wie durch ein Nachtsichtgerät sehen zu können?

Ich verstand gar nichts mehr.

Plötzlich ging das Licht an. Ich kniff die Augen zusammen und zuckte gleichzeitig zusammen. Das Licht traf meine Augen wie ein Blitz. Ich konnte überhaupt nichts sehen.

So saß ich mindestens fünf Minuten auf diesem Bett und war vollkommen blind und hilflos.

„Schön, du bist wach“, murmelte jemand, als ich meine Augen langsam öffnete.

Ich zuckte vor seinem Anblick zusammen. Schon wieder DER! Was wollte er von mir??

„W-was willst du von mir?“ Meine Stimme zitterte mehr als beabsichtigt. Ich schlang meine Arme um meinen Oberkörper.

Er zog gekonnt eine Augenbraue hoch und musterte mich.

Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Irgendetwas stimmte mit ihm nicht, das war schon mal sicher.

„Ich will wissen, warum du das tust.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen den Türrahmen.

Ich riss entsetzt die Augen auf. Er wusste es! Er wusste was ich tat!

Ein deutlich sichtbares Zittern ging durch meinen Körper. Nur langsam beruhigte ich mich wieder.

Er stand die ganze Zeit da und wartete geduldig auf eine Antwort. Als ich den Mund nicht aufmachte, drehte er sich einfach um und verließ den Raum.

Ich blinzelte verwirrt und schaute mich dann um. Das Zimmer war ganz in Weiß gehalten. Allgemein befand sich hier nur das Bett auf dem ich saß. Fenster gab es keines, nur die Tür unterbrach die Eintönigkeit der Wände. Ich war mir sicher, dass man hier drin gut durchdrehen konnte, wenn man nur lang genug eingesperrt war.

In der Luft lag ein Hauch von Desinfektionsmittel. Irgendwann wurde die silbern schimmernde Türklinke hinunter gedrückt und blieb ein paar Augenblicke unten. Dann schwang die Tür langsam auf.

Ich zuckte zusammen als ich den Kerl wieder sah.

Ich hatte ja schon immer Angst vor ihm gehabt und jetzt wusste ich auch warum. Er wusste was ich tat.

Ich musterte ihn ganz genau, bewegte mich aber nicht.

„Komm mit“, sagte er, trat ans Bett und griff nach meinem Arm. Ich rutschte rückwärts von ihm weg und schaute ihn entsetzt an.

Er seufzte. „Okay, hör zu. Entweder du kommst jetzt brav mit und machst keinen Scheiß, oder ich muss dir die Handschellen anlegen, wie du willst.“

Ich schluckte. Was für eine Auswahl!

Schließlich schwang ich meine Beine aus dem Bett und stand neben ihm.

Erneut griff er nach meinem Arm. Dann zog er mich hinter sich her zur Tür und hinaus auf einen Gang.

Während er mich weiterzerrte, machte ich keinen Mucks.

Ich hatte einfach Angst vor dem, was geschehen würde. Außerdem dröhnte mein Kopf mit jedem Schritt mehr und mehr.

Wahrscheinlich hatten sie mir einen Stock übergezogen, nachdem sie mich eingeholt hatten.

Nach ungefähr fünf Minuten hielten wir vor einer Metalltür. Er hielt meinen Arm wie ein Schraubstock fest. Ich hatte schon Angst, dass meine Finger zu wenig Blut abbekommen würden.

Der komische Typ klopfte kurz an, dann stieß er die Tür auch schon auf, ohne auf eine Antwort zu warten.

Neonlicht flutete mir entgegen.

Auch hier roch es nach Chemikalien. Ich wurde in den Raum geschupst, wo ich mich wankend umsah.

Es war das größte Zimmer, das ich bisher gesehen hatte. An einer Seite waren Computermonitore aufgebaut. Jemand saß mit dem Rücken zur Tür vor einem Bildschirm und tippte irgendetwas.

Die restlichen Wände waren kahl und schmucklos. In der Mitte des Raums stand ein großer, rechteckiger Tisch, um den bequem zehn Leute Platz gefunden hätten.

Auf der schmalen Seite dieses Tisches saß ein Mann, ich schätzte ihn auf Mitte dreißig. Er hatte blonde, kurze Haare und graue Augen. Sein Oberkörper war Muskel bepackt und seine Oberarme waren nicht weniger beeindrucken.

Ich schluckte wieder. Er sah nicht aus wie ein Polizist, eher wie ein Soldat oder Söldner.

Der Mann bemerkte meinen angsterfüllten Blick beinahe sofort und deutete mit der Hand auf den Stuhl ihm gegenüber.

Der komische Kerl, der mich hergebracht hatte, führe mich zu meinem Platz und drückte mich sanft in den Sessel.

Der Mann gegenüber von mir beugte sich nach vorne und stützte sich mit den Händen auf der Tischplatte ab.

„Also“, sagte er. Seine Stimme klang bedrohlich und war viel zu laut.

Der Mann am Computer ließ sich davon aber nicht beeindrucken und hämmerte weiter auf die Tastatur ein.

Ein weiterer Sessel wurde zurückgezogen und der komische Typ setzte sich in einiger Entfernung neben mich.

„Name?“ fragte der ältere Mann – ich glaubte, dass er eine Art Anführer war.

„N-Nicole Carter“, stotterte ich und vergrub meine Finger in der Armlehne des Sessels.

„Alter?“ fuhr er unbeirrt fort und kritzelte dabei auf einen Block, der vor ihm lag.

„Achtzehn“, sagte ich und fixierte die Tischmitte mit den Augen.

„Wohnort?“

Ich runzelte die Stirn. Ich hatte keinen Wohnort, auf jedem Fall keinen fixen. „I-ich wohne im Motel. Ich habe kein Zuhause.“ Wieder zitterte meine Stimme und ich merkte, wie mir Tränen in die Augen stiegen.

Oh nein! Nicht jetzt! Ich durfte jetzt nicht anfangen zu weinen! Nicht vor diesen drei Kerlen.

Ich senkte den Blick noch weiter und schaute auf meine Knie.

„Okay, dann fangen wir mal an.“ Der Anführer erhob sich, ging zur Tür und betätigte einen Schalter. Mit einem Mal gingen alle Lichter aus, nur die, die direkt über dem Tisch montiert waren, blieben an.

Ich schaute mich verängstigt um. Was er jetzt wohl vorhatte?

Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl und schaute mich aus zusammengekniffenen Augen an.

„Wissen Sie, wie viele Kinder in den letzten drei Wochen gestorben sind?“ fragte er und lehnte sich zurück, während er die Arme vor der Brust verschränkte.

Ich schaute ihn nicht an und schüttelte den Kopf.

„Sechsundzwanzig unschuldige Kinder.“ Er knirschte mit den Zähnen.

Ich zuckte kaum merklich zusammen, als ich das Geräusch hörte. Der Mann am Computer ließ sich immer noch nicht ablenken.

Ich konnte aus dem Augenwinkel nur seinen Hinterkopf sehen. Seine Haare waren genauso wuschelig wie die des anderen Kerls, aber dafür um einiges heller.

„Wir wissen, dass Sie die Kinder getötet haben“, fuhr der Anführer fort und beobachtete mich dabei genau.

Ich schaffte es einfach nicht den Mund aufzumachen. Was hätte ich denn auch schon sagen sollen?

Wie er schon gesagt hatte, wussten sie, dass ich es war. Für Entschuldigungen war es viel zu spät.

„Wollen Sie etwas zu Ihrer Verteidigung sagen?“ fragte er, als ich weiter schwieg.

Ich biss mir auf die Unterlippe. Ich konnte mich ja wohl kaum verteidigen – ich würde nicht weiterlügen!

Also schüttelte ich den Kopf.

„Gut.“ Die Stimme des Mannes war viel dunkler geworden, „Dann hätte ich aber noch eine Frage an Sie: Warum haben Sie das getan?“ Er stand auf und lehnte sich so weit wie möglich über den Tisch.

Ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich hatte es nicht getan.

„Ich konnte nichts dagegen tun“, flüsterte ich und schaute ihm dabei in die Augen.

Er schien wohl zu sehen, dass ich nicht log. „Was meinen Sie damit?“ fragte er und es klang so, als wollte er etwas ganz bestimmtes hören.

„Ich… ich hatte keine Kontrolle mehr über mich. Mein Körper hatte plötzlich seinen eigenen Willen.“ Ich biss wieder auf meine Lippe und schmeckte Blut – mein Blut.

Sofort verfinsterte sich der Gesichtsausdruck des Mannes. „Matt! George! Mitkommen!“ sagte er bestimmt, drehte sich um und ging zur Tür.

Die beiden anderen Männer folgten ihm.

Nun war ich allein. Ich hatte Angst, weil ich nicht wusste, was jetzt mit mir geschehen würde. Und ich hatte Angst vor diesem Mann, der mich ausgefragt hatte. Gleichzeitig wollte ich unbedingt das Gesicht des Kerls sehen, der am Computer gesessen hatte.

Warum das so war, wusste ich auch nicht so genau. Ich hätte mich vor ihm fürchten müssen, genauso wie vor seinen Kollegen.

Der Typ, den ich ja schon kannte – ich nannte ihn insgeheim Spion – war um einiges Furcht einflößender.

Genauso wie der ‚Boss‘.

Aber der andre Kerl machte mir keine Angst. Komisch!

Nach nicht einmal fünf Minuten kehrten die drei zurück. Diesmal setzten sie sich alle an den Tisch.

Der Boss setzte sich wieder auf seinen Platz, der Spion ließ sich auf den Sessel links neben ihm nieder und der andere Mann setzte sich zu seiner Rechten hin.

Jetzt hatte ich auch die Chance, ihn anzusehen.

Sein Gesicht war kantig, hatte aber trotzdem eine schöne Form. Die moosgrünen Augen sahen neben der gebräunten Haut wie wunderschöne Edelsteine aus.

Insgesamt musste ich zugeben, dass er wirklich gut aussah. Wäre ich nicht in dieser Situation gewesen, hätte ich glatt angefangen zu schwärmen.

Aber ich saß hier, in diesem Raum, beobachtete von drei Augenpaaren, die jeder meiner Bewegungen folgten.

Wie so oft an diesem Tag, musste ich schwer schlucken. Ich fühlte mich mehr als unwohl.

Meine Finger zitterten, also verschränkte ich sie miteinander und versteckte sie unter der Tischplatte.

„Wir haben uns beraten“, fing der Boss an und schaute einmal zu seinen beiden Kollegen. Diese erwiderten seinen Blick und nickten ihm zu. Dann wandte er sich wieder mir zu.

Mein Herz pochte nun noch heftiger und mein Atem ging flach und rasselnd.

Was wollten sie jetzt mit mir machen?

 

7. Kapitel

 

Ich krallte mich am Stuhl fest. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich hatte schon richtig Angst, dass es überhitzen könnte, was natürlich Schwachsinn war.

Der Boss schaute mich herablassend an und ließ sich mit der Verkündung des Urteils reichlich Zeit. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte er es mir schon dreimal sagen müssen. Nur leider hatte ich keinerlei Einfluss auf das, was nun mit mir geschehen würde.

Ich schluckte einmal laut.

Der Spion starrte auf die Tischplatte und bewegte sich nicht. Das musste wohl ein schlechtes Zeichen sein. Also würden sie mich töten.

Ich schloss kurz die Augen, atmete tief durch und öffnete sie dann wieder.

Als nächstes schaute ich den anderen Kerl an. Er wich meinem Blick allerdings nicht aus, sondern erwiderte ihn sogar. Ein merkwürdiges Glitzern erfüllte seine Augen. Was hatte das zu bedeuten?

Verängstigt und der Panik nahe starrte ich nun wieder den Anführer an.

Sein Gesicht war starr wie Stein.

Einige Minuten verstrichen, ohne dass jemand etwas sagte. Ich fühlte mich unwohl. Der Spion tippte nervös mit der Fußspitze auf den Boden – es war das einzige Geräusch, das man hören konnte.

Irgendwann öffnete der Boss den Mund und richtete sich auf.

„Wir haben uns beraten“, wiederholte er und musterte mich dabei genau.

Ich rutschte ängstlich ein Stück auf dem Stuhl zurück.

„Wir sind zu dem Entschluss gekommen, dass es sinnlos wäre, dich sofort zu töten“, fügte er nach einem Augenblick hinzu.

Ich riss die Augen auf. Was sollte das bedeuten? Wann sonst?

Ich schaute ihn fragend an. Immer noch regte sich nichts.

Mein Blick schweifte zu seinem Sitznachbar mit den moosgrünen Augen. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen.

Jetzt war ich nur noch verwirrt – sehr verwirrt.

Auch wenn sie mich jetzt nicht töteten, entspannte ich mich kein bisschen. Stattdessen verkrampften sich sämtliche Muskeln in meinem Körper und mein Atem stockte.

„W-was hat das zu b-bedeuten?“ stotterte ich. Ich hatte keine Ahnung ob sie es überhaupt verstanden hatten, so leise sprach ich.

Der Anführer drehte sich zum Spion und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sofort stand dieser auf und verließ den Raum. Ich schaute ihm nach, bis er hinter der Tür verschwand.

„Das bedeutet“, fing der Boss an und schaute mir dabei direkt in die Augen, „dass wir zuerst wissen müssen was genau mit dir los ist – und du auch.“

Falls ich bis jetzt noch nicht verwirrt war, jetzt war ich es endgültig.

Ich biss mir auf die Unterlippe, bis ich Blut schmeckte und bewegte mich nicht.

„Vorerst solltest du dich aber erst einmal ein bisschen ausruhen. Matt hier“, er zeigte auf den Mann neben sich, „ wird sich um deine Verletzungen kümmern und dich dann auf dein Zimmer bringen.“

Mein Blick wanderte zu dem Mann mit den grünen Augen – Matt. Auch er sah mich an und wirkte irgendwie amüsiert. Dann stand er auf und schob seinen Stuhl zurück. Auch der Anführer erhob sich und kam auf mich zu.

Langsam begriff ich, dass ich mit Matt gehen musste, also stand auch ich auf.

Matt schlenderte zur Tür. Er drehte sich nicht um, blieb aber stehen und wartete auf mich.

„Ach ja, bevor ich’s vergesse“, fing der Boss an als ich an ihm vorbeiging, „mach keinen Scheiß, sonst war es das Letzte was du getan hast.“

Ich nickte einmal kaum merklich und eilte dann zur Tür.

Nun ging Matt weiter, öffnete die Tür und bog nach links ab. Ich folgte ihm in ungefähr zwei Metern Entfernung. Matt deutete meinen Sicherheitsabstand aber falsch. „Du hast John gehört – keinen Scheiß.“ Bei diesen Worten schwang ein unterdrücktes Lachen mit.

Ich hatte keine Ahnung was daran so witzig war, aber wahrscheinlich wollte ich es sowieso nicht wissen.

Nach ungefähr fünf Minuten und gefühlten hundert Biegungen hielt Matt abrupt vor einer weißen Tür an, so dass ich fast gegen ihn geknallt wäre.

Meine Atmung hatte sich immer noch nicht beruhigt, genau wie mein Herz. Auch wenn ich versuchte mir einzureden, dass alles wieder gut werden würde, konnte ich mich nicht davon überzeugen.

Matt drückte die schwarze Plastiktürklinke hinunter. Die Tür schwang quietschend auf und er schob mich vor sich in den Raum.

Erst als er das Licht anmachte, sah ich, dass ich in einer Art Krankenzimmer stand.

Überall waren silberne Werkzeuge die im Neonlicht blinkten. Außerdem befand sich am Kopfende des Zimmers ein breiter, weißer Schrank.

Matt steuerte diesen an und zeigte gleichzeitig mit einer schlichten Handbewegung auf den Operationstisch in der Mitte des Raums.

Ich setzte mich an den Rand der metallenen Oberfläche und starrte meine Füße an. Tja, ich hatte immer noch keine Schuhe an und von Socken war gar keine Rede. Meine Zehen waren schmutzig und aufgeschürft, aber das war jetzt mein kleinstes Problem.

Matt stellte sich neben mich und begann eine Plastikverpackung auf zu reisen. Ich traute mich nicht, ihn anzuschauen. Ich wusste, dass er mich für ein Monster hielt und aus irgendeinem Grund tat mir das unglaublich weh.

„Okay, ich würde gern als erstes die Wunde an deiner Schulter behandeln, wenn du nichts dagegen hast“, sagte er und stellte sich direkt vor mich.

Nun blickte ich doch auf. Sein Gesichtsausdruck war neutral, trotzdem lächelte er leicht.

„Geht klar.“ Ich drehte mich um, so dass er leicht an die Verletzung kam.

Mit einer geschickten Handbewegung vergrößerte er das Loch in meinem T-Shirt, ohne dabei die Wunde auch nur zu streifen.

Überraschend drückte er einen Baumwoll-Tupfer auf die Wunde. Ich stieß die Luft zwischen den Zähnen hinaus und musste mich beherrschen um nicht loszuschreien.

„Tut mir leid“, murmelte Matt und fuhr fort.

Mit einem Klebestreifen fixierte er den Tupfer an der richtigen Stelle. „Ähm könntest du vielleicht…“

Er schien nach den richtigen Worten zu suchen und kratzte sich am Hinterkopf. Ich runzelte die Stirn und schaute ihn an.

„Du… ich kann dir so keinen Verband anlegen“, versuchte er zu erklären.

Jetzt begriff ich. Matt schien sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen.

„Okay…“ flüsterte ich und schlüpfte aus meinem T-Shirt.

Na toll, jetzt saß ich obenrum nur mit einem BH bekleidet vor einem Fremden, der mich früher oder später töten wollte – die Erfüllung all meiner Träume!

Ich schloss die Augen, während Matt mir den Verband anlegte. Immer wieder wickelte er ihn um meinen Oberkörper, bis der Stoffstreifen zu Ende ging.

„Fertig – du kannst dich wieder anziehen“, sagte er und drehte sich schnell weg.

Das musste er mir nicht zweimal sagen. Schnell zog ich mir das Shirt über den Kopf. Dabei streifte ich über die – inzwischen verdeckte – Wunde. Ein stechender Schmerz durchzuckte mich und ich kippte vorne über.

Aus dem Augenwinkel sah ich wie Matt sich blitzschnell umdrehte und mich im letzten Moment stützte.

Schwer keuchend und nach Luft schnappend krümmte ich mich in alle Richtungen. Nach ein paar Sekunden ließ der Schmerz nach und ich richtete mich langsam auf.

„Danke“, stieß ich außer Atem hervor, drehte mich zum OP-Tisch um und stütze mich ab.

„Willst du was gegen die Schmerzen?“ fragte er. Irgendwie klang er besorgt, aber wahrscheinlich bildete ich mir das nur ein.

Ich nickte einfach nur und biss die Zähne zusammen.

Matt ging wieder zu dem weißen Schrank und holte eine kleine Schachtel heraus, die er mir reichte. „Eine davon sollte genügen.“ Er zog einen Mundwinkel leicht hoch und legte den Kopf schief.

Wie er gesagt hatte, nahm ich eine der Tabletten. Danach versorgte Matt noch die Platzwunde auf meiner Stirn und an meinem Hinterkopf, indem er einen weiteren Verband anlegte. Kurze Zeit später setzte auch endlich die Wirkung der Schmerztablette ein.

„Okay, das wäre dann ja mal geschafft.“ Er wickelte geschickt den übrig gebliebenen Stoffstreifen auf und legte ihn in eine Schublade.

Ich starrte wieder zu Boden. Immer noch konnte ich mir nicht vorstellen, was es für einen Vorteil bringen sollte, dass sie mich am Leben ließen.

Matt baute sich vor mir auf.

„So wenn du dann so weit bist bringe ich dich in dein Zimmer.“

Ich starrte ihn entsetzt an. Würden sie mich wieder in dieses Verließ sperren?!

Matt verstand sofort und machte eine beruhigende Handbewegung. „Oh nein! Keine Sorge! Du bekommst ein richtiges Zimmer, immerhin brauchen wir dich noch.“

Na toll. Wenn er mich mit dieser Ansage beruhigen wollte, hatte er das eindeutig versaut. Ich riss die Augen auf und starrte ihn an.

Nun verdrehte er die Augen und griff nach meinem Arm. Mit einer kräftigen Bewegung zog er mich vom Operationstisch und hinaus auf den Gang.

Dieser war jetzt eindeutig dunkler als zuvor. Wahrscheinlich hatte jemand das Licht gedimmt oder teilweise ausgeschaltet. Tja und meine Fähigkeit im Dunkeln zu sehen? Die war immer noch verschwunden.

Matt schien die Tatsache, dass er nun alleine mit einem Kindermörder auf einem ziemlich düsteren Gang unterwegs war aber nicht wirklich zu stören.

Unbeirrt zog er mich weiter hinter sich her. Ich musste mich extrem auf meine Füße konzentrieren um nicht zu stürzen – aber wie es nun mal kommen musste, holte mich meine Tollpatschigkeit ein.

Ich blieb mit einem Fuß an einer niedrigen Stufe hängen, verlor das Gleichgewicht und stürzte. Reflexartig streckte ich meine Hände aus, um mein Gesicht zu schützen und erwischte dabei Matt. Mein Unterarm geriet zwischen einen seiner Schritte, was dazu führte, dass auch er stolperte.

Nur leider deutete er die Situation falsch.

Eigentlich war ich ja gestürzt, aber er dachte, ich hätte ihn angegriffen.

Mit einer geschmeidigen Bewegung drehte er sich um die eigen Achse, stützte sich für den Bruchteil einer Sekunde am Boden ab und kam dann mit einem Höllentempo auf mich zu.

Noch bevor ich auf dem Boden aufschlug, erreichte er mich und warf mich geradezu gegen die Wand, wo er mich ohne große Anstrengung festhielt.

Meine Schulter wurde dabei so fest gegen den kahlen Beton gedrückt, dass ich ächzte und unter Schmerzen zu Boden sank.

Matt nahm die Situation keineswegs so gelassen wie ich gedacht hatte. Ansonsten hätte er nicht so schnell reagiert. Er hatte also doch damit gerechnet, dass ich mich wehren oder ihn angreifen würde.

Irgendwie machte mich das traurig, aber ich verstand es natürlich auch. Immerhin war ich hier der Killer, nicht er.

Er tat nur, was er für nötig hielt um unbeschadet aus der Sache raus zu kommen.

Ich bewegte mich nicht. Zitternd lehnte ich an der Wand und rang nach Luft.

Matt stand ungefähr einen halben Meter von mir entfernt und fixierte mich mit seinem Blick. Auch wenn ich ihn nicht ansah, konnte ich spüren, dass er mich beobachtete.

„Mach. Das. Nie. Wieder!“ fauchte er und biss die Zähne zusammen.

„Es tut mir… Ich wollte nicht…“ stotterte ich und hob den Kopf damit ich ihn ansehen konnte. Er drehte sich um und lehnte sich außer Atem gegen die Wand.

Die ganze Aktion hatte nicht einmal fünf Sekunden gedauert, trotzdem waren wir beide ziemlich fertig.

„Weiter“, befahl Matt nach ungefähr einer halben Minute.

Benommen rappelte ich mich auf und stand einen Moment auf wackligen Beinen da, dann wurde ich auch schon wieder durch die Gänge geschleift.

Wie lange ich so dahin stolperte, wusste ich irgendwann selbst nicht mehr. Es fühlte sich an wie Stunden, dabei waren höchstens zehn Minuten vergangen.

Schließlich stoppte Matt vor einer der unzähligen Türen an denen wir vorbeigekommen waren.

Endlich ließ er mich los, auch wenn die Berührung nicht halb so unangenehm war, wie ich gedacht hatte.

Schnell zog er einen Schlüssel aus einer der Taschen an seiner Militärhose und schloss auf.

Der Raum dahinter war nicht beleuchtet und eine kalte Brise wehte mir ins Gesicht. Das sollte mein Zimmer sein? Da drin würde ich erfrieren!

Trotzdem sagte ich nichts und wartete völlig reglos.

Das Pochen in meiner Schulter war beinahe ganz verschwunden und ich wollte nicht riskieren, dass es wieder anfing. Schon beim letzten Mal hatte ich die Tränen nur mit größter Mühe zurückhalten können.

Matt machte einen Schritt in die Dunkelheit, dann ging auch schon das Licht an und erhellte einen quadratischen Raum.

Ein Bett stand in der einen Ecke unter einer Art Lüftungsschacht. Ansonsten war das Zimmer leer und wirkte, dank der kahlen Betonwände, nicht besonders einladend.

Matt trat zur Seite und machte so den Weg für mich frei. Ohne ihn anzusehen ging ich an ihm vorbei, schlang meine Arme um meinen Körper und drehte mich mitten im Raum noch einmal zu ihm um.

„Sorry, etwas Besseres haben wir leider nicht“, murmelte er und schaute mich verlegen an.

Ich drehte mich einmal um mich selbst und schaute ihn dann wieder an. „Ist schon gut“, flüsterte ich und fixierte die Pistole die an seinem Gürtel hing. „Ich hab’s nicht anders verdient“, fügte ich hinzu und schaute ihm dabei kurz in die Augen.

Er biss sich nachdenklich auf die Lippe. „Wir kriegen das wieder hin“, sagte er noch, dann drehte er sich um und zog die Tür hinter sich zu.

Ich stand mindestens zehn Minuten einfach da und fror vor mich hin. Dabei kam ich nicht einmal auf die Idee, nachzusehen ob er mich eingeschlossen hatte. Erstens hätte ich nie aus diesem Labyrinth aus Gängen hinausgefunden; zweitens hatte ich höllische Angst vor seiner Waffe und drittens wollte ich nicht noch mehr Schaden in der Stadt anrichten, als ich sowieso schon getan hatte.

Zitternd und schlotternd setzte ich mich auf die Kante des Bettes. Es fühlte sich nicht an wie eine Matratze, sondern eher wie ein Holzbrett auf das jemand notdürftig etwas Moosgummi gelegt hatte. Naja, wenigstens hatte ich eine Decke. Ich schnappte mir das dünne, viel zu kleine Stück Stoff und wickelte mich so gut es ging damit ein.

Im Raum war es ganz still, nur die Neonleuchte an der Decke surrte eintönig vor sich hin. Ich merkte wie ich immer müder wurde und mir immer wieder meine Augen zufielen. Zuerst kämpfte ich gegen diese plötzliche Müdigkeit an, aber irgendwann schaffte ich es einfach nicht mehr. Ich kippte zur Seite und schlief ein.

 

Ein Knarren riss mich aus meinem unruhigen Schlaf. Ich richtete mich ruckartig auf und blickte mich um.

Ich war immer noch in dieser Kammer. Langsam schwang die Tür auf und gab dabei merkwürdige Geräusche von sich.

Ich rutschte auf dem Bett so weit wie möglich nach hinten an die Wand und hielt den Atem an.

Als die Tür endlich offen war, kam ein Mann mit dem Rücken zu mir herein und zog etwas hinter sich her.

Der Anblick hätte mich in einer anderen Situation sicher zum Lachen gebracht, aber nicht jetzt.

Der Mann drehte sich um und ich konnte nicht anders als ihn böse anzusehen – es war der Spion.

Ein kurzer Blick hinter ihn zeigte, dass auf dem Wagen, den er gezogen hatte, ein Tablett mit einem dampfenden Teller stand.

Er schaute mich nur entschuldigenden an und schob dann das Metallgestell auf Rädern an die Wand.

Ich kniff angriffslustig die Augen zusammen und fixierte ihn mit meinem Blick.

„Okay, ich verstehe, wenn du mich nicht besonders leiden kannst, aber ich denke wir sollten uns erst einmal unterhalten.“ Er machte eine beruhigende Handbewegung, als würde er mit einem wilden Tier reden, nicht mit einem Menschen – falls man mich so nennen konnte.

„Nein danke“, fauchte ich und richtete mich so gut wie möglich auf.

„Gut, dann rede eben nur ich und du hörst zu.“ Er kam näher, was mich dazu veranlasste in die hinterste Ecke zu rutschen und mich zusammen zu kauern.

Der Kerl ließ sich davon nicht beirren und setzte sich ohne großartig zu zögern ans untere Ende des Betts.

Als er anfing zu sprechen, musste ich dem Reflex widerstehen mir die Ohren zuzuhalten.

„Also hör mir jetzt einfach zu. Du hattest recht, ich bin dir gefolgt. Ich musste das tun, es gehört zu meinem Job…“

„Was für einem Job?“ fuhr ich dazwischen, wobei meine Stimme nicht halb so laut war wie beabsichtigt.

„Das wird dir John nachher erklären. Auf jeden Fall hätte ich dich schon früher aufhalten müssen, dann wärst du jetzt wahrscheinlich nicht in dieser Lage.“

Ich verstand inzwischen überhaupt nichts mehr. In welcher Lage? Was meinte er mit: er hätte mich früher aufhalten müssen?

Fragen um Fragen.

„Hier. Iss erst mal“, sagte er, griff nach dem Teller mit Suppe und reichte ihn mir.

Nach einigem Zögern nahm ich das Essen an und löffelte alles aus. Mir war gar nicht aufgefallen wie hungrig ich eigentlich gewesen war.

„Können wir dann?“ fragte er und schaute mich etwas schüchtern an.

Ich kapierte nicht, was das jetzt sollte.

„Was?“ schnaubte ich und legte den Kopf leicht schief.

„John wartet auf uns“, murmelte er und schaute auf seine Füße.

„Wer ist John?“ Langsam aber sicher wurde mir das alles zu viel. Konnte er mir nicht einfach antworten wie ein normaler Mensch?

„Erklär ich dir unterwegs“, sagte er, stand auf und griff dabei nach meinem Arm.

Warum waren alle hier so auf Körperkontakt aus? Hatten sie nicht mehr alle?

Obwohl, eigentlich machte es mir nur bei diesem Kerl hier etwas aus, bei Matt hatte es mich wenig bis gar nicht gestört.

Widerwillig ließ ich mich hinter ihm herziehen.

„Also?“ fragte ich und schloss etwas zu ihm auf.

„John ist unser Boss.“ Er blieb nicht stehen und schaute mich nicht an.

„Okay, und wer bist du?“ Wenn ich schon am fragen war, wollte ich alles wissen.

„George.“ Nun blieb er stehen, drehte sich zu mir und streckte mir die freie Hand entgegen.

Ich brauchte einige Zeit bis ich begriff. Aus reiner Höflichkeit ergriff ich die Hand, schüttelte sie kurz und ließ sie dann sofort wieder los.

Was für ein abgedrehter Kerl!

Ohne noch weiter zu Warten ging George weiter – und ich, wohl oder übel, hinter ihm her.

Bald erreichten wir wieder eine dieser Metalltüren, die mir inzwischen schon etwas Angst machten.

George öffnete die Tür und führte mich in den Raum.

Diesen kannte ich schon. Es war der Raum, in dem mich die drei vorhin verhört hatten.

Schnell schweifte mein Blick durchs Zimmer.

Am Computer saß jemand und tippte eifrig. Wegen seiner hellbraunen, struppigen Haare identifizierte ich ihn sofort als Matt. Er ließ sich nicht stören und arbeitete weiter.

John, der Anführer, saß immer noch am selben Platz wie zuvor.

Er nickte George kurz zu als wir den Raum betraten.

Ich setzte mich auf einen der Stühle und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ein drückendes Schweigen herrschte im Raum, nur unterbrochen vom hektischen Klimpern der Tastatur.

Mehrere Augenblicke verstrichen, ohne dass jemand etwas sagte.

Ich fühlte mich immer schlechter. Was jetzt?

„Du weißt nicht, was mit dir los ist, stimmt’s?“ fragte John ohne Vorwarnung und legte seine Hände auf die Tischplatte.

Ich schluckte und schüttelte dann den Kopf. Was war das den für eine Frage?

„Wir glauben, dass wir es wissen“, fuhr John fort und warf George, der neben mir Platz genommen hatte, einen vielsagenden Blick zu.

„Ich verstehe nicht ganz…“ flüsterte ich und schaute ihn an. Nichts in seinem Gesicht deutete darauf hin, dass er etwas Schlimmes mit mir vorhatte, trotzdem traute ich ihm nicht ganz.

„Ich weiß, dass du es nicht verstehst. Ich und mein Team“, er machte eine Handbewegung zu Matt und George, „wir sind auf die Jagd nach Dämonen spezialisiert.“

Ich runzelte die Stirn und legte den Kopf schief. Wenn er geglaubt hatte, dass mir das auch nur irgendwie weiterhalf, hatte er sich geirrt.

„Dämonen?“ fragte ich skeptisch und musterte John dabei genau. Anscheinend nahm er mich nicht auf den Arm.

„Ja genau. Und wir glauben, dass du von einem besessen bist.“ Seine Stimme war völlig ruhig, als wäre dass, was er gerade gesagt hatte das normalste auf der Welt.

Mir aber klappte der Mund auf. Wollte er mich jetzt verarschen, oder was?

Aber nichts deutete darauf hin, dass es wirklich so war. Und andererseits könnte ich mir so auch die Eigenwilligkeit meines Körpers erklären.

Aber besessen? Das war doch eindeutig etwas zu hart – oder etwa doch nicht?

Verwirrt schüttelte ich meinen Kopf hin und her.

John und George beobachteten mich schweigend. Matt hatte aufgehört auf die Tastatur einzuhämmern.

Er stand nun hinter seinem Anführer und musterte mich eindringlich.

Langsam aber sicher bekam ich es mit der Angst zu tun.

Was wenn John recht hatte und ich wirklich ein böses Wesen beherbergte.

Ich schluckte geräuschvoll und schaute ihn dann wieder an.

„Wenn das, was Sie sagen stimmt, wie können wir den Dämon dann beseitigen?“ fragte ich und wünschte mir im selben Augenblick den Mund gehalten zu haben. Aber jetzt war es zu spät – ich wartete.

„Es gibt nur zwei Möglichkeiten.“ Matt hatte nun das Wort ergriffen, zog einen Stuhl zurück und setzte sich ganz entspannt hin.

Wieder schluckte ich. Eine dieser Möglichkeiten konnte ich mir recht gut ausmalen – und sie war alles andere als angenehm für mich.

Trotzdem fragte ich. „Und wie sehen diese Möglichkeiten aus?“

Matt und John wechselten einen vielsagenden Blick, dann sprach Matt leiser weiter. „Die einfachere wäre, dich zu töten.“ Als er das sagte, schaute er auf die Tischplatte während sein Körper sich sichtlich anspannte.

„Die zweite Möglichkeit wäre, dich am Leben zu lassen.“ Hier endete er und schaute mir direkt in die Augen. Irgendetwas lag in seinem Blick, das mir Angst machte und gleichzeitig beruhigte.

„Aber…?“ Es musste ein Aber geben, anders konnte es gar nicht sein.

„Aber dafür müssen wir denjenigen finden, der verantwortlich dafür ist, dass du überhaupt einen Dämon in dir hast.“

Na toll, es gab also nur zwei Möglichkeiten. Die eine war einfach und schnell, die andere hörte sich kompliziert an und bereitete mir Kopfschmerzen, wenn ich nur daran dachte.

Da war es ja wohl glasklar für was sich diese Dämonenjäger entscheiden würden, oder?

Innerlich hoffte ich, dass es nicht so war, aber ich wusste, dass meine Überlebenschancen mit jeder Sekunde schwanden.

Ich schloss kurz die Augen, dann schaute ich die beiden Männer, die mir gegenüber saßen, an.

„Und w-wofür habt ihr euch e-entschieden?“ fragte ich mit zitternder Stimme und schaute von einem zum anderen.

George neben mir rutschte leicht auf seinem Stuhl hin und her.

Matt biss sich kurz auf die Unterlippe und atmete dann noch einmal tief durch. „Wir werden dich nicht töten.“

Ich seufzte erleichtert und sank auf dem Stuhl zusammen.

Eine Weile blieb es ruhig und ich atmete einige Male durch. Mein Puls beruhigte sich etwas, nachdem er vorhin so rasant beschleunigt hatte.

Irgendwann brach John das Schweigen. „Matt, George, ihr begleitet Nicole in ihr Zimmer und erklärt ihr alles was sie wissen will und muss.“ Damit stand er auf und verließ den Raum.

Auch Matt und George erhoben sich und ich mit ihnen. Gemeinsam traten wir auf den, nun vollkommen dunklen, Gang und machten uns auf den Weg in meine Zimmer.

 

 

 

 

8. Kapitel

 

Flankiert von den beiden muskelbepackten Dämonenjägern erreichte ich ungefähr fünf Minuten später mein kahles, kaltes Zimmer.

Ich hätte erwartet, dass sie sofort wieder gehen würden, aber sie blieben und warteten geduldig, bis ich mich in die dünne Decke gewickelt und in die hinterste Ecke verkrochen hatte. Dann setzte sich George wieder auf die Bettkante, wobei er diesmal mehr Respekt vor meiner Privatsphäre zu haben schien, und Matt lehnte sich lässig gegen die gegenüberliegende Wand, die Arme vor der Brust verschränkt.

Zuerst sagte keiner etwas. Matt und George sahen abwechselnd sich gegenseitig und dann wieder mich an.

Ich zitterte derweil und wagte es nicht mich zu bewegen, denn, obwohl ich fürs erste außer Gefahr war wollte ich nichts riskieren.

„Okay, John sagte wir sollen dir sagen was du wissen willst. Also, was willst du wissen?“ fragte George und sah mich mehr oder weniger freundlich an.

Ich zuckte zuerst nur mit den Schultern, überlegte dann aber noch einmal und fand doch etwas, dass ich wissen wollte.

„Warum ich?“ Ich schaute zuerst Matt an, der nachdenklich zu Boden starrte, dann George der sich hilflos am Kopf kratzte.

„Wir wissen nicht warum es ausgerechnet dich getroffen hat, aber wir werden es sicher bald herausfinden.“ Matt hatte geantwortet und schaute jetzt George an.

„Und wie wollt ihr das herausfinden?“ fragte ich verwirrt und biss mir auf die Unterlippe.

Auch George verschränkte nun die Arme vor der Brust und schaute seinen Kollegen an. „Willst du es ihr sagen oder soll ich das lieber machen?“ fragte er leise und sah dabei alles andere als glücklich aus.

Auch Matts Gesichtsausdruck war jetzt angespannt. „Ladies first“, murmelte er und machte eine schlichte Handbewegung auf George.

Dieser verdrehte genervt über Matts Bemerkung nur die Augen. „Danke Bruderherz.“ Er drehte sich mir zu und mir klappte der Mund auf. Ich hätte es gleich sehen müssen, dass die beiden Brüder waren. Sie waren ungefähr gleich groß, hatten einen Ähnliche Körperform und auch ihre Gesichtszüge, Nasen und Lippen ähnelten sich sehr.

„Okay, also wir werden in den nächsten Tagen ein paar Tests an dir machen müssen, die sehr, sehr unangenehm sein werden.“ George musterte mich und versuchte wohl festzustellen, wie ich diese wenig erfreuliche Nachricht aufnahm.

Mein Mund war ganz trocken geworden. Ich wollte es nicht, aber es war wahrscheinlich die einzige Chance überhaupt lebendig aus der Sache rauszukommen – und das wusste ich.

Mein Kopf bewegte sich fast automatisch leicht nach oben und unten. Erst im Nachhinein wurde mir klar, dass ich den Versuchen unbewusst zugestimmt hatte.

„ Wofür sind diese Versuche?“ fragte ich eher aus Neugierde, als aus richtigem Interesse.

Matt trat einen Schritt heran und glitt an der Wand zu Boden. „Wir müssen wissen womit wir es zu tun haben, damit wir den Dämon eindämmen und gleichzeitig deinen Körper schützen können. Weißt du, es gibt verschiedene Arten von Dämonen und alle haben andere Bedürfnisse.“ Er zögerte und wartete. Ich nickte, als Zeichen dafür, dass ich verstanden hatte, was er sagte. „In deinem Fall wird es sich wahrscheinlich um einen Nachtdämon, einen Seelensauger oder einen Körperdieb handeln.“

„Hört sich nicht gut an“, murmelte ich und legte meinen Kopf sacht gegen die kalte Wand.

„Ist es auch nicht. Diese drei Dämonen gehören mitunter zu den unberechenbarsten, obwohl ein Nachtdämon wohl eher auszuschließen ist.“ George schaute mich nicht an während er sprach.

„Warum?“

George schaute seinen Bruder an, der nickte und ergriff dann das Wort. „Nachtdämonen können nur nachts überleben. Du kennst doch sicher Vampirgeschichten. Nachtdämonen gab es schon früher, und die Menschen gaben ihnen den Namen Vampir.“

„Das heißt Nachtdämonen ernähren sich von Blut?“ fiel ich Matt ins Wort und wurde dafür auch prompt rot im Gesicht.

Matt lächelte leicht. „Nein nicht unbedingt. Es gibt viele Unterarten – bei allen Dämonen. Einige davon ernähren sich von Blut, andere brauchen das Gefühl zu töten und wieder andere sind so genannte Aasfresser. Sie sind weitgehend ungefährlich, weil sie ja nur Opfer anderer Dämonen brauchen, aus eigenem Antrieb töten sie nicht.“ Hier machte Matt eine Pause.

„Wenn ich euch beschreiben könnte wie ich die Kinder getötet habe, könnte ich mir dann die Tests ersparen?“ fragte ich mit zitternder Stimme.

Die Brüder wechselten vielsagende Blicke und wirkten verwirrt. „Du erinnerst dich daran?“ fragte Matt.

Ich nickte. „Ja, warum sollte ich nicht?“

George riss erstaunt die Augen auf. Dann hüpfte er regelrecht vom Bett und verließ das Zimmer.

„Wohin geht er?“ Nun war ich es, die verwirrt war.

„Er sagt John, dass du dich an die Angriffe erinnerst. Vielleicht brauchen wir die Versuche wirklich nicht zu machen.“ In Matts Stimme schwang etwas wie Hoffnung mit. Anscheinend hatte er keinen Freude an der Vorstellung mich leiden zu sehen.

„Warum ist das wichtig?“

Matt sah mich an, als hätte ich gefragt an welchem Tag Weihnachten ist. „Ja es ist sogar sehr wichtig! Es ist nicht gewöhnlich sich daran zu erinnern.“

„Ist das gut oder schlecht?“

Matt atmete tief ein. „Das werden wir noch herausfinden.“

Jetzt war ich auf der einen Seite etwas erleichtert, weil ich mir die schmerzhaften Tests vielleicht ersparen konnte, auf der Anderen hatte ich aber noch mehr Angst, weil man sich normalerweise nicht daran erinnerte – wenn das was Matt sagte stimmte.

Nicht einmal drei Minuten später kam George mit einem kleinen Kassettenrekorder in mein Zimmer zurück.

„John sagt du sollst uns alles erzählen an das du dich erinnerst. Am besten von Anfang an!“ Er warf Matt den Rekorder zu, welcher sich sofort an den unzähligen Knöpfen zu schaffen machte.

Kurze Zeit später saß Matt links von mir, während sein Bruder rechts neben mir Platz genommen hatte und das Aufnahmegerät vor meine Nase hielt.

Ich dachte einen Moment lang nach, dann erzählte ich ihnen alles, an das ich mich erinnerte. Angefangen bei der Eigenwilligkeit meines Körpers, über die seltsamen Kletterkünste und die Nachtsichtfähigkeit, bis hin zu den Lichtbällen die ich aus den Kindern gezogen hatte nachdem diese tot waren.

Als ich geendet hatte, war es völlig still im Raum. Weder Matt noch George sagten etwas, ich war in Erinnerung versunken. Ich sage nicht, dass es schöne Erinnerungen sind – das auf keinen Fall!

Ich sah wieder einmal die Gesichter der unschuldigen Kinder vor mir, wie sie friedlich in ihrem Betten lagen und vermeintlich schliefen – nur, dass sie nie wieder aufwachen würden.

Ein leises Klacken verriet mir, das George die Aufnahme beendet hatte.

Schnell stand er auf, nickte seinem Bruder, der die Wand anstarrte, zu und ging dann.

Ich spürte wie mir Tränen in die Augen stiegen und langsam meine Wangen hinunterliefen.

Schluchzend hielt ich mir die Hände vors Gesicht. Matt sagte nichts dazu, blieb aber trotzdem sitzen bis ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte.

Dann stand auch er auf.

„Ich gehe jetzt zu John und George. Wir werden den Bericht ausarbeiten und dann sehen wir weiter“, murmelte er und schaute mich dabei mitleidig an.

„Wie lange wird das dauern?“ fragte ich mit zittriger Stimme.

Matt runzelte kurz die Stirn, dann war sein Gesicht wieder entspannt.

„Eine Weile. Aber ich glaube ich kann dir jetzt schon sagen, dass die Tests überflüssig sein werden.“ Mit diesen Worten drehte auch er sich um und ließ mich allein zurück.

Ich zog die dünne Decke enger um mich, legte den Kopf in den Nacken und schaute die Decke an.

Ein merkwürdiges Gefühl breitete sich in meiner Magengrube aus und mir wurde übel. Was sollte denn nur aus mir werden?

Was sollte aus meinem Leben werden?

Eins war ja wohl klar, falls ich jemals wieder hier raus kam, würde ich keinen Job, kein Geld und kein Zuhause mehr haben.

Tanja hatte mich wahrscheinlich nicht einmal vermisst, oder gar nach mir gesucht. So wie ich das sah, war sie wahrscheinlich sogar froh mich endlich los zu sein – genau wie unsere Gäste. Naja, bis auf einen – George.

Er hatte gesagt er hätte mich aufhalten sollen, dann wäre es nie soweit gekommen, dass ich Kinder tötete. Aber ich wusste, dass er mich nicht hätte aufhalten können.

In Gedanken versunken lehnte ich mich an die Wand und ein stechender Schmerz erinnerte mich daran, wie mich die Dämonenjäger überhaupt hierher gebracht hatten.

Sie hatten mich wohl wirklich angeschossen – wahrscheinlich mit einem Betäubungsgewehr oder etwas ähnlichem.

War ja jetzt eigentlich auch egal. Das Wichtigste war, dass ich niemandem mehr schaden konnte und die Kinder der Stadt und ihre Eltern wieder in Ruhe schlafen konnten.

Irgendwann würde ich mich entschuldigen – bei all meinen Opfern und deren Familien. Und dann würde ich ins Gefängnis gehen.

Bei diesem Gedanken lief mir ein Schauer über den Rücken.

Mein ganzes Leben verbrachte ich in Gefangenschaft. Zuerst das Kinderheim, jetzt das hier und in meiner Zukunft sah es nicht sehr viel besser aus.

Die Wahrheit war, dass ich einfach nicht mehr weiterkonnte. Ich konnte zwar nichts dafür, dass das passierte, was eben passierte, aber trotzdem verletzte es mich. Und das bedeutete, dass meine Seele mit tausenden kleinen Narben bedeckt war – und zwar für immer.

Ich rollte mich so klein wie möglich auf dem Bett zusammen und kippte zur Seite um.

Ein paar salzige Tränen liefen mir noch übers Gesicht, doch selbst die verebbten nach ein paar Minuten.

Die Neonlampe an der Decke surrte mir wieder ein Gutenachtlied vor und so war es nicht verwunderlich, dass ich nach kurzer Zeit eindöste.

 

„Nicole! Nicole!“ Jemand schüttelte mich unsanft.

Langsam öffnete ich die Augen. Alles war verschwommen und unklar, nur langsam wurden die Umrisse schärfer.

Vor mir stand Matt. Seine Hand umschloss meinen Oberarm und er schüttelte mich wie ein Irrer. Sofort war ich hellwach, denn ich wusste was das bedeutete.

Er würde mir sicher jeden Moment sagen was jetzt mit mir passieren würde.

„Ich bin wach! Ich bin wach!“ wiederholte ich und setzte mich auf meinem Bett auf.

„Das sehe ich“, sagte Matt und ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen.

„Was?“ fragte ich etwas zu schroff und fuhr mir mit der Hand übers Gesicht.

Matt schüttelte leicht den Kopf. „Deine Haare…. Aber ist ja jetzt auch egal. Du musst sofort mitkommen!“

Mit diesen Worten zog er mich auch schon vom Bett und auf den Gang hinaus.

Mein Kopf dröhnte und alles um mich herum schien sich zu drehen.

Mein Kreislauf spielte mir einen Streich und ich stolperte – schon wieder.

Diesmal reagierte Matt allerdings anders. Anstatt sich auf mich zu stürzen legte er seinen Arm um meine Hüfte und wartete bis ich wieder auf eigenen Beinen stehen konnte, erst dann ging er langsam weiter. Mir lief ein warmer Schauer durch den Körper.

„Danke“, flüsterte ich und schloss kurz die Augen.

„Keine Ursache. Ich wusste ja nicht, dass du so schnell zusammenklappst.“

Nun zog er mich wieder langsam am Handgelenk hinter sich her.

„Was ist eigentlich passiert?“ fragte ich unsicher, ob ich es überhaupt erfahren durfte.

„Wir haben ausgearbeitet von welchem Dämon du besessen bist.“

Ich zog scharf die Luft ein. „Und?“

Matt schüttelte den Kopf. „John erklärt dir gleich alles.“

Das war das letzte was er sagte bis wir die Zentralle – ich hatte den Raum in dem ich verhört worden war so genannt – erreichten.

Matt führte mich zu einem der Stühle, die um den großen Tisch standen und drückte mich mit sanfter Gewalt an meiner unverletzten Schulter hinunter.

Dann setzte er sich mir gegenüber.

John und George hatten dort schon Platz genommen und flüsterten sich gerade etwas zu.

Dann widmeten alle drei Jäger ihre Aufmerksamkeit mir.

„Nicole, wie ich hörte erinnern Sie sich an die Angriffe?“ Es war mehr eine Frage als eine Feststellung.

Ich nickte. „Ja, aber ich verstehe nicht ganz, was daran so ungewöhnlich sein soll.“

John übergab das Wort an George. „Aus früheren Beobachtungen und Berichten wissen wir, dass sich bis jetzt noch nie jemand daran erinnert hat, wenn der Dämon in ihm die Macht ergriffen hat.“

„Ohh….“ Tja damit war ja wohl eins endgültig bewiesen – ich war nicht normal.

„Sie haben gefragt ob wir die Tests auslassen können, wenn Sie uns erzählen wie alles vor sich gegangen ist.“ Nun sprach wieder John und machte an dieser Stelle eine längere Pause. „Ich kann Ihnen mit gutem Gewissen sagen, dass wir die Tests nicht zu machen brauchen. Dank Ihrer Mitarbeit konnten wir auch so herausfinden zu welchem Typ von Dämon Ihrer gehört.“

Mir klappte der Mund auf. Ich gab wahrscheinlich gerade ein ziemlich witziges Bild ab, aber ich wollte jetzt einfach nur noch wissen was genau mit mir nicht stimmte.

Nach einer kleinen Ewigkeit sprach John endlich weiter. „Die Beschreibung die Sie uns gegeben haben passt am besten auf den Seelensauger-Dämon. Sie haben diesen Kindern die Seele ausgesaugt.“

Von einer Sekunde auf die andere wurde mir eiskalt und alle Farbe schien aus meinem Gesicht zu weichen. Die Seele? Diese kleinen Lichtbälle waren die Seelen der Kinder?

Ach du Scheiße!! Was hatte ich getan?!?

„Das Problem daran ist, dass Sie die Seelen zum Überleben brauchen...“ John betrachtete mich entschuldigend, während Matt sein Gesicht in seinen Händen verbarg und George nervös mit seinen Fingern auf die Tischplatte trommelte.

„Das heißt, ich muss doch sterben, stimmt’s?“ fragte ich mit einem traurigen Unterton.

Matt schüttelte kaum merklich den Kopf, aber das sah ich gar nicht. Mein Blick war nur auf John geheftet, der mit seiner Antwort viel zu lange wartete.

„Nein, Nici. Sie müssen nicht sterben.“

Erleichtert aber auch verwirrt seufzte ich auf, sammelte mich dann und setzte zu einer weiteren Frage an. „Warum? Ich dachte ich brauche die Seelen zum Leben.“

John nickte. „Das ist korrekt, aber wir haben einen Ersatz. Es ist ein chemisch erzeugtes Mittel, das den Körper stärkt und ungefähr das gleiche Gefühl hervorruft wie die Aufnahme einer Seele. Der einzige Nachteil ist, dass es täglich um genau die gleiche Uhrzeit injiziert werden muss.“

Mein Gesicht war wie versteinert. Das war alles? Ich konnte leben, obwohl ich es eigentlich nicht konnte.

„Okaaay… Und was passiert dann mit mir? Ich meine, ich werde ja wohl kaum draußen herumlaufen dürfen, oder?“ Ich strich mir eine Strähne meiner nachtschwarzen Haare aus dem Gesicht, die sich selbstständig gemacht hatte.

„Sie werden hier bleiben müssen, bis wir denjenigen erwischt und erledigt haben, der verantwortlich dafür ist.“

Er machte eine Handbewegung auf mich, dann auf Matt. „Er wird Sie jetzt ins Krankenzimmer begleiten und Ihnen die erste Injektion verabreichen. Wahrscheinlich werden Sie dann ein wenig müde sein, aber dafür brauchen Sie keine feste Nahrung mehr zu sich zu nehmen.“

Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob sich Matt von seinem Stuhl und schritt zur Tür. Ich folgte ihm zögernd und gemeinsam verließen wir dann den Raum.

Bevor die Tür hinter mir ins Schloss fiel, hörte ich George noch ein paar Worte sagen, die ich aber leider nicht mehr richtig verstehen konnte. Nur dass die Zeit knapp wurde hörte ich aus dem dumpfen Gemurmel heraus.

„Matt?“ fragte ich und tappte ziemlich hilflos hinter ihm her durch den abgedunkelten Gang.

„Ja, was ist?“ er drehte sich halb zu mir um, ohne aber stehen zu bleiben.

„Warum wird die Zeit für mich knapp?“ fragte ich gerade laut genug damit er mich verstand.

Nun blieb er doch stehen und musterte mich einmal von oben bis unten. Er war mehr als einen Kopf größer als ich, so dass ich meinen Kopf leicht in den Nacken legen musste um ihm ins Gesicht zu sehen.

„Wer sagt das?“ fragte er und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar.

Ich biss mir nervös auf die Unterlippe. Wahrscheinlich hatte ich es nicht hören sollen, aber das war jetzt auch schon egal. „Ich glaube George hat etwas in der Art vorhin zu John gesagt – kurz bevor wir gegangen sind.“

Jetzt war es Matt der verlegen auf seiner Lippe herum kaute. „Mach dir deswegen keine Sorgen. Ich bin sicher wir finden den Übeltäter und dann kannst du bald wieder ein ganz normales Leben führen.“ Damit drehte er sich um und ging mir wieder voraus. Ich folgte ihm schweigend zum Krankenzimmer.

Dort angekommen setzte ich mich wieder auf den OP-Tisch und wartete geduldig auf die Spritze, die Matt sorgfältig vorbereitete.

„Werde ich nachher wieder so gruslig aussehen?“ fragte ich als er die dünne Nadel ohne lange zu zaudern in meinen Oberarm jagte.

Höchst konzentriert schaute Matt mir ins Gesicht. „Nein, das ist ein Vorteil an diesem Ersatz. Deine Hautfarbe und deine Lippen werden genauso aussehen wie immer.“

Augenblicklich breitete sich diese eisige Kälte in meinem Körper aus, nur dass sie diesmal von meinem Arm ausstrahlte.

Ich nickte und schaute meine Füße an. Ja, sie waren immer noch nackt und schmutzig. Ob ich nach einer Dusche fragen sollte? Ich konnte es ja wenigstens mal versuchen, oder?

„Ähm..“, fing ich an, wusste aber nicht wie ich die Frage formulieren sollte.

„Ja?“ Er legte die Spritze beiseite und stand mir gegenüber.

„Ich wollte fragen ob ich… vielleicht könnte ich… duschen?“ Ich merkte wie ich rot wurde und verlegen zu Boden starrte.

Matt nickte beinahe sofort und machte eine Handbewegung auf die Tür. „Ich zeig dir gleich wo du hin musst. Und wahrscheinlich brauchst du auch neue Klamotten, wenn ich richtig sehe.“ Er betrachtete mein zerknittertes, aufgerissenes T-Shirt und meine schmutzigen Shorts.

„Ja, bitte.“

Mit einem Lächeln im Gesicht führte mich Matt in eine Art Badezimmer mit einer Dusche, einem Waschbecken und einer Toilette.

„So, lass dir Zeit. Ich hole dir etwas Neues zum Anziehen und warte dann vor der Tür. Ach ja, die Handtücher sind in dem Schrank da hinten.“

Dann ging er einfach und ließ mich in dem relativ geräumigen Zimmer allein.

Ich steuerte sofort die Dusche an und drehte das Wasser auf. Hier musste ich, anders als im Motel, nicht erst warten bis der Wasserstrahl warm wurde. Eilig schälte ich mich aus meinem Gewand und sprang in die Kabine.

Heißes Wasser rann mir über den Körper und vertrieb langsam aber sicher die Kälte in meinem Inneren. Der Dampf umrahmte mein Gesicht und erzeugte eine gesunde Röte auf meinen Wangen.

Knappe zehn Minuten später wickelte ich mich in ein kuschliges, weißes Handtuch und warf zum ersten Mal seit Tagen einen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken.

Ich war blass wie eh und je, aber wenigstens nicht bläulich – sehr beruhigend.

Matt hatte also die Wahrheit gesagt. Auch meine Augen hatten ein ziemlich normales Hellblau und kein stechendes Türkis. Meine Haare waren immer noch viel zu lang, aber dieses Problem konnte ich wohl nur durch einen Besuch beim Frisör beheben – was ich nicht wirklich wollte. Irgendwie gefiel es mir auch so ganz gut.

Tja, und was sollte ich jetzt tun? In mein schmutziges Gewand wollte ich auf keinen Fall wieder rein, sonst hätte ich mir die Dusche auch gleich ersparen können. Jetzt hatte ich allerdings das Problem, dass ich nichts außer diesem Handtuch hatte um mich zu bedecken. Toll, naja was sollte ich machen.

Langsam öffnete ich die Tür einen Spalt breit und steckte den Kopf in den Gang hinaus. Matt lehnte an der gegenüberliegenden Wand und wirkte überrascht, als er mich sah.

„Ich hab leider nichts zum anziehen…“ murmelte ich und schaute beschämt zu Boden.

Matt schaute sofort weg, auch ihm stieg die Röte in die Wangen.

Ohne mich anzusehen kam er näher, drückte mir einen kleinen Stapel Gewand in die Hand und blieb dann wie erstarrt stehen.

Ich schloss die Badezimmertür hinter mir wieder sorgfältig ab. Nicht dass ich erwartet hätte, dass Matt hereinplatzen könnte, aber ich fühlte mich so einfach wohler.

Fünf Minuten später stand ich fertig angezogen noch einmal prüfend vor dem Spiegel. Das T-Shirt war mir gefühlte fünf Nummern zu groß und auch die Hose hing an meinem Körper wie ein Bettlacken. Aus irgendeinem Grund war es mir wichtig, wie ich aussah, und dass obwohl mich sowieso nur diese drei Dämonenjäger zu Gesicht bekamen – nur sie drei.

Wie schon zuvor stand Matt lässig an die Wand gelehnt da und wartete auf mich.

„Sorry, das es so lange gedauert hat.“ Ich fuhr mir verlegen mit einer Hand durch die Haare.

„Kein Problem. Fühlst du dich gut?“

Diese Frage kam jetzt zwar etwas unerwartet, weil ich nicht wusste was sie zu bedeuten hatte, trotzdem antwortete ich.

„Jaa, nur etwas müde. Sonst ganz gut, warum?“ Ich schaute zu ihm auf und in seinem Gesicht bildete sich langsam ein Lächeln.

„Okay, ich begleite dich jetzt auf dein Zimmer. Dann kannst du dir eine Mütze schlaf holen.“

Ahh, jetzt fiel mir gleich noch eine Frage ein.

„Wie spät ist es eigentlich?“ Wir gingen gerade einen weiteren dunklen Gang entlang. Langsam fand ich mich hier zurecht und prägte mir sogar die eine oder andere Abzweigung ein.

Matt schob den Ärmel seiner Militärjacke ein Stück hoch und warf einen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk. Hätte ich sie getragen, hätte es sicher ausgesehen als trüge ich eine Wanduhr am Arm, so riesig war sie.

„Halb elf.“

„Abends?“ fragte ich weiter nach.

Matt nickte.

Mir klappte der Mund auf und ich fragte mich wie lange ich wohl schon hier war. Es mussten mindestens drei Tage vergangen sein.

Vor meiner Zimmertür hielten wir an. Matt öffnete nur die Tür, machte mir dann Platz und verschwand um die nächste Ecke bevor ich überhaupt den Raum betreten hatte.

Ich setzte mich erschöpft auf das Bett und schlief bald darauf an die Wand gelehnt ein.

 

Die Tage vergingen und ich fühlte mich merkwürdig.

Die Angst vor den Dämonenjägern war so gut wie verschwunden. Matt und George waren sogar sehr freundlich, unterhielten sich oft mit mir und machten des Öfteren Witze. Von Zeit zu Zeit besuchte mich Matt sogar in meinem Zimmer.

Nur John hielt sich eher im Hintergrund und ging mir aus dem Weg. Ich konnte diese Reaktion verstehen, immerhin war ich hier ja die Gefangene und nicht irgendeine Freundin die man eingeladen hatte.

Trotzdem war ich den Brüdern sehr dankbar dafür, dass sie sich so um mich bemühten. Sie führten mich manchmal durch die Gänge und öffneten hin und wieder eine der unzähligen Türen, hinter denen sich immer wieder eine neue Überraschung verbarg.

An diesem Tag hatte mir George den Trainingsraum der Jäger gezeigt. Von Sportgeräten über Sandsäcken und einem Trainingsparcours gab es einfach alles. Der Raum selbst war einfach nur riesig.

Zum ersten Mal seit ich hier war fragte ich mich wo ich mich eigentlich genau befand.

Anscheinend war es so etwas wie die Basis der Dämonenjäger, von wo aus sie ihre Aufträge erledigten.

Ich fragte aber nicht nach wo wir waren, denn ich glaubte nicht, dass sie es mir sagen würden. Auch wenn sie offen waren – so offen waren sie bestimmt nicht!

George machte sich gerade über ein paar Hanteln her, da hörte ich die Tür hinter mir über den Boden schaben.

Ich drehte mich halb um und sah Matt der in kurzer Hose und ohne T-Shirt hereinkam.

Mir strömte das Blut in die Wangen. Sofort drehte ich mich wieder zu George um und beobachtete ihn beim Gewichtstemmen. Ganz schön kindisch, ich weiß, aber ich konnte nichts dafür!

„Hey.“ Matt setze sich neben mich auf die lange Holzbank, die auf der gesamten Länge der Wand montiert war.

„Hey.“ Ich schaute zu Boden. Matt schien es nicht zu stören, dass er oben rum nichts anhatte, aber mich irritierte es ganz schön.

„George, John fragt nach dir. Er sagt er hat einen möglichen Anhaltspunkt gefunden und braucht einen Kundschafter.“

George verzog genervt das Gesicht und legte die Hantel ab. „Und warum schickt er nicht dich?“ Er stemmte die Hände in die Hüften und sah auf seinen großen – sie hatten mir gesagt, dass Matt zwei Jahre älter war als George – Bruder hinab.

„Weil jemand hierbleiben muss um auf unsere Gefangene“, er stupste mich leicht an, „aufzupassen.“

„Kannst nicht du gehen? Ich möchte gerne hierbleiben!“ George quängelte herum wie ein kleines Kind und stampfte wütend mit dem Fuß auf den Boden.

Matt erhob sich und baute sich vor seinem Bruder zur vollen Größe auf. „George, geh!“ knurrte er und zeigte auf die Tür.

George schien zusehends kleiner zu werden, drehte sich dann auf dem Absatz um und stürmte aus dem Zimmer.

Matt setzte sich wieder neben mich und holte einmal tief durch.

„Ich hasse es das zu tun“, murmelte er und starrte seine Knie an.

„Was?“ Ich verstand nicht ganz was er meinte.

„Ich hasse es ihm Befehle zu erteilen.“

Ich drehte mich im Sitzen zu ihm um und musterte ihn genau. „Aber du hast doch nur das getan was John dir aufgetragen hat, oder?“ fragte ich flüsternd nach.

Matt nickte leicht und legte den Kopf in den Nacken. „Da hast du auch wieder recht.“

„Dann mach dir darum keine Sorgen. Er wird sich bestimmt wieder beruhigen“, versuchte ich ihn zu beruhigen und fuhr mir unsicher mit der Hand durchs Haar.

„Ja klar.“

 

 

 

 

9. Kapitel

 

Ungefähr zehn Minuten saßen wir schweigend nebeneinander und starrten die gegenüberliegende Wand an.

„Hey, hast du Bock auf Sport?“ fragte Matt irgendwann und lächelte mich freundlich an.

Ich begriff nicht wirklich was das für eine Frage war. Sollte ich jetzt vielleicht auf eines der insgesamt drei Laufbänder steigen und loslaufen?

„Wie meinst du das?“

Matt zuckte unschuldig mit den Schultern. „Ich kann dir Kampfsport beibringen. Selbstverteidigung und so, wenn du willst.“ Er schaute verlegen auf die Bänder seiner modernen Sportschuhe.

Ah! So meinte er das!

„Klar, warum nicht.“

Breit grinsend erhob er sich und zog mich gleich mit auf die Beine. Ich wunderte mich immer wieder wie viel Kraft diese Kerle hatten.

Klar, ich war mit meinen vierundfünfzig Kilo nicht gerade schwer aber ich hatte einmal gesehen wie Matt eine riesige Kiste auf einen der Gänge gewuchtet hatte und das, ohne sich großartig anzustrengen.

Seitdem hatte ich richtigen Respekt vor ihm, mehr als vor George oder sogar John. Klar, ich wusste, dass die beiden anderen ihm in Kraft in keiner Hinsicht nachstanden, aber Matt war trotzdem anders.

Er war allgemein freundlicher zu mir. George war das zwar auch, aber im Gegensatz zu seinem Bruder wirkte es bei ihm gezwungen. Als wollte er unbedingt, dass ich ihn mochte.

Und das tat ich auch. George war ein super netter Kerl. Er hörte mir oft schweigend zu wenn ich ihm etwas aus meiner Zeit im Kinderheim erzählte und unterbrach mich wirklich nie. Aber irgendwie funktionierte es zwischen uns nie so richtig gut. Wahrscheinlich lag das auch daran, dass er mich ausspioniert hatte, als ich noch auf freiem Fuß gewesen war – so etwas wirkt sich nicht gerade positiv auf die Meinungsbildung aus.

„Nici? Alles okay bei dir?“ Matt klang leicht besorgt. Er stand direkt vor mir und musterte mich mit gerunzelter Stirn.

Ich war wohl ziemlich in Gedanken versunken gewesen, denn das er mit mir gesprochen hatte, hatte ich überhaupt nicht mitbekommen. Ich nickte schlicht und schaute zu ihm hoch.

Wir standen inzwischen schon auf der großen, dunkelblauen Trainingsmatte in der hinteren Ecke des Raums.

Matts Gesichtsausdruck lockerte sich etwas auf, obwohl er immer noch besorgt wirkte.

„Gut, womit möchtest du denn anfangen?“ fragte er und verschränkte die Arme vor der Brust.

Was?! Woher sollte ich wissen womit ich anfangen wollte? Hatte nicht er mich gefragt ob ich Selbstverteidigung lernen wollte?

Mein Gesicht sprach wohl Bände, denn Matt brach schlagartig in schallendes Gelächter aus.

„Was ist so witzig?“ Ich stemmte die Hände in die Hüften und schaute mit zusammengekniffenen Augen und gespielt ernster Miene zu ihm hoch.

„Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen! Einfach sehenswert!“ Er hielt sich immer noch den Bauch vor Lachen, aber wenigstens verstand ich ihn einigermaßen.

„Naja, woher soll ich denn bitte wissen was ich machen will?“ Ich gab meine Abwehrhaltung auf und zuckte mit den Schultern.

Plötzlich stand Matt viel näher vor mir als noch eine halbe Sekunde zuvor. Nicht einmal zwanzig Zentimeter trennten uns noch voneinander. Ich war wie erstarrt und ziemlich verwirrt über diese plötzliche Nähe.

„Was würdest du jetzt tun?“ fragte er, streckte seine Hand aus und legte sie mir leicht an den Hals.

Ich wusste, dass die Frage war, was ich tun würde, wenn mich jemand würgte, aber ich konnte mich nicht bewegen.

Es schien, als wäre ich versteinert und gleichzeitig am Boden festgefroren.

„Also?“ Immer noch stand er in derselben Position da und schaute mir von oben herab in die Augen.

Ich brachte es gerade so zustande leicht meinen Kopf zu schütteln – mehr aber auch nicht.

Nicht einmal wenn ich wollte, hätte ich mich gegen ihn wehren können. Unbewusst gefiel mir die Berührung und ein wohliges Kribbeln breitete sich in meinem Körper aus.

„Okay, also pass auf. Du nimmst jetzt deine Hand und schlägst meinen Arm so gut es geht in diese Richtung weg“, er machte mit der freien Hand ein paar Bewegungen und stand dann wieder vor mir wie zuvor.

Ich schluckte. Super, jetzt wusste ich wie ich es hätte machen müssen, aber ich konnte mich nicht dazu überwinden.

Das Kribbeln war immer noch da und es wurde immer stärker. Ich wollte jetzt auf keinen Fall, dass es aufhörte.

„Nici, du bist schon wieder ganz wo anders.“ Er ließ die Hand sinken und schaute mich nachdenklich an. Das Kribbeln verschwand schlagartig – schade.

Erst jetzt bemerkte ich, dass ich ihn angestarrt hatte.

Peinlich, peinlich. Naja, aber wie sollte man ihn auch nicht anstarren?

Er hatte wohl den durchtrainiertesten Körper den ich je gesehen hatte. Und von seinem Gesicht brauchte ich gleich gar nicht anfangen! Und erst diese Augen!

Wow, ich schwärmte grade. Nicht gut!

Um meine Gedanken wieder einigermaßen zurecht zu rütteln, schüttelte ich meinen Kopf ein paar Mal hin und her.

„Was hast du eben gesagt?“ Ich wischte mir eine Strähne aus dem Gesicht.

Matt verdrehte gespielt genervt die Augen. „Ich will dir hier etwas beibringen damit du nicht jeden Tag in deinem Zimmer sitzen musst und langsam aber sicher vor dich hingammelst.“

Ich biss mir auf die Unterlippe. Er hatte recht. Er wollte nur, dass ich meine Zeit wenigstens irgendwie nutzen konnte, obwohl ich das klarerweise gar nicht verdient hatte. Ich sollte eigentlich in einer finsteren Zelle ohne Essen und ohne Trinken eingesperrt sein und nie wieder rauskommen.

Aber Matt gab mir grad die Chance etwas mit meiner Zeit anzufangen und ich war dabei eben diese Chance an mir vorbei ziehen zu lassen.

„Sorry, ich weiß nicht was mit mir los ist. Tut mir wirklich leid.“ Ich presste mir die Handflächen vor die Augen und wandte mich ab.

Ich hatte ja jetzt echt schon ziemlich viel mitgemacht, aber so merkwürdig hatte ich mich trotz allem noch selten benommen. Hatte es vielleicht etwas mit Matt zu tun?

Nein, das konnte nicht sein. Das konnte ich mir einfach nicht vorstellen.

Ich schlang meine Arme um meinen Körper und ging ein paar Schritte. Matt schien mir zu folgen, denn ein leises Schaben auf dem Fußboden hinter mir war zu hören.

Am Ende des Raums angekommen, wollte ich umdrehen und in die andere Richtung zurücklaufen, aber Matt stand bereits hinter mir und versperrte mir den Weg.

„Was ist los mit dir?“ Er kam noch einen Schritt auf mich zu und drängte mich so immer weiter gegen die Wand bis mein Rücken die weißen Gipsplatten, die hier den Beton verdeckten, berührte.

„Ich weiß es nicht.“ Meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.

Ich wollte seitlich an ihm vorbeischlüpfen, aber er sperrte mir auch diesmal den Weg ab, indem er seine Hände links und rechts neben mir an der Wand abstützte.

„Nici?“ Matts Stimme war fordernd und gleichzeitig sanft. Es schien, als würde er mich mit seinem Blicken scannen. So sehr ich es auch wollte, ich konnte mich nicht abwenden. Er hielt mich praktisch gefangen, ohne mich anzufassen.

„Ich sagte doch schon, dass ich es nicht weiß.“ Komischerweise klang ich traurig und niedergeschlagen.

Ein Krachen und Rauschen, das aus der Decke zu kommen schien ließ mich zusammenzucken.

„Matt, bitte sofort in die Zentrale!“ forderte die Stimme aus dem Lautsprecher, die trotz der Störgeräusche, eindeutig zu John gehörte.

Matt drehte sich auf dem Absatz um und machte sich auf den Weg zur Tür.

„Matt, kann ich mitkommen?“ rief ich ihm hinterher.

Seine Mundwinkel zuckten leicht, doch er schüttelte den Kopf. „Sorry, das geht nicht. Du weißt ja, wie John ist.“ Damit verschwand er durch die Tür und ließ mich allein in dem riesigen Trainingsraum zurück.

Ich schleppte mich zur Bank zurück und setzte mich umständlich darauf.

Wenn sogar Matt auffiel, das etwas mit mir nicht stimmte, dann würde es sicher auch John auffallen. Immerhin kontrollierte er praktisch jeden meiner Schritte und fragte auch bei den beiden Brüdern nach. Ich wusste zwar, dass die mir, komischerweise, immer zur Seite standen und mich unterstützen, aber sicherlich gab es hier überall versteckte Überwachungskameras, oder wofür waren die vielen Monitore in der Zentrale sonst?

Ich war müde, das fiel mir gerade auf. Gähnend legte ich mich auf die schmale Bank.

Bequem war das nicht gerade, aber in mein Zimmer fand ich alleine nicht. Nicht einmal nach fast einer Woche hier kannte ich mich richtig aus. Es war alles einfach zu verschlungen und dass die Gänge immer so abgedunkelt waren half mir auch nicht gerade weiter.

Hier wäre meine Nachtsichtfähigkeit doch ziemlich von Nutzen gewesen. Leider blieb sie aber nach wie vor verschwunden.

Einerseits schien das ein gutes Zeichen zu sein, andererseits beunruhigte es mich.

Warum es wohl plötzlich aufgehört hatte? Vielleicht wegen des Stress und der vielen Angst die ich gehabt hatte in den ersten Tagen.

Meine Lider wurden immer schwerer und ich schaffte es einfach nicht mehr sie offen zu halten.

So kam es, dass ich in einen kurzen, aber trotz des unbequemen Lagers, erholsamen Schlaf glitt.

 

Zögerlich öffnete ich meine Augen. Wo auch immer ich mich grade befand, es war das gemütlichste, das ich seit langem gespürt hatte. Die provisorische Matratze in meinem miefenden Zimmer war es schon mal nicht, da war ich mir hundertprozentig sicher. Aber wo war ich dann?

Die Bank im Trainingsraum hatte sich auch anders angefühlt – härter.

Tja, dass ich die Augen aufmachte brachte mir leider auch nicht wirklich viel. Im Raum war es dunkel, ich konnte nicht die geringste Kleinigkeit erkennen.

Tastend bewegte ich mich weiter. Bald fand ich die Bettkante.

Jetzt war ich mir ganz sicher, dass ich nicht in meiner Kammer war. Das hier war ein richtiges Bett und so wie es aussah, oder sich anfühlte, auch noch ein ziemlich teures. Das Bettgestell war aus massivem Metall und schien recht robust zu sein.

Wäre ich nicht so furchtbar feige, ich wäre aufgestanden und hätte nach einem Lichtschalter gesucht. So aber, blieb ich nach einiger Zeit einfach regungslos liegen und starrte in die Finsternis. Gleichzeitig lauschte ich meinem Herzschlag und trommelte im selben Rhythmus auf die Bettdecke neben mir.

Plötzlich und ohne Vorwarnung ging das Licht an. Reflexartig schloss ich die Augen und schlug die Hände vors Gesicht. Das Licht brannte in meinen Augen, was dazu führte, dass sie anfingen zu tränen.

Das war doch kein Neonlicht, oder?

Nein! Niemals!

Aber wo gab es hier kein Neonlicht? Mein, immer noch müdes, Gehirn ratterte und arbeitete auf Hochtouren, fand aber nichts Passendes.

Hatte ich alles nur geträumt und war vielleicht immer noch in meinem Zimmer im Motel? Konnte das sein?

Nein, oder? Ich gab auf!

Musste ich eben sehen, was auf mich zukam.

Und was da grade auf mich zukam war niemand geringerer als Matt.

Er lehnte lässig in einem hellbraunen Holztürrahmen und schaute mich amüsiert an.

Blinzelnd vertrieb ich die Tränen aus meinen Augen und richtete mich langsam auf. Der Raum in dem ich mich befand war für meine Verhältnisse purer Luxus. Überall teuer aussehende Holzmöbel. Die Wände waren in Weiß gehalten, bis auf eine. Die am Kopfende des Betts war in einem dunklen Kirschrot gestrichen, was richtig gut in das Zimmer passte. Der Boden war mit einem ebenfalls Dunkelroten Teppich ausgelegt und sah richtig kuschlig aus.

„Auch schon wieder wach?“ Matts Stimme riss mich, mal wieder, aus meinen Gedanken.

Ich nickte einfach, da ich befürchtete, meine Stimme könnte noch zu verschlafen klingen. Ich wollte mich ja nicht blamieren.

Nach ein paar Mal schlucken, traute ich mich dann aber doch etwas zu sagen, obwohl meine Stimme, wie schon befürchtet, ziemlich rau und brüchig war.

„Wo bin ich hier?“ Wieder schaute ich mich genau um. Der Raum war sogar ganz schön groß, für das, dass es scheinbar ein Schlafzimmer war.

Matt antwortete nicht sofort, sondern gab seine Position in der Tür auf und setzte sich neben mich auf die Bettkante.

„Mein Schlafzimmer. Ich dachte, du würdest vielleicht gern mal in einem bequemen Bett schlafen, nicht auf dieser Sperrholzplatte die George da gebastelt hat. Und da John und mein lieber Bruder grade nicht hier sind, wird sich auch keiner der beiden aufregen können.“ Er grinste breit und musterte mich.

„Oh, wo sind sie denn?“ Eigentlich interessierte es mich gar nicht, aber ich fragte einfach aus Höflichkeit.

Matts Miene wurde augenblicklich angespannter. Ich hätte wohl doch nicht höflich sein sollen…

„Sie glauben, dass sie denjenigen erwischt haben, wegen dem du ein Seelensauger bist.“

Ich musste schlucken. Das hörte sich ganz schön gefährlich an.

„Aber ihnen kann doch nichts zustoßen oder?“ In meiner Stimme klang leichte Verzweiflung mit. Wegen mir sollte niemand mehr verletzt oder gar getötet werden, davon hatte ich ein für alle Mal genug!

„Nein, keine Sorge. Sie erkunden nur die Gegend um seinen Unterschlupf.“

Erleichtert atmete ich aus.

John wollte zwar nichts mit mir zu tun haben, trotzdem war er sicher ein netter und anständiger Mensch. Und George. Tja, ich wollte auf gar keinen Fall, dass ihm etwas passierte. Obwohl er mir nicht so sympathisch war wie Matt, war er immer freundlich und bemühte sich sichtlich um mich.

„Wie kommt’s eigentlich immer, dass du hier bleiben musst?“ Scheiße, jetzt sprach ich schon ohne nachzudenken!

Matt schien die Frage aber nicht zu stören. Ganz im Gegenteil! Er lächelte und schien erleichtert, dass ich das Thema gewechselt hatte.

„Ich kenne mich am besten am Computer aus und muss die Station bewachen.“

„Warum?“ Schon wieder geredet ohne nachzudenken!

Matt schüttelte breit grinsend den Kopf. „Ganz schön neugierig heute, was? Naja, dann erzähl ich’s dir eben. Es kommt von Zeit zu Zeit vor, dass Dämonen, vor allem die starken, die Station angreifen. Sie wollen damit eigentlich erreichen, dass wir von der Bildfläche verschwinden, aber meistens ist es genau umgekehrt und sie beißen ins Gras.“

Dass er das so locker erzählen konnte als wäre es das normalste auf der Welt machte mir irgendwie Angst. Auf der anderen Seite zeigte das doch nur, dass die Dämonen nicht hier rein konnten und das war wiederum gut.

„Und warum bist du dann nicht in der Zentrale, wenn du doch eigentlich die Station überwachen sollst?“ Er hatte recht! Ich war heute wirklich neugierig – und wahrscheinlich auch ziemlich nervig. Vielleicht sollte ich besser die Klappe halten.

„Wenn irgendetwas ist geht der Alarm los, also kein Stress.“ Er lächelte immer noch, als wäre heute Weihnachten und er würde jeden Moment seine Geschenke bekommen – was für ein komischer Kerl.

„Ähm, okay.“ So jetzt endlich hatte ich mein übervorlautes Mundwerk wieder unter Kontrolle. Wahrscheinlich ging ich ihm mit meiner Fragerei sowieso schon tierisch auf die Nerven.

„Willst du’s nochmal mit Selbstverteidigung versuchen oder bist du noch zu müde?“ fragte er nach einer gefühlten Stunde des Schweigens.

Müde war ich nicht mehr und warum sollte ich nicht zugreifen wenn sich mir eine zweite Chance bot? Ich nickte stumm.

„Gut, komm mit.“ Er stand auf ging zur Tür und wartete dort kurz auf mich. Dann führte er mich durch einen noch größeren Raum, der aussah wie ein Wohnzimmer und von dem mehrere Türen wegführten. Durch eine dieser Türen gelangten wir auf den abgedunkelten Korridor hinaus. Hier war es eindeutig kälter als in Matts…. Was war das eigentlich? Eine Wohnung vielleicht, ja wahrscheinlich.

Weit mussten wir nicht gehen, denn der Trainingsraum war gleich hinter der nächsten Ecke. Das Licht brannte dort immer noch und es war immerhin wärmer als auf dem Gang.

Matt deutete mit einer schlichten Handbewegung auf die blaue Matte hinten im Raum. Ich ging an ihm vorbei und wartete dann an der Stelle, auf die er gezeigt hatte.

Kurz darauf stand er auch schon wieder neben mir. Was er derweil gemacht hatte, fragte ich nicht. Ich hatte schon viel zu viel gefragt für meinen Geschmack und ich wollte mich nicht unbeliebt machen.

„Okay, also wo waren wir stehen geblieben, bevor uns John unterbrochen hat?“ fragte er und grinste mich von oben herab an. Mensch der konnte vielleicht grinsen. Es wunderte mich schon fast, dass er keinen Krampf ins Gesicht bekam.

Und was war mit mir? Ich war praktischerweise schon wieder erstarrt und glotzte ihn an. Es war wohl doch keine so gute Idee gewesen es nochmal zu versuchen.

„Gut, das vorhin hat nicht so gut funktioniert. Vielleicht sollten wir es mal mit einem Sandsack versuchen bevor wir auf Körperkontakt gehen.“ Er drehte sich um, holte einen, gut zwei Meter hohen, Sandsack aus der hintersten Ecke und stellte ihn direkt vor mich.

„Normalerweise haben Dämonen wie du schon einen sehr ausgeprägten Kampfstil oder genug Kraft um ohne Training auszukommen, aber bei dir bin ich mir da nicht so sicher.“ Er schien tatsächlich verwirrt. Warum das denn?

„Was soll das jetzt heißen? Dass ich nicht zuschlagen kann?“ Komischerweise klang meine Stimme ziemlich gereizt.

„Sieht ganz so aus.“ Wieder formten seine Lippen ein breites Lächeln.

„Na warte! Was soll ich machen?“ Jetzt war mein Ehrgeiz geweckt. Ich musste mir sowas ja nicht bieten lassen! Der würde schon noch sehen!

„Hau einfach drauf. Ich will nur mal sehen, was du wirklich draufhast.“

Mit einem abgehackten Nicken verlagerte ich mein Gewicht anders, um nicht umzukippen wenn ich zuschlug und holte dann aus.

Ich hatte wirklich mehr Kraft als vermutet. Meine Faust sauste durch die Luft und traf mit einem Knall auf das Kunstleder des Trainingsgeräts.

Matt, der dahinter stand und den Sandsack aufrecht hielt musste ein paar Schritte zurück machen, sonst wäre er glatt hingefallen.

Erstaunt riss er die Augen auf und starrte mich an – mal wieder.

„Und? Zufrieden?“ Ich klang ziemlich provokant, aber das war mir im Moment scheißegal.

„Wow! Also wenn du so zuschlägst möchte ich mich nicht mit dir anlegen“, sagte er wobei in seiner Stimme aber leichter Spot mitklang. Und das trug nicht gerade dazu bei, dass ich mich ihm gegenüber freundlicher verhielt!

„Okay, wenn du meinst. Dann eben gleich nochmal.“ Mit diesen Worten holte ich wieder Schwung und schlug diesmal noch fester zu.

Wieder das viel zu laute Geräusch wenn meine Fingerknöchel auf Widerstand stießen, dann Matt der versuchte das Gleichgewicht zu halten und schließlich hinter dem Sandsack hervor lugte.

„Jetzt zufrieden?“ knurrte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.

Er schien sogar sehr zufrieden zu sein. Wieder grinste er breit und nickte anerkennend. Ha! Ihm hatte ich’s aber gezeigt.

„Willst du’s jetzt noch mal mit Selbstverteidigung versuchen?“ Er stellte den Sandsack zurück zu den anderen und wartete auf meine Antwort.

Für was brauchte ich überhaupt Selbstverteidigung, wenn ich doch sowieso stark war?

„Mit der richtigen Technik könntest du noch stärker werden“, warf Matt ein als hätte er meine Gedanken gehört. Wahrscheinlich hatte er aber auch einfach nur die unbeantwortete Frage in meinem Gesicht gesehen.

So wie es aussah, konnte Matt Menschen gut einschätzen und erkennen was sie wollten und brauchten.

„Okay, dann eben Selbstverteidigung“, sagte ich gespielt genervt und machte mich so groß wie möglich.

Matt stand jetzt wieder so verdammt nahe vor mir. Ich hätte meine Hand nicht einmal großartig nach ihm ausstrecken brauchen, dann hätte ich ihn am Arm berühren können.

Aber ich war versteinert. Er war es, der seine Hand nach mir ausstreckte und sie wieder an meinen Hals legte.

„Also? Fang an“, meinte er mit ruhiger Stimme.

Einfach draufhauen? Aber was wenn ich ihm wehtat? Immerhin hatte ich doch grad gesehen wie viel Kraft wirklich in mir steckte.

Wieder schien es, als lese Matt in mir wie in einem Buch. „Keine Sorge. Ich halte schon einiges aus.“

Er kam noch ein Stückchen näher, was mir nur leider nicht wirklich viel half. Ich wurde nur noch versteinerter und atmete hektisch aus und ein.

„Was ist los mit dir?“ fragte Matt nach ungefähr drei Minuten in denen ich mich nicht bewegt hatte.

Ich schaffte es noch nicht mal mit den Schultern zu zucken. Großartig!

„Ich hab echt keine Ahnung“, flüsterte ich und war geschockt wie brüchig meine Stimme klang. War ich krank? Kam das von den Injektionen die ich immer noch jeden Tag bekam?

Ohne Vorwarnung fingen meine Knie an zu zittern. Ich taumelte rückwärts und knallte gegen die Wand. Gut nur, dass meine Schulter so gut verhielte, sonst hätte ich jetzt sicher wieder losgeschrien.

Ich rutschte zu Boden und blieb dort einfach sitzen.

Matt eilte herbei. Er ging vor mir in die Knie und nahm mein Gesicht in seine Hände.

Wieder breitete sich dieses Kribbeln in meinem Körper aus. Ich schloss die Augen und genoss es einfach.

„Hey, alles in Ordnung mit dir?“ Matt war wohl wirklich besorgt denn er schüttelte mich leicht.

Ich nickte schwach. Klar, ging es mir gut – jetzt auf einmal.

„Was ist mit dir los, Nici?“ Er ließ mich nicht los als er sich neben mich setzte.

Ich zuckte mit den Schultern. Wenn ich ihm noch einmal erklären musste, dass ich es selbst nicht wusste, würde ich hundertprozentig durchdrehen.

Matt wartete und wartete. Eine halbe Stunde verging und keiner von uns sagte etwas. Ich hatte ihm jetzt wohl einen ganz schönen Schrecken eingejagt, aber das hatte ich doch nicht mit Absicht gemacht!

Wahrscheinlich hielt er mich ab heute für unzurechnungsfähig oder etwas in diese Richtung – ganz toll!

Matt war wohl der Mensch den ich hier am meisten vertraute, oder besser gesagt in meinem ganzen Leben am meisten vertraute und das sollte schon was heißen! Da wäre es natürlich scheiße, wenn er mich für psychisch gestört hielt, oder?

Ich zog die Knie an und legte meine Arme um sie. Matt hatte mich schon vor ungefähr zwanzig Minuten losgelassen. Wahrscheinlich war es ihm unangenehm gewesen.

Ich lehnte meinen Kopf an die Wand und starrte hinauf zur Decke. Tja, allzu lecker sah die nicht aus musste man leider sagen. Kahler Beton – was sonst?

Als ich die Decke lang genug begutachtet hatte, legte ich mein Kinn auf die Knie und schloss die Augen. Matt saß immer noch schweigend neben mir. Ich glaubte, er hatte sich in der ganzen Zeit nicht einmal bewegt.

Irgendwann spürte ich eine Berührung an meiner Schulter. Verwirrt öffnete ich die Augen.

Es war Matt – klarerweise. Er war wohl eingeschlafen oder so, denn sein Kopf lag auf meiner Schulter.

Jetzt auf einmal sah er gar nicht mehr so stark und robust aus wie sonst. Er wirkte eher wie ein wehrloses Kind – leichte Beute für mich.

Was?! Was dachte ich denn da? Matt war keine Beute! Er war schon fast etwas wie ein Freund für mich und er würde nie zu meinem Opfer werden.

Ich schüttelte den Kopf – wahrscheinlich etwas zu kräftig.

Blinzelnd öffnete Matt die Augen und schaute mich einen Moment lang verdutzt an, dann setzte er sich ruckartig auf und wurde rot.

Es sah ziemlich witzig aus, das musste ich schon zugeben. Wofür er sich auch immer schämte, mich hatte es vorhin nicht gestört.

„Sorry, ich muss eingeschlafen sein.“ Er rieb sich mit einer Hand übers Gesicht, was den Anblick nur noch komischer machte.

Ich konnte ein Lachen nur mit größter Mühe unterdrücken und machte eine abwertende Handbewegung. „Kein Problem.“ Super, jetzt war es eindeutig zu hören, dass ich mich kaum zurückhalten konnte.

„Ach, was ist denn da so witzig?“ Er kniff leicht die Augen zusammen und legte den Kopf schief. Jetzt erinnerte er mich an den Hund meiner Nachbarin, als ich noch bei meinen Eltern gelebt hatte. Ich konnte einfach nicht mehr und lachte lauthals los.

„Hey!“ Auch Matt fiel in mein Lachen ein und bald hielten wir uns die Bäuche.

Mindestens fünf Minuten lang ging das so, aber irgendwann bekam ich einfach keine Luft mehr und hörte auf zu lachen.

„Also, was war jetzt so witzig?“ fragte Matt völlig außer Atem als auch er sich endlich wieder beruhigter.

„Dein Gesicht.“ Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar und beobachtete ihn.

„Du findest mein Gesicht also zum loslachen?“ Er klang schon fast beleidigt.

„Ich… so war das nicht gemeint…“ versuchte ich mich zu entschuldigen und drehte mich ganz zu ihm herum.

Ohne Vorwarnung lehnte er sich weiter zu mir herüber, bis unsere Gesichter nur noch ein paar Zentimeter voneinander entfernt waren.

Dann ging alles ganz schnell und war eigentlich auch schon wieder vorbei bevor ich überhaupt kapierte was los war.

Matt küsste mich einfach. Ich war völlig überrumpelt! Der Kuss war sehr kurz aber trotzdem sanft.

Im nächsten Moment ertönte auch schon ein ohrenbetäubendes Klingeln aus den Lautsprechern. Ich zuckte erschrocken zurück. Matt sprang auf und war im nächsten Moment auch schon aus dem Trainingsraum verschwunden – und ließ mich in meiner Verwirrung allein zurück.

Warum hatte er das getan?

Was sollte das? Wie sollte ich es verstehen?

So viele Fragen, aber die wichtigste im Moment war wohl, warum der Alarm losgegangen war!

 

 

10. Kapitel

 

Seit einer halben Stunde saß ich nun schon auf der Matte im Trainingsraum und wusste nicht, was ich denken sollte. Der Alarm schallte immer noch lautstark aus den Boxen und schien von allen Wänden widerzuhallen.

Was war passiert?

Und wo blieb Matt?

Ich wusste langsam aber sicher nicht mehr wo oben und unten war. Was war das? Warum hatte er das getan? Warum hatte er mich geküsst?

Ich dachte nach und zerbrach mir Wort wörtlich den Kopf, aber je mehr ich grübelte, desto mehr Fragen taten sich auf. Irgendwann hatte ich beschlossen an eines der Trainingsgeräte zu gehen um mich wenigstens ein bisschen abzulenken, aber es hatte nicht funktioniert.

Und jetzt saß ich hier, mitten auf der blauen, glatten Oberfläche in der hinteren Ecke des Raums und starrte vor mich hin, wobei ich es tunlichst vermied an Matt zu denken. Oder seine moosgrünen Augen. Oder seine zerzausten, hellbraunen Haare, die ihm wirr in die Stirn hingen.

Ich schüttelte den Kopf. Okay, langsam aber sicher machte ich mir Sorgen um meinen geistigen Zustand.

Ich war eine Mörderin! Verdammt nochmal!

Es grenzte an ein Wunder, dass nicht ALLE Menschen vor mir davonliefen. Dass Matt und auch George so freundlich zu mir waren, tat mir schon fast weh – ich verdiente es einfach nicht.

Aber dass Matt mich geküsst hatte, war eindeutig verwirrend. Sehr verwirrend. Ich sollte in irgendeinem Loch, weit ab von allen Menschen eingesperrt werden und dort verrecken und nicht von einem mehr als attraktiven Kerl, der mich höchst wahrscheinlich schon einmal angeschossen hatte, geküsst werden!

Irgendwas lief hier doch schief, oder nicht?

Ich hielt es im Sitzen nicht mehr aus und sprang auf. Hektisch lief ich auf und ab. Dieser ätzende Alarmton zerrte langsam aber sicher an meinen Nerven. Ich ballte meine Hände zu Fäusten, bis sich meine Fingernägel in meine Handflächen bohrten – super, jetzt blutete ich auch noch. Klasse!

Niedergeschlagen, verwirrt und frustriert, weil ich nichts mehr verstand, ließ ich mich auf die Holzbank an der Wand fallen. Meine Knie zuckten vor Nervosität und ich wäre auch beinahe wieder aufgesprungen, wäre es nicht in genau diesem Moment totenstill geworden. Für einen Augenblick vergas ich doch tatsächlich zu atmen, was ich nachher aber sofort mit einem beängstigenden Laut nachholte.

Ich versuchte mich auf die Stille zu konzentrieren – vielleicht hörte ich Matt ja kommen. Oder George. Ja, George wäre eindeutig besser gewesen! Bei Matt wusste ich einfach nicht mehr was ich denken sollte. Klar, ich mochte ihn sehr gern, aber ich kannte ihn doch gar nicht wirklich und außerdem war ich eine gefährliche Killerin – ein Dämon um genau zu sein.

Wenn sich mein Verdacht bestätigte, und es war wirklich nicht mehr als ein Verdacht – das hoffte ich zumindest – und Matt sich in mich verliebt hatte, dann wusste ich nicht was ich tun sollte. Und außerdem: wie hätte das passieren sollen? Wirkte ich auf ihn denn kein bisschen gefährlich? Oder abstoßend? Er wusste immerhin was ich getan hatte. Dass ich gemordet hatte.

Langsam breitete sich ein pochender Schmerz von meinen Schläfen über den ganzen Kopf aus. Toll, jetzt bekam ich doch glatt Kopfschmerzen – wegen ihm.

Ich musste dringend mit ihm darüber reden, bevor ich noch durchdrehte!

Vor lauter hin und her überlegen, bemerkte ich gar nicht, dass ich inzwischen nicht mehr allein im Raum war.

Matt war zurückgekommen und stand mit gesenktem Blick neben der Tür.

Erschrocken zuckte ich zusammen, als ich ihn im Augenwinkel sah. Als ich ihn dann genauer betrachtete, stieg mein Entsetzten bis ins Unermessliche.

Er trug immer noch nur seine Trainingshosen –und Schuhe. Auf seinem rechten Oberarm klaffte eine tiefe, ausgefranste Wunde, genau wie auf seiner Brust. Ich musste dem Reflex widerstehen mir die Hände vor die Augen zu legen, um das nicht länger ansehen zu müssen.

Stattdessen rang ich mir ein paar Worte ab. „Was ist mit dir passiert?“ Meine Stimme war nicht mehr als eine schwaches, kaum verständliches Flüstern, aber ich wusste, dass er es verstanden hatte

„Die Basis wurde angegriffen. John und George sind schon auf dem Weg hierher.“ Er klang, als würde er jeden Moment zusammenklappen. Ich sprang auf und hastete ihm zur Hilfe. Dankbar stützte er sich auf mir ab und deutete mit dem Kopf zur Bank. Im Schneckentempo bewegten wir uns vorwärts, aber irgendwann kamen wir dann doch endlich am Ziel an. Mir fiel auf, dass Matt bei jedem Schritt leise stöhnte – er musste wirklich schwer verletzt sein! Meine Panik und Sorge stieg immer weiter an. Was, wenn die Dämonen zurückkamen? Ich konnte die Basis nicht verteidigen! Und Matt in diesem Zustand auch nicht! Wir wären beide leichte Beute!

Ich knurrte unbeabsichtigt bei diesem Gedanken.

Matt schaute verwirrt zu mir herab. Ich schüttelte nur kurz den Kopf um ihn zu bedeuten, dass er besser nicht fragte und anscheinend kapierte er meine stumme Botschaft.

Mit schmerzverzehrtem Gesicht ließ er sich auf die Holzbank sinken. Ich nahm neben ihm Platz. So nah wie es nur ging, aber ohne ihn zu berühren.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“ fragte ich mit zitternder Stimme. Ich war den Tränen sehr nah – ich wollte nicht, dass es ihm schlecht ging.

„Nein, ist schon gut. Es kann nicht mehr lange dauern bis die beiden da sind, dann bringen sie mich ins Krankenzimmer.“

„Matt, was ist passiert?“ hakte ich flüsternd nach und klammerte mich an unsere Sitzgelegenheit. Vielleicht hätte ich besser nicht gefragt, aber es erschien mir als wichtig, dass ich es auch wusste. Immerhin war es nicht ausgeschlossen, dass die Dämonen meinetwegen hier waren – und Matt meinetwegen verletzt worden war!

„Es waren Dämonen – aber keine gewöhnlichen! So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nie erlebt und ich arbeite als Jäger seit ich fünfzehn Jahre alt bin. Es waren so viele auf einmal und noch dazu so stark. Ich musste mich ganz schön anstrengen um sie auszulöschen.“

Ich schluckte hörbar. „Ja, aber sie haben dich auch erwischt! Sind sie jetzt alle….tot?“

Er schüttelte langsam den Kopf. „Nein, nicht ganz. Einer ist mir entwischt.“

„Was wird mit deinen Verletzungen? Wirst du wieder gesund?“ fragte ich panisch weiter.

„Ich weiß es nicht.“

Was sollte das jetzt bedeuten? Würde er sterben? Hatten diese Dämonen eine Art Giftspeichel mit denen sie ihre Gegner töten konnten? Angst überflutete mich und ich fing unkontrolliert an zu zittern.

„Hey, es wird alles wieder gut“, versuchte er mich zu beruhigen, doch seine Stimme bebte vor Anstrengung.

Tränen schossen mir in die Augen. Es war mir egal, ob er mich heulen sah. Ich war schuld an dieser ganzen Scheiße! Nichts würde je wieder gut werden!

„Hey!“ Er legte mir einen Arm um die Schulter und zog mich an sich. Damit hatte ich ganz und gar nicht gerechnet, trotzdem währte ich mich nicht dagegen. Es war so tröstlich. Nicht einmal, dass er mir mit dieser Berührung mein T-Shirt mit Blut verschmierte störte mich. Die warme, dunkelrote Flüssigkeit tränkte den Stoff.

Als er aber immer weiter blutete, und zusehends blasser wurde, drückte ich ihn sanft von mir weg und schaute mich Hilfe suchend um. Klar, dass ich keine Hilfe fand, dafür entdeckte ich Handtücher in einem Regal auf der anderen Seite des Raums.

So schnell wie jetzt war ich noch nie gelaufen. Es fühlte sich an, als würde ich den Boden nicht berühren, sondern einfach schweben.

Mit sämtlichen Tüchern, die ich gefunden hatte, ließ ich mich neben Matt zu Boden. Er sah wirklich nicht mehr gut aus. Ich musste es irgendwie hinkriegen und die Blutungen stoppen, sonst würde er sterben – das war ganz sicher!

Ich legte also die Handtücher über die riesige Wunde auf seiner Brust und drückte leicht darauf. Matt sog scharf die Luft zwischen seine Zähne.

„Tut mir leid“, flüsterte ich. Wieder bahnten sich die Tränen ihren Weg und tropften auf sein Knie.

Matt schloss die Augen. Ich konnte sehen, wie sich sein Kiefermuskel immer wieder anspannte und dann wieder lockerte.

„W-warte.“ Er legte seine Hand auf die Wunde und rutschte von der Bank. Zuerst war ich entsetzt, weil ich glaubte er würde ohnmächtig werden, aber er tat es nicht.

Er atmete immer schwerer und Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Während er immer noch die Handtücher auf seiner Brust festhielt, kümmerte ich mich um die Verletzung an seinem Arm. Es sah so aus, als hätte ihm jemand, oder etwas das Fleisch von den Knochen gerissen. Ich fühlte mich merkwürdig bei diesem Anblick, aber ich ignorierte es. Matt brauchte jetzt meine Hilfe.

Selbst meine Finger und Hände waren jetzt mit seinem Blut verschmiert, trotzdem ließ ich das Handtuch, das ich gerade auf eine seiner Wunde drückte, nicht los. Er durfte jetzt nicht sterben!

Ich musste doch noch mit ihm reden!

Verzweifelt warf ich einen Blick über meine Schulter. George und John müssten doch bald hier sein, oder?! Matt hatte doch gesagt, dass sie schon unterwegs wären! Warum waren sie dann aber noch nicht da?

Nun wurde Matts Atem flacher. Panisch schaute ich ihn an – er war wirklich leichenblass!

„Matt, ich schwöre dir: wenn du jetzt stirbst, bring ich dich um!“ versuchte ich ihn davon abzuhalten, seine Augen zu schließen. Anscheinend funktionierte es, denn er lächelte mich, wenn auch kläglich, an.

„Glaubst du wirklich, dass du mich so schnell los wirst?“ Seine moosgrünen Augen waren auf mich gerichtet und er lächelte immer noch, auch wenn es ihm zusehends schwerer fiel.

„Hör auf mit dieser Scheiße! Es wird alles wieder gut, dein Bruder und John sind bald hier. „ Ich legte ihm meine freie Hand auf die Schulter und ging vor ihm in die Hocke. Solange er mich ansah, konnte ich sicher sein, dass er nicht ohnmächtig war – oder gar starb!

„Okay, pass auf. Konzentrier dich einfach auf mich, klar? Schau einfach mich an und halte durch!“ forderte ich ihn überflüssigerweise auf, denn er starrte mich sowieso schon an. Trotzdem nickte er schwach und fixierte mich dann.

Auch wenn ich ihn aufgefordert hatte, mich nicht aus den Augen zu lassen, konnte ich ihn nicht ansehen. All diese Verletzungen die er hatte, waren meine Schuld – davon war ich fest überzeugt!

Wenn diese Dämonen mich so dringend haben wollten, dann sollte sie mich haben, aber sie sollten den Jägern dabei kein Haar mehr krümmen – und zwar niemals wieder!

Denn egal mit welchen brutalen Methoden sie mich hierher gebracht hatten, ihnen war es zu verdanken, dass ich schon lange kein Kind mehr getötet hatte. Sie hatten mir eine große Last abgenommen, indem sie versuchten mir zu helfen – obwohl ich eigentlich den Tod verdient hätte.

Jetzt war es nur das mindeste, das ich Matt nicht zugrunde gehen ließ. Immerhin war er es, der mich hier noch am meisten unterstützte!

Mit gesenktem Blick verharrte ich in meiner Position und versuchte das Kribbeln, das sich nach ein paar Minuten in meinen Beinen ausbreitete, zu ignorieren. Ich versuchte einfach nur durchzuhalten – genau wie er.

Als Matt die Luft zwischen den Zähnen ausstieß, fuhr ich zuerst erschrocken zusammen. Ich dachte, es wäre vorbei! In Wahrheit, stürmten in diesem Augenblick George und John an mir vorbei und stießen mich so, wenn auch unbeabsichtigt, zur Seite.

Mit vereinten Kräften zogen sie ihn auf die Beine und schleiften ihn dann aus dem Raum. Ich blieb zurück – in einer riesigen Blutpfütze.

Erst jetzt kapierte ich, was gerade geschehen war. Meine Hände und mein ganzer Körper fing dermaßen an zu zittern, dass ich zur Seite kippte und unfähig war mich wieder aufzurichten.

Mein Atem ging nur noch stoßweise und ich hatte das Gefühl, als läge ein tonnenschwerer Stein auf meiner Brust.

Der Schock kam früher, als ich erwartet hatte. Eigentlich hatte ich gedacht, ich würde es noch wenigstens bis in mein ‚Zimmer‘ schaffen, aber das stimmte nicht. Ich konnte mich nicht mehr bewegen.

Mit geschlossenen Augen lag ich in dem, immer noch warmen, Blut und wartete. Auf was genau wusste ich nicht, aber ich wusste, dass ich allein nicht mehr klar kommen würde – ich brauchte jetzt Hilfe!

Zehn Minuten später hörte ich draußen auf dem Gang Schritte, die sich rasch näherten. Wie gebannt hielt ich den Atem an und blieb wie versteinert liegen.

„Nici? Können Sie mich hören?“ Es war John! Seine schweren Stiefel erzeugten ein merkwürdiges Quietschen auf dem Boden, dann blieb er genau neben meinem Kopf stehen und beugte sich zu mir herab. Zwei große Hände packten mich an je einer Schulter und zogen mich in die Höhe.

Meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding und waren genau wie dieser nicht zum stehen zu gebrauchen.

Alles was ich zustande brachte war, endlich meine Augen wieder zu öffnen und den Anführer der Dämonenjäger panisch anzustarren.

Ein paar Sekunden verstrichen, in denen er nichts sagte. Er musterte mich nur ein paar Mal prüfend von oben bis unten – wahrscheinlich um zu sehen, ob ich auch verletzt war.

Matts Blut tropfte nun von meiner Wange und Kinn und landete auf dem Ärmel von Johns schwarzer Jacke.

„Sind Sie in Ordnung, Nici?“ fragte er. Er sprach sehr langsam, so dass ich fast das Gefühl bekam, dass er mit einem kleinen Kind sprechen würde. Aber wahrscheinlich hätte ich ihn anders nicht verstanden, denn mein eigenes Blut rauschte mir plötzlich so laut in den Ohren, dass ich mir am liebsten die Ohren zuhalten wollte.

Gerade so schaffte ich es meinen Kopf ein wenig nach oben und unten zu neigen.

„Gut, dann kommen Sie am besten gleich mit – Sie sollten nicht allein sein!“ Mit diesen Worten packte er mein Handgelenk und zog mich hinter sich her auf die Tür zu.

Ich merkte nicht, wohin wir gingen, so sehr war ich damit beschäftigt meine Beine endlich unter Kontrolle zu bekommen. Tatsächlich stand ich immer sicherer auf den Füßen, je länger wir durch die abgedunkelten Gänge gingen.

„Wohin gehen wir?“ flüsterte und war mir eigentlich sicher, dass John das nicht gehört haben konnte – aber er hatte es gehört.

„Zuerst sollten Sie sich waschen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es angenehm ist so herumzulaufen.“ Bei diesen Worten warf er mir einen vielsagenden Blick zu und zerrte mich dann auch schon wieder weiter.

Vor der Tür dieses merkwürdigen Badezimmers, hielt er abrupt an, so dass ich fast in ihn hineingelaufen wäre.

„Beeilen Sie sich, ich hole Ihnen frische Wäsche.“ Und schon war er wieder hinter der nächsten Ecke verschwunden.

Ich konnte einen Herzschlag lang nur dastehen, vollkommen unbewegt und erstarrt wie eine Statue. Nur langsam fiel die Regungslosigkeit von mir ab und ich betrat den Raum hinter der Tür.

Wie schon beim letzten Mal brannte hier auch diesmal kein Licht, Gott sei Dank wusste ich ja inzwischen wo ich den Schalter fand.

Ich brauchte nicht sehr lange in der Dusche. Das Blut an meinem Körper war, zu meinem Glück, noch nicht getrocknet und so konnte ich es ohne größere Anstrengung einfach abwaschen. Gerade als ich mich in eines der Handtücher wickelte, pochte jemand, vermutlich mit der Faust, gegen die dünne Holztür.

„Ihr Gewand liegt vor der Tür. Ich bin gleich wieder da – warten Sie hier auf mich.“ Johns Stimme drang dumpf an mein Ohr, aber ich verstand was er sagte. Im nächsten Moment entfernten sich auch schon wieder schnelle Schritte von der Tür.

Hastig tapste ich, auf nackten Sohlen, zur Tür und öffnete sie. Auf dem Betonboden davor lag wirklich ein niedriger Stapel Klamotten, die ich sofort zu mir in den warmen Raum holte.

Ich schaute erst gar nicht nach, was er mir gebracht hatte – für gewöhnlich waren es sowieso Männersachen – und zog mich an so schnell ich konnte. Als Abschluss schlüpfte ich noch in die schwarzen Turnschuhe, die George vor einiger Zeit irgendwo für mich aufgetrieben hatte und verließ dann, wenn auch widerwillig, das warme Bad.

Auch diesmal waren es wieder Schlapperklamotten, aber das war immer noch besser als hier nackt herumlaufen zu müssen.

Mit vor der Brust verschränkten Armen, wartete ich vor der Tür auf John, der hoffentlich bald zurückkommen würde. Wie heißt es so schön: wenn man vom Teufel spricht. Nur dass ich nicht an den Teufel, sondern an John gedacht hatte. Genau in diesem Moment bog er um die Ecke, blieb aber sofort stehen, als er mich sah.

„Kommen Sie, George braucht mich drüben im Krankenzimmer!“ rief er mir zu. Sofort setzte ich mich in Bewegung. Ging es Matt etwa so schlecht, dass sie ihn zu zweit verarzten mussten? Das konnte doch gar nicht sein! Oder?

Nicht einmal drei Sekunden später hatte ich ihn erreicht und er führte mich durch das, scheinbar endlose, Labyrinth aus Gängen und Biegungen.

„Er wird doch wieder gesund, oder?“ hakte ich schließlich nach, weil ich es einfach nicht mehr aushielt.

„Ja, natürlich. Er hat zwar sehr viel Blut verloren, aber er kann einiges ab… außerdem haben Sie hervorragende Arbeit geleistet“, fügte er noch eilig hinzu, bevor er wieder vor einer Tür stehen blieb – der Krankenzimmertür.

„Wie? Was habe ich denn getan?“ fragte ich verdutzt nach. Ich konnte mich an nichts Nennenswertes erinnern.

„Hätten Sie die Wunden nicht mit diesen Handtüchern erstversorgt, wäre er vielleicht längst verblutet gewesen, wenn wir hier angekommen wären.“ Zum ersten Mal lächelte John in meiner Gegenwart und sah dabei mehr als nur dankbar aus.

Ich tat es mit einem Schulterzucken ab. Jeder hätte in dieser Situation so gehandelt, glaubte ich.

John legte gerade seine Hand auf die Türklinke, da ergriff ich nochmals das Wort.

„Soll ich hier draußen warten?“ Ich schaute ihn fragend von der Seite an und war überrascht, als er mit einem Kopfschütteln verneinte. ER wollte, dass ich mit zu seinem verletzten Kollegen kam? Wow, was für ein Fortschritt!

John betrat den, von Neonleuchten erhellten, Raum vor mir und ich beeilte mich, ihm zu folgen, bevor er es sich noch anders überlegen konnte. Egal was ich auch gleich sehen würde, ich wollte Matt jetzt nicht allein lassen.

Was ich dann aber sah, war erstaunlich – wenn nicht sogar beeindruckend.

Statt dem OP-Tisch stand nun eine Art Krankenausbett mitten im Raum und nahm so fast ein Viertel des gesamten Platzes ein. Mit John, George und mir wurde es also schon einigermaßen eng.

Matt lag zwischen den weißen Kissen und sah fix und fertig aus. Auch wenn er jetzt nicht mehr ganz so blass war wie zuvor, gab er gar kein so schönes Bild ab.

Schon fast etwas erschrocken über seinen Zustand blieb ich neben dem Bett stehen, während sich John und George zu diesem eigentümlichen, weißen Schrank zurückzogen und sich flüsternd unterhielten.

Als Matt mich sah, huschte ein kurzes Lächeln über sein Gesicht.

„Du bist hier“, meinte er nur und seine Stimme bebte bei jedem Wort. Ich schaffte es nicht, ihm zu antworten. Ich konnte nur dastehen, ihn anstarren und leicht nicken. Es tat mir so furchtbar leid, dass er jetzt so schwer verletzt war.

„Ich werd schon wieder“, murmelte Matt, wobei ihm die Schläuche, die aus seiner Nase führten und ohne Zweifel zur Beatmung dienten ganz schön zu stören schienen.

„Ich hoffe es“, krächzte ich zurück, als ich meine Stimme endlich wieder gefunden hatte.

„Klar.“ Er klopfte erschöpft mit einer Hand auf die Bettkante. Zögerlich setzte ich mich zu ihm. Ich wusste nicht, wie ich mich entschuldigen sollte, denn immerhin waren diese Dämonen wegen mir hier gewesen – da war ich mir ganz sicher.

Ein paar Minuten vergingen. Im hinteren Teil des Raums machten sich John und George über irgendwelche klimpernde Werkzeuge her, aber ich konnte von meinem Standpunkt aus nicht erkennen, was genau sie dort trieben. Eigentlich war es mir auch scheißegal.

Ich hoffte innerlich, dass Matts Verletzungen komplett verheilen würden – und zwar alle!

Als ich ihn wieder ansah, erschrak ich im ersten Moment. Völlig reglos lag er da, die Augen geschlossen. Allein, dass sich seine Brust unter der dünnen, weißen Decke leicht hob und senkte verriet, dass er nicht schon tot war. Erleichtert atmete ich geräuschvoll aus – was sofort Georges Aufmerksamkeit erweckte.

„Alles in Ordnung mit dir Nici?“ wollte er wissen, wobei er kurz seinen Blick zu mir herüber schweifen ließ.

„Ja, alles klar.“

Geflüster war zu hören, dann legte George die Schere, die er gerade in der Hand hielt, zur Seite und kam zu mir herüber.

„Ich bring dich in mein Zimmer, dann kannst du dir eine Mütze Schlaf holen“, meinte er, ohne auf Johns empörten Blick zu reagieren. Ich wusste ganz genau, dass er etwas dagegen hatte, wenn sie mich in ihre privaten Räume ließen – und ich war nicht böse deshalb. Jeder halbwegs normale Mensch hätte so reagiert – bis auf die beiden Brüder eben.

Etwas widerwillig stand ich auf und folgte George auf den Gang hinaus. Viel langsamer als sonst ging er mir voraus und hielt schließlich an, um einen schmalen, glänzenden Schlüssel in das Schloss einer, neu aussehenden, Tür zu stecken. Mit einem Klicken öffnete sie sich.

„Hier bitte.“ Er ließ mich vor sich eintreten und schaltete mit einer Handbewegung das Licht ein.

„Mach’s dir nur bequem. Mein Schlafzimmer ist da hinten“, er zeigte auf eine Ecke des geräumigen Zimmers, „falls du müde bist.“

Gerade als er gehen wollte, hielt ich ihn noch einmal am Arm zurück. Ich war mir nicht sicher, ob es für ihn unangenehm war, aber ich musste ihn das jetzt einfach noch fragen.

„George, bekommst du jetzt Ärger weil du mich hier rein lässt?“ Meine Stimme wackelte bedrohlich, aber als George mir ein zähnezeigendes Lächeln schenkte, fiel mir ein Stern vom Herzen.

„Natürlich nicht. John braucht mich doch, da wird er mich doch nicht bestrafen, nur weil ich dich in MEINE Wohnung lasse, meinst du nicht?“ Damit drehte er sich um und schlug mir wortwörtlich die Tür vor der Nase zu.

Nachdem ich mich einigermaßen gefasst hatte, schaute ich mir seine ‚Wohnung‘, wie er es genannt hatte, etwas genauer an.

Die Küche war klein und kaum zum Kochen zu gebrauchen, aber besser als nichts. Dafür waren das Wohnzimmer und das Badezimmer umso größer, auch wenn die Möbel viel zusammengewürfelter waren, als in Matts Räumen. Auch im Schlafzimmer sah es nicht sehr viel anders aus.

Das Bettgestell aus dunklem Holz passte nicht zu dem mehrfarbigen Schrank, der wohl eher in ein Kinderzimmer gepasst hätte, als in die Wohnung eines Dämonenjägers.

Aber so war George eben und das alles hier drückte seinen Charakter aus – total verrückt aber liebenswert.

Als ich mit meinem kleinen Rundgang fertig war, ließ ich mich seufzend auf das dunkelbraune Sofa im Wohnzimmer sinken.

Was mir noch aufgefallen war, war, dass es hier nirgendwo Fenster gab. Lag die Basis etwa wirklich unterirdisch, damit sie nicht von Zivilisten oder Dämonen gefunden werden konnte? Wäre gut möglich!

Naja, das alles kümmerte mich im Moment eigentlich herzlich wenig. Das einzige, was in meinem Kopf herum geisterte wie ein Nachtgespenst war nämlich Matt.

Wie es ihm jetzt wohl gerade ging? Nicht so glänzend vermutlich.

Schuldbewusst biss ich mir in die Unterlippe, bis ich Blut schmeckte. Diese verdammten Dämonen – damit meinte ich natürlich auch meinen eigenen! – sollte endlich aufhören mir mein Leben zu zerstören! Womit hatte ich das alles denn verdient? Es machte überhaupt keinen Sinn für mich!

Mit, vor Gedanken pochendem, Kopf, schlief ich schließlich in zusammengekauerter Haltung auf der Couch ein.

 

 

11. Kapitel


Ein Brennen in meinem Oberarm und die darauffolgende Kälte, die in meinen ganzen Körper ausströmte, ließ mich ruckartig aus meinem Schlaf aufwachen. Der Raum – eindeutig Georges Schlafzimmer – war nur spärlich beleuchtet. Nur die schmale Nachttischlampe brannte und malte so lange Schatten an die Wände.

Ich lag, zugedeckt, in dem breiten, kuscheligen Bett. George saß auf der Bettkante und ließ gerade die gebrauchte Injektionsnadel in einer Plastiktüte verschwinden.

Nur langsam fiel mir wieder ein, was passiert war.

„Matt?!“ stieß ich gedankenlos hervor und schnellte wie eine Sprungfeder in die Höhe. Verwirrt starrte ich an die gegenüberliegende Wand.

„Es geht ihm besser“, hörte ich George flüstern, auch wenn etwas Schweres in seiner Stimme mitschwang. Durch seine Worte etwas beruhigt, sank ich in die Kissen zurück und atmete ein paar Mal tief ein und wieder aus.

„Wie spät ist es?“ fragte ich erschöpft.

„Vier Uhr…nachmittags.“ Mit einem zaghaften Lächeln auf den Lippen setzte er sich anders hin, so dass er mich besser ansehen konnte.

„Was?!“ kreischte ich und schaute mich im Zimmer um, als könnte ich so einen Anhaltspunkt finden, dass er mich gerade anlog.

„Hier ist keine Uhr, aber glaub mir einfach, okay?“

Verdutzt nickte ich. Hatte ich wirklich einen ganzen Tag verschlafen? Das konnte doch gar nicht wahr sein! Auf meiner Stirn bildeten sich tiefe Falten.

„Na, jetzt tu aber nicht so, als hätte dir der Schlaf nicht gut getan“, meinte George nur und stieß mir sanft seinen Ellbogen gegen die Rippen.

„Nein, das nicht. Ich muss zugeben, es war sehr erholsam….“, sagte ich und setzte mich auf damit ich George nicht von unten ansehen musste. „Es wird jetzt wohl Zeit, dass ich zurück in mein ‚Zimmer‘ gehe.“ Damit klappte ich die Decke zur Seite und schwang meine Beine aus dem Bett, wobei ich darauf achtete George nicht zu berühren.

„Wenn du meinst. Aber eigentlich bin ich hier um dich zu fragen, ob du Matt besuchen willst… er hat nach dir gefragt“, fügte er eher weniger begeistert hinzu. Ich hatte fast das Gefühl, als wäre er auf seinen älteren Bruder eifersüchtig – aber das konnte ich mir andererseits auch wieder nicht vorstellen!

Wortlos erhob auch er sich von seinem Bett und zusammen verließen wir seine Wohnung. Während des ganzen Weges sprach keiner ein Wort. Ich hatte irgendwie das unerklärliche Gefühl, als wäre George auf irgendeine Art enttäuscht von mir. Aber warum, dass konnte ich mir nicht erklären – noch nicht!

Schweigend bekam ich mit, dass wir nicht Richtung Krankenzimmer gingen – so gut kannte ich mich hier inzwischen auch schon aus! – sondern auf den Trainingsraum zu.

Verdutzt folgte ich George durch das Halbdunkel. Wohin gingen wir jetzt? Wollte er mich nicht zu Matt bringen?!

Als er dann vor einer, mir bekannten Türe stehenblieb, wurde mir einiges klar. Matt war nicht mehr im Behandlungszimmer, sondern in seiner Wohnung. Also ging es ihm wirklich schon wieder besser!

Ein Lächeln tauchte wie von selbst auf meinem Gesicht auf. Die Erleichterung, die ich in diesem Moment verspürte, ließ sich mit nichts beschreiben.

Kommentarlos drückte George die Klinke hinunter und ließ mich eintreten, er selbst ging einfach davon. Verwirrt schaute ich ihm hinterher, bis er hinter der nächsten Ecke verschwunden war. Was hatte der denn? Freute er sich denn kein bisschen, dass sein Bruder den Angriff überlebt hatte?

Mit vorsichtigen, leisen Schritten ging ich auf das Wohnzimmer zu. Oh ja, auch wenn Georges Wohnung niedlich war, diese hier war eindeutig besser eingerichtet – geschmackvoller!

„Du brauchst nicht so rein zu schleichen“, hörte ich plötzlich eine tiefe Stimme hinter mir sagen – es klang leicht amüsiert. Wie von der Tarantel gestochen fuhr ich herum und erblickte John der lässig im Durchgang zur Küche lehnte und mich mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtete.

„Oh. Ich wollte Matt nicht wecken… falls er schläft“, versuchte ich mein merkwürdiges Verhalten zu rechtfertigen, was von John mit einem breiten Grinsen quittiert wurde. Schon komisch, so gut gelaunt kannte ich ihn gar nicht – zumindest nicht wenn ich in der Nähe war.

„Er schläft nicht. Er liegt im Bett und sieht wahrscheinlich fern. Du kannst ruhig rein gehen.“ Mit einem Kopfnicken auf die Schlafzimmertür löste er sich aus seiner Erstarrung. Er wollte doch jetzt nicht auch noch gehen?! Das konnte sie doch nicht machen – mich hier mit Matt allein lassen!

Mir klappte der Mund auf, was John nicht entging.

„George und ich müssen die Sicherheitsvorkehrungen verstärken, für den Fall der Fälle.“ Damit ging er an mir vorbei, blieb aber in der Wohnungstür noch einmal stehen.

„Ach, danke.“ Und verschwunden war er.

Ich verstand nur Bahnhof – wenn überhaupt! Also bedeutete das jetzt, dass George mir die kalte Schulter zeigte, während sich John, für irgendetwas, bei mir bedankte? Häää???

Als mir wieder einfiel in welcher Situation ich mich gerade befand, musste ich laut schlucken. Super, genau das was ich nicht wollte war eingetreten: ich war allein mit Matt.

Ich kannte noch nicht einmal den Grund warum er mich vor dem Angriff geküsst hatte und jetzt warfen mich diese beiden Idioten von Dämonenjägern in die Höhle des Löwen – oder besser gesagt in sein Schlafzimmer!

Mit zitternden Händen klopfte ich an das dünne Holz der Tür. Ein dumpfes ‚Herein‘ ertönte und ich atmete noch ein allerletztes Mal tief durch.

Im Schlafzimmer war es relativ dunkel. Die einzige Lichtquelle, der Fernseher, flackerte unentwegt. Merkwürdig, mir war bei meinem letzten Aufenthalt hier gar keine Flimmerkiste aufgefallen.

Matt lag auf einem riesigen Berg aus Kissen und Polstern und sah erstaunlich gut aus – für seinen Zustand zumindest.

Mit einem breiten Lächeln empfing er mich. Als ich die Tür leise ins Schloss drückte, kam ich mir vor wie eingesperrt.

„Hi, na? Wie geht es dir?“ fragte ich zögerlich und versuchte meine Stimme unter Kontrolle zu halten. Dieser Versuch scheiterte natürlich kläglich! Gut, dass er hier in diesem Licht nicht sehen konnte, wie mein Gesicht knallrot anlief.

Ich machte ein paar Schritte aufs Bett zu und blieb dann stehen. Näher wollte ich nicht!

„Es geht schon wieder…einigermaßen“, meinte er nur schulterzuckend und musterte mich von oben bis unten. Hatte ich Antennen auf dem Kopf, oder warum starrte er auf einmal so?

Naja, ich vermutete, dass war der passende Augenblick um einiges zu klären. Meine Hände bebten wie wild, so dass ich sie hinter meinem Rücken verstecken musste, als ich anfing zu reden.

„Ähm, Matt?“ Oh Gott! Wie ich mich anhörte!

„Ja?“ Neugierig schaut er zu mir auf. Selbst in diesem spärlichen Licht schienen seine grünen Augen zu leuchten.

„Ich denke wir sollten reden“, versuchte ich mich vorsichtig an dieses Thema heranzutasten, immerhin wollte ich ja nicht, dass er sich aufregte oder so.

„Geht klar, setzt dich doch.“ Er wies mit einer Hand kraftlos auf die freie Seite seines breiten Doppelbettes. Zögernd stand ich da und wusste nicht, ob ich mich jetzt setzen, oder lieber stehenbleiben sollte. Mich hinzusetzten schien mir schließlich doch als vernünftiger, denn schon jetzt zitterten meine Knie so sehr, dass ich es richtig mit der Angst zu tun bekam.

Wie in Zeitlupe setzte ich mich auf die Bettkannte, wobei ich sorgfältig darauf achtete, nicht in die Reichweite einer seiner langen Arme zu kommen – aus irgendwelchen Gründen, die ich selbst nicht verstand.

„Also, was ist? Hat George dich geärgert oder so?“ Scherzhaft grinste er mich an, doch ich konnte es nicht erwidern, diesmal nicht. Stattdessen verbiss ich mich in meine Unterlippe.

„Nein, eigentlich nicht.“ Meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Ich wusste nicht, ob Matt mich so überhaupt verstehen konnte, also sagte ich nichts weiter.

Mit einem Mal wurde es stockdunkel im Raum, das einzige was ich noch sah war, dass Matt die Fernbedienung in der Hand hatte – er hatte das Gerät ausgeschaltet.

Unbehagen breitete sich in mir aus. Die Decke raschelte leise und ich machte mich bereit zu flüchten. Ich wusste, dass es eine kindische Reaktion war, aber ich konnte immerhin nichts sehen!

„Was ist es dann?“ Verdammt! Ich hätte mich nicht setzen sollen!

Matts Stimme schien jetzt viel näher als zuvor. Was heißt es schien so: es war so! Ich spürte schon fast seinen Atem!

„W-warum hast du das getan?“ stotterte ich und krallte meine Hände an der übergroßen Hose fest.

„Warum hab ich was getan?“ Matt schien verwirrt und ich konnte mir sehr gut vorstellen, wie er jetzt aussah.

Okay, das reichte. Ich konnte nicht mehr sprechen! Ich wollte es, öffnete sogar meinen Mund, aber es kam einfach kein Ton heraus.

„Äh, Nici? Bist du noch da?“ Ein kalter Luftzug streifte meine Wange, dann spürte ich seine Hand auf meiner Schulter. Als würde mir das dabei helfen, meine Stimme wiederzufinden!

Ich wusste nicht einmal warum. Ich war einfach noch nie so nervös gewesen in meinem Leben. Noch nie hatte ich mit jemandem so ein Gespräch führen müssen. Und wie so wie es aussah war das auch gut so, denn ich war gerade im Begriff kläglich zu versagen!

„Ich…ich.“ Gut sprechen ging ja schon mal wieder, jetzt nur noch ein paar Worte finden, nicht wahr?!

Mein Herz drohte durchzubrennen. Matt nahm seine Hand nicht von meiner Schulter, was mir eiskalte Schauer über den Rücken jagte.

„Ich denke, ich weiß was du sagen willst“, meinte er schließlich. Er musste jetzt direkt vor mir sitzen.

„Ehrli…?“ hakte ich tonlos nach, aber weiter kam ich auch schon gar nicht mehr.

Wieder lagen seine Lippen auf meinen, diesmal aber länger.

Er war ein Kämpfer und er war stark, aber seine Lippen waren weich und warm und strahlten pure Geborgenheit aus. Ich fühlte mich, als würde ich in warmes Wasser eintauchen.

Ich musste ehrlich sein: dies war erst mein zweiter Kuss und ich hatte keine Ahnung was ich machen sollte. Ich hielt still und schloss meine Augen.

„Wir reden hiervon, stimmt‘s?“ fragte er, als er sich von mir löste. Sanft lehnte er seine warme Stirn gegen meine. Ich musste erst wieder zu Atem kommen. Mein Kopf surrte, als wäre ein Bienenschwarm darin gefangen – genauso wie mein Bauch.

„Ja, genau“, flüsterte ich nach einigen Sekunden.

„Gut“, erwiderte er triumphierend und ich hörte das Lächeln schon fast in seiner Stimme.

„Warum?“ Wow, er roch gut! Sein Duft stieg mir direkt in die Nase und machte mich ganz benommen – wie Drogen.

„Was meinst du damit?“ fragte er flüsternd.

„Warum tust du das? Du weißt doch, was ich getan habe… das ich ein Monster bin.“ Ich wollte mich zurücklehnen um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, aber er legte mir seine Hand in den Nacken und hielt mich fest.

„Du bist kein Monster! Du kannst nichts dagegen tun, was du bist“, redete er eindringlich auf mich ein. Selbst in der vollkommenen Dunkelheit schienen sich seine Augen in meine zu brennen.

„Aber ich habe so viele unschuldige Kinder getötet…“ fing ich an. Meine Vergangenheit holte mich ein – mit all ihren Erinnerungen. Tränen schossen mir in die Augen und kullerten über die Wangen.

Matt nahm mein Gesicht vorsichtig zwischen seine Hände und wischte sie alle weg, bis die Quelle schließlich versiegte. Schluchzend wie ein kleines Kind saß ich vor ihm und kam mir vor wie der größte Idiot auf dem gesamten Planeten. Ich wusste einfach nicht mehr wo oben und unten war!

Alles was Matt tat, verwirrte mich nur noch mehr und brachte meine Gedanken zum rasen. Aber trotzdem hatte er mir noch keine Antwort gegeben – zumindest nicht auf die Frage, die ich ihm gestellt hatte.

Als er merkte, dass ich endlich aufgehört hatte zu heulen, zog er mich an sich, wobei er kurz nach Luft schnappte, als ich mich an ihn lehnte. Ich wusste, dass ich so genau auf seine Wunde drückte, aber seine Arme hielten mich gefangen wie ein Schraubstock – ein sehr warmer, duftender und äußerst gutaussehender Schraubstock!

„Wer auch immer dir das angetan hat wird dafür bezahlen“, flüsterte er und vergrub sein Gesicht in meinen Haaren. Wie von selbst klammerte ich mich an ihm fest, als wäre er das letzte, was davor bewahren konnte in einen tiefen Abgrund zu stürzen.

Ich wusste, dass das, was gerade passierte falsch war. So etwas durfte nicht sein, schon allein deshalb, weil ich eine gefährliche Kreatur war – kein Mensch.

„Warum?“ fragte ich nochmal und spürte eine Sekunde später wie Matt langsam ausatmete. Er ließ sich sehr viel Zeit mit seiner Antwort – zu viel für meinen Geschmack – und schien genau zu überlegen, was er sagen wollte.

„Kennst du das Gefühl wenn du jemanden ansiehst und dich fühlst als ob du nach Hause kommst?“ beantwortete er meine Frage mit einer Gegenfrage. Ich brachte es kaum zustande meinen Kopf zu schütteln. Woher sollte ich es auch kennen? Ich wusste ja noch nicht einmal wo mein Zuhause war – oder ob ich überhaupt eines hatte!

„So geht es mir jedes Mal wenn ich dich ansehe“, er machte eine kurze Pause, „Und jedes Mal frage ich mich, warum es ausgerechnet dich erwischt hat.“ Seine Stimme wurde schwer und leise. Ich schloss meine Augen – als könnte mir das jetzt irgendwie helfen.

„Und was heißt das jetzt?“ Ich bewegte mich nicht einen Millimeter, während sich eine Gänsehaut schleichend über meinen ganzen Körper ausbreitete.

„Was es für dich bedeutet weiß ich nicht. Aber ich glaub ich… ich glaub ich hab mich in dich verliebt Nici.“

Seine Worte schossen durch meinen Körper wie Blitze – und taten auch genauso weh.

Wie konnte denn das alles nur sein? Wie konnte er mir verzeihen, was ich getan hatte – auch wenn es nicht meine Schuld war?!

Wieder wollte ich am liebsten weinen, aber ich unterdrückte es. So sollte er mich nicht noch einmal sehen!

Erst jetzt fiel mir auf, dass sein Kopf nicht mehr auf meinem lag. Panisch schaute ich mich um.

Waren seine Verletzungen etwas zu stark gewesen und jetzt war er zusammengebrochen?

Ich riss meine Augen so weit wie möglich auf, um irgendetwas erkennen zu können, aber es blieb vollkommen schwarz um mich.

Als ich dann anfing mit meinen Händen die Bettdecke umzuwühlen, ertönte sein tiefes Lachen direkt neben mir. Zuerst schrak ich zurück, doch dann durchströmte mich eine Welle der Beruhigung.

„Jag mir bloß nicht nochmal so einen Schrecken ein!“ stieß ich hervor und lehnte mich gedankenverloren an ihn, wobei ich darauf achtete ihn nicht zu sehr zu belasten.

„Ach komm schon!“ meinte er immer noch lachend, dann war ein leises Klacken zu hören. Das grelle Licht blendete mich, so dass ich meine Augen schließen musste.

Mein Herz fing wieder an wie wild zu rasen. Was würde John jetzt wohl von mir denken? Oder George, falls er es war, der gerade den Raum betreten hatte.

Stocksteif blieb ich sitzen und ließ die Minuten verstreichen. Ich hatte gar nicht gehört, wie die Tür aufgegangen war, aber dazu war ich auch viel zu sehr mit meiner kleinen Suchaktion beschäftigt gewesen.

Ein paar Schritte waren zu hören, dann berührte mich jemand an meiner Schulter.

Blinzelnd öffnete ich meine Augen und schaute zu John auf. Mit einem schwächlichen Lächeln auf den Lippen stand dieser vor mir und nickte in Richtung Zimmertür.

Verwirrt über seine Reaktion stand ich auf und warf noch einen letzten Blick zurück auf das Bett, auf dem ich noch bis vor ein paar Sekunden gesessen hatte. Matt saß nicht mehr da, sondern lag friedlich und mit geschlossenen Augen unter der Decke.

Was zum Teufel war jetzt wieder los? Ich verstand überhaupt nichts mehr!

„Und, wie geht es ihm?“ wollte John beiläufig wissen als wir gemeinsam aus der Wohnung gingen. Ich schaffte es kaum mit den Schultern zu zucken.

Erst jetzt fiel mir auf, dass meine Lippen immer noch brannten wie Feuer… und mein Bauch kribbelte als wären tausende Insekten darin eingeschlossen.

„Sie sehen etwas blass aus, geht es Ihnen gut?“ fragte er bevor er die Tür hinter mir ins Schloss zog.

„Ja. Ja, es geht schon, danke.“

„Nein, Nici. Ich muss dir danken – wirklich. Die beiden Jungs sind wie zwei kleine Brüder für mich. Wenn Matt gestorben wäre, hätte ich nicht gewusst, was ich tun sollte. Du warst nicht ganz unschuldig daran, dass er jetzt noch lebt“, erklärte er mir in ruhigem Ton. Seite an Seite gingen wir los, wobei ich nicht einmal wusste wohin.

„Das ist doch das Mindeste was ich tun kann…“ murmelte ich halbherzig. Meine Gedanken waren noch immer in Matts Schlafzimmer.

„Ich schulde Ihnen etwas.“ Er warf mir von der Seite einen prüfenden Blick zu, was mir, bedauerlicher weise, zeigte, dass er mir immer noch nicht vertraute. „Was immer Sie wollen“, hängte er noch schnell an.

„Ahm, gut. Dann lass uns endlich damit aufhören uns zu siezen, das ist umständlich und… dämlich“, sagte ich und schaute auf den Boden.

„Geht in Ordnung.“ Mit dieser Antwort hatte ich eigentlich nicht gerechnet, aber anscheinend hatte ich mich auch in John getäuscht. Er schien ein ganz netter Kerl zu sein, wenn er einen nicht gerade mit Argusaugen beobachtete.

„Es tut mir leid, aber du musst jetzt trotzdem wieder in dein Zimmer. Nichts für ungut, aber wenn du jetzt hier nur herumsitzt bist du uns nur bei der Arbeit im Weg.“ Mit einem entschuldigenden Blick blieb er stehen und zeigte den langen Gang entlang. „Ich denke von hier aus kommst du allein klar. Ich muss zurück zu George.“ Und wieder verschwand er und ließ mich in einer ungünstigen Situation allein zurück. Gott sei Dank hatte er in einem Punkt recht – ich wusste wo mein ‚Zimmer‘ war.

Zielstrebig steuerte ich auf die Tür, öffnete und machte das Licht an. Es hatte sich kein Bisschen geändert hier drin, seit ich das letzte Mal gegangen war. Alles war genauso öde und traurig wie immer.

Niedergeschlagen setzte ich mich auf mein Bett und lehnte mich mit dem Rücken gegen die kalte Betonwand. Jetzt würde mir wohl sehr, sehr viel Zeit bleiben um über alles nachzudenken. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also schloss ich die Augen und ließ meine Gedanken schweifen.


Wie sehr man doch aus seinem Tag-Nacht-Rhythmus gebracht werden konnte, wenn man die Sonne nie sah!

Es konnten Stunden gewesen sein, in denen ich regungslos dasaß und grübelte. Vielleicht waren es aber auch nur zehn Minuten. Ich hatte keinen Plan mehr.

Und genauso ging es mir in allen Bereichen meines Lebens – falls man das, was ich hatte als solches bezeichnen konnte.

Was in Zukunft aus mir werden würde war mir immer noch unklar. Es konnte ja auch noch sein, dass ich aus dieser ganzen Sache niemals wieder lebend rauskam. Darüber musste ich mir jetzt noch nicht meinen Kopf zerbrechen, das würde später noch kommen – das war sicher!

Das nächste, was mir Kopfschmerzen bereitete war Matt. Seine Reaktion auf mich war mehr als unnatürlich, wenn man mich fragte, und ich verstand einfach nicht, wie das sein konnte. Außerdem wusste ich nicht, was ich für ihn empfand oder ob da überhaupt irgendetwas zwischen uns war. Klar, als er mich geküsst hatte, hatte ich mich gefühlt wie eine Königin aber jetzt, wo er weg war, war da gar nichts. Das Kribbeln in meinem Bauch hatte aufgehört und allmählich war auch sein Geschmack von meinen Lippen verschwunden – mit ihm alles Gute aus meinen Gedanken.

Mir blieb nichts anderes übrig, als alles auf mich zukommen zu lassen. Vielleicht bedeutete das, dass die Basis demnächst wieder angegriffen wurde – nur diesmal stärker. Vielleicht würden sie dann alle drei sterben, nur weil ich hier war. Ich bezweifelte zwar keinesfalls dass Matt auch für mich kämpfen würde, aber bei John und George war ich mir da nicht so sicher – sie würden es eher für sich und einander tun.

Um alles noch einmal zusammen zu fassen:

Mein Leben war zurzeit eine wahre Achterbahnfahrt. Vor kurzem – oder eben auch langem – als ich Matt besucht hatte, war ich ganz oben gewesen. Jetzt schüttelte mich gerade eines der unzähligen Tiefs meines Daseins.

Ein unangenehmes Quietschen ließ mich aufschrecken. Gegen das grelle Neonlicht anblinzelnd konnte ich erkennen, dass die Tür langsam aufschwang. Eine verschwommene Gestalt – meine Augen brannten so sehr, dass ich kaum etwas sehen konnte – trat ein und blieb vor meinem Bett stehen.

„Nici, kommst du mal eben mit?“ fragte George und wartete geduldig, bis ich mich aus meiner Starre gelöst hatte.

Mit steifen Gliedern krabbelte ich zur Kante und schwang dann meine Beine zu Boden. Meine Schuhe hinterließen, genau wie Georges, ein Knirschen auf dem Beton. Gemeinsam gingen wir einige Gänge entlang.

Ich wollte nicht wissen um was es diesmal wieder ging. Glaubten sie, sie hätten erneut den Unterschlupf meines Folterknechts gefunden? Na da war ich ja mal neugierig!

Vor der Zentrale hielt George an, warf mir einen verwunderten Blick zu – er musste wohl bemerkt haben, dass ich merkwürdig drauf war – und trat dann ein. Ich folgte direkt hinter ihm.

Auch hier sah es aus wie immer und ich fragte mich ob ich allmählich dem Lagerkolar verfiel. Schnaubend setzte ich mich auf einen freien Stuhl. Das einzige, was hier heute anders war, war, dass Matt nicht am Computer saß und fröhlich auf die Tastatur einhämmerte – er fehlte ganz offensichtlich.

Mir gegenüber saß bereits John und auch er schien mitzukriegen, dass etwas mit mir nicht stimmte.

George lehnte sich hinter ihm an die Wand und blieb so eher im Schatten des Geschehens.

Gut, ich musste zugeben ein wenig gespannt war ich schon auf das, was sie mir zu sagen hatten – aber eben nur ein bisschen!

Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und wartete geduldig bis der Anführer der Dämonenjäger anfing zu sprechen.

„Wir haben ihn gefunden“, war alles was er sagte, aber es reichte, um mir fast die Augen aus dem Kopf zu treiben. Am weißen Blinken seiner Zähne konnte ich sehen, dass George inzwischen Grinste.

„Was?! Wie?!“ stieß ich hervor. Meine Stimme war hoch und piepsig.

John sah zufrieden aus. Anscheinend hatten seine Worte die Wirkung erreicht, die er erreichen wollte.

„Wir wollten es dir eigentlich gleich sagen, als wir wieder ankamen, aber da hatten wir viel zu viel zu tun… du weißt schon warum.“

Ich nickte. Verständlicherweise hatten sie sich zuerst um den verwundeten Matt und danach um die Abwehrsysteme der Basis gekümmert. Aber dass sie es mir erst jetzt sagten schockte mich dann doch irgendwie!

Sie hätten mir doch wenigstens Bescheid geben können – ich hätte es erwarten können! Innerlich ein wenig schmollend richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf John.

„Also war er… war ES es, das die Dämonen hierher geschickt hat?“ bohrte ich nach. Der ließ sich heute aber auch wirklich alles aus der Nase ziehen!

„Ja genau. Er hatte bemerkt, dass wir da waren und wollte uns so von sich selbst ablenken. Er wusste, wenn ihr hier unsere Hilfe braucht würden wir abziehen“, bestätigte er leicht nickend.

Ach so lief das also. Das Ding – was auch immer es war – war anscheinend nicht nur äußerst grausam, sondern auch noch clever. Das konnte ja nur schiefgehen!

Ich machte gute Miene zum bösen Spiel und versuchte meine Unterhaltung mit John fortzuführen.

„Habt ihr rausgekriegt warum… warum es ausgerechnet mich erwischt hat?“ fragte ich. Erst im Nachhinein wurde mir klar, dass es die Worte waren, die Matt in seinem Schlafzimmer benutzt hatte – ein Schauer lief mir über den Rücken.

„Nein, tut mir leid. Wir kamen nicht nah genug an die Höhle ran…“

„Höhle?!“ Mir klappte der Mund auf. „Heißt das wir haben es hier mit etwas wie dem Teufel zu tun der in irgendeinem unterirdischen Tunnel wohnt??“ Meine Stimme schwankte und ich betete, dass ich danebenlag.

„Nein, so ist es nun auch wieder nicht. Wir wissen nur noch nicht einmal zu welcher Gattung er gehört.“ John kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Auf jeden Fall muss er ziemlich mächtig sein um einen Seelensauger erschaffen zu können.“

„Na super“, murmelte ich ohne nachzudenken, wofür ich einen bösen Blick von ihm kassierte.

„Wir kriegen das schon hin, aber zuerst müssen wir warten bis Matt wieder auf den Beinen ist, sonst haben wir überhaupt keine Chance.“

Meine Hoffnung je wieder ‚normal‘ zu sein schwanden und schwanden mit jedem Wort das er sagte und mit jeder Sekunde die verstrich immer mehr. Das war’s also!

Ich war dazu verdammt von einem Dämon besessen zu sein, den mir irgendein gefährliches Ding eingepflanzt hatte.

Was war das nur für ein Tag!


12. Kapitel

 

Selbst als John bereits aufstand um den Raum zu verlassen blieb ich wie angewurzelt sitzen. Ich wollte nicht einfach untätig sein, aber ich wusste nicht, wie ich ihnen helfen konnte gegen dieses Monster zu kämpfen.

Wenn er wirklich so stark war, wie John vermutete, dann würde das alles kein Zuckerschlecken werden – das war mir schon jetzt klar.

Aber irgendeinen Weg musste es geben. Es gab immer einen!

Grübelnd bekam ich gar nicht mit, dass ich inzwischen ganz allein in der Zentrale war. Die beiden Jäger hatten sich wohl still und heimlich aus dem Staub gemacht – oder wollten mir einfach einen Augenblick zum nachdenken gönnen.

Wir waren zu viert, nur dass ich vermutlich keine allzu große Hilfe war. Außer!

Ja! Außer ich spielte das Ablenkungsmanöver. Ich wusste zwar noch nicht wie diese Höhle genau aussah, aber in Gedanken sah ich schon vor mir wie ein Kerl mit Hörnern und Drachenflügeln auf dem Rücken auf mich zukam und im letzten Moment von Matt, John und George überrumpelt wurde.

Dass ich dabei ernsthaften Schaden nehmen könnte, versuchte ich wenigstens vorläufig auszublenden. Jetzt musste Matt erst wieder vollständig gesund werden, da gab ich John recht, und erst dann konnten wir uns alle gemeinsam meinem Problem widmen.

Mit knackenden Gelenken erhob ich mich von meinem Stuhl. Da ich nur ahnen konnte in welche Richtung mein Zimmer lag, machte ich mich auf zum Trainingsraum. Auch wenn er leer war hätte ich dort wenigstens eine Möglichkeit mich abzulenken. Außerdem war Matts Zimmer gleich um die Ecke und…

Und was? Und ich könnte ihm vielleicht einen kleinen Besuch abstatten? Wie beim letzten Mal?

Das würde doch sowieso nur wieder dazu führen, dass ich nicht mehr wusste wo oben und unten war. Von ihm musste ich mich eindeutig fernhalten. Andererseits vermisste ich ihn schon irgendwie – und aus irgendwelchen unerklärlichen Gründen.

Er war der netteste, liebenswürdigste Mensch den ich in meinem Leben kennenlernen durfte. Nur dass er mich bei jeder Gelegenheit küsste bereitete mir etwas Sorgen.

Was sollte denn daraus schon werden? Selbst wenn ich mich in ihn verliebt hätte – was ich zurzeit eher nicht glaubte – könnten wir niemals zusammen sein. Er war ein Jäger und ich ein besessener Mensch, so etwas klappte nie. Vor allem weil Matt normalerweise Dinger wie mich abschlachtete – glaubte ich.

Als ich zu einer Kreuzung kam, an der vier Gänge aufeinandertrafen blieb ich stehen. Komisch, war ich hier schon einmal gewesen? Klar! Musste ich ja.

Den Weg in den Trainingsraum hatte ich mir auswendig gemerkt, da die beiden Brüder mich ziemlich oft dorthin mitgenommen hatten.

Warum war dieses Gebäude – oder was auch immer es genau war – eigentlich so verwirrend gebaut? Konnte es nicht einfach einen verdammten Gang geben an dem alle Zimmer lagen?!

Naja, danach würde ich mal jemanden fragen müssen – Matt vielleicht! Schnell schlug ich mir diesen Gedanken wieder aus dem Kopf. Wie konnte ich nur so dämlich sein!

Es sah ganz so aus, als hätte sein kleines ‚Geständnis‘ etwas in mir ausgelöst, das bis zu diesem Zeitpunkt tief geschlummert hatte – super!

Wenn das so weiterging konnte ich mich auch gleich von irgendeiner Brücke stürzen – was ich dann wahrscheinlich sowieso überlebt hätte.

Resignierend ging ich einfach weiter geradeaus und kam tatsächlich auf einen, mir bekannten, Korridor. Woran ich das sah?

Naja, mir war aufgefallen, dass in manchen Gängen die Deckenbeleuchtung, Türrahmen oder Klinken anders aussahen als in den anderen – alles Details auf die man auf den ersten Blick nie kommen würde.

Ich drückte die mittlere Tür auf und blickte in den grell beleuchteten Raum.

Hier drin war wohl wirklich alles von Beständigkeit. Seit ich hier war, hatte sich nichts geändert – ich glaubte, dass sogar der Staub in den Ecken immer noch derselbe war.

Mit schlurfenden Schritten schleppte ich mich in den hinteren Teil des Zimmers. Die blaue Matte war unberührt, aber der Blutfleck war verschwunden – wenigstens das!

Im Schneidersitz versuchte ich nachzudenken, aber es kam immer nur wirres Zeug dabei heraus, egal wie sehr ich mich bemühte. Irgendwann ließ ich es und legte mich hin um die Decke anzustarren – die auch nicht viel besser aussah als die in meinem Zimmer.

Als sich dann langsame Schritte näherten, blieb ich einfach liegen und schloss zusätzlich die Augen. Vielleicht würden sie mich ja in Ruhe lassen, wenn ich so tat als würde ich schlafen.

Tja, so wie es aussah hatte ich mich in diesem Punkt aber getäuscht. Anstatt wieder zu gehen ließ sich dieser Jemand neben mir nieder und blieb dann reglos sitzen.

Langsam wurde ich nervös. Ich glaubte nicht, dass John es war, denn der verhielt sich immer noch etwas zurückhaltender in meiner Gegenwart. Blieben nur noch George und Matt, wobei Matt eher ausfiel, weil der ja eigentlich in seiner Wohnung war.

Ja! Eigentlich, stellte ich fest, als ich meine Augen öffnete und meinen Kopf leicht zur Seite drehte.

Für das, dass er vor nicht allzu langer Zeit – ich wusste nicht einmal wie lange es jetzt her war – fast verblutet war, sah Matt erstaunlich gut aus. Sein Gesicht hatte wieder etwas Farbe angenommen und er versuchte zumindest aufrecht zu sitzen, was ihm allerdings schwerer fiel, als er zugeben würde.

„Stör ich?“ fragte er, als er bemerkte, dass ich ihn ansah.

„Nein, ist schon okay.“ Ich schloss wieder meine Augen. „Wie geht es dir?“ fragte ich mit ehrlichem Interesse.

„Gut.“ Seine Unbekümmertheit ließ mich erzittern. Er wäre fast gestorben! Hatte er das etwa so schnell verdrängt?!

„Warum bist du nicht in deiner Wohnung?“ fragte ich weiter nach. Eigentlich wollte ich gerade überhaupt nicht sprechen aber bevor er etwas sagen konnte, wollte lieber ich es tun.

„Ich musste mal wieder raus und da hab ich gesehen, dass die Tür nicht ganz zu ist.“ Die Matte quietschte leise, als auch er sich hinlegte – direkt neben mich. Ich schnappte unbewusst nach Luft, was ihn auflachen ließ.

„Meine Güte sind wir heute wieder schreckhaft.“

Ich ging nicht auf seine Sticheleien ein. „Muss ich wohl offen gelassen haben“, murmelte ich stattdessen.

„Ja, sieht ganz danach aus.“

Jetzt war es totenstill im Raum. Das einzige was ich schwach wahrnahm war Matts regelmäßiger Atem und mein eigener Herzschlag.

„Hast du darüber nachgedacht was ich gesagt habe?“ fragte er plötzlich. Mir wurde eiskalt. Natürlich wusste ich sofort wovon er sprach, aber ich wollte es nicht – also stellte ich mich dumm.

„Was meinst du?“ Er musste doch merken wie sehr meine Stimme zitterte! Er musste doch sehen dass ich mein Gesicht nicht mehr unter Kontrolle hatte, auch wenn meine Augen geschlossen waren.

„Ich glaube du weißt genau was ich meine“, meinte er und plötzlich spürte ich seinen Atem an meinem Ohr.

Ruckartig richtete ich mich auf, öffnete meine Augen und stützte mich mit den Ellbogen vom weichen Untergrund ab.

„Siehst du“, meinte er nur und grinste mir frech entgegen. Ich merkte beschämt, wie mir das Blut in die Wangen schoss.

„Ach, wirklich?“ konterte ich eher halbherzig und schaute an ihm vorbei. Das war einfach nicht zum aushalten mit Matt!

„Ich hätte wohl besser meine Klappe halten sollen, was?“ fragte er und im Augenwinkel sah ich, dass er traurig seinen Blick senkte. Sofort hatte er wieder meine Aufmerksamkeit.

„Ach was. Es war gut, dass du mir die Wahrheit gesagt hast… über deine Gefühle.“ Wieder konnte ich ihn nicht ansehen. Ich wusste nicht, warum es mir so verdammt schwer fiel, aber es ging einfach nicht.

„Und wie denkst du darüber?“ fragte er weiter nach und nahm eine Strähne meiner rabenschwarzen Haare zwischen seine Finger, um sie genauer zu begutachten. Was daran so interessant war, verstand ich nicht, aber ihm schien es etwas zu bringen.

„Ganz ehrlich?“ Ich legte meine Stirn in Falten und ließ mich wieder auf die Matte fallen, um erneut die Decke anzustarren. „Ich hab keine Ahnung wie ich darüber denken soll!“

So jetzt war es raus! Jetzt musste er endlich kapiert haben, dass mich diese ganze Angelegenheit zwischen uns mehr als verwirrte.

„Was bedeutet das jetzt für mich?“ Er klang entspannt, aber ich konnte spüren wie die Matte unter seinem Körper leicht bebte.

„Hör zu Matt“, flüsterte ich und drehte mich auf die Seite um ihn besser ansehen zu können. Ich ließ einen Augenblick verstreichen um abzuschätzen, was er gerade dachte, erst dann sprach ich weiter. „Ich mag dich sehr gern – das weißt du…“ fing ich an aber Matt unterbrach mich.

„Es gibt ein Aber, stimmt‘s?“ fragte er niedergeschlagen und ließ die Haarsträhne wieder los.

Langsam nickte ich, versuchte meinen Blick aber auf ihm ruhen zu lassen – was echt verdammt schwer war.

„Ich weiß nicht wie ich es dir erklären soll… es ist so schwierig.“ Ich wischte mir mit der flachen Hand übers Gesicht.

„Rück schon raus mit der Sprache“, forderte Matt mich, nun schon etwas ungeduldiger geworden, auf und legte seine Hand auf meine. Wieder bekam ich eine Gänsehaut – wie immer wenn er mich berührte.

„Ich…ich kann dir nicht sagen was ich für dich empfinde, weil ich es selbst nicht weiß. Verstehst du das?“ So gut es ging versuchte ich seinen Blick einzufangen und tatsächlich brannte sich das strahlende Grün seiner Augen Sekunden später in die meinen.

„Ja.“ Er setzte sich auf und ließ meine Hand los. Sein Gesicht sprach Bände! Er wirkte verletzt und enttäuscht aber vor allem niedergeschlagen. Er tat mir einfach nur unglaublich leid!

Es musste doch irgendeine Möglichkeit geben ihm zu helfen…irgendeinen!

„Aber kannst mir nicht eine Chance geben? Damit ich… vielleicht…“ stotterte er und brach schließlich ganz ab. Auch ich richtete mich auf und ergriff seine Hände – was ihn sehr zu überraschen schien. Okay, mich überraschte es eigentlich ja auch, aber ich hatte mich entschieden.

Ich hatte mich entschieden es auf einen Versuch ankommen zu lassen – was sollte schon Großartiges dabei schiefgehen?

„Ja.“

„Ähm…Was?!“ Matt riss erstaunt und verwirrt die Augen auf und schaute mich an, als wäre ich plötzlich grün im Gesicht und hätte fünf Augen.

„Lass es uns versuchen.“ Ich zauberte ein ehrliches Lächeln auf meine Lippen, das er sofort erwiderte.

Mir war klar, dass diese Verbindung zwischen uns niemals funktionieren konnte, aber tief in meinem Inneren hoffte ich es doch.

Überschwänglich zog er mich in eine Umarmung und presste mich an sich. Nur zögerlich konnte ich diese Geste erwidern, immerhin war ich so etwas nicht gewohnt.

Augenblicke verstrichen und er ließ mich nicht los – ganz im Gegenteil. Er vergrub sein Gesicht in meinen Haaren und atmete tief und ruhig ein und aus. Ich tat es ihm gleich.

„Danke“, flüsterte er bevor er mich wieder freigab. Ich konnte so schnell nicht reagieren, da gab er mir auch schon einen sanften Kuss auf die Wange bevor er aufstand und zwischen einigen Sandsäcken verschwand.

War ja klar! Zuerst machte er mich verrückt und dann haute er ohne ein weiteres Wort ab. Was sollte das denn überhaupt?!

Für ein paar Sekunden saß ich noch starr da und lauschte meinem beschleunigten Herzschlag, dann stand auch ich auf und machte mich auf den Weg zur Tür.

Nur wo sollte ich jetzt hin? Langsam bewegte ich mich nach links den Gang entlang, als ich hinter mir schnelle Schritte hörte – es war George.

Er kam, breit grinsend, auf mich zu und klatschte mir freundschaftlich auf die Schulter, als er mich erreicht hatte. „Na, was gibt’s?“ wollte er strahlend wissen und schaute auf mich herab.

„Nichts Besonderes“, meinte ich monoton und starrte auf meine Füße bevor meine Augen mich verraten konnten.

„Cool. Hast du Matt gesehen? Er ist nicht in seiner Wohnung und ich muss dringend mit ihm reden – und John auch!“ Bei Matts Namen biss ich mir unwillkürlich auf die Unterlippe, ließ es mir aber nicht anmerken.

„Ähm, er war gerade eben noch im Trainingsraum aber wo er jetzt ist weiß ich nicht.“ Immer noch vermied ich es ihn anzuschauen. George war ein ausgezeichneter Menschenkenner, er würde es sofort bemerken wenn ich ihm ins Gesicht log.

„Gut, dann kann er ja nicht weit gekommen sein. Willst du mitkommen? John hat sicher nichts dagegen, wenn du bei der Besprechung dabei bist.“ Er bückte sich leicht zu mir herunter, damit er mir besser ins Gesicht sehen konnte, bemerkte aber von meinen verwirrenden Gefühlen anscheinend gar nichts.

„Ja, klar – wenn John es erlaubt“, murmelte ich eher weniger begeistert. Ich hatte zwar gerade nichts Besseres zu tun, aber die Aussicht Matt gleich wieder zu sehen bereitete mir ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend. Nicht, weil ich ihn nicht mochte – ich hatte ihn mehr als gern – aber ich hätte eigentlich etwas Zeit für mich und meine Gedanken im Moment gut gebrauchen können.

Strahlend marschierte George neben mir her und führte mich zurück in die Zentrale – wo John schon auf einem Stuhl Platz genommen hatte.

Zur Begrüßung nickte er mir nur stumm zu – und ich erwiderte diese Geste, bevor auch ich mich setzte.

„Wo ist Matt?“ fragte der Anführer der Jäger George als sich dieser neben ihm niederließ.

George zuckte mit den Schultern und legte seine Stirn in Falten. „Ich weiß es nicht. Nici sagt, dass er vorhin im Trainingsraum war, aber jetzt ist er wieder weg. Vielleicht sollten wir ihn einfach über Lautsprecher rufen…“ Fragend sah er seinen Vorgesetzten an.

„Ja, tu das…“ Gedankenverloren starrte John an George vorbei – in meine Richtung.

Der jüngere der beiden Brüder ging in den hinteren Teil des Raums und machte sich an ein paar Knöpfen und einem winzigen Mikrofon zu schaffen. Gerade so konnte ich seine gemurmelten Worte vernehmen.

„Geht es dir nicht gut, Nicole?“ Erschrocken zuckte ich zusammen. Meine Gedanken waren wohl abgeschweift, doch John riss mich gewaltsam in die Gegenwart zurück.

„Ähm, doch. Wieso?“ Ich legte unbewusst meinen Kopf schief und verlagerte mein Gewicht etwas weiter nach hinten.

„Du siehst so… nachdenklich aus. Was hat George angestellt?“ hakte er ohne Pause weiter nach.

„Was hab ich angestellt?“ Plötzlich stand George wieder hinter John und schaute zwischen ihm und mir hin und her. Mit deutlicher Verwirrung im Blick setzte er sich wieder.

„ Ach, Nicole hier sieht etwas mitgenommen aus, findest du nicht auch?“ John warf mir einen weiteren vielsagenden Blick zu – als wüsste er über alles Bescheid…

Ich musste geräuschvoll schlucken. Was, wenn er es wirklich wusste, das mit Matt und mir? Würde er dann Matt bestrafen? Mich aus der Basis werfen? Oder ihn rausschmeißen?

Gar nicht auszudenken, was alles sein könnte, wenn er es herausgefunden hatte. Seine Worte spielten zumindest darauf an… oder ich bildete mir das alles nur ein – weil ich so schon mit genug Problemen zu kämpfen hatte.

„Da bin ich!“ Ruckartig schnellte ich herum, dass sämtliche Knochen in meinem Körper ein erbärmliches Knacken von mir gaben. Ich konnte es nicht verhindern, dass mir sofort wieder die Röte in die Wangen schoss. Meine Atmung beschleunigte Augenblicklich und mein Herz machte einen glücklichen Sprung, bevor es, viel schneller als zuvor, weiterpochte.

Ich musste meinen Blick von ihm abwenden, wenn ich nicht wollte, dass John und George von all dem etwas mitbekamen. Widerwillig senkte ich meinen Blick auf die Tischfläche und verschränkte meine, zitternden, Arme vor meiner Brust.

Matts Schritte hinter mir schienen den ganzen Raum zu erfüllen. Umso mehr erschreckte es mich, als er plötzlich den Stuhl neben meinem zurückzog und sich darauf fallen ließ.

„Was ist denn so wichtiges?“ fragte er ohne Umschweife. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, weil meine Haare mein Blickfeld einschränkten. Trotzdem spürte ich, dass er mir, aus dem Augenwinkel, immer wieder Seitenblicke zuwarf, während er sprach.

„Wir müssen reden.“ John schaute kurz George an und wandte sich dann wieder an Matt, der sich in der Zwischenzeit lässig zurückgelehnt hatte. „Es geht um Nici.“ Sofort hatte er meine ganze Aufmerksamkeit. Er wusste es also doch! Er wusste es!

Unwillkürlich warf ich Matt einen verzweifelten Blick zu, doch dieser zuckte nur mit den Schultern – und sah kein bisschen verängstigt aus.

„George und ich sind der Meinung, dass Nicole, als Mitglied dieses Teams, ein anständiges Zimmer verdient hätte.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause und schaute zwischen mir und Matt hin und her.

Mein Kiefer klappte, ohne mein Zutun, nach unten. Mit weit geöffnetem Mund starrte ich John an. Hatte er gerade wirklich gesagt, dass ich Mitglied seines Teams war? Oh mein Gott!

George neben ihm hatte sichtlich Mühe ein Lachen zu unterdrücken – schuld daran war wohl mein dümmlicher Gesichtsausdruck.

„Ja, es ist nicht gerecht, dich in einer dieser Kammern einzusperren, während wir in anständigen Wohnungen leben dürfen“, sprach John nun weiter und lehnte sich etwas weiter nach vorne, wobei er sich mit den Ellbogen an der Tischplatte abstützte.

„George hat sich bereits bereit erklärt, Nici auf der Couch in seinem Wohnzimmer schlafen zu lassen. Außerdem darf sie, von ihm aus, seine gesamte Wohnung benutzen. Jetzt ist es meine Frage, ob du, Matt, auch damit einverstanden wärst sie bei dir aufzunehmen – sagen wir mal jede zweite Nacht.“ Wieder wartete er und ließ seine Worte auf uns wirken.

Diesmal war es Matt, dessen Mund aufklappte. Für George gab es kein Halten mehr – er brach in schallendes Gelächter aus.

„Und, Matt? Was sagst du dazu?“ John legte sein Kinn auf seine, ineinander verschränkten, Finger und sah seinen Jäger fragend an. George kriegte sich allmählich wieder ein.

„I-ich…ich….“ Matt war eindeutig überrascht und vollkommen überrumpelt. „Ja, natürlich darf sie auf meinem…Sofa schlafen.“ Bei dem Wort Sofa warf er mir einen vielsagenden Blick zu – was mich fast zum Lachen brachte. Mir war schon klar, an was er ungefähr dachte – ansonsten wäre er ja kein Kerl. Nur würde ich es ihm so leicht ganz bestimmt nicht machen, immerhin hatte ich auch noch meine Würde.

Lächelnd nickte ich ihm zu und drehte mich dann zu John um. „Danke, das ist wirklich sehr nett von dir.“ Aufrichtig lächelte ich ihm entgegen.

„Das ist nur selbstverständlich. Außerdem brauchen wir dich noch, um den Dämon zu finden… da wäre es wenig ratsam dich auf einer Sperrholzplatte schlafen zu lassen.“ Mit diesen Worten stand er auf und flüsterte George etwas zu, bevor er durch eine Tür in der hinteren Wand verschwand.

„Gut. Was meinst du, soll sie zuerst bei mir, oder bei dir auf dem Sofa schlafen?“ Immer noch breit grinsend lehnte sich George in unsere Richtung und schaute von mir zu seinem Bruder und wieder zurück.

„Ähm, ich weiß nicht.“ Nun drehte sich auch Matt mir zu. „Vielleicht sollte sie es selbst entscheiden.“ Ein Blick in seine Augen zeigte mir zum ersten Mal wirklich, was er für mich empfand. Das Grün schien flüssig zu werden und zu schimmern – wie Moos in einem Bach. Für einen Moment war ich wie gefangen.

„Nici?“ George holte mich in die Gegenwart zurück. „NICI?!“ Widerwillig senkte ich meinen Blick um eine halbwegs anständige Antwort geben zu können.

„Keine Ahnung…Jungs… Macht das doch unter euch aus…Ich warte…draußen.“ Immer noch vermied ich es einen der beiden anzusehen. Matt, weil mich sein Blick einfach nur verunsicherte – und auf der anderen Seite schwach machte. George, weil er wohl sofort kapiert hätte, was zwischen mir und seinem Bruder läuft.

Erleichtert schnappte ich nach Luft, als ich die Tür hinter mir ins Schloss zog und mich an die kühle Betonwand lehnte. Er würde mich noch verrückt machen!

Ich presste meine Handflächen gegen meine Augen und verdrängte so auch noch das letzte bisschen Licht aus meinem Kopf. Nicht einmal eine Minute später konnte ich hören, wie die Tür geöffnet wurde.

Als hätte ich es nicht mitbekommen, blieb ich, wie erstarrt, stehen und bewegte mich keinen Millimeter.

Eine sanfte Berührung meiner Wange reichte aus, und ich wusste wem ich gegenüber stand – Matt.

„Hey.“ Seine Stimme war leise und er stand genau vor mir – ich konnte seinen warmen Atem an meiner Stirn fühlen.

Immer noch rührte ich mich nicht, ließ aber wenigstens meine Hände sinken. Ich konnte ihn jetzt nicht ansehen – es würde mich nur noch mehr verwirren. „Und?“ fragte ich stattdessen.

Aus Matts genervtem Schnauben konnte ich heraushören, dass er mit dem Ergebnis des Gesprächs keineswegs zufrieden war. „Du schläfst heute bei meinem Bruder“, sagte er schließlich kurz angebunden und lehnte seine Stirn gegen meine.

Erleichterung durchflutete mich. Auf der anderen Seite breitete sich im selben Moment Trauer und Enttäuschung in mir aus. Ich verfluchte meine Gefühle.

Wenn ich sie nur endlich verstehen würde! Wenn ich sie nur endlich richtig deuten würde! Es würde alles so viel einfacher machen…

„Ich muss jetzt gehen. George bringt dich sicher bald in seine Wohnung und… es tut mir leid…“ Seine Worte ließen mich die Stirn runzeln.

„Was? Was tut dir leid?“ Meine Stimme war nicht mehr als ein Hauchen in der kühlen Luft.

„Er darf es nicht erfahren… Niemand darf es erfahren…“

„Das weiß ich.“ Jetzt erst öffnete ich meine Augen – und sah wieder in dieses strahlende Grün.

„Bist du mir böse deshalb?“

„Nein.“

„Gut.“ Seine Lippen näherten sich meinen wieder, dann lagen sie aufeinander – für den Bruchteil einer Sekunde.

Schon im nächsten Moment wurde die Türklinke neben uns hinunter gedrückt. Bevor ich überhaupt hätte reagieren können, machte Matt einen Schritt rückwärts und stand nun mehr als einen Meter vor an der gegenüberliegenden Wand – und gleichzeitig viel zu weit von mir entfernt.

Es fühlte sich so verdammt falsch an, so viel Platz zwischen ihm und mir zu haben. Ich musste meinen Kopf schütteln, um wieder richtig denken zu können.

Und dann stand plötzlich George vor mir – und lächelte, wie er es immer tat.

„Und? Bereit?“ Er zog erwartungsvoll beide Augenbrauen in die Höhe und schaute zu mir herab.

„B-bereit? Wofür?“ Ich fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, um ihn besser sehen zu können.

Gespielt genervt verdrehte er die Augen und packte mich, mehr oder weniger sanft, am Arm. Mit einem letzten wehmütigen Blick auf Matt, verschwand dieser hinter der nächsten Ecke.

Langsam aber sicher überkam mich eine merkwürdige Vermutung. Merkwürdig nicht, weil ich sie nicht akzeptieren wollte, sondern weil ich es einfach noch nicht konnte.

Dieses Gefühl, wenn Matt bei mir war, war unbeschreiblich. Sobald er aber weg war, fühlte ich mich allein gelassen auf der großen, weiten Welt.

War ich etwa doch verliebt in ihn? Und hatte ich es vielleicht einfach bisher noch nicht gemerkt? Oder sogar verdrängt?

All diese Gedanken schossen mir durch den Kopf, während George mich durch die düsteren, kalten Gänge der Basis zog. Die Gänge und Windungen schienen meine wirren Gedanken nur noch anstacheln zu wollen, und so schaltete ich nach einiger Zeit einfach ab und ließ mich führen…

 

13. Kapitel

 

„So bitte. Hier sind noch ein paar Decken und ein Polster.“ Staub flog durch die Luft als George die Decken vor mir auf das Sofa fallen ließ. Mehr oder weniger ungerührt davon, dass er sich eigentlich richtig gut um mich kümmerte, starrte ich an die gegenüberliegende Wand.

Unbeirrt fuhr er fort zu reden. „Ich hab dir ja schon vorhin gesagt, dass ich heute Nacht auf die Bude aufpassen muss… aber du kannst ruhig schlafen – oder fernsehen. Du wirst sehen, du wirst gar nicht bemerken wann ich wieder zurück komme.“ Er grinste mich an und stupste mich mit dem Ellbogen in die Seite. „Ich bin leise wie ein Mäuschen.“

Ich erzwang ein Lächeln und nickte ihm stumm zu. Gut, dass er jetzt ging. Ich brauchte endlich etwas Zeit für mich.

Relativ elegant, für das, dass er so muskulös war, ging er zur Tür, drehte sich dann aber noch einmal um. „Ach ja, ich habe dir letztes Mal als ich draußen war ein paar Klamotten mitgebracht – keine Ahnung ob die dir passen… Naja, sie sind in meinem Kasten, kannst sie dir ja mal anschauen.“ Und weg war er. Die Tür fiel leise hinter ihm ins Schloss und endlich war ich ganz für mich.

Eine Dusche wäre wohl genau das gewesen, was ich gerade brauchte. Seit George mich und Matt beinahe vor der Tür der Zentrale erwischt hatte, lief mir andauernd ein kalter Schauer nach dem anderen den Rücken hinunter. Ich musste mich aufwärmen.

Dazu kam auch noch, dass George mir diese Injektion verpasst hatte, bevor wir bei seiner Wohnung ankamen. Ich konnte dazu nur sagen, dass Matt um einiges vorsichtiger und sanfter war als sein jüngerer Bruder.

Mit steifen Gliedern kämpfte ich mich in die Höhe und stapfte ins Badezimmer. Hier war es wenigstens angenehm warm und schön kuschlig. Sofort ging es mir wieder besser.

Nach wenigen Minuten stand ich auch schon unter dem heißen Wasserstrahl. Tausende kristallklare Tropfen suchten ihren Weg über meinen Körper und hinterließen unsichtbare Spuren auf meiner Haut.

Irgendwann wusste ich nicht mehr, wie lange ich schon unter der Brause stand, aber langsam wurde mir sogar richtig heiß. Also drehte ich das Wasser ab und trat aus der engen Kabine.

Auf einem niedrigen Stuhl in der Ecke lag gleich ein ganzer Stapel weißer Badetücher. George hatte gesagt, dass ich hier machen konnte was ich wollte und nun würde ich ihn beim Wort nehmen. Ich wickelte meinen Körper in eines der flauschigen, großen Tücher und zögerte dann.

Sollte ich es wirklich riskieren das Badezimmer, nur mit einem Handtuch bekleidet, zu verlassen? Was, wenn George doch früher zurückkam – das könnte peinlich werden!

Andererseits wollte ich nicht wieder in meine alten Klamotten zurückschlüpfen – mir blieb also gar nichts anderes übrig als es darauf ankommen zu lassen.

So leise wie möglich sperrte ich die Tür auf und drückte die Klinke hinunter. Vorsichtshalber steckte ich zuerst nur meinen Kopf durch den schmalen Spalt, der entstanden war. In der Wohnung war es mucksmäuschenstill. Langsam setzte ich einen Fuß vor die Tür, dann den zweiten. Keine Spur von George oder sonst irgendjemanden.

Nun wurde ich mutiger und tapste auf nackten Sohlen auf das Schlafzimmer zu. George hatte gesagt, dass die Wäsche in seinem Kleiderschrank war – und genau dorthin wollte ich jetzt um danach zu suchen.

Knarrend öffnete ich die Kastentür. Das erste, was mir ins Auge fiel war das Chaos, das hinter den Holzplatten herrschte. Man konnte nicht einmal erahnen, dass dieser Anblick auch nur irgendeiner Form von Ordnung folgte.

Es dauerte einen Augenblick, bis ich den unscheinbaren Stoffsack entdeckte, der auf dem Boden des Schranks lag. Sofort zog der, gut gefüllte, Beutel meine ganze Aufmerksamkeit auf sich – zu recht, wie sich Sekunden darauf herausstellte.

Mit einer Hand beförderte ich nach und nach ein Kleidungsstück nach dem anderen zu Tage. Mit der anderen musste ich die Schranktür daran hindern vor meiner Nase zuzuklappen – ausgeleiertes Ding!

Minuten vergingen, bis ich endlich das letzte T-Shirt neben mir zu Boden gelegt hatte. Nun stand ich allerdings vor der Entscheidung, was ich anziehen wollte.

Klar, so viel Auswahl war es nun auch wieder nicht, aber mehr als ich je gehabt hatte. Außerdem sahen einige der Teile richtig scharf aus – das musste man schon zugeben. George hatte anscheinend bei meiner Kleiderauswahl mehr Geschmack bewiesen, als bei der Einrichtung seiner Wohnung – und die Größe schien auch noch ausnahmslos bei jedem Kleidungsstück zu stimmen!

Ich probierte ein paar Kombinationen aus Jeans und Oberteilen aus, und entschied mich schließlich für ein blau-weiß gemustertes T-Shirt und dunkle Jeans. Flink schlüpfte ich hinein und schaute mich in dem Raum nach einem Spiegel um – aber ich fand keinen. Also suchte ich im Wohnzimmer und wurde, Gott sei Dank, endlich fündig. Und ich musste zugeben, dass ich nicht einmal sooo schlecht aussah. Aber irgendwie fast zu schade zum schlafen…

Also noch einmal zurück ins Schlafzimmer, neue Auswahl und angezogen. Und so stand ich Augenblicke später in einer Schlabberhose und einem Top mit breiten Trägern wieder im Wohnzimmer. Für einen Blick in den Spiegel hatte ich keine Nerven mehr, denn von einer Sekunde auf die nächste überfiel mich eine gewaltige Müdigkeit. Mit bereits zufallenden Augen, schleppte ich mich gerade noch so bis zum Sofa und ließ mich darauf plumpsen. Und Sekunden später befand ich mich schon im Land der Träume…

 

„Was fällt dir eigentlich ein?! Was denkst du dir nur dabei?!“ Eine wütende Stimme drang in mein Bewusstsein vor. Unbewusst drehte ich mich zur Seite und versuchte weiterzuschlafen.

„Was ICH mir dabei denke?“ Eine zweite Stimme. Ein empörtes Schnauben. „Wer im Glashaus sitzt, sollte wohl kaum mit Steinen schmeißen, denkst du nicht auch, George?“ Mit jedem Wort nahm die Lautstärke zu und aus der, anfangs angenehm rauen Männerstimme wurde ein Knurren.

„Was soll denn das jetzt bedeuten?“ Mein Gehirn registrierte nur langsam und schleppend, wer da sprach. Umso überraschter war ich, als ich neben Georges Stimme auch noch die seines Bruders vernahm. Was machte er denn hier?

Wie aus einem Reflex heraus blieb ich starr liegen und tat so, als würde ich immer noch schlafen.

„Ach, das weißt du doch ganz genau du elendiger Heuchler! Wer von uns hätte den fast angefangen zu sabbern, als er mir das erste Mal von ihr erzählt hat? John ganz bestimmt nicht!“ Matt war wohl wirklich sehr, sehr wütend auf George. Aber warum? Diesen wichtigen Teil des Gesprächs hatte ich wohl verschlafen.

„Umso schlimmer ist es, dass du dich jetzt an sie ranschmeißt! Du weißt, dass ich sie gerne habe!“ George klang eingeschnappt und beleidigt. Nur schleichend kapierte ich, dass es nur um mich gehen konnte – was meinen Zustand nicht unbedingt verbesserte. Meine Herz schien einen Schlag auszusetzen, nur um dann im doppelten Tempo weiterzuschlagen – und das wirkte sich natürlich auf meinen ganzen Körper aus.

Ich wagte es nicht mehr, mich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Warum stritten sie sich um mich? Und was hatten Matts Worte zu bedeuten?

Nur für eine Sekunde passte ich nicht auf und zuckte deshalb erschrocken zusammen, als George Matt erneut anfuhr.

„Hey! Hör endlich auf sie so anzustarren!“ In seiner Stimme schwang eine Wut mit, wie ich sie von ihm nicht gewohnt war.

„Halt die Klappe!“ Kurz und knapp…

„W-wie bitte?“ Ich konnte mir Georges Gesichtsausdruck lebhaft vorstellen. So etwas würde er sich, nicht einmal von Matt, gefallen lassen.

„Sie wacht auf, du Idiot!“ Ich konnte die Geräusche von Bewegungen erahnen, versuchte es mir trotzdem nicht anmerken zu lassen.

Schritte näherten sich dem Sofa und blieben neben mir stehen. „Nici?“ Es war Matt. Seine Stimme war wieder genauso angenehm, wie ich sie kannte – von Wut oder Streit keine Spur mehr.

So, jetzt musste ich also zeigen, ob ich so etwas wie schauspielerisches Talent besaß – was ich ehrlich gesagt nicht glaubte. Verschlafen drehte ich mich, wie in Zeitlupe, auf den Rücken und öffnete langsam und theatralisch meine Augen.

„Hi…“ Meine Stimme war genauso wie ich sie haben wollte – rau und kratzig.

„Hi.“ Mehr sagte er nicht, bevor er mir zulächelte und sich dann zu George umdrehte, der nun direkt hinter ihm stand. „Wir beide reden noch.“ Und mit diesen Worten verließ er das Wohnzimmer, und somit auch Georges Wohnung.

„Was ist denn hier los?“ hakte ich gespielt unschuldig nach und richtete mich auf. Mit einer Hand wischte ich mir meine struppigen Haare aus den Augen, während ich jede von Georges Bewegungen beobachtete. Seufzend setzte er sich neben mich, ließ aber wenigstens etwas Abstand.

„Nur… eine kleine Auseinandersetzung zwischen Geschwistern – nichts besonderes.“ Schulterzuckend tat er es ab. Nur gut, dass er nicht wusste, dass ich gelauscht hatte. Er wollte mit mir also nicht über dieses Thema sprechen… gut, dann eben nicht!

„Hattest du viel zu tun? Beim Bewachen der ‚Bude‘, meine ich.“ Bei dem Wort Bude malte ich Gänsefüßchen in die Luft.

„Neee, war ganz langweilig und gewöhnlich. Ist ja auch klar dass immer Matt die Aktion abbekommt…“ Er senkte den Blick und spielte mit dem Zipfel einer Decke, die neben ihm lag.

„Was meinst du damit?“ Ungläubig kniff ich meine Augen zusammen. Wollte er damit etwa sagen, dass er neidisch darauf war, dass diese Dämonen Matt angegriffen hatten und nicht ihn? Das konnte er doch jetzt nicht ernst meinen!

„Ist doch so, Matt bekommt immer den Spaß ab und ich…“ Weiter ließ ich ihn nicht sprechen.

„Hast du sie eigentlich noch alle?“ Meine Stimme überschlug sich schon fast. Ich konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Was dachte er sich nur dabei, so etwas zu sagen… „Du weißt ganz genau, dass Matt dabei hätte sterben können, ist dir das überhaupt klar?“ Mein Mund blieb offen stehen. Ich konnte mich einfach nicht mehr beruhigen.

Obwohl ich beide unheimlich gerne hatte, war es Matt, der in diesem Moment ganz eindeutig in Führung ging. Georges Verhalten war einfach nur mehr als herzlos – seinem Bruder gegenüber.

„Ich…ich…“ George war anscheinend verblüfft über meinen Tonfall. Er brachte nicht einmal mehr einen vollständigen Satz, geschweige denn den Anfang über die Lippen.

„ICH gehe.“ Noch während ich diese beiden Worte aussprach, stand ich auf und machte mich auf den Weg zur Tür.

„Nein! Warte! Bitte!“ Es hörte sich an, als würde er flehen – wie ein kleines Kind. Aber diesmal war ich stur und ging an ihm vorbei durch die Tür. Er hielt mich nicht zurück und blieb stehen, als ich sie ihm vor der Nase zuknallte.

Auf dem Gang war es dunkel – wie immer. Die kühle Luft erzeugte beinahe augenblicklich eine Gänsehaut auf meinen nackten Armen. Dazu kam noch, dass ich nicht einmal Schuhe anhatte und mir so praktisch die Zehen abfror.

Wo war ich hier denn jetzt eigentlich? Hilfe suchend schaute ich mich um, wusste aber nicht so recht wohin ich mich nun wenden sollte.

War ja jetzt eigentlich auch egal, Hauptsache ich kam weg von George. Er hätte zuerst denken sollen und dann reden. Aber anscheinend war das ja zu kompliziert für ihn und stattdessen beschwerte er sich über Dinge, die mich einfach nur zornig werden ließen!

Stur stapfte ich los, wobei meine nackten Füße bei jedem Schritt über den rauen Beton schürften. Wohin ich genau kommen würde, wenn ich diesem Gang folgte, wusste ich nicht, aber ich war froh, dass ich mich bewegen konnte.

E schien, als würde die Zeit an mir vorbeirasen. Schon nach einigen Biegungen konnte ich nicht mehr sagen, wie lange ich unterwegs war und langsam wurde mir auch klar, warum dieses Gebäude – oder was auch immer es war – so kompliziert aufgebaut war. Eindringende Dämonen würden wahrscheinlich Stunden brauchen, bis sie hier drin irgendjemanden zu Gesicht bekamen. Die Jäger hätten dann natürlich den Heimvorteil und könnten diese Bestien aus dem Hinterhalt angreifen und töten – wirklich gut durchdacht.

Als ich gerade wieder um eine Ecke bog, wurde mir klar, dass ich mich nur verlaufen haben konnte. Ich war mir hundertprozentig sicher, dass ich diesen Teil der Basis noch nie zu Gesicht bekommen hatte – und vielleicht auch gar nicht sehen sollte.

Frustriert lehnte ich mich gegen eine kalte Betonwand und glitt daran zu Boden. Ich wusste, wenn sie mich wirklich suchen würden, würden sie mich früher oder später finden – zumal sie hier auch sicher irgendwo Überwachungskameras installiert hatten.

Ich schloss meine Augen und horchte ganz und gar auf meinen Herzschlag.

Während ich so dasaß wurde mir wieder einmal klar wie verkorkst mein Leben war. Egal ob wir dieses…Ding fanden weswegen ich besessen war, ich würde auf ewig in der Gewissheit leben müssen, unzählige Kinder getötet zu haben.

Sie waren doch alle noch so verdammt jung gewesen – unbeschriebene Blätter. Sie würden nie die Chance bekommen aufzuwachsen oder sich zu verlieben… Sie würden nie die Liebe kennenlernen.

Das war es wohl, was mich am meisten fertig machte. Matt hatte sich verliebt – in mich, ausgerechnet in mich. Dabei war ich daran schuld, dass sie solche Gefühle niemals spüren würden können.

Stumm kullerte eine Träne über meine Wange, bevor ich ungehalten anfing zu schluchzen. Mein ganzer Körper bebte. Ich wollte am liebsten nur noch sterben – für immer verschwinden von dieser Erde.

„Nici?“ Eine Stimme am anderen Ende des Ganges schien mich zu rufen. Oder bildete ich mir das vielleicht nur ein?

Ich hatte nicht genug Kraft um meinen Kopf zu heben und nachzusehen. Eilige Schritte näherten sich mir – also hatte ich mich doch nicht getäuscht. Direkt neben mir blieben sie stehen und verhallten langsam.

„Nici?“ Wieder diese Stimme – Matts Stimme. Gerade so konnte ich durch mein Geschluchze hindurch das Rascheln seiner Kleidung erahnen als neben mir in die Hocke ging.

„Was hast du?“ In seiner Stimme schwang nichts als pure Sorge mit. Seine warme, große Hand lag plötzlich beruhigend auf meiner Schulter.

„N-nichts.“ Meine Stimme bebte und diesmal war es schlimmer als jemals zuvor.

„Weinst du?“ Im Augenwinkel sah ich, dass er mich entsetzt anstarrte, bevor er sich direkt vor mich setzte und meine Hände in seine nahm.

„Was ist passiert? Hat George irgendetwas getan?“ Sein durchdringender Blick durchbohrte mich förmlich, während ich einfach immer weiterweinte.

„Nein. Niemand hat irgendetwas getan!“ Ich wollte schreien. Ich wollte alles aus mir herausschreien, aber ich konnte einfach nicht die nötige Kraft dazu aufbringen.

„Was ist es denn dann?“ Matts Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt, doch diesmal hatte diese Tatsache keine beruhigende Wirkung auf mich – überhaupt nicht.

„WEIL ICH EIN MONSTER BIN!“ Mein Schrei ging in einen lauten Schluchzer über.

„Was?! Nein, bitte! Hör auf damit!“ Augenblicklich ließ er meine Hände los und umrahmte nun mit seinen mein Gesicht. „Nein, du kannst doch nichts dafür. Wir kriegen das wieder hin…“ Auch ihm war langsam anzusehen, dass er an der Situation verzweifelte – was auch überhaupt kein Wunder war! Man hatte schließlich nicht jeden Tag eine hysterische Frau vor der Nase, die sich nicht beruhigen lassen wollte.

„Ihr solltet mich alle hassen! Du solltest mich hassen!“ Die Tränen wollten und wollten kein Ende finden. Immer neue füllten meine Augen, nur um, Sekunden später, über meine Wangen zu rinnen. Meine Hände umklammerten seine Handgelenke. Ich wollte ihn von mir losreißen, wollte nicht dass jemand gutes wie er etwas wie mich berührte.

„Ich hasse dich nicht! Du… Ich liebe dich!“ Wie auf einen Schlag versiegten meine Tränen. Er hatte mir gestanden, dass er in mich verliebt war, ja das schon, aber verliebt zu sein war noch lange nicht dasselbe wie jemanden zu lieben.

Geschockt schnappte ich nach Luft und riss erstaunt die Augen auf. Matt lächelte mich liebevoll an.

„Töte mich.“ Meine Stimme war schwach und so leise, dass ich mich selbst kaum verstehen konnte. Trotzdem war ich mir sicher, dass er mich gehört hatte. Wäre ich nicht schon längst am Boden gewesen, wäre ich spätestens in diesem Augenblick mit Sicherheit zusammengebrochen.

Erschrocken klappte sein Mund auf und seine Augen weiteten sich vor Angst. „Was?!“ Er hörte sich an, als würde ihm jeden Moment die Stimme versagen. „Was redest du denn da?“

„Ich verdiene es nicht!“ Ruckartig richtete ich mich auf. Matt sah mich geschockt von unten an. Nicht einmal eine Sekunde später stand er in voller Größe vor mir und hob mit einer Hand mein Kinn an.

„Du bist so dumm.“ Sein Gesicht war ausdruckslos, doch ich konnte schon fast ein Lächeln erahnen.

Ich wollte mich abwenden um ihn nicht mehr ansehen zu müssen, doch sein Griff war eisern.

„Hör mir jetzt zu! Du bist ein ganz besonderer Mensch. Alles was du bis jetzt erlebt hast war einfach nur… furchtbar. Ich will, dass das endlich aufhört, verstehst du?“

Zaghaft nickte ich.

„Gut. Und jetzt komm mit, dir muss ja kalt sein.“ Hastig schälte er sich aus seiner Jacke und legte sie mir über die Schultern. Ich starte ihn an, wie er, nur noch mit einem T-Shirt bekleidet, vor mir stand. Die Jacke war mir hoffnungslos zu groß. Trotzdem wurde mir sofort wärmer – und außerdem roch der raue Stoff nach Matt. Er legte mir einen Arm um die Taille und zog mich neben sich her.

„Wohin gehen wir?“ Nachdem wir ein Stück gegangen waren, hatte ich mich endlich so weit gefangen, dass man mich wieder einigermaßen verstehen konnte. Etwas beschämt wischte ich mir die letzten Tränen weg.

„In meine Wohnung. Ich mache dir einen Tee damit du dich ein wenig aufwärmen kannst… und dann muss ich arbeiten.“ Bei den letzten Worten warf er mir einen zaghaften Blick über die Schulter zu.

Anscheinend sah mir meine Enttäuschung an. Ja, ich wusste immer noch nicht ganz genau was ich über die Situation zwischen mir und Matt denken sollte, aber er war zurzeit der einzige, mit dem ich überhaupt sprechen wollte. Von George hatte ich fürs erste die Schnauze gestrichen voll.

Wie konnte er es nur wagen, den Beinahe-Tod seines Bruders so abzutun? Wusste er überhaupt, was er da zusammenredete oder sprach er einfach ohne zu denken?

Während des ganzen Wegs beschäftigten mich diese Gedanken. Langsam wurde mir klar, dass ich ein Gespräch mit Matt führen würde müssen – wegen des Streits zwischen ihm und George.

Ich wollte nicht der Grund dafür sein, dass sie sich nicht mehr miteinander vertrugen. Ich wollte nicht zwischen ihnen stehen. Dazu musste ich aber erst einmal mit ihnen sprechen und Klarheit in die ganze Sache bringen.

Wie genau ich das anstellen wollte? Ich hatte überhaupt keine Ahnung!

Allmählich verlangsamte Matt neben mir seine Schritte und brachte so auch mich, langsamer zu werden. Schließlich hielten wir vor der Tür seiner Wohnung an. Es war nicht abgeschlossen und so schob er mich einfach vor sich in den dunklen Raum. Mit einem leisen Klacken ging das Licht an und tauchte alles in eine gemütliche Wärme.

„Also, willst du Tee?“ Mittlerweile befanden wir uns in der Küche, die gleichzeitig auch das Esszimmer war. Matt bedeutete mir mit einer einfachen Handbewegung mich zu setzten, während er auf die Küchenzeile zusteuerte.

„Ja, gerne.“ Etwas unbeholfen ließ ich mich auf einen Stuhl fallen und beobachtete ihn dann. Mit routinierten Handbewegungen öffnete er ein paar Läden und Kästen und füllte Wasser in den Wasserkocher.

Bei allem was er tat sah er, obwohl er wahnsinnig muskulös war, nicht plump aus – ganz im Gegenteil. Er war einfach zu bewundern.

Ein verräterisches Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus. Ich wusste nicht woher es kam, oder warum, aber in letzter Zeit tauchte es immer öfter auf – wenn ich Matt ansah.

Nach nicht einmal drei Minuten stand eine dampfende Tasse Tees vor mir auf der Tischplatte. Matt hatte sich mir gegenüber niedergelassen und folgte jeder meiner Bewegungen. So fiel es mir schwer, mich auf irgendetwas anderes als ihn zu konzentrieren… oder seinen wunderschönen grünen Augen.

„Ist er zu heiß?“ fragte er ohne mich auch nur für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen zu lassen. Woher ich das wusste? Nun, ich tat genau dasselbe mit ihm – jetzt schon ungefähr eine Minute lang.

Mir war klar, dass ich mich merkwürdig verhielt, doch Matt schien es nicht zu stören. Es schien fast so, als wollte er sich jedes Detail meines Gesichts einprägen und für immer in seinem Kopf abspeichern. Manchmal wanderte sein Blick hinunter zu meinen Lippen, nur um Sekunden später wieder in meinem zu versinken.

„Ich muss jetzt gehen.“ Seine Stimme war tonlos und er bewegte sich keinen Millimeter. Ich wollte nicken, aber ich konnte nicht. Es fühlte sich an, als wären sämtliche Muskeln in meinem Körper versteinert.

Nach weiteren, scheinbar endlosen Augenblicken senkte er den Blick und schob seinen Stuhl zurück. Noch ein letztes Mal drehte er sich zu mir um, bevor er den Raum verließ. Ich hörte nur noch, wie die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss fiel.

Das Kribbeln in meinem Bauch war, nur Sekunden nach ihm, ebenfalls verschwunden. Nun fühlte ich mich merkwürdig leer – und einsamer als jemals zuvor. Tränen wollten wieder in meine Augen aufsteigen, aber dieses Mal schluckte ich sie hinunter. Ich wollte nie wieder in Matts Gegenwart weinen – es war erniedrigend.

Ich leerte den Rest meines Tees – okay, es war immer noch mehr als die Hälfte – und räumte die Tasse dann ins Waschbecken. Ich wollte hier niemandem zur Last fallen, oder zumindest nicht noch mehr, als ich es sowieso schon tat.

Einige Zeit stand ich in der Küche an die Arbeitsfläche gelehnt und starrte an die gegenüberliegende Wand. Mein Oberarm pochte von Zeit zu Zeit dumpf – genau an der Stelle, an der Matt mir die Spritze verpasst hatte. Das tat es normalerweise nie, weil Matt das normalerweise erledigte.

Es konnte noch nicht sehr spät sein – immerhin war ich erst vor kurzem aufgewacht. Was sollte ich also mit dem Rest meiner Zeit anfangen? Ich wollte die Wohnung nicht verlassen, denn auf ein Aufeinandertreffen mit George hatte ich überhaupt keine Lust.

So landete ich also auf dem Sofa und zappte durch unzählige Fernsehkanäle. Es langweilte mich beinahe zu Tode, aber immerhin war es besser als gar nichts zu tun.

Nach ungefähr einer Stunde merkte ich, wie sich meine Augenlider langsam anfühlten als bestünden sie aus massivem Blei. Keine fünf Minuten später war ich eingeschlafen…

 

Nur langsam kehrte Leben in mich. Ich öffnete zwar meine Augen noch nicht, doch meine Gedanken schienen mit der Zeit wieder ihre Ordnung zurückzuerlangen. Irgendetwas lag auf mir und bedeckte fast meinen ganzen Körper – bis auf meinen Kopf und eine Hand. Die Decke war doch vorher noch nicht da gewesen, als ich eingeschlafen war, oder?

Verwundert öffnete ich meine Augen und blinzelte den Rest des Schlafs weg – zumindest versuchte ich es. Ohne zu gähnen ging es dann doch nicht. Im Wohnzimmer war es fast ganz dunkel, nur durch den offenen Durchgang zur Küche fiel ein heller Lichtstreifen.

So leise ich konnte stand ich auf und tapste auf das Licht zu – wie eine Motte. Zwischen Küche und Wohnzimmer blieb ich stehen.

Matt saß, mit dem Rücken zu mir, am Tisch und schien gerade zu essen. Ob er etwas dagegen hatte, wenn ich mich zu ihm setzte?

Sofort war da wieder dieses angenehme Gefühl in meinem Bauch. Ich lehnte meinen Kopf gegen die Wand und seufzte – wahrscheinlich etwas zu laut. Wie von der Tarantel gestochen fuhr Matt zu mir herum. Es sah schon fast so aus, als wollte er sich jeden Moment auf mich stürzen.

Als er dann aber sah, dass es nur ich war, die hinter mir ihm stand, verwandelte sich seine erstarrte Miene sofort in ein herzliches Lächeln.

„Nici, du bist es nur.“ Sichtlich erleichtert wandte er sich wieder seinem Essen zu – ob Mittag –oder Abendessen wusste ich nicht.

„Kann ich… Ich meine, hast du etwas dagegen, wenn ich mich setzte?“ Meine Stimme schwankte bedrohlich und ich wartete ab.

„Klar, mach’s dir bequem.“ Okay, das war meine Gelegenheit. Wenn ich jetzt nicht mit ihm reden würde, dann wahrscheinlich überhaupt nicht mehr.

Wie in Zeitlupe ließ ich mich ihm gegenüber auf einen Stuhl fallen. Eine Zeit lang schaute ich ihm beim Essen zu. Immer wieder warf er mir einen Blick zu und seine Augen strahlten geradezu.

Es fiel mir schwer meinem Mund überhaupt irgendeinen Ton zu entlocken. Umso glücklicher machte es mich, als ich schließlich doch noch ein passendes Thema fand, um das Gespräch anzufangen.

„Was hast du die ganze Zeit gemacht? Ahm, wie spät ist es überhaupt?“ Ich schaute mich in der Küche um, obwohl mir die Uhrzeit eigentlich egal war. Mein Herz klopfte wie verrückt.

„Es ist halb sechs – du hast schon wieder so lange durchgeschlafen. Ich musste etwas Computerarbeit erledigen und John helfen ein paar neue Abwehrmechanismen einzubauen“, sagte er nachdem er einen Bissen hinuntergeschluckt hatte.

„Oh, hört sich ja wirklich… unglaublich spannend an.“ Ich musste schon fast über meine eigenen Worte lachen, und als Matt mich breit grinsend ansah fiel es mir nur noch schwerer.

„Was hast du auf dem Herzen, Nici?“ Er schob den, nun leeren, Teller von sich weg und lehnte sich in meine Richtung. Ich musste geräuschvoll schlucken. Woher wusste er, dass ich ihn etwas Dringendes fragen wollte?

„I-ich…“ Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Es musste doch irgendeine Art geben dieses heikle Thema – und ich war mir sicher, dass es das war – anzuschneiden, ohne ihn gleich zu verschrecken.

Wie es eben kommen musste, fiel mir überhaupt nichts ein.

„Du und George, streitet ihr euch meinetwegen?“ platzte es aus mir heraus, bevor ich mir auch nur eine Hand vor den Mund schlagen konnte.

Matts Mund klappte vor Erstaunen auf. Es sah wirklich so aus, als hätte es ihm die Sprache verschlagen…

 

 

14. Kapitel

 

Es schienen Stunden zu vergehen, in denen wir uns nicht bewegten und mit offenem Mund anstarrten. Matt hatte sich vor mir wieder gefangen.

„Wie kommst du darauf, dass wir uns streiten?“ Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte seine muskulösen Arme – er trug immer noch nur ein dunkelgraues T-Shirt – vor seiner Brust. Ich wusste, dass das eine Abwehrhaltung war.

„Ich habe euch zugehört, als ihr in Georges Wohnung miteinander… geredet habt.“ Verlegen senkte ich meinen Blick und schaute auf meine Hände, die sich weiß von der Tischplatte abhoben.

„Oh…“ Mehr brachte Matt nicht hervor. Ich konnte sein Gehirn praktisch arbeiten hören, doch anscheinend entschied er sich schließlich dafür, mich nicht zu belügen.

„Ja, wir haben eine kleine Meinungsverschiedenheit.“ Auch er schaute mich jetzt nicht mehr an – ich sah es im Augenwinkel.

„Ist das meine Schuld?“ Ich musste all meine Kraft zusammennehmen um meinen Blick heben, und ihm ins Gesicht schauen zu können.

Matts moosgrüne Augen schlossen sich, als wäre er zu müde um sie länger geöffnet zu halten. „Was willst du denn hören?“ Seine Stimme bebte leicht und ich spürte, dass ihm dieses Thema unangenehm war – vielleicht sogar peinlich.

„Die Wahrheit“, flüsterte ich, aber ich wusste, dass er mich verstanden hatte. Mit meinem Blick versuchte ich seinen einzufangen, aber es wollte mir einfach nicht gelingen.

„Ja, wir streiten uns deinetwegen…“ Immer noch hielt er seine Augen geschlossen. Seine Lippen wurden zu einem schmalen, blassen Strich.

Ich wusste, dass ich nie wieder in seiner Gegenwart weinen wollte, aber mein Vorhaben stand jetzt schon vor dem Scheitern. Ich wollte es ja unbedingt hören, aber jetzt trafen mich seine Worte doch ziemlich hart.

Es fühlte sich an, als würde mir jemand ein Messer in den Bauch rammen und es langsam und genüsslich drehen während ich Qualen litt.

Auch ich musste jetzt meine Augen schließen und schwer schlucken um den Kloss loszuwerden, der sich in meinem Hals gebildet hatte. Wie durch einen Schleier hindurch bekam ich mit, dass Matt aufstand und um den Tisch herum kam, nur um sich dann auf den Sessel neben mir nieder zu lassen und meine Hand in seine zu nehmen.

Ein Schauer lief mir über den Rücken, aber es war nicht unangenehm – ganz und gar nicht!

„Weißt du, ich würde dir ja gerne sagen, dass es nicht deine Schuld ist, aber das wäre eine Lüge.“ Ich konnte ein Lächeln in seiner Stimme mitschwingen hören.

Ich wollte ihn ansehen. Ich wollte wissen, was er so witzig daran fand. Aber hätte ich meine Augen geöffnet, hätten die Tränen gewonnen – und das konnte ich nicht zulassen!

Stattdessen versuchte ich meine Lippen zu einem Lächeln zu formen und betete schon fast, dass es mir gelang.

„Hey, aber das ist wirklich nichts wofür du dich schämen musst“, fuhr Matt unbeirrt fort und drückte meine Hand etwas fester. „Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, ganz zu Beginn, als du ohnmächtig warst, hatte ich furchtbare Angst vor dir.“

Nun riss ich verwundert meine Augen auf und starrte ihn an. Was redete er da? Okay, ich war ein Monster und ein Killer und ein Mörder, aber er war und würde immer stärker sein als ich – da brauchte er doch keine Angst zu haben. Und schon gar nicht, wenn ich sowieso nicht bei Bewusstsein gewesen war!

„Ich weiß nicht warum, aber das hat sich dann innerhalb weniger Augenblicke geändert – während John dich verhört hat, wenn man ganz genau ist.“ Sein Blick bohrte sich in meinen. „Und seitdem bist du die ganze Zeit in meinem Kopf… und leider auch in Georges.“ Ich sah, wie sich sein Körper beim Namen seines Bruders merklich anspannte. Also war es wirklich nur meine Schuld, dass sie sich stritten und auch, dass sie John etwas verheimlichten – da war ich mir sicher. Denn sie hatten ihm sicher nichts über ihre Gefühle für mich erzählt.

„Und könnte das vielleicht nicht daran liegen, dass ich ein Dämon bin…oder so? Ich meine, dass das zu meinen Fähigkeiten gehört?“ Ich hoffte, dass er verneinte und war umso erleichterter, als er wirklich seinen Kopf schüttelte.

„Nein, das ist nicht der Dämon. Das bist ganz allein du, und ich weiß nicht warum.“ Nun sah er mich wieder direkt an und seine Augen leuchteten mehr als jemals zuvor.

Mein Atem stockte eine Sekunde lang, im nächsten Augenblick musste ich nach Luft schnappen.

„Ich glaub, das ist gerade alles etwas zu viel für mich.“ Ich musste mich extrem anstrengen um aufzustehen und ins Wohnzimmer zurückzutaumeln, ohne noch etwas zu sagen.

Dankbar stellte ich fest, dass er mir nicht folgte. Im Dunkeln ließ ich mich auf das Sofa sinken und legte meinen Kopf in den Nacken.

Es konnte unmöglich nur an mir liegen – da hatte doch bestimmt dieser verdammte Dämon seine Finger mit im Spiel! Aber das würde dann ja bedeuten, dass Matt in Wirklichkeit gar nichts von mir wollte, sondern nur getäuscht wurde – genau wie ich in diesem Fall.

Jetzt, wo ich Matt nicht mehr gegenübersaß gab es kein Halten mehr. Stumm liefen mir die Tränen über die Wangen und ich hatte nicht einmal genug Kraft um sie wegzuwischen. Es war mir egal und von mir aus hätte er sie jetzt auch ruhig sehen können, was hätte das schon für einen Unterschied gemacht?

Ich unterdrückte ein Schluchzen nach dem anderen während mein Körper bebte und so die Decke zum Rascheln brachte. Durch diese ganzen Geräusche und das laute Pochen meines Herzens bemerkte ich nicht, dass ich inzwischen nicht mehr allein war.

Erst als das Sofa unter Matts Gewicht leicht nachgab, zuckte ich erschrocken zusammen und presste mir zugleich eine Hand flach auf den Mund. Was wollte er jetzt von mir hören? Dass es mir leid tat, dass der Dämon, von dem ich besessen war, ihn manipuliert hatte?

Wie sollte ich mich dafür entschuldigen? Für etwas, das nicht einmal in meiner Macht lag?

„Hey, ich… ich habe mich nicht in dich verliebt, weil der Dämon es so wollte, sondern weil ich dich als Menschen sehe und als nichts anderes.“ Obwohl es stockfinster war, konnte ich das Grün in seinen Augen leuchten sehen und fragte mich, ob das wohl normal war.

Nur eine Sekunde später spürte ich einen Arm um meine Schulter und Matts warmen Atem an meiner kühlen Wange. Ich war nicht einmal dazu fähig meinen Kopf so zu drehen, dass ich an ihm vorbeischaute. Ich war wie gefangen!

„Glaubst du mir?“ Seine Stimme war leise aber kräftig. Ich versuchte zu nicken, aber es ging einfach nicht.

„I-i-ich…“ Ich stotterte wie ein Kleinkind, das gerade erst das Sprechen lernte. „Ich…glaube schon…“

Ein zufriedenes Schnaufen war zu hören, dann legte er seine Stirn an meine.

„Sehr gut.“

Wir beide schwiegen. Wie lange wusste ich nachher nicht mehr, aber was ich ganz genau wusste war, dass mein Herz die ganze Zeit über wie wild klopfte.

Irgendetwas passierte mit mir, wenn Matt bei mir war – das konnte ich nicht mehr länger abstreiten. Nur war die Frage, ob ich bereit war ihm das auch zu sagen.

„Nici?“ hauchte er mir entgegen.

Ich schluckte. „Ja?“

„Sei ehrlich. Würdest du dich für mich, oder für George entscheiden?“ Wieder legte sich Stille über uns und hüllte uns ein.

Ich musste nicht lange nachdenken. Die Antwort kam, selbst für mich, erstaunlich schnell.

„Für dich.“ Kaum hatte ich es ausgesprochen, wusste ich, dass es die Wahrheit war. George war liebenswürdig, ja, wenn er nicht gerade irgendeinen totalen Schwachsinn daherredete.

Matt, hingegen, war erwachsen. Und er war es auch, bei dem ich dieses seltsame Gefühl im Bauch hatte.

Die Reaktion auf meine Worte kam viel zögerlicher, als ich erwartet hatte – und ja, ich hatte sie erwartet.

Der Kuss war schlicht und einfach aber es steckte mehr darin, als in allen vorhergegangenen.

„Danke…danke…danke…danke…“ Nach jedem Wort legte er sanft seine Lippen auf meine, nur um sie dann wieder von ihnen zu lösen.

„Ist ja schon gut.“ Irgendwann musste ich ihn mit einer Hand von mir wegdrängen um endlich wieder zu Atem kommen zu können. Ein leises Lachen von seiner Seite war zu hören.

„Ich brauche Zeit, Matt.“ In der Dunkelheit suchte ich seine Augen, doch diesmal schien es mir unmöglich sie zu finden.

„Du kannst dir so viel Zeit nehmen, wie du willst. Ich werde warten.“ Seine letzten Worte gingen bereits in das leise Rascheln seiner Kleidung über, als er vom Sofa aufstand und ein paar Schritte zurücktrat.

Verwirrt suchte ich ihn, konnte aber immer noch nichts erkennen.

„Ich komme gleich wieder. Ich hole nur schnell dein Futter.“ Futter, so nannten die beiden Brüder die Injektion, die ich jeden Tag verpasst bekam. Der Grund dafür war ein einfacher – ich musste keine feste Nahrung zu mir nehmen, ja noch nicht einmal trinken!

In Gedanken versunken nickte ich, bis ich kapierte, dass er mich genauso wenig sehen konnte, wie ich ihn. Doch als ich endlich meinen Mund aufmachte um etwas zu sagen, fiel auch schon die Tür hinter ihm ins Schloss.

Einen Augenblick lang blieb ich sitzen und ließ alles, was soeben geschehen war, auf mich wirken. Ich hatte ehrlich und offen zugegeben, dass ich mich für Matt entscheiden würde. Da blieb natürlich das Problem, dass George nichts von diesem Gespräch erfahren durfte, ansonsten hätte ich ihn wohl für immer verloren – was ich auf gar keinen Fall wollte.

Immer noch war mir nicht ganz klar, warum meine Antwort überhaupt so direkt und schlagartig gekommen war. Ich hatte nicht einmal richtig nachgedacht, bevor ich gesprochen hatte. Ich hatte nur auf mein Herz gehört… Und von dem hatte ich ja lange Zeit vermutet, dass ich es gar nicht besaß!

Irgendwann stand ich auf und tapste zur Wohnungstür, wo sich auch der Lichtschalter befand. Es hätte wohl ein komisches Bild gemacht, wenn ich immer noch reglos auf der Couch saß, wenn Matt zurückkehrte. Vielleicht würde er mich dann endlich als verrückt und abstoßend abstempeln – obwohl ich tief in mir hoffte, dass das niemals passieren würde.

Mit einem leisen Klacken flammten die Glühbirnen in ihren Halterungen auf und tauchten das gesamte, gemütlich eingerichtete Wohnzimmer, in einen warmen Schein. Es war immer noch kaum zu glauben, dass George seine Wohnung so verdammt geschmacklos eingerichtet hatte, während Matts zuhause aussah, als wäre hier eine ganze Horde von Architekten und Möbeldesigner durchgezogen.

Etwas benommen von Matts Küssen wankte ich zurück zum Sofa und setzte mich darauf. Eine eindeutige und unleugbare Nebenwirkung meines „Futters“ war es allerdings, dass ich fast immer müde war. Klar, manchmal, vor allem wenn ich gerade erst aufgewacht war, strotzte ich vor Tatendrang, aber schon am Nachmittag flaute diese übermütige Stimmung dann oft wieder ab und ich wandelte nur noch wie ein Zombie durch die Gänge der Basis.

Auch jetzt griff der Schlaf wieder nach mir. Ich kämpfte, und schloss schließlich den Kompromiss mit mir selbst, mich zwar hinzulegen, aber keinesfalls einzuschlafen – was natürlich total schiefging.

Nicht einmal zehn Sekunden später war ich weggenickt.

 

Leise Schritte ließen mich zusammenzucken. Ich war wohl nicht sehr tief geschlafen, denn Matt schlich sich geradezu an mich heran und ich war trotzdem aufgewacht. Immer noch verschlafen rieb ich mir über die Augen und richtete mich halb auf. Es war mir irgendwie immer wieder peinlich, wenn einer der Jungs mich beim schlafen beobachtete. Ich kam mir dabei jedes Mal so verdammt unbeholfen und schutzlos vor, dass ich mich am liebsten in ein Schneckenhaus oder den Panzer einer Schildkröte verkrochen hätte. Da das aber in meiner derzeitigen Situation nicht möglich war, stützte ich mich einfach mit den Ellbogen vom Sofa ab und blinzelte gegen das gedämpfte Licht an. Irgendjemand, ich vermutete stark, dass es Matt gewesen war, hatte die Deckenlampen stark gedimmt und alle anderen Lichtquellen ausgeknipst.

„Hey“, murmelte ich kaum hörbar und räusperte mich, weil sich meine Stimme einfach nur furchtbar anhörte.

„Hey, ich bin wieder da.“ Matt schien heller zu strahlen als alle Lichter, die ich in den letzten Wochen – vielleicht sogar Monaten, ich wusste es nicht mehr – gesehen hatte.

„Ich weiß, ich kann dich sehen.“ Ich atmete geräuschvoll aus und ließ mich rücklings wieder auf die weiche Polsterung des Sofas fallen.

„Alles okay bei dir?“ Mit gerunzelter Stirn und besorgter Miene setzte er sich neben mich und legte eine Hand auf mein angewinkeltes Knie. Mir stach sofort der kleine, silbergraue Koffer ins Auge, den er auf dem Couchtisch ablegte – mein „Futterkoffer“.

„Kannst du dich vielleicht aufsetzen? Ich mein, ich könnte dir die Spritze auch so geben, aber es wäre anders viel einfacher.“ Immer noch breit lächelnd öffnete er die metallenen Klappen an dem Koffer und zog ein kleines, durchsichtiges Fläschchen und eine neue Injektionsnadel hervor.

Dann schaute er erwartungsvoll zu mir hinab.

„Jaja, ich mach ja schon.“ Wie in Zeitlupe setzte ich mich nun auf und schüttelte meine Haare aus, wobei ich nicht bemerkte, dass Matt eine Strähne abfing und sie zwischen seinen Fingern drehte, als bestünde sie aus irgendeinem wertvollen Material.

„Was?“ Ich schaute abwechselnd in Matts Gesicht und auf meine Haare, doch ich kapierte nicht, was er mit dieser Aktion bezwecken wollte.

Als wäre er plötzlich aus einem langen Traum aufgewacht, starrte er mich aus weit aufgerissenen Augen an.

„Ach… ähm.“ Ich konnte förmlich sehen, wie die Röte in seine Wangen schoss, was mich zum lächeln brachte – es stand ihm sehr gut. „Nichts, ist schon gut.“

Um ihn nicht noch mehr in Verlegenheit zu bringen, sagte ich nichts mehr dazu. Falls er es mir irgendwann doch erzählen wollte, würde er es bestimmt tun. Bis dahin würde ich warten – genauso wie er auch auf mich warten würde.

„Das wird jetzt etwas pieksen, aber das kennst du ja schon, oder?“ Nun lächelte er wieder. Sein Gesicht hatte beinahe wieder seine normale Farbe angenommen und auch ansonsten schien er sich von dieser, etwas peinlichen Situation wieder erholt zu haben.

„Ja, klar. Spieß mich nur auf“, murrte ich scherzhalber und schaute weg, als die dünne Nadel meine Haut durchstach.

„So, das war’s.“ Mit einer routinierten Bewegung ließ Matt die Spritze und das Fläschchen mit meinem „Futter“ in dem Koffer verschwinden und schloss diesen dann sorgfältig – als läge darin der wertvollste Schatz der Welt verborgen.

„Du machst das besser als George.“ Noch bevor ich mir auch nur die Hand vor den Mund schlagen konnte, waren die Wörter raus. Jetzt war es an mir, knallrot anzulaufen und mein Gesicht beschämt hinter einem Vorhang aus meinen rabenschwarzen Haaren zu verbergen.

Von Matt erntete ich für dieses Verhalten ein herzliches Lachen.

„Ach komm schon! So schlimm ist es doch wohl auch nicht, mir ein Kompliment auszusprechen, oder?“ Als wäre es das selbstverständlichste auf der Welt, legte er seine Hand auf meine.

„Ich hab nicht… Ich meine…“, versuchte ich zu retten, was noch zu retten war, doch es half nichts. Ich war und würde immer ein Dussel sein!

„Okay. Ich bedanke mich und damit hat sich die Sache und wir sprechen nicht mehr darüber wenn es dir wirklich so peinlich ist.“ Mit einem Seufzer ließ er meine Hand wieder los.

Gerade eben noch, hatte sich meine Haut, dort wo er sie berührte, angefühlt, als würde sie glühen. Jetzt aber, wo er losgelassen hatte, breitete sich eine grässliche Kälte auf meinen gesamten Körper aus.

Wie ein Rehkitz, das nach Gefahr Ausschau hält, spähte ich hinter meinen Haaren hervor. Matt saß zurückgelehnt und völlig entspannt neben mir. Seine Augen waren geschlossen, sein Brustkorb bewegte sich gleichmäßig auf und ab. All das gab mir das Gefühl, für immer sicher zu sein – obwohl ich wusste, dass das eine Lüge war.

Ich strich meine Haare zurück hinter meine, viel zu kleinen Ohren und beugte mich unbewusst etwas näher zu ihm. Was auch immer der Auslöser für mein merkwürdiges Verhalten war – ich kannte ihn jedenfalls nicht.

Umso nervöser wurde ich, als Matt seine Augen ruckartig wieder öffnete und mich musterte. Er sah zwar nicht verängstigt aus, aber doch sehr verwirrt, weil ich normalerweise nicht unbedingt viel von Körperkontakt hielt – das wusste er inzwischen.

Obwohl ich zugeben musste, dass sich diese Einstellung mit Matts Liebesgeständnis doch grundlegend verändert hatte. Ich hatte nichts dagegen, wenn er mich in den Arm nahm oder seine Hand auf meine legte. Sogar wenn er mich küsste, fühlte ich mich wohl – sehr viel wohler, als ich es jemals in meinem Leben getan hatte.

Vielleicht war das ja ein Zeichen? Ich hoffte es!

Wenn es auch nur den Hauch einer Chance gab, dass ich mich in irgendjemanden verlieben könnte, dann war es wohl Matt. Er war es, der mir das Gefühl gab, immer willkommen zu sein – egal wann ich zu ihm kam.

„Ich habe nachgedacht, Nici“, flüsterte Matt und ließ mich dabei nicht eine Sekunde aus den Augen.

„Worüber?“ Mein Blick wanderte wie automatisch zwischen seinen strahlend grünen Augen und seinen Lippen hin und her.

„Über dich….Und über mich.“ Sein Blick bohrte sich in meinen. Wie das jetzt wohl für einen Außenstehenden aussehen musste? Die Art und Wiese, wie wir einander ansahen.

Würde dieser Jemand, egal wer es war, uns als zwei ganz verschiedene Personen sehen, die sich einfach, aus Angst dem anderen gegenüber, nicht aus den Augen ließen? Oder doch als ein junges, verliebtes Paar?

„Und? Zu welchem Schluss bist du gekommen?“ Ich hörte, wie meine Stimme schwankte.

„Ich weiß es nicht so genau.“ Seine Stimme ließ eigentlich keinen Zweifel zu, wenn da nicht dieses kurze Aufflackern in seinen Augen gewesen wäre.

„Sag mir einfach die Wahrheit“, forderte ich schlicht und blinzelte dabei ein paar Mal.

Er seufzte, holte dann tief Luft und sprach endlich weiter: „Ich wünschte, du wärst mir gegenüber nicht so verschlossen. Du weißt doch, dass du mit mir vertrauen kannst, oder?“ Zum ersten Mal, seit sehr langer Zeit, hörte ich ihm an, dass er traurig war.

Ich fühlte mich furchtbar deswegen. Furchtbar und schuldig an seinem Zustand, also nickte ich nur, anstatt irgendetwas Sinnloses zu sagen.

„Und trotzdem tust du es nicht.“ Erst jetzt unterbrach er den Blickkontakt – und es tat mir schon fast weh, das grüne Funkeln in seinen Augen nicht mehr sehen zu können.

„Versteh mich bitte nicht falsch, aber ich tue alles was ich kann, um mich zu verändern. Ich will dir vertrauen, aber es ist einfach so verdammt schwierig für mich.“ Verzweifelt versuchte ich seinen Blick wieder auf mich zu lenken, aber es gelang mir nicht. Stur schaute er an mir vorbei an die gegenüberliegende Wand.

„Es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe…“ Mit diesen Worten stand ich auf und ging langsam ins Schlafzimmer, wo ich mich, in der Dunkelheit, auf das weiche, große Bett fallen ließ.

Ich hatte gehofft, dass Matt mich zurückhalten würde, aber das hatte er nicht getan. Wahrscheinlich war das alles für ihn genauso verwirrend wie für mich. Vor allem, weil er ja eigentlich seinen Feind liebte….

Ich presste mir das Kopfpolster gegen die Stirn und wollte am liebsten einfach nur alles vergessen. Die ganzen Morde, die ich begangen hatte, die beiden Brüder, dass es Dämonen gab und alles, was mit meinem bisherigen Leben zusammenhing.

Andererseits würde ich Matt wohl nie wieder vergessen können – egal wie alt ich auch werden würde. Er war der erste Mensch, dem ich etwas bedeutete… und der, wenn ich ehrlich zu mir war, mir etwas bedeutete. Ihn einfach an mir vorbeiziehen zu lassen, war wohl der größte Fehler, den ich machen konnte.

Trotzdem wusste ich, dass das, was da zwischen uns heranwuchs, von Grund auf falsch und völlig verkehrt war. Ich war das Böse in Person, er hingegen versuchte Menschen vor Dingern wie mir zu beschützen – das konnte einfach nicht funktionieren!

Leise und ohne dass ich es bemerkte lief mir eine Träne über die Wange und verschwand in meinen Haaren. Ihr folgten noch viele weitere, aber dieses Mal unterdrückte ich sie nicht. Ich wartete einfach ganz ruhig darauf, dass es endlich aufhörte.

Es mussten Stunden vergangen sein, als meine Tränen endlich versiegten. Was sie zurückließen war eine merkwürdige Leere in meinem Inneren und salzige, feuchte Spuren auf meinen Wangen.

Immer noch war ich allein und so wie es aussah, hatte Matt das Licht im Wohnzimmer auch ausgeschaltet, so dass es nun vollkommen dunkel war.

Ich wagte es nicht mich zu bewegen. Vielleicht schlief er ja auf dem Sofa und ich würde ihn aufwecken, wenn ich jetzt anfing durch seine Wohnung zu streifen – zumal ich ja nicht einmal wusste, wie spät es eigentlich gerade war.

Aus reinem Instinkt blieb ich also noch eine ganze Weile liegen, aber irgendwann hielt ich es dann doch nicht mehr aus. Zwar nagte wieder diese übermächtige Müdigkeit an mir, doch ich versuchte so gut ich konnte, sie zu ignorieren.

Auf leisen Sohlen tapste ich aus dem Schlafzimmer und suchte mit meinen Augen hilflos die Dunkelheit nach einem Zeichen von Matt ab. Sehen konnte ich ihn zwar nicht, aber bei genauerem Hinhören wusste ich sofort, dass er da war – ein leises, niedliches Schnarchen drang an mein Ohr.

Vorsichtig näherte ich mich ihm und sank fast komplett geräuschlos neben ihm auf das Sofa. Nur ganz leicht sank der Polster unter meinem Gewicht zusammen.

Matt, der Gott sei Dank, schlief wie ein Baby, bekam von alledem nichts mit. Die einzige Reaktion die er zeigte war, mir den Rücken zuzudrehen. Und dass er das getan hatte, war auch ausschlaggebend dafür, was als nächstes kam.

Ich wollte ihn nicht verletzten – und schon gar nicht verlieren. Wenn er also glaubte, ich würde ihm nicht vertrauen, so musste ich das schleunigst ändern!

Ohne noch viel länger nachzudenken, legte ich mich neben ihn – meinen Rücken an seinen gelehnt.

So wie es aussah, hatte er die Couch etwas ausgezogen und sie so um etwa einen halben Meter verbreitet, um besser darauf Platz zu finden. Mir war durchaus bewusst, dass es jetzt ziemlich eng werden würde, aber ich hatte mich entschieden, und bei dieser Entscheidung blieb ich jetzt auch!

Erst war es seltsam. Ich kannte die Nähe anderer Menschen nicht – zumindest nicht so. Inzwischen hatte ich mich zwar daran gewöhnt, von irgendjemandem berührt zu werden, aber das hier war dann doch noch etwas ganz anderes.

Je länger ich allerdings so dalag, desto angenehmer erschien es mir. Matt strahlte so viel Wärme ab, dass ich erst jetzt bemerkte, dass mir eigentlich kalt war. Gerade als ich dabei war einzuschlafen – was in meinem Zustand nicht allzu schwer war – bewegte er sich wieder und riss mich so aus meiner Trance.

Meine Befürchtung, er könnte aufgewacht sein, bestätigte sich, als er sich zu mir umdrehte und mitten in der Bewegung inne hielt – was man als Schlafender normalerweise eher nicht tat.

Ich wollte jetzt nicht mit ihm sprechen, sondern nur schlafen, also bewegte ich mich nicht. Allerdings flog mein Scheinschlaf fast auf, als er plötzlich seinen schweren Arm um mich legte und mich vorsichtig näher an sich heranzog.

Dass ich so sogar noch schneller einschlafen konnte, hätte ich nie gedacht, doch sobald ich Matts warmen Atem in meinem Nacken spürte, glitt ich augenblicklich ins Reich der Träume.

 

15. Kapitel

 

Es war ein leichter Druck an meinem Arm und eine sanfte Berührung meiner Wange, die mich sanft weckten. Flatternd öffneten sich meine Augenlider fast automatisch, doch ich konnte rein gar nichts sehen – es war stockdunkel.

Ob es wohl schon Zeit war, aufzustehen? Ich wusste es nicht.

Dann erinnerte ich mich wieder daran, weshalb ich überhaupt aufgewacht war. Zögernd drehte ich mich halb zur Seite und spürte einen warmen Körper neben mir.

Zuerst war ich geschockt, aber bald kehrte die Erinnerung an den Vorabend – ich vermutete zumindest, dass es der Vorabend gewesen war – zurück. Ich wusste wieder, dass ich es gewesen war, die sich zu Matt auf das enge Sofa gequetscht hatte, nicht umgekehrt.

Ich schluckte laut und das Geräusch hallte in meinen Kopf wider. So leise ich konnte, versuchte ich mich von der Couch zu verziehen, doch Finger schlossen sich um mein Handgelenk und hielten mich so davon ab zu gehen.

„Du bist wach“, stellte Matt tonlos fest und lockerte seinen Griff um mein Handgelenk ein wenig.

Ich nickte, bis mir einfiel, dass er das gar nicht sehen konnte.

„Ähm, ja. Bin ich wohl.“ Viel angespannter als zuvor legte ich mich wieder hin. Mein Atem wurde flacher.

„Was machst du hier?“ Endlich konnte ich wieder Emotionen in seiner Stimme hören – was mich dazu bewegte, erleichtert aufzuatmen.

„Ich denke, ich vertraue dir gerade, oder?“ Ich musste nicht einem Sekunde auf Matts Reaktion warten.

Sein Lachen war warm und ehrlich und das ganze Sofa unter uns schien seinetwegen zu beben.

„Du bist verrückt… aber niedlich.“ Seine Hand fand meine, unsere Finger verschränkten sich beinahe automatisch miteinander – etwas, womit ich nicht gerechnet hatte.

„Ich muss gehen.“ Nun war er wieder ernst – und ich mochte diese Seite an ihm ganz und gar nicht! Wie eine Wilde versuchte ich sein Gesicht im Nichts auszumachen, aber ich schaffte es nicht.

„Wie spät ist es?“ Ich wollte Zeit schinden. Auch wenn ich erst als merkwürdig empfunden hatte, dass er mich nicht gehen lassen wollte, so wollte ich jetzt nicht, dass er wegging.

Ein Rascheln ließ mich vermuten, dass Matt einen Arm hob um auf die fluoreszierenden Zeiger seiner Armbanduhr zu sehen. „Halb sechs. Hast du Hunger?“

Ich hob meine Augenbrauen, aber ich musste nichts sagen – Matt wusste sofort, dass er sich versprochen hatte.

„Sorry.“ Umständlich, um mich nicht wortwörtlich von der Bettkante zu stoßen, begann er damit, sich aufzurichten und über mich zu klettern. Noch bevor ich überhaupt nachdenken konnte, schossen meine Hände nach oben und griffen nach seinem T-Shirt. Dem Geruch nach zufolge, den es verströmte, hatte er sich umgezogen, bevor er sich hingelegt hatte – es roch nach Weichspüler.

„Kannst du… nicht noch bleiben?“ Meine eigenen Worte verblüfften mich wahrscheinlich mehr als ihn. Trotzdem ließ ich ihn nicht los.

Obwohl er sich mit Leichtigkeit hätte losreißen können, verharrte er in seiner Position – nämlich direkt über mir. „Nein, kann ich nicht.“ Seine Lippen berührten kurz meine Nasenspitze. „John dreht durch, wenn ich zu spät komme.“ Damit schwang er sich endgültig vom Sofa und ging in die Küche.

Ich blieb allein zurück – wie erstarrt.

Sogar meine Hände griffen vor mir noch ins Leere, bis ich sie schließlich an meinen Körper zog. Mit Matt war auch seine Körperwärme verschwunden.

Aus der Küche drang inzwischen dumpfes Klappern und Klopfen zu mir herüber. Eigentlich war ich noch müde, doch ich wollte nicht länger auf dem leeren Sofa liegen. Also folgte ich Matt.

Im offenen Durchgang zur Küche blieb ich stehen und beobachtete ihn eine Weile. So wie es aussah, bereitete er sich gerade Frühstück zu – oder so ähnlich.

Gähnend setzte ich mich an den Tisch und stützte meinen Kopf mit meinen Händen ab. Wortlos nahm er mir gegenüber Platz, aß und ging dann, ohne das schmutzige Geschirr aufzuräumen.

Die Tür fiel hinter ihm schwer ins Schloss.

Wenn ich mich noch nicht allein gefühlt hatte, als Matt aufgestanden war, so tat ich es spätestens jetzt. Um mich wenigstens ein wenig abzulenken, begann ich damit den Teller und das Besteck zu waschen, dass er stehen gelassen hatte. Leider war ich damit nach ein paar Minuten fertig.

Nun blieb mir nichts weiter zu tun, als zu warten… oder Matts Wohnung zu verlassen und somit das Risiko einzugehen, George in die Arme zu laufen.

Kurz überlegte ich und entschied mich dann dafür, mir endlich einmal wieder meine Füße zu vertreten.

Draußen auf dem Gang war alles ruhig. Ich wusste noch nicht genau, wohin ich gehen wollte, aber so viel Auswahl hatte ich ohnehin nicht. Entweder wandte ich mich Richtung Zentralle, oder Trainingsraum – ich entschied mich für letzteres.

Es war sowieso noch früh, also hätte ich wahrscheinlich den ganzen, großen Raum für mich allein – denn George schlief entweder noch, oder musste, genau wie Matt, John bei irgendetwas helfen.

Tatsächlich betrat ich das kleine „Fitnesscenter“ der Dämonenjäger und fand nichts als ein paar Sandsäcke und Sportgeräte vor.

Was genau ich hier machen sollte, wusste ich noch nicht, aber ich entschied mich als erstes dafür, auf eines der Laufbänder zu klettern und loszulegen. Dass ich dabei meine neuen Klamotten vollschwitzte – ich trug immer noch das gleiche Gewand wie am Tag zuvor – störte mich wenig. Irgendwo in dieser Bude musste es ja eine Waschmaschine geben und wenn nicht, würde ich meine Wäsche eben mit der Hand waschen.

Ich lief und lief und drehte die Geschwindigkeit auf die höchste Stufe, nur müde wurde ich davon trotzdem nicht. Etwas irritiert schaltete ich das Gerät ab. Gehörte das etwa auch zu meinen Dämonenfähigkeiten? Na toll, nicht einmal gar nichts war an mir mehr normal!

Wahrscheinlich sah es für einen Außenstehenden jetzt so aus, als würde ich schmollen, in Wirklichkeit war ich aber einfach nur wütend. Solche dummen Dinge mussten aber auch immer mir passieren – ausgerechnet mir!

Schnaubend setzte ich mich auf eine dicke Matte und legte mein Gesicht in meine Hände.

So wie es aussah, war ich wie Pinocchio: Ich wollte ein normaler Mensch sein, aber ich war es einfach nicht… Aus einer Holzpuppe wurde nun mal kein Menschenjunge und aus einem Dämonen keine Frau.

Und schon wieder wollten mir die Tränen in die Augen steigen, aber dieses Mal wehrte ich mich gegen sie. Es konnte doch einfach nicht sein, dass ich immer – wirklich immer! – heulte!

Mindestens eine halbe Stunde saß ich da und kämpfte gegen mich selbst, bis ich schließlich wirklich gewann. Triumphierend stand ich auf und zuckte erschrocken zusammen.

Die Tür des Trainingsraums war sperrangelweit offen und George lehnte schmunzelnd im Rahmen.

„Oh mein Gott! Mach das bloß nicht noch einmal!“, rief ich ihm zu, immerhin war er doch ein Stückchen von mir entfernt.

„Was denn? Darf ich nicht mal hier rumhängen?“ Er legte seinen Ich-hab-doch-gar-nichts-schlimmes-gemacht-Blick auf und löste sich aus seiner Position.

Ich atmete tief durch. Okay, es war nur falscher Alarm – nur George, sonst niemand!

„Ja, ist ja schon gut.“ Nun ging ich auf ihn zu, blieb aber ein paar Meter vor ihm stehen. „Was gibt’s?“ Leicht herausfordernd schaute ich zu ihm auf – denn auch er war ein ganzes Stück größer als ich.

„Wie kommst du darauf, dass es was gibt?“ Er zog fragend eine Augenbraue hoch, bewegte sich aber ansonsten keinen Millimeter.

„Naja, warum bist du denn sonst hier?“ Ich musste zugeben, dass ich etwas verunsichert von seinem Konter war, aber gleichzeitig wusste ich auch, dass er mir etwas sagen wollte – oder musste.

„Okay, du hast gewonnen. John schickt nach dir – es gibt Neuigkeiten.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand durch die Tür, nur um sich draußen auf dem Gang wieder nach mir umzudrehen.

„Kommst du jetzt, oder was?“ George klang etwas verärgert, obwohl ich keine Ahnung hatte, was der Auslöser für dieses Verhalten war. Um ihm keinen Grund zu geben, mich anzuschnauzen, sah ich zu, dass ich ihm folgte – obwohl er ein ganz schönes Tempo vorlegte.

Unsere Schritte hallten gespenstisch von den Wänden wider, was durch das Schweigen zwischen uns nur noch verstärkt wurde. Dass ich nur leicht bekleidet war und nicht einmal Schuhe anhatte, verbesserte meine Situation auch nicht gerade.

Unzählige Biegungen später, standen wir vor der Tür der Zentralle. Ohne auch nur ein Wort zu verlieren, bedeutete George mir dort zu warten, bis er mich holen kam. Ich sagte nichts dazu, und tat einfach, was er verlangte.

Es war schon merkwürdig, so wütend kannte ich ihn eigentlich gar nicht. Normalerweise war er doch immer so ein Spaßvogel – seit ich ihn kannte!

Langsam und schleichend nistete sich ein, nicht ganz schöner Verdacht in meinem Kopf ein. Was, wenn Matt George gesagt hatte, dass ich ihn lieber hatte. Das würde dann natürlich sofort erklären, warum er so unfreundlich war. Um mich aber nicht zu blamieren, wollte ich noch abwarten, wie er sich in Johns Gegenwart verhielt.

Ich zuckte zusammen, als die Tür nach ein paar Minuten wieder aufgerissen wurde. John persönlich stand dahinter und bat mich mit einem neutralen Lächeln einzutreten – fast, als würde er mit einer völlig Fremden sprechen.

Wie immer setzte ich mich auch diesmal an den Tisch. Sofort wanderte mein Blick durch den Raum und blieb kurz an dem eingeschalteten Computer an der hinteren Wand hängen. Matt saß nicht auf dem Drehstuhl und hämmerte auch nicht auf die Tastatur ein. Wo war er denn?

Ich nahm mir vor, John bei Gelegenheit danach zu fragen – natürlich nur, wenn George gerade nicht dabei war.

Dieser lehnte im abgedunkelten Teil des Raums an der Wand und ignorierte mich vollkommen – auch, als ich ihm schüchtern zulächelte.

„Nici, es gibt, vielleicht gute, Neuigkeiten“, begann John und machte es sich mir gegenüber bequem.

Aha, gute Neuigkeiten also.

„Welche denn?“ Ich merkte erst jetzt, dass mein Hals total kratzig und trocken war – Matts Abwesenheit nagte an mir wie eine tödliche Krankheit.

„Wir wissen, wer für….dich verantwortlich ist.“ John ließ mir ein paar Sekunden Zeit, um seine Worte zu schlucken.

„W-was bedeutet das jetzt für mich?“ Komisch, jedes Mal wenn ich mich hier, in diesem Raum, befand, fühlte ich mich, als würde man mich ausquetschen. Und dementsprechend nervös war ich auch.

„Wir, also George und ich, werden in den nächsten Stunden einen geeigneten Plan entwickeln. Vermutlich brechen wir dann morgen auf.“

„Wohin?“ Meine Hände fingen an zu zittern, aber nicht, weil mir plötzlich kalt wurde, sondern weil dies der erste Schritt in meine neue Zukunft war.

„Tja, das lass mal schön unser Problem sein“, meldete sich nun George zu Wort. Im Schneckentempo trat er an den Tisch und setzte sich lässig auf die Kante eines Stuhls.

„Was soll das heißen?“, fragte ich. Nun war ich wirklich verwirrt. Wollten sie mich etwa hier lassen, oder was?!

„Das heißt, dass du nicht mitkommen wirst, Nici.“ Jetzt sprach wieder John. Ich hatte also richtig geraten!

„Wo ist Matt?!“ Ich hatte das Gefühl, als könnte nur er mich in diesem Moment verteidigen. Dabei vergaß ich aber leider ganz, dass George immer noch im Raum war.

„Mein Bruder“, George drehte sich auf dem Stuhl ganz zu mir herum, so dass ich ihm jetzt gerade ins Gesicht sehen konnte, „ist bereits losgezogen, um ein Lager aufzubauen. Er kommt vorerst nicht zurück.“

Ich merkte, wie mir alle Farbe aus dem Gesicht wich – auch wenn ich davon nicht gerade viel hatte. Am liebsten hätte ich auf der Stelle gekotzt, so schlecht war mir auf einmal.

„Sag jetzt, dass das nicht dein ernst ist!“, presste ich geradeso hervor, ohne wirklich zu kotzten.

„Nein, tut mir leid.“ Das kurze Aufblitzten von Zorn in Georges Augen gab mir den Rest. Er dachte also wieder nur an sich! Er glaubte, sein Bruder hätte die „coolere Aufgabe“ zugeteilt bekommen, dabei wusste er ganz genau, dass Matt gerade irgendwo ganz allein und auf sich gestellt war!

Ich konnte ein wütendes Schnauben gerade noch unterdrücken, als John weitersprach.

„Nici, es tut mir leid, aber du wirst hier bleiben. Für eine Frau ist so ein… Ort wirklich nicht die richtige Umgebung.“ Verlegen über seine miese Ausrede senkte er den Blick. Und es war wirklich die allerschlechteste Ausrede, die ich in meinem kurzen Leben je hören durfte!

„Nein!“ ich sprang von Stuhl und zwar mit so viel Schwung, dass dieser umkippte und quer durch den Raum bis zur Wand schlitterte, wo er schließlich liegen blieb.

Sofort waren auch George und John auf den Beinen. Zu meiner Überraschung war es allerdings nicht John, der seine Waffe zückte, sondern George! Und dabei hatte ich nicht einmal gemerkt, dass sie überhaupt Pistolen trugen!

Entsetzt starrte ich ihn an. Was hatte er jetzt vor?! Wollte er mich etwa erschießen!? Nur weil ich mich gegen ihn, und für seinen Bruder entschieden hatte?!

„George!“ Johns Stimme füllte den gesamten Raum aus. Augenblicklich ließ George die Waffe sinken und drehte mir den Rücken zu – fast, als würde er sich schämen. Ja, und das sollte er jetzt auch ruhig tun!

Gar nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Matt anwesend gewesen wäre – er hätte George in der Luft zerfetzt. Mein Herz pochte wie wild.

„George, verschwinde! Und wehe, ich sehe dich hier noch einmal, bevor du dich wieder beruhigt hast!“, fuhr John ihn an und zeigte dabei unentwegt auf die Tür hinter mir.

Als er an mir vorbeirauschte, konnte ich gerade so erkennen, wie er mir einen entschuldigenden, aber gleichzeitig stinkwütenden Blick zuwarf.

„Es tut mir leid, Nici.“ John ließ sich auf den Sessel fallen. Auch er schien von der ganzen Situation sehr überrascht gewesen zu sein – vielleicht sogar noch mehr als ich.

„Ach, ist schon gut. Er hat sich wahrscheinlich nur erschrocken…“ Langsam setzte auch ich mich wieder. „John, bitte lass mich mitkommen“, bat ich ihn mit flehender Stimme.

„Das geht wirklich nicht. Das könnte ich nicht verantworten…“ Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und zerwuschelte es somit vollkommen. So müde und erschöpft hatte ich ihn noch nie erlebt.

„Ich kann helfen!“ Wieder stand ich auf und stützte mich mit den Händen an der Tischplatte ab. „Matt hat mir gezeigt, wie man kämpft! Ich kann das!“

Wäre es nicht um etwas wirklich Ernstes gegangen, wäre mir die Situation vermutlich peinlich gewesen – ich hörte mich an, wie ein jammerndes Kleinkind, das unbedingt seinen Lolly haben wollte.

„Ach, hat er das?“ Nun schien er noch verwirrter als zuvor. Vielleicht hätte ich lieber meine Klappe halten sollen? Vielleicht hätte Matt mich gar nicht trainieren dürfen?

„Gut, dann wirst du also mitkommen.“

Vor Erstaunen klappte mein Mund auf. Dass ich mein Ziel so schnell erreichen würde, hätte ich nie gedacht! Wahrscheinlich deutete John mein Schweigen falsch, denn er fügte hastig hinzu: „Lass es mich wissen, wenn du es dir anders überlegst! Du sollst wissen, dass du uns nichts schuldest.“ Nun stand er auf und schob seinen Stuhl zurück.

„Du gehst am besten in Matts Wohnung – die ist jetzt ohnehin frei. Und tu mir den Gefallen und halte dich fürs erste von George fern, er scheint zurzeit nicht besonders gut drauf zu sein.“

Nickend drehte ich mich um und machte mich auf den Weg.

Ich wollte George in den nächsten Stunden sowieso nicht sehen. Vermutlich hatte er schon genug mit seinem schlechten Gewissen zu kämpfen, weil er auf mich gezielt hatte. Außerdem würde John ihm sicher auch noch die Hölle heiß machen.

Gesenkten Hauptes verließ ich die Zentrale und suchte mir meinen Weg durch die verschlungenen Gänge der Basis.

Vielleicht hätte ich mir mehr Sorgen über Georges aggressive Reaktion mir gegenüber machen sollen, aber alles was gerade meinen Kopf ausfüllte, war Matt. Er war also schon weg – irgendwo in der Nähe dieses Dämons, oder was auch immer es war.

Was, wenn ihm etwas zustieß? Dann konnte John noch so sehr beteuern, dass ich ihnen nichts schuldete – ich wusste, dass ich schuld an allem war. Gar nicht auszudenken, was dieses Etwas ihm antun würde, wenn es ihn erwischte.

Ich musste schwer schlucken. Ein dicker Kloss bildete sich wie automatisch in meinem Hals und machte mir das Atmen schwer.

George musste sich beruhigen – und zwar auf der Stelle! Je länger er jetzt hier wütete, desto länger war Matt allein… und desto größer war auch das Risiko.

Ich beschleunigte meine Schritte, als würde das irgendetwas bringen. Schnaufend kam ich vor Matts Wohnung an und trat ein. Immer hatte ich diesen Ort als eine kleine Oase betrachtet, doch nicht heute.

Heute schien es mir eher wie eine leere, dunkle Höhle. Es war fast, als wären das Licht und die Wärme und vor allem die Liebe mit Matt verschwunden.

Den Tränen nahe setzte ich mich aufs Sofa. Hier hatte er letzte Nacht geschlafen – und ich neben ihm. Hätte ich nur nicht gezögert. Wenn er jetzt starb, dann… Nein! Es gab überhaupt keinen Grund zur Sorge. John hatte kein Wort darüber verloren, dass Matt in Gefahr sein könnte, also war er es auch nicht! Außer, John belog mich absichtlich….

Mein Kopf fühlte sich an, als würde er platzten. Dieses Pochen und Brennen steigerte sich von Sekunde zu Sekunde ins Unermessliche. Wimmernd kippte ich zur Seite und verbarg mein Gesicht in dem weichen Kissen, das noch immer genauso dalag, wie heute Morgen. An dem flauschigen Stoff haftete nach wie vor Matts einzigartiger Geruch.

Irgendwie war es schon seltsam. Erst jetzt, wo er weg war, erkannte ich, wie sehr ich ihn eigentlich brauchte. Wirklich jeder auf der Welt bräuchte einen wie Matt, der ihm von Zeit zu Zeit unter die Arme griff und wieder aufbaute. Nur dieser Matt – Matt Mason, denn so hieß er in vollem Namen – gehörte mir, ganz allein mir. Ich klammerte mich verzweifelt an den Gedanken, dass er stark war, schnell und intelligent. Er würde früh genug merken, wenn Gefahr drohte.

Die Erinnerung an ihn, wie er nach dem Angriff blutend neben mir saß, schien mir das Gegenteil beweisen zu wollen. Ich schüttelte den Kopf.

So etwas würde nicht noch einmal passieren – niemals wieder. Und wenn es sein musste, würde ich ihn mit meinem Leben beschützen! Mühsam richtete ich mich auf und wischte ein paar Tränen aus meinen Augen, die sich inzwischen dort gesammelt hatten. Trotzdem wurde ich das Gefühl einfach nicht los, dass er in Lebensgefahr schwebte.

George musste sofort damit aufhören, kostbare Zeit zu verschwenden, ansonsten brachte er seinen Bruder in Lebensgefahr!

Mein Entschluss stand fest, noch bevor ich mich überhaupt vom Sofa erhoben hatte. Immer noch trug ich nur ein dünnes T-Shirt und eine noch dünnere Hose und dazu nicht einmal Schuhe, aber darauf durfte ich jetzt keine Rücksicht nehmen.

Ich stürmte aus der Wohnung, und ließ die Tür hinter mir einfach offen stehen – es würde schon niemand einbrechen. Wie ein gehetztes Tier jagte ich durch die Gänge. Ich wusste noch ungefähr, in welcher Richtung Georges Wohnung liegen musste, aber ganz sicher war ich mir eben auch nicht mehr.

Umso überraschter war ich, als, hinter einer Ecke, plötzlich George vor mir stand. Nur knapp schaffte ich es, ihn nicht über den Haufen zu rennen. Stattdessen warf ich mich im letzten Moment seitlich gegen die Wand und schürfte mir dabei etwas meinen nackten Oberarm auf.

„Um Gottes Willen! Nici, hast du dir wehgetan?“ Sofort war George neben mir und half mir wieder auf die Beine.

Vielleicht war ich in diesem Moment ein wenig überrumpelt – was man ruhig wörtlich nehmen konnte – denn ich brachte nur ein schwaches Nicken zustande.

„Was machst du denn überhaupt hier? Du frierst dir ja den Hintern ab!“ George schaute sich hilfesuchend auf dem Gang um. Mir entging seine Unsicherheit keineswegs.

„George, bitte beeil dich!“, forderte ich ihn auf, während sich mein Blick in seinen brannte.

„W-wie bitte? Was meinst du? Mit was soll ich mich beeilen?“, verwirrt machte er einen Schritt rückwärts von mir weg und musterte mich von oben bis unten – als vermute er, dass ich mir den Kopf gestoßen hätte.

„Geh zu John, bitte! Ihr müsst euch beeilen!“ Jetzt fing mein ganzer Körper an zu zittern. Nur indem ich mich gegen die kalte, kahle Betonwand lehnte, schaffte ich es, nicht schon wieder hinzufallen.

„Was zum…?“ Etwas widerwillig legte er seine Hände an meine Oberarme und hielt mich so in einer aufrechten Position. „Jetzt bleib ganz ruhig. Atme, Nici!“

Ich merkte gerade so, dass ich die Luft angehalten hatte.

„Okay, es ist alles gut, jetzt…“ Weiter kam er nicht mehr, denn ich fiel ihm ins Wort.

„Nichts ist gut, verdammt nochmal! George, hör endlich auf Matts Zeit zu verschwenden!“, fuhr ich ihn an und riss mich, auf die Gefahr hin, doch noch umzufallen, von ihm los.

Verwirrt kniff er die Augen zusammen und runzelte die Stirn. „Ich verstehe nicht, was du von mir willst – ganz ehrlich!“, versuchte er sich zu rechtfertigen, doch erneut unterbrach ich ihn mit einem Kopfschütteln.

„Geh. Zu. John!“ Mein Ton war schneidend scharf wie die Klinge eines Messers. Ich war mir sicher: wenn er es jetzt immer noch nicht kapierte, würde ich ihm an die Gurgel gehen!

„Okay, okay! Komm mit.“ Wieder griff er nach mir und zog mich hinter sich her. Es war das erste Mal, dass ich nicht versuchte, mir die unzähligen Gänge und Biegungen einzuprägen. Ich wollte, dass er schneller ging, doch als ich versuchte ihn zu überholen, hielt er mich zurück.

„Keine Panik!“

Als wir endlich an der Tür zur Zentrale ankamen, hechelte ich wie ein Hund nach einer Hetzjagd.

„Warte hier“, befahl George und drückte mich auf einen Stuhl. Ich war versucht ihm hinterher zu laufen, als er durch eine Tür im hinteren Teil des Zimmers verschwand, doch ich ließ es. Ich durfte jetzt nicht die Nerven verlieren!

Alles würde gut gehen! Matt würde nichts geschehen – wir waren praktisch schon auf dem Weg zu ihm.

Sekunden, nachdem George gegangen war, hörte ich hastige Schritte, dann wurde die Tür wieder aufgerissen. John stand vor mir, in gewohnter Jägerskluft, und bedeutete George, sich neben mich zu setzten, während er auf der anderen Seite des Tisches Platz nahm.

„Was ist los, Nici?“ Seine Augen huschten in Sekundenschnelle über mein Gesicht und suchten nach einem Anhaltspunkt, irgendetwas das ihm verraten würde, was hier nicht stimmte. Anscheinend fand er nichts.

„Wir müssen uns beeilen! Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl wegen Matt!“, keuchte ich immer noch außer Atem.

John runzelte die Stirn und wartete einen Augenblick, ehe er fortfuhr. „Kannst du das irgendwie begründen?“ Er glaubte mir nicht! Ich war am verzweifeln, aber er glaubte mir nicht, was ich sagte.

„Bitte, ich glaube er ist in Gefahr!“ Jetzt wo ich es ausgesprochen hatte, wusste ich auch, dass es stimmte. Mein Bauchgefühl schien mir schon fast zuzubrüllen, dass jede Sekunde, die wir hier verschwendeten, eine zu viel war.

„George, mach‘ die Ausrüstung fertig und tank den Wagen auf. Ich kümmere mich um den Proviant und helfe Nicole!“ Schneller als ich mich zu ihm umdrehen konnte, war George auch schon aufgesprungen und aus dem Zimmer verschwunden.

„Danke, John“, stieß ich hervor. Endlich bewegte sich etwas. Endlich hatte ich einmal etwas bewirkt.

„Los, lass uns keine Zeit mehr vergeuden.“ Zum ersten Mal seit ich ihn kannte, schien John aus der Fassung zu sein. Vielleicht spürte er ja auch, dass gerade etwas komplett schieflief.

„Folge mir!“ Das brauchte er mir nicht zweimal zu sagen. So schnell ich konnte umrundete ich den Tisch und ging neben ihm auf die hintere Tür zu. Ich wusste nicht, was mich dahinter erwartete, aber ich würde es in einigen Sekunden sicher erfahren.

John ging voraus und ich folgte ihm durch einen, von Neonleuchten erhellten, Gang. Nach ein paar Schritten blieb er vor einer schwarzen Metalltüre stehen und öffnete sie. Die Scharniere quietschten und gaben ein so erbärmliches Geräusch von sich, dass ich eine Gänsehaut bekam.

„Komm rein.“ Er ließ mich vor sich in den Raum treten und mir vielen fast die Augen aus dem Kopf. Auch hier bestand der Boden und die Wände aus Beton – wie im ganzen Gebäude – nur, dass dieses Zimmer sehr viel imposanter aussah.

Seitlich, an den Wänden standen meterlange Kästen aus Metall, so vermutete ich zumindest. An der Rückseite des Raums befand sich eine Glasvitrine, die sich über die gesamte Länge der Wand erstreckte. So wie es aussah, wurden die Objekte hinter der Scheibe von blauen LED-Leuchten angestrahlt.

„Was ist das hier?“

„Ausrüstungszimmer“, antwortete John knapp und machte sich sogleich an einem der Kästen zu schaffen, während ich meinen Blick weiterhin durch den Raum schweifen ließ.

„Ahh… Hier haben wir das Teil ja!“, rief er plötzlich aus, was mich zusammenzucken ließ.

„Hier haben wir was?“, fragte ich nach und versuchte über seine Schultern hinweg zu erkennen, was er gerade in der Hand hielt.

„Bitte, der müsste dir eigentlich passen.“ Er wirbelte herum und drückte mir etwas Schwarzes in die Hand. Noch bevor ich nachfragen konnte, was es damit auf sich hatte, war er wieder bei der Tür, warf mir noch schnell ein „Du hast fünf Minuten“ zu und schloss sie dann hinter sich.

Ich begriff überhaupt nichts und legte dieses Ding erst einmal auf dem niedrigen Tisch in der Mitte des Raums aus. Es sah aus wie ein Overall. Der Stoff erinnerte mich entfernt an das Material, aus dem Sicherheitsgurte für Autos angefertigt wurden, so steif und schwer war er. Auf dem Rück- und Vorderseite befanden sich, genauso wie an den Schultern, Oberarmen und Oberschenkeln große, steinharte Platten – wie Protektoren.

Endlich kapierte ich, was ich da vor mir hatte – einen Jagdanzug der Dämonenjäger!

Hastig schälte ich mich aus meinem Gewand und schlüpfte in den Overall. Wie eine zweite Haut legte sich dieser um meinen Körper, ohne mich allerdings einzuschränken. Zum Schluss zog ich noch den Reißverschluss an der Bauchseite zu und zurrte den Gürtel um meine Hüften so eng, dass ich noch bequem atmen konnte.

Die ganze Prozedur hatte anscheinend ziemlich lange gedauert, denn gerade als ich meine anderen Klamotten zusammenfaltete, betrat John wieder den Raum.

„Und? Oh, ich sehe schon – passt wie angegossen“, meinte er, als ich mich ansah.

Er gab mir noch ein Paar schwarzer Handschuhe und Socken und Stiefel in derselben Farbe. Langsam wunderte ich mich, warum er überhaupt Ausrüstung für Frauen da hatte, aber noch traute ich mich nicht, ihn danach zu fragen – er war gerade sowieso zu sehr darin vertieft, in irgendwelchen Schränken herumzuwühlen.

Als er dann vor die Vitrine trat, folgte ich ihm unaufgefordert. Dieser riesige gläserne Kasten zog einfach meine Aufmerksamkeit auf sich. Meine Augen wurden noch größer, als ich erkannte, was da hinter der zentimeterdicken Scheibe aufgebaut war – Waffen, Waffen und noch viel mehr Waffen!

John schritt ein paar Mal vor der Wand auf und ab und öffnete dann eine der insgesamt drei Türen.

Falls ich jemals daran gezweifelt hatte, dass er mir vertraute, so änderte sich das nun schlagartig, denn, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, drückte er mir eine Waffe nach der anderen in die Hand. Als ich voll bepackt war – genau wie er – breiteten wir alle Höllenmaschinen auf dem Tisch hinter uns aus.

Etwas mulmig wurde mir schon, beim Gedanken daran, dass es eines dieser Geräte sein könnte, mit der mich einer der Jäger angeschossen hatte. Ich versuchte es zu verdrängen, aber ganz klappte es doch nicht.

„So, den Rest erledigt George. Komm, wir müssen noch ein paar Sachen aus dem Vorratslager holen!“ Und schon ging er wieder vor mir her aus dem Raum und den Gang entlang.

Jetzt war es also soweit. Wir würden sicher bald aufbrechen um Matt zu helfen – bei meinem Problem!

All meine Hoffnungen klammerten sich nun daran, dass wir nicht zu spät kamen, denn mein Gefühl versuchte mir die ganze Zeit über einzureden, dass wir es nicht mehr rechtzeitig schaffen würden…

 

 

16. Kapitel

 

Ungefähr zehn Minuten waren vergangen – vielleicht ein paar mehr oder weniger. Inzwischen stand ich, gemeinsam mit John und George, der die Waffen zusammengesammelt und hierher transportiert hatte, in einer Garage. In Größe und Form stand dieser Raum dem Trainingsraum in keinster Weise nach, nur befanden sich hier eben allerhand verschiedene Fahrzeuge. So waren, zum Beispiel, in einer Ecke insgesamt fünf verschiedene Motorräder zu finden. Ich verstand zwar nichts von diesen Ungetümen aus Blech und Plastik, aber ich war mir ganz sicher, dass sie verdammt schnell und vor allem teuer waren.

„Nici, hilf George das ganze Zeug in den Hummer zu laden. Ich gehe noch einmal zurück und überprüfe die Alarmanlage.“ Mit diesen Worten wandte John sich um und ließ mich mit George allein.

Zwar war ich zuvor schon mit ihm allein gewesen, aber trotzdem hatte ich ein seltsames Gefühl bei der Sache, immerhin hatte er vor nicht allzu langer Zeit noch seine Pistole auf mich gerichtet.

Mit einigem Sicherheitsabstand fing ich also an, verschiedenste Waffen und andere Ausrüstungen in den gewaltigen Kofferraum des Riesengefährts zu verladen.

George schien viel schüchterner als normalerweise. Für gewöhnlich war er doch immer so ein Plappermaul – und vor allem gesprächig! Tja, von diesen Charaktereigenschaften war jetzt ja nichts mehr übrig.

Nachdem alles eingeladen war, lehnte ich mich mit verschränkten Armen an die immer noch offene Heckklappe. George hatte mir den Rücken zugedreht und stopfte irgendetwas in einen riesigen Rucksack.

Die Spannung, die zwischen uns in der Luft lag, war deutlich spürbar – ja, sogar mehr als nur das. Ich hatte das Gefühl, dass ein elektrisches Knistern den Raum zwischen uns ausfüllte und von Zeit zu Zeit meine Haut streifte.

„Der Anzug passt dir sehr gut“, hörte ich plötzlich aus Georges Richtung. Wie von der Tarantel gestochen zuckte ich zusammen, bevor ich ein undeutliches „Danke“ hervor presste.

Und dann kam mir eine Idee. Anscheinend wollte er ja mit mir sprechen, das Gefühl hatte ich zumindest. Warum sollte ich ihn also nicht zu etwas ausquetschen, das mich interessierte?

„George?“ Ich stieß mich vom Auto ab und trat direkt hinter ihn, was er wohl auch spürte, denn er erstarrte sofort in der Bewegung.

„Jaaa?“ Wie in Zeitlupe drehte er sich zu mir um und machte gleichzeitig einen Schritt rückwärts – von mir weg.

So schwer es für mich auch war, ich wollte dieses Mal den Augenkontakt halten und schließlich schaffte ich es auch.

„Ich habe eine Frage… was diesen Anzug betrifft.“ Ich machte eine Handbewegung, die meinen ganzen Körper einschloss, brach den Augenkontakt dennoch nicht ab.

Das Braun in seinen Augen glitzerte für den Bruchteil einer Sekunde auf, dann war es wieder wie erstarrt. „Schieß los“, forderte er mich aus, wobei sein Gesicht völlig unbewegt blieb.

„Warum hat John einen Kampfanzug für Frauen da? Ich verstehe das nicht.“ Meine Stimme bebte leicht, bis ich es wieder schaffte sie unter Kontrolle zu bringen.

„Nun, das ist sooo…“ Ich konnte förmlich sehen, wie sein Gehirn arbeitete. Anscheinend durfte er es mir nicht sagen – oder er wollte es einfach nicht.

Abwartend zog ich meine Stirn kraus und legte automatisch meine Hände auf meine Hüften.

„John hatte einmal eine Frau…“, gab er schließlich zu und es sah ganz so aus, als wollte er sich auf der Stelle dafür die Zunge abbeißen.

Ich riss vor Erstaunen die Augen auf. „Er hatte eine was?!“, stieß ich vielleicht etwas zu laut hervor, wobei meine Stimme viel höher war als gewöhnlich.

„Eine Frau“, wiederholte plötzlich jemand hinter mir – und ich wusste sofort, wer es war.

Ich wirbelte herum und sah John, der in der Tür lehnte und uns beobachtete. Sein Gesichtsausdruck war… fast wie leergefegt. Er stand einfach nur da und bewegte sich kein bisschen.

„Na ganz toll…“ George flüchtete ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen hinter den riesenhaften Hummer.

„John… Es… es tut mir leid! Ich wollte mich nicht in deine Privatsphäre einmischen!“, versuchte ich mich zu rechtfertigen. Zögerlich ging ich ihm entgegen, doch er bedeutete mir nur mit einer knappen Handbewegung stehen zu bleiben.

„Ist schon gut, du konntest es ja nicht wissen.“ Endlich löste er sich aus seiner Starre und kam mir das letzte Stück entgegen.

„Lass uns einfach nicht mehr darüber reden.“ Mit einem leichten Lächeln im Gesicht klopfte er mir freundschaftlich auf die Schulter und steuerte dann das Auto hinter mir an.

George saß schon auf dem Beifahrersitz und drückte auf irgendwelchen verschiedenfarbigen Knöpfen in der Mittelkonsole herum, so dass immer wieder ein mechanisches Klacken, gefolgt von einem leisen Piepton, zu hören war.

„Du kannst dich hinter mich setzten, da sollte noch etwas frei sein“, wies John mich an während er sich hinter das Steuer setzte – oh Mann, Steuer war wahrscheinlich noch untertrieben! Dieses Lenkrad hatte man ganz bestimmt aus einem Lastwagen ausgebaut!

Ich kam mir so unendlich klein und mickrig vor, wie ich dort saß, auf der Rückbank dieses Automonstrums. Mein Herz beschleunigte langsam aber sicher auf einen Puls, der ganz sicher nicht mehr gesund war. Meine Finger krallten sich immer tiefer in den weichen Stoff des Sitzes, bis ich Angst hatte, ein Loch hineinzureißen.

„Alles in Ordnung da hinten?“, fragte George wobei er mir im Mittelspiegel einen Blick zuwarf. Anscheinend sah ich nicht so aus, als wäre alles in Ordnung – was auch stimmte! Aber ich wollte mir nichts anmerken lassen und jetzt schon gar nicht. Sonst hätte John vielleicht noch gedacht, er hätte ein verängstigtes Mädchen mit in den Kampf genommen – und von dem war ich mir sicher, dass er noch kommen würde!

Ich merkte gar nicht, wie sich das Garagentor vor uns öffnete und wir in eine tiefschwarze Nacht hinaus fuhren, so vertieft war ich in meine Gedanken.

 

Ein Ruckeln ließ mich aufschrecken. So wie es aussah, war ich wohl eingeschlafen.

Ich wischte mir den Schlaf aus den Augen und richtete mich auf, denn ich war während meines kleinen Nickerchens im Sitz ziemlich weit hinunter gerutscht.

George auf dem Beifahrersitz war es anscheinend nicht viel anders ergangen als mir. Sein Kopf lehnte schlaff an der vermutlich eiskalten Seitenscheibe und er atmete leise ein und aus. Ich lockerte meinen Sicherheitsgurt ein wenig, um zu sehen ob wenigstens John noch wach war – was er logischerweise sein musste, sonst würde das Auto ja wohl kaum fahren!

Als er sah, dass ich mir halb den Hals verrenkte, um um den breiten Fahrersitz herum sehen zu können, setzte er ein freundliches, jedoch gleichzeitig äußerst müdes Lächeln auf.

„Gute Morgen“, murmelte er bevor er seine Augen wieder auf die breite Straße vor uns richtete. Nun öffnete ich meinen Gurt vollkommen und rutschte in die Mitte der Rückbank. Mit meinen Ellbogen stützte ich mich an den beiden vorderen Sitzen ab und lehnte mich dann so weit wie möglich nach vorne, um ordentlich mit John sprechen zu können – denn hinter ihm konnte ich kaum etwas verstehen.

„Wo sind wir jetzt eigentlich?“, fragte ich, ein Gähnen unterdrückend. Irgendwie war es mir im Nachhinein furchtbar peinlich eingeschlafen zu sein, doch John hatte anscheinend kein Problem damit – und George auch nicht.

„Wir sind noch nicht sehr weit gekommen.“

„Warum nicht?“, hackte ich nach. Ich war mir ganz sicher, dass ich sofort wieder einschlafen würde, wenn ich jetzt nicht mit jemandem sprechen konnte. In Gedanken verfluchte ich deshalb die Medikamente, die ich jeden Tag gespritzt bekam.

„Tja, wir standen ungefähr zwei Stunden im Stau weil irgendein Idiot es wohl furchtbar komisch fand sich von einer Brücke aus auf ein fahrendes Auto zu werfen“, fügte er hinzu, wobei er seine Augen verdrehte. Hätte ich nicht gewusst, dass John nun mal so war wie er war, hätte mich diese Ansage bestimmt schockiert. Da ich ihn jetzt aber doch schon eine ganze Weile kannte, machte es mir nichts mehr aus, dass er relativ kaltherzig über den Tod eines Menschen sprechen konnte – wahrscheinlich gehörte es auch zu seinem Job. Und vielleicht hatte auch seine mysteriöse Frau etwas damit zu tun…

„Das heißt ja dann, dass ich noch gar nicht so lange geschlafen habe“, vermutete ich, aber eher für mich selbst als für John.

„Ja genau. Leider bedeutete das auch, dass wir noch ein ganzes Stück zu fahren haben, bevor wir bei Matt sind…“ Wieder warf er mir einen prüfenden Blick im Rückspiegel zu, als wollte er sehen, wie ich auf seine Worte reagierte. Dann setzte er den Blinker und überholte einen kleinen Fiat, der mit siebzig auf der zweiten Spur dahin kroch.

Langsam aber sicher hatte ich das ungute Gefühl, dass John wusste, dass irgendetwas zwischen Matt und mir lief. Ob sein Kollege es ihm erzählt hatte, oder ob John einfach nur ein guter Menschenkenner war, wusste ich nicht. Trotzdem breitete sich ein unbehagliches Gefühl in mir aus, das drohte die Sympathie, die ich inzwischen für den Anführer der Jäger hegte, wieder zu zerfressen und auszulöschen.

Unsicher senkte ich den Blick und begann automatisch damit, auf meiner Unterlippe herum zu kauen.

„Du hast ihn sehr gerne, nicht wahr?“ Diese Frage riss mich aus meinen Gedanken. Als hätte ich mich auf einen Nagel gesetzt zuckte ich zusammen und erstarrte anschließend mit weit offenem Mund. Augenblicklich schoss mir die Schamesröte in die Wangen.

„I-ich…“, stotterte ich während ich in meinem Kopf nach einer guten Ausrede suchte. Mein Herzschlag legte einen Zahn zu. Es war also wirklich so offensichtlich?

„Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Ich weiß, dass er dich mag.“ Dieses Mal sah er mich nicht an, sondern trieb das Riesenauto, in dem wir uns gerade befanden, zu noch höheren Geschwindigkeiten an, indem er das Gaspedal durchdrückte. Das laute Aufheulen des Motors ließ George erschrocken zusammenzucken.

Mit weit aufgerissenen Augen saß er plötzlich kerzengerade auf dem Beifahrersitz und sah zuerst John und dann mich an, als hätte er Angst, dass ihm jeden Moment der Himmel auf den Kopf fallen könnte.

Wie auf ein unsichtbares Signal hin, brachen John und ich in Gelächter aus. Die Anspannung, die noch bis vor ein paar Sekunden den Innenraum des Wagens erfüllt hatte, war schlagartig verflogen.

„Was ist denn so witzig?“, wollte George leicht gekränkt wissen und warf einen Blick in den Spiegel. Vermutlich glaubte er, dass er, während er geschlafen hatte, seine Frisur zerstört hatte und dass das uns so zum Lachen brachte – wie falsch er damit doch lag!

Als mein Bauch vom vielen Lachen schließlich schon anfing zu schmerzen, lehnte ich mich etwas zurück und starrte eine Weile durch die Frontscheibe hinaus auf die erleuchtete Straße. Die weißen Streifen blitzten immer wieder einmal für den Bruchteil einer Sekunde auf und verschwanden dann endgültig in der Dunkelheit.

Vielleicht hätte es mich interessieren sollen welche Uhrzeit wir hatten oder in welche Richtung wir fuhren, aber eigentlich tat es das überhaupt nicht. Meine Gedanken wanderten wieder einmal zu Matt und furchtbare Bilder schoben sich in meinen Kopf.

Bilder, in denen er blutend am Boden lag, niemand kam ihm zur Hilfe. Bilder, in denen ein Unbekannter über ihm stand und ihn folterte, während er, tapfer wie er war, jeden einzelnen Schmerzensschrei herunterschluckte.

Einen Moment lang wollte ich mich am liebsten schlagen dafür, dass ich gerade noch vor Lachen fast erstickt wäre, während Matt in der gleichen Sekunde in Lebensgefahr schwebte – und ich wusste, dass er das tat!

Mein Bauchgefühl sagte mir, dass uns, also John, George und mir, etwas Furchtbares bevorstand. Mein Herz klopfte noch schneller, als sowieso schon, aber ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen.

George sollte ja nicht noch einmal ausrasten müssen und John musste sich jetzt unbedingt auf die Fahrt konzentrieren, denn je schneller er fuhr, desto schneller kamen wir bei Matt an – und das war jetzt das Wichtigste!

„George, ruf Matt an und frag ob bei ihm alles okay ist“, forderte John seinen Beifahrer im selben Augenblick auf, in dem ich meinen Gedanken zu Ende geführt hatte. Eilig zog Matts jüngerer Bruder ein stabil wirkendes Telefon aus seiner Hosentasche und drückte ein paar Tasten. Das Display leuchtete auf und Sekunden später presste George das Gerät an sein Ohr.

„Matt?“ Im Spiegel konnte ich sehen, dass George seine Stirn in Falten legte. Stimmte etwa etwas nicht bei Matt? War er vielleicht schon verletzt? Steckte er in Schwierigkeiten?

„Mann! Nein, ist schon in Ordnung. Ich soll dich fragen ob bei dir alles okay ist.“ Bei diesen Worten fiel mir ein riesiger Stein vom Herzen – so groß wie der Mount Everest!

„Alles cool bei ihm“, gab George Matts Worte für uns durch. Ich seufzte erleichtert und ließ mich noch weiter in den Sitz sinken. Vielleicht kamen wir ja doch nicht zu spät!

„Was? Warum?“ George schnaubte genervt und hielt dann das Telefon in meine Richtung. „Er will mit dir sprechen“, meinte er ohne mich anzusehen. Mit zittrigen Fingern nahm ich das Handy entgegen und hielt es mir ans Ohr.

„Hallo?“ Ich merkte erst, dass meine Stimme bebte, als es schon zu spät war. Augenblicklich fingen meine Wangen an zu brennen – schon wieder.

„Hi, Nici.“ Die Verbindung war mehr als schlecht. Immer wieder unterbrach ein Knacken und Knistern Matts tiefe Stimme, doch ich verstand ihn.

„Matt! Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung?!“, fragte ich sofort drauf los. Auch wenn George uns schon bestätigt hatte, dass „alles cool“ war, wollte ich es noch einmal selbst hören.

„Ja, eigentlich schon. Ich…“, Matt brach ab. Zuerst befürchtete ich schon, die Verbindung wäre weg, doch dann hörte ich ihn wieder. Es schien, als wisse er nicht, was er sagen sollte, oder wie er etwas sagen sollte – als würden ihm die Worte fehlen.

„Ja?“ Mein Herz klopfte immer und immer lauter und langsam aber sicher glaubte ich schon, dass die beiden Dämonenjäger vor mir es hören könnten.

„Ich vermisse dich“, sagte er schließlich, nachdem er noch einmal tief Luft geholt hatte.

Für einen Augenblick blieb mein Herz stehen, dann legte es wieder los.

„Ich weiß…“, flüsterte ich und setzte noch leiser, „Ich dich auch“, hinterher. Im Augenwinkel sah ich, wie George immer wütender wurde und seine Augen zornig zusammenkniff. So wie es aussah, hatte ich doch nicht leise genug gesprochen – er hatte mich gehört.

„Ich muss Schluss machen. Es gibt noch viel zu tun“, meinte Matt nach einigen Sekunden des Schweigens.

„Wir sind auf dem Weg.“ Mehr brachte ich nicht heraus.

„Gut, dann… wir sehen uns.“ Ich hörte ein Rascheln auf seiner Seite.

„Matt? Warte!“ Ich war mir nicht sicher, ob er nicht schon aufgelegt hatte, doch ich musste ihm dringend noch etwas sagen.

„Ja?“ Wieder ein Knacken. Es wurde immer schwerer ihn zu verstehen.

„Bitte pass auf dich auf!“, bat ich ihn. Wahrscheinlich hörte ich mich an wie eine überfürsorgliche Mutter, die Angst hatte, dass ihr Kind sich beim Spielen verletzten könnte, doch mir war das egal. Genauso wie es mir auch egal war, dass John und George jedes meiner Worte hören konnten.

„Ich liebe dich.“ Ein Klacken ertönte – er hatte aufgelegt.

Mit zittrigen Händen reichte ich George das Handy wieder nach vorne, dass er mir geradezu aus der Hand riss. Ich merkte gar nicht, dass ich weinte, bis mir eine Träne vom Kinn auf den Handrücken tropfte. George ignorierte mich geflissentlich während John mir einen mitleidigen Blick zuwarf.

„Kopf hoch, Nici! Es sind nur noch drei Stunden“, versuchte er mich aufzumuntern, doch mit seinen Worten bewirkte er nur das genaue Gegenteil.

 

Je länger ich mich in diesem Auto befand, desto schlechter fühlte ich mich. Ein unbeschreibliches, überwältigendes Stechen breitete sich immer weiter von meinem Herzen aus und erfüllte schon fast meinen ganzen Körper, als John endlich und ganz nebenbei bemerkte, dass es nur noch fünfzehn Kilometer waren.

Erleichtert atmete ich auf und setzte mich abermals gerade hin. Es war erstaunlich wie sehr ich mich doch immer wieder in den weichen Rücksitz flüchtete.

Mein Bauchgefühl schien wieder mit mir kommunizieren zu wollen – es war schon richtig unheimlich! Obwohl mein Verstand mir einreden wollte, dass ich überhaupt keinen Grund hatte, beängstigt zu sein, sagte mein Gefühl etwas ganz anderes. Mein Puls war schon seit ein paar Stunden alles andere als normal und langsam machte ich mir schon Sorgen in meinem jungen Alter bereits einen Herzinfarkt zu bekommen.

„Da vorne ist es ja schon!“, sagte John nach erdrückenden Minuten, in denen ich kaum gewagt hatte zu atmen.

Schon länger war die Straße von einem dunklen Wald gesäumt, doch nun wurde er immer dunkler und scheinbar undurchdringlich. Den Forstweg, auf den John den Hummer schließlich lenkte, hätte ich wohl – oder besser gesagt ganz sicher – übersehen und wäre daran vorbei gefahren.

Von nun an war es vorbei mit Komfort und anderen Bequemlichkeiten. Gott sei Dank war der Innenraum so hoch, denn ich hüpfte auf meinem Sitz so stark auf und ab, dass ich befürchten musste mir den Kopf an der Decke anzuschlagen – und das, obwohl ich angeschnallt war!

Die beiden Jäger vor mir sahen dies etwas gelassener. Sie wippten bestenfalls leicht auf und ab, was vielleicht auch daran lag, dass sie etwas mehr Gewicht auf die Waage brachten als ich – aber das war ja ein anderes Thema.

Ich starrte während dem Rest der Fahrt wie gebannt aus dem Seitenfenster und versuchte angestrengt irgendetwas in der Dunkelheit zwischen den mächtigen Baumstämmen zu erkennen. Leider entpuppten sich diese Versuche als Enttäuschungen, so dass ich es bald sein ließ.

Und trotzdem. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass wir beobachtet wurden.

Und auch, dass da nichts Gutes auf uns zukam….

 

Fünf Minuten lang waren wir durch den Wald geholpert, doch nun stand der Wagen endlich.

„Nici, schnapp dir etwas Zeug aus dem Kofferraum! George zeigt dir, wo du es hin bringen musst.“ Mit diesen Worten schwang sich John vom Fahrersitz und öffnete die Hintertür auf der anderen Seite des Autos.

Ich tat wie mir geheißen, auch wenn ich mir komisch dabei vorkam, mir von George irgendwelche Gegenstände in die Arme drücken zu lassen – immerhin hatte er mir gerade eben noch böse Blicke zugeworfen. So wie es aussah, wollte er dies jetzt ja zu seinem neuen Hobby machen.

„Komm mit!“, forderte er mich barsch auf und stapfte voraus zwischen ein paar Baumstämmen hindurch. Es war nicht weit. Schon hinter dem nächsten Gebüsch blieb er wieder stehen, was dazu führte, dass ich beinahe in ihn hineingelaufen wäre. Um dies aber zu verhindern, machte ich einen hastigen Schritt zur Seite und starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an.

Nun befanden wir uns vor einer khakifarbenen Wand aus Stoff – einer Zeltwand – über die auch noch ein Tarnnetz gelegt worden war. Das alles hatte Matt alleine geschafft? Ich musste zugeben, dass ich wirklich beeindruckt war.

Dass ich hier überhaupt noch etwas sehen konnte, lag wohl daran, dass die Scheinwerfer des Autos in unsere Richtung leuchteten. Sonst wären wir nämlich in völliger Dunkelheit versunken. So zauberte das Licht lange Schatten in Georges Gesicht und ließ ihn noch wütender aussehen, als er tatsächlich war.

„Warte hier.“ Und schon verschwand er durch einen Schlitz in der Rückwand des Zeltes. Ein paar dumpfe Worte drangen durch den dünnen Stoff zu mir herüber, nur verstehen konnte ich keines von ihnen.

Es fühlte sich an wie Stunden, als ich endlich Schritte hörte. In Wahrheit waren es wahrscheinlich erst zwei oder drei Minuten.

George steckte seinen Kopf durch die Öffnung, murmelte ein „Komm rein“ und war dann wieder verschwunden.

So überladen wie ich war, versuchte ich einigermaßen aufrecht durch das Loch zu schlüpfen, was schwerer war, als es sich anhört. Und wie es eben kommen musste, verhakte sich mein Fuß in einer der unzähligen Schnüre, die hier herumlagen. Ich war auf dem besten Weg mit meinem Gesicht einen tiefen Krater im weichen Boden zu hinterlassen – zumindest vermutete oder hoffte ich, dass der Boden weich war, denn sehen konnte ich hier überhaupt nichts mehr.

Im letzten Moment wurde ich jedoch aufgefangen – und damit meine ich wirklich den allerletzten Moment! Ich spürte schon einige Grashalme, die meine Nasenspitze kitzelten.

„Übermütig wie immer, was?“, hörte ich eine mir sehr wohl bekannte Stimme fragen. Für ein paar Sekunden hielt er mich an meinen Oberarmen fest, als hätte er Angst, ich könnte noch einmal hinfallen. Dann nahm er mir mit einer einzigen Bewegung alles ab, mit dem ich gerade bepackt war – in Gedanken wunderte ich mich, dass ich es während meiner kleinen Flugeinlage nicht fallen gelassen hatte – und stellte es hinter sich ab. Wahrscheinlich befand sich dort etwas wie ein Tisch oder etwas in die Richtung, aber das konnte mir jetzt auch egal sein. Alles was in diesem Moment noch zählte war nämlich Matt, der in voller Größe vor mir stand.

Hätte mich jemand gefragt, wie ich mich gerade fühlte, hätte ich den Zustand meiner Erleichterung niemals in Worte fassen können! Ich wollte am liebsten weinen, so glücklich machte es mich ihn gesund und munter vor mir stehen zu sehen – oder eher weniger sehen.

Ohne noch länger nachzudenken warf ich mich in seine Arme und klammerte mich so fest ich konnte an ihn.

„Wow! Also wenn du mich immer so begrüßt wenn ich kurz mal weg bin, mache ich in nächster Zeit wohl öfters einen kleinen Ausflug“, scherzte er und erwiderte nun meine Umarmung. Seine großen Hände lagen warm und schwer auf meinem Rücken und drückten mich so fest an ihn, dass mir die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Ich konnte trotzdem nicht anders, als mich dabei wohl zu fühlen und schmiegte mich eng an ihn.

Obwohl ich so Matts strahlend grüne Augen nur erahnen konnte, war ich jetzt doch dankbar für die Finsternis innerhalb des Zeltes, denn so konnte George uns wenigstens nicht sehen, wie wir, eng umschlungen, dastanden.

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, welche Sorgen ich mir gemacht hab“, flüsterte ich und schluckte eine Träne hinunter.

„Warum denn?“ Matt verbarg sein Gesicht in meinen Haaren, was nichts daran änderte, dass ich ihn trotzdem verstand.

„Ich dachte schon, dir sei etwas passiert“, flüsterte ich und, falls das überhaupt noch irgendwie im Bereich des Möglichen lag, klammerte ich mich noch fester an ihn – fast als wäre er das Einzige, was mich davon abhielt abzustürzen und mein Ende in einer dunklen, kalten Schlucht zu finden.

„Es ist alles gut. Ich bin hier und mir ist nichts passiert… Und jetzt bist du ja da.“ Obwohl ich all meine Kraft einsetzte schaffte er es mit Leichtigkeit, mich ein Stück von sich wegzuschieben, nur um, nicht einmal einen Herzschlag später, mein Gesicht in seine Hände zu nehmen.

So dunkel es in diesem Zelt auch war, nun konnte ich das Glitzern seiner Augen deutlich sehen – auch wenn es vollkommen farblos war. Ich wusste was als nächstes passieren würde und zum ersten Mal freute ich mich richtig darauf. Mein Bauch fing wie wild an zu kribbeln und mein Puls legte noch einen Zahn zu.

Ich konnte schon Matts Atem meine Wangen streifen spüren, doch kurz bevor sich unsere Lippen berührten hörte ich jemanden seinen Namen rufen – es war George.

Ich hatte vor lauter Aufregung gar nicht mitbekommen, dass er wieder zurück zum Auto gegangen war, doch jetzt wurde mir klar, dass es wohl so sein musste – immerhin kam seine Stimme aus dieser Richtung.

Mit einem genervten Schnauben ließ Matt mich los und ging an mir vorbei. Ein enttäuschtes Seufzen entfuhr mir. Konnte George nicht eine Minute warten? Nur eine verdammte Minute?!

Nein, anscheinend nicht.

Niedergeschlagen folgte ich Matt schließlich ins Freie, stolperte das Stückchen zurück zum Wagen und ließ mich von Georges wütenden Blicken durchbohren. Nur gut für ihn, dass Matt das nicht sehen konnte, denn er war gerade dabei John zu erklären wo er was aufgebaut hatte.

So belud mich George also mit allerhand Mördermaschinen und anderem Zeugs, dass sich alles andere als ungefährlich anfühlte. Dreimal wiederholte er diese Prozedur, und anstatt mir beim Tragen zu helfen, gab er mir immer mehr und mehr zum schleppen.

Schließlich war der höhlengroße Kofferraum des Hummers völlig leer und ich schleppte mich müde zum Zelt zurück. George war bereits voraus gegangen und hatte eine mickrige Lampe auf einem metallenen Tischchen aufgestellt.

Nun saß er dort, auf einem Feldbett das jedes Mal quietschte, wenn er sich auch nur einen halben Millimeter bewegte. An der Stelle, an der ich zuvor beinahe hingefallen war, befand sich ebenfalls eines dieser Betten. Müde ließ ich mich darauf fallen, was dem Gestell ein lautes, empörtes Ächzen entlockte.

Ich zog meine Knie an mein Kinn und legte meine Arme um meine Beine. Wirklich warm war es hier zwar nicht, aber es würde auf alle Fälle gehen um nicht erfrieren zu müssen.

Dagegen waren die eisigen Winter in diesem heruntergekommenen Kinderheim der reinste Horror gewesen.

Mit bereits halb geschlossenen Augen kippte ich zur Seite und blieb genauso zusammengerollt liegen. Ein letztes Gähnen entfuhr mir, dann schloss ich meine Augen endgültig und vergaß alles um mich herum…

 

17. Kapitel

 

„Nici, schläfst du?“ Ich zuckte zusammen. Nein, jetzt schlief ich ja wohl eindeutig nicht mehr. Mit weit aufgerissenen Augen versuchte ich irgendetwas in der Schwärze vor mir zu erkennen, schaffte es aber nicht.

„Nici?“ Matt stand direkt vor mir, wie sich jetzt herausstellte. Ich lehnte mich ein Stückchen nach vorne um ihm ins Gesicht sehen zu können, aber es war nun mal einfach zu dunkel.

„Darf ich?“ Ein leises Quietschen war zu hören, als er sich mit einer Hand am Rand des Feldbettes abstützte. Ich brauchte zwar ungefähr doppelt so lange wie gewöhnlich um zu kapieren, was er jetzt überhaupt von mir wollte, aber als ich es endlich schnallte klappte ich die dünne Decke beiseite und rutschte bereitwillig ans hintere Ende der Matratze. Ja, das Bett war normalerweise für eine Person gemacht, schon klar, aber irgendwie würde sich da schon eine Lösung finden – Matt war ja nicht dämlich!

„Hast du genug Platz?“, flüsterte ich und drehte mich ihm zu.

„Ja, geht schon.“

„Matt?“

„Ja?“

Ich musste mir ein Lachen verkneifen und versuchte meinen Kopf zu bewegen, aber es ging einfach nicht.

„Du liegst auf meinen Haaren“, wisperte ich und nahm nun eine breite Strähne meiner pechschwarzen Haare zwischen die Finger um sie irgendwie zu befreien – vergeblich.

„Oh, sorry!“ Wieder quietschte das Metallgestell des Bettes. Langsam machte ich mir Sorgen, dass George oder John davon nicht aufwachen würden. Für peinliche Situationen hatte ich nämlich noch nie die Nerven gehabt.

„Warte.“ Im nächsten Moment packte er mich auch schon an den Schultern und hob mich, scheinbar ohne größere Anstrengungen, ein Stück in die Luft. Als er mich dann wieder herunter ließ, lag ich halb auf ihm drauf.

Auch wenn es dunkel war und Matt es sowieso nicht sehen konnte – ich spürte augenblicklich wie ich knallrot anlief und schämte mich deshalb fast zu Tode.

„Besser?“, fragte er und legte einen Arm um mich, während er mich mit der anderen zudeckte.

„J-aa…“ Meine Stimme zitterte als hätte ich sie jahrelang nicht mehr benutzt. Mein Kopf glühte inzwischen – Matt musste es bemerken!

„Wie geht es dir?“, hörte ich ihn überraschend fragen.

„Mir geht’s gut. Ich hab nur…. Ach, gar nichts…“ Erst jetzt legte ich meinen Kopf auf seine Schulter.

„Sag schon“, forderte er mich auf und legte mir auch noch die zweite Hand auf den Rücken. Eine Gänsehaut breitete sich von den Stellen aus, an denen er mich berührte.

„Ich hab mir wirklich Sorgen um dich gemacht“, gab ich leicht beschämt zu, obwohl ich es ihm eigentlich sowieso schon gesagt hatte.

„Das brauchst du nicht. Ich kann schon ziemlich gut auf mich selbst aufpassen, weißt du?“, zog er mich auf. Ich bekam die Hälfte von dem was er sagte ohnehin nicht mit. Ich war dabei seinen Duft einzuatmen.

„Ähm.. gut.“ Unbewusst kuschelte ich mich enger an ihn, was ihn leise lachen ließ.

Gerade als ich dabei war einzuschlafen, fiel mir noch etwas ein.

„Kriegst du keinen Ärger wenn John dich hier erwischt?“, fragte ich und klang dabei reichlich verschlafen.

„Lassen wir es doch darauf ankommen, oder?“ Seine Lippen streiften kurz meine Wange.

„Ich meine es ernst. Wenn du deshalb Probleme bekommen könntest solltest du vielleicht besser gehen.“

„Wirfst du mich etwa raus?“ Hätte er nicht so sehr übertrieben, wäre ich fast auf seinen beleidigten Tonfall reingefallen.

Lächelnd stützte ich mich ab – vorsichtig, immerhin wollte ich ihm ja nicht wehtun – und suchte nach seinen Augen. Es war sinnlos.

„Vielleicht tue ich das“, gab ich schließlich in gespielt nachdenklichem Ton als Antwort.

Er lachte. Ich konnte nicht anders als mit einzustimmen.

„Na, wenn das so ist sollte ich vielleicht wirklich gehen.“ Dieses Mal klang es ernst. Mir entfuhr ein enttäuschtes Seufzen. Matt richtete sich, mitsamt mir, ein wenig auf, nur um sich dann wieder auf das ächzende Bett fallen zu lassen.

„Doch nicht“, meinte er und hielt mich noch fester.

„Du bist ein Idiot!“, flüsterte ich und boxte ihn leicht – vor Freude breit grinsend.

„Danke.“

Zufrieden legte ich mich wieder hin und bettete meinen Kopf neben seinen Hals.

Außer Matts Herzschlag und Atmung hörte ich nichts mehr. Und mit dieser beruhigenden Melodie im Ohr schlief ich schließlich müde und zufrieden ein – auf Matts warmen, gemütlichen Oberkörper.

 

„Nicole, es ist Zeit aufzustehen.“

Jemand rüttelte unsanft an meiner Schulter. Ich war schlagartig wach. Matt war doch noch hier! Jetzt gab’s wohl richtigen Ärger – und Stress mit George.

Meine Augen brauchten ein Weilchen, bis sie sich an die Dämmerverhältnisse innerhalb des Zeltes gewöhnt hatten, dann sah ich das John vor mir stand und gerade wieder dazu ansetzten wollte mich zu schütteln. Matt war nicht mehr da.

„Komm schon, steh auf. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Ohne Widerworte schwang ich meine Beine – die übrigens immer noch in diesem merkwürdigen Anzug steckten – über den Rand des Bettes und streckte mich ausgiebig?

„Ich bin wach. Ich bin wach…“, murmelte und konnte gerade so ein Gähnen unterdrücken.

„Gut, wir brauchen dich jetzt nämlich.“ John ließ mich seine Worte erst verdauen bevor er weitersprach. „Die Jungs und ich sind heute wahrscheinlich den ganzen Tag unterwegs. Du musst auf das Lager aufpassen.“ Er zog eine Augenbraue hoch und musterte mich, als würde er es mir nicht zutrauen.

Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken. ICH sollte auf das Lager aufpassen!? Das ganze Lager?!

Ich schluckte hörbar.

„Keine Sorge, es ist sicher. Wir sind immer noch zwischen dir und diesem…. Ding. Es kann also gar nichts passieren. Du bist hauptsächlich hier um zu verhindern das die Viecher nicht alles ausräumen.“ Er klopfte mir auf die Schulter und bedeutete mir dann ihm zu folgen, als er in den vorderen Teil des Zeltes ging – auf einen Tisch zu.

„Hier hast du zwei Dosen Pfefferspray für den Notfall. Und diese hier“, er zog einen Metallklotz aus einer schwarzen, schmalen Schachtel. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass es sich dabei um eine Pistole handelte. „Sie ist geladen. Du musst nur noch abfeuern ABER wirklich nur wenn es wirklich brenzlig wird, verstanden?“

Ich nickte geistesgegenwärtig, ließ aber die Waffe keine Sekunde aus den Augen. Eigentlich hatte ich ja schon irgendwie Angst vor diesen Dingern. Im Stillen beschloss ich sie nicht anzufassen – unter gar keinen Umständen!

„Gut, dann bin ich mal weg.“ John drehte sich um und ging.

„John?!“, rief ich ihm noch hinterher und reckte meinen Hals, denn er war bereits hinter einer Ecke verschwunden.

„Ja, bitte?“

„Ist… Matt schon weg?“ Ich wusste nicht, ob ich laut genug gesprochen hatte, damit er es verstand und blieb einfach da stehen und wartete auf eine Antwort. Stattdessen kam er allerdings noch einmal zurück.

„Er ist mit George schon voraus gegangen. Ihm wird nichts passieren, okay?“

Ich nickte, hatte aber einen dicken Klos im Hals. Irgendwie konnte ich seine Worte nicht so ganz glauben.

Und damit verstand John endgültig.

Ich krallte mir die beiden Dosen auf dem Tisch und befestigte an meinem Anzug. So, ich war ausgerüstet… Und jetzt?

Minutenlang stand ich in der Mitte des Zeltes und wusste mit mir nichts anzufangen. Irgendwann beschloss ich dann, mir ein wenig die Beine zu vertreten – die Pistole ließ ich zurück.

Wie in Zeitlupe durchquerte ich das weitläufige Zelt und trat an eine Wand. Ich wusste, dass sich hier ein Ausgang befand – der Reißverschluss war unübersehbar.

Ein Ratschen war zu hören, als ich die Schlaufe nach unten zog. Kühle Morgenluft schlug mir ins Gesicht und ich wollte lieber gar nicht wissen wie spät es eigentlich war.

Draußen war es eindeutig heller als unter dem dunkelgrünen Dach des Zeltes. Nun endlich gähnte ich und setzte mich auf einen nahegelegenen Baumstamm – ich wollte mich ja nicht gleich überanstrengen.

Mit immer noch verschlafenen Augen schaute ich mich von meinem Sitzplatz aus um.

Wir befanden uns hier eindeutig in einem Wald, soviel stand fest.

Irgendwo in der Nähe musste wohl auch ein kleiner Bach verlaufen, denn ich konnte dumpfes Plätschern hören.

Da die Bäume aber nicht allzu eng beieinander standen, konnte ich auch sehen, dass sich vor uns ein Berg erhob. Nicht besonders hoch, aber imposant.

Selbst ganz oben, am Gipfel, wuchsen noch Bäume, was meine Vermutung über die Höhe dieses Riesensteinhaufens bestätigte.

Ein Knacken hinter mir holte mich augenblicklich aus meinen Gedanken. So schnell war ich sicher noch nie auf den Beinen gewesen und wirbelte herum um mir die Ursache des Geräusches besser ansehen zu können.

Dass ich allerdings nichts sehen konnte machte mir aus irgendeinem Grund Angst.

„Hallo?“, fragte ich unsicher, wohlwissend, wie dämlich ich mich gerade benahm.

Hatte John nicht gesagt ich solle aufpassen, dass die Tiere kein Chaos im Lager anstellten? Natürlich drängte sich mir jetzt die Frage auf, was er damit genau gemeint hatte. Bären? Wölfe? Pumas? Was denn?

Verängstigt und gleichzeitig genervt schnaubte ich und schnappte mir dann eine Dose Pfefferspray. Wie ich gerade wohl aussah wollte ich lieber gar nicht erst wissen – bestimmt wie eine Tussi in einem schwarzen Anzug, die kurz davor war sich in die Hose zu machen.

Mit zitternden Händen streckte ich die Spraydose vor mir in die Höhe und versuchte auf dieses Gebüsch zu zielen.

Wieder raschelte es, dann war ein merkwürdiges Piepen zu hören. Verwirrt runzelte ich die Stirn. Was war das? Und was zum Teufel verbarg sich hinter diesem dämlichen Busch?

Ich machte einen Schritt auf das niedrige Gewächs zu. Einen Bären konnte ich somit schon einmal ausschließen, denn der hätte sich dahinter niemals verstecken können – nicht einmal ein kleiner Schwarzbär könnte sich dahinter verbergen. Für einen Wolf oder Puma bot es wahrscheinlich auch nicht genügend Platz. Vielleicht eine Schlange?

Aber diese Reptilien piepten doch nicht!

Verwirrt ließ ich die Dose sinken. Was auch immer es war, es schaffte es wirklich mich zu verwirren – und zwar so richtig! Ich trat noch näher an den Strauch heran und drückte vorsichtig einige grüne Zweige zur Seite.

Meine Augen weiteten sich als ich sah, was das Knacken ausgelöst hatte.

Zwei kleine, kugelrunde Knopfaugen starrten mir ängstlich entgegen. Das kleine, mit winzigsten Haaren übersäte Näschen bewegte sich hektisch auf und ab und schnupperte in meine Richtung.

Ich konnte gerade so einen Lachkrampf unterdrücken. Stattdessen entfuhr mir nur ein unterdrücktes Schnaufen, woraufhin das Streifenhörnchen einen raschen Abgang zwischen den umstehenden Sträuchern hinlegte.

Mein Herzschlag beruhigte sich allmählich wieder. So fühlte es sich also an, wenn man langsam durchdrehte. Von mir selbst und meiner Erschrockenheit enttäuscht, klatschte ich mir die flache Hand gegen die Stirn. Wie konnte es nur sein, dass man so schreckhaft wurde?

Ich erinnerte mich noch sehr gut daran, wie ich war, als ich ungefähr zehn Jahre alt war…

Obwohl alle Menschen mich mieden – selbst meine eigenen Eltern – war ich fröhlich, aufgeweckt und immer gut gelaunt. Was war nur aus dem netten Mädchen von damals geworden?

Ach ja! Eine Kindermörderin die noch dazu von einem Dämon besessen war!

Trotz dieser Tatsache versuchte ich mir ein Lächeln abzuringen. Wenn ich den Jägern glaubte, sollte mein persönlicher Albtraum bald ein Ende haben. Irgendwie konnte ich es aber nicht glauben – mein Gefühl sagte etwas ganz anderes.

Ich stand noch eine Weile da und genoss die schöne, frische Luft. Die Zweige der Bäume bewegten sich sacht, obwohl eigentlich gar kein Wind ging. Tiefer im Wald ertönten der melodische Ruf eines Vogels und ein dumpfes Knacken – beides brachte mich nicht aus der Ruhe.

Als schließlich ein kalter Wind aufkam, kehrte ich ins Zelt zurück. Der Grund dafür war nicht etwa, dass ich fror, sondern dass ich mich draußen plötzlich einfach beobachtet fühlte – obwohl ich wusste, dass das paranoid war.

Umso erleichterter war ich, als ich den Reißverschluss hinter mir hochziehen und mich an den Tisch setzten konnte. Die Pistole lag immer noch genauso da, wie ich sie zurückgelassen hatte. Eine Art Ekel stieg in mir auf.

‚Waffen töten Menschen‘, hatte mir einmal jemand gesagt. Mittlerweile konnte ich mich weder mehr an das Gesicht, noch an den Namen dieser Person erinnern.

Langsam wurde mir klar, dass die Nacht auf diesem Feldbett – mit Matt – nicht ganz so komfortabel war, wie ich zunächst angenommen hatte. Mein Rücken schmerzte leicht, wenn ich mich zu weit vorbeugte und mein Nacken war verspannt – falls man das noch so nennen konnte!

Etwas schläfrig, was wohl auch an meinem „Futter“ lag, stützte ich meinen Kopf mit meinen Händen ab und starrte eine Weile an die gegenüberliegende Zeltwand.

Der Wind drückte manchmal sacht gegen sie und ließ so sanfte Wellen auf dem Stoff entstehen, die dann bis zur nächsten Ecke tanzten. Wie hypnotisiert wurde ich immer müder und müder und nickte nach wenigen Minuten einfach weg.

 

Es surrte. Ruckartig schnellte mein Kopf in die Höhe. Meine Augen brannten wie wild und Tränenflüssigkeit sammelte sich aus Protest in ihnen. Erst nach ein paar Sekunden gewöhnte ich mich an das Licht, obwohl es hier, mitten im Zelt, sowieso schon gedämpft war.

Wieder surrte es. Erst jetzt erinnerte ich mich daran, was mich eigentlich geweckt hatte. Genervt hielt ich Ausschau nach diesem Geräusch, das mir schon nach wenigen Augenblicken dermaßen auf den Senkel ging, dass ich in Versuchung geriet irgendetwas zu zertrümmern – und sei es nur, um etwas Dampf abzulassen.

Und endlich fand ich die Ursache auf einer länglichen Kiste, verborgen unter einer zusammengefalteten Plane.

Es war dasselbe Telefon, mit dem George bei der Herfahrt Matt angerufen hatte – naja, zumindest war es dasselbe Modell. Das winzige Display leuchtete immer wieder auf, während das Gerät munter weitervibrierte.

Ich wusste nicht, wer da anrief. Alles was ich wusste war, dass ich es sicher nicht länger mit einem klingelnden Telefon aushalten würde – also nahm ich den Anruf an.

„Hallo?“ Meine Stimme klang fragend und skeptisch – perfekt!

„Nici?“, fragte jemand. Im Hintergrund waren Schritte und ein gelegentliches Klackern zu hören.

„Mit wem spreche ich?“, wollte ich wissen. Jetzt war es wohl vorüber mit meiner Selbstbeherrschung. Meine Stimme bebte und hörte sich alles andere als sicher an.

„Ich bin’s. John.“ Ein erneutes Klacken, dann hörte ich ihn laut ins Telefon atmen.

Natürlich war es John! Wer sonst würde mich beim Namen nennen? Oder besser gesagt: wer sonst würde ihn kennen?

„Kannst du mir bitte Matt geben? Er sollte eigentlich schon längst wieder hier sein!“, hörte ich ihn wütend schnauben.

„Matt?“ Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken. Irgendetwas lief gerade gewaltig schief!

„Ja, Matt. Stell dich nicht so an und gib ihn mir bitte! Es ist dringend!“, forderte John und wurde dabei immer genervter – zumindest hörte es sich danach an.

„John, Matt ist nicht hier.“ Ich hatte größte Mühe diese Worte hervor zu pressen. Langsam krochen mir Tränen in die Augen.

„Wie meinst du das? Ist er etwa schon wieder unterwegs zu uns?“, hakte John ungeduldig nach während ich den Kopf schüttelte. Adrenalin breitete sich langsam in meinem Körper aus – gemischt mit Panik.

„Er war nie hier, John.“ Nun hörte es sich wirklich so an, als würde ich heulen. Und das war wohl auch nur noch eine Frage der Zeit. In meiner Kehle bildete sich ein Knoten und ich konnte nur noch unter größter Anstrengung atmen – geschweige denn sprechen!

„Was?!“ Seine Stimme sprang gefühlte drei Oktaven höher. Ich spürte deutlich, wie sich die Unruhe nun auch am anderen Ende der Leitung ausbreitete.

„Er war nicht…“

„Ich habe dich schon verstanden!“, unterbrach John mich, rief dann George irgendetwas Unverständliches zu und sprach dann wieder mit mir. „Pass auf, Nici. Du machst jetzt folgendes: bleib im Zelt, überprüfe, ob auch ja alle Reißverschlüsse und sonstige Eingänge geschlossen sind… und um Himmels Willen behalte bloß deine Waffe bei dir! Wir sind unterwegs!“ Damit war die Leitung tot.

Ich stand noch lange so da, mit dem Telefon am Ohr, bis mir endlich wieder einfiel was John mir gerade aufgetragen hatte.

Als erstes kontrollierte ich die Eingänge und zog alle Reißverschlüsse des Zeltes bis zum Anschlag hoch. Anschließend kehrte ich wieder zu dem Tisch zurück, auf dem immer noch die Pistole lag. Ich wollte sie nicht anfassen – mein Respekt war dafür viel zu groß.

Aber wenigstens setzte ich mich hin und versuchte mein wild pochendes Herz zu beruhigen – was schwerer war, als man glaubt!

Der Kloss in meinem Hals war inzwischen schon so groß geworden, dass ich fast nicht mehr schlucken konnte. Auch meine Augen schmerzten, weil ich angestrengt die Tränen zurückhielt, so sehr, dass ich mir auf die Unterlippe biss.

Ich musste jetzt ruhig bleiben, das war sehr wichtig! John hatte gesagt, dass er und George zurück kommen würden. Und vielleicht sammelten sie Matt ja unterwegs irgendwo ein. Vielleicht hatte er sich einfach verlaufen…

Ein paar Sekunden lang schwebte ein Bild, in dem Matt durch den Wald irrte, durch meinen Kopf. Aber das passte sowas von überhaupt nicht zusammen. So etwas würde nie gehen – vorher drehte sich die Erde in die falsche Richtung!

Irgendetwas war mit ihm passiert und das wusste ich genauso gut wie John. Ich hoffte nur, dass es nichts mit diesem Dämonending zu tun hatte, welches es allen Anscheins nach auf mich abgesehen hatte. Alles könnte ich verkraften, aber nicht, dass irgendjemand meinetwegen zu Schaden kam!

Nervös trommelte ich mit meinen Fingern auf die Tischplatte ein, bis das Geräusch unerträglich wurde und ich wieder aufstand. Ich konnte hier doch nicht einfach sitzen und nichts tun!

Es lag nun nicht mehr nur in Johns Hand Matt zu finden, sondern auch in meiner. Aber dazu müsste ich mich ja dem Anführer der Jäger widersetzten und ob die Strafe es wert sein würde konnte ich nicht genau sagen.

Aber was dachte ich denn da?! Natürlich war es das wert! Ich hätte alles gegeben was ich hatte, um Matt in Sicherheit zu wissen!

Warum musste so etwas auch mir passieren – ausgerechnet mir?! Nun lief ich hektisch im Inneren des Zeltes auf und ab. Kurz vor der Wand hielt ich, nur um mich schwungvoll umzudrehen und sofort auf die gegenüberliegende Seite zu zuhasten.

Ich musste etwas tun! Irgendetwas musste schnell geschehen!

Ein Ratschen ließ mich zusammenzucken. Mit einem Satz, den ich mir selbst – ohne meine Fähigkeiten natürlich – niemals zugetraut hätte, bewegte ich mich von dem Geräusch weg.

Ein Reißverschluss wurde aufgezogen. Im nächsten Moment steckte George seinen Kopf durch die entstandene Öffnung.

Falls mein Herz bis jetzt noch nicht pochte, als wäre der Teufel hinter ihm her, so tat es das spätestens jetzt. Vor Aufregung und Angst schnappte ich nach Luft.

„George!“, fiepte ich, bevor ich mich wieder gerade hinstellte – denn ich war zuvor aus reinem Instinkt leicht in die Hocke gegangen, um mich so besser schützen zu können.

Der Kopf verschwand wieder aus dem Zelteingang, dann hörte ich ihn: „Sie ist hier, John!“, rufen und schloss für eine Sekunde die Augen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

Viel schneller, als ich ihm jemals zugetraut hätte, war John hereingeschlüpft und baute sich vor mir auf.

„Wir müssen reden – schnell!“ Fast grob packte er mich am Oberarm und schleifte mich zurück zu dem Stuhl, auf dem ich zuvor gesessen hatte. Ächzend nahm er mir gegenüber Platz.

„Wo ist Matt? Habt ihr ihn gefunden?“, schoss es aus mir heraus, noch bevor ich meine Worte überdenken konnte.

Ein schlichtes Kopschütteln von John brachte das Fass dann zum überlaufen. Ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten – sie bestanden praktisch nicht mehr aus salzigem Wasser, sondern aus reiner Panik.

„W-wo ist er?“, versuchte ich zu fragen, aber es hörte sich eher wie ein undeutliches Gurgeln an.

„Wir wissen es nicht aber….“ Er endete und starrte auf die glatte Oberfläche des Tisches zwischen uns. „Nici, wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen“, beendete er seinen Satz schließlich ohne mich anzusehen.

„Nein!“ Mein Schrei ging in lautes Schluchzen über.

Bisher war ich mir nicht sicher gewesen, was ich für Matt empfand. Es war einfach alles zu neu und zu anders gewesen. Jetzt aber, in genau diesem Moment, fiel es mir wie ein Schleier von den Augen.

Wenn er nicht mehr leben würde, wollte auch ich das nicht mehr tun. Ich wollte nicht in einer Welt existieren, in der es ihn, sein Lächeln und seine atemberaubenden, moosgrünen Augen gab.

Ich hätte nie den Mut gehabt es ihm zu sagen, aber jetzt wusste ich, dass Matt mir mehr bedeutete als es ein normaler Freund, wie George es war, jemals tun könnte und würde.

Vielleicht würde es noch lange dauern – Tage oder auch Wochen – aber ich irgendwann würde ich mir doch darüber im Klaren sein, und zwar voll und ganz, dass ich ihn liebte.

Mein Leben war so nichts mehr wert.

Wimmernd hämmerte ich mit meinen Fäusten auf den Tisch ein, nur um etwas von dem Zorn loszuwerden, den ich gerade verspürte. Wer auch immer dahintersteckte, er würde bezahlen – für alles, was ich durchgemacht hatte.

„Beruhige dich, Nicole!“, forderte John mich auf. Er saß nicht länger zusammengesunken auf diesem Klappstuhl, sondern hatte sich aufgerichtet. Seine Hände lagen leicht verkrampft vor ihm, doch sein Blick bohrte sich nun entschlossen in meinen. „Noch ist es nicht zu spät. Ich glaube zwar nicht daran, dass er sich verirrt hat, aber je eher wir auf die Höhle zugreifen, desto eher haben wir Gewissheit.“

Ein letzter Schluchzer entrang sich meiner Kehle, dann biss ich die Zähne zusammen. Ich war zu allem bereit.

„Lass uns loslegen“, presste ich mühsam hervor.

Mit einem Nicken erhob John sich und bedeutete mir ihm zu folgen.

 

Eine Stunde war vergangen. Für meinen Geschmack war das schon viel zu viel Zeit.

Aus irgendeinem Grund konnte ich mich nicht damit abfinden, dass Matt tot sein sollte. Ich wüsste es, wenn das so wäre – ich würde es sofort spüren.

Aber ich spürte gar nichts, außer diesem unbändigen Zorn.

Während George sich an allerhand kompliziertem Equipment zu schaffen machte, half ich John zwei große Rucksäcke mit verschiedenem Zeugs vollzustopfen. Ich wusste, dass ich keinen davon tragen würde müssen, aber selbst die beiden durchtrainierten Jäger hätten daran zu beißen – das stand ja wohl jetzt schon fest.

Endlich war es soweit.

Mit immer noch wild schlagendem Herzen zurrte ich den letzten Riemen zu und verschloss den Rucksack so. Auch John und George beendeten ihre Arbeit. Wir waren bereit aufzubrechen.

In Johns Augen sah ich etwas aufleuchten, das ich noch nie zuvor bei ihm bemerkt hatte. Es war nicht nur reiner Kampfeswille, sondern auch etwas wie Angst – etwas, das ich nie bei ihm erwartet hätte.

„George, du bringst das Zeug nach draußen. Ich muss noch etwas mit Nicole besprechen.“ Mit einer schlichten Handbewegung schickte er seinen Kollegen hinaus. Jetzt waren wir allein.

Er schnaubte einmal, als müsste er sich extrem konzentrieren.

„Du weißt, dass wir kämpfen müssen, oder?“, fragte er und starrte an mir vorbei ins Nichts.

„Ja, das ist mir klar“, gab ich ihm klipp und klar zu verstehen. Und ich würde mit größter Freude kämpfen und diesem Typen den Arsch aufreißen…

„Es wird blutig werden, auch das weißt du, oder?“, wollte er weiter wissen. Es schien immer noch so, als sei ich Luft für ihn… als würde er nur mit sich selbst sprechen.

„Ich bin darauf vorbereitet.“

Wieder holte er hörbar Luft. „Ich will, dass du mir etwas versprichst – und dich auch daran hältst!“ Seine Stimme wurde mit den letzten Worten immer leiser und ich musste mich schon fast anstrengen um ihn zu verstehen.

Ich wusste, dass ich es bereuen würde, wenn ich jetzt zustimmte, aber ich wusste auch, dass er mich nicht mitnehmen würde, wenn ich es nicht tun würde. Also nickte ich, wenn auch mehr als widerwillig.

„Ich möchte, dass du verschwindest, wenn die Situation zu brenzlig wird, verstanden?“ Obwohl er mich immer noch nicht ansah, runzelte er die Stirn.

„Wenn ich ehrlich bin nicht…“, gab ich zögernd zu.

Und erst jetzt schaute er mich an und sein Blick hätte giftiger nicht sein können.

„Gut, also damit du es verstehst: Sollte George und ich außer Gefecht sein, machst du so schnell du kannst einen Abgang. Jetzt kapiert?“, fragte er fast schon wütend.

„Jap“, stieß ich bloß eingeschüchtert hervor und nickte untermalend noch.

„Gut, und Gnade dir Gott wenn du dich nicht daran hältst!“ Damit drehte er sich um und folgte George ins Freie. Ich stand noch einen Herzschlag lang da und unterdrückte erneut meine aufkeimende Angst.

Der Kampf lag noch vor mir. Vielleicht würde mich dieser Weg zu Matt bringen, vielleicht auch in den Tod führen…

18. Kapitel

 

Es war nicht sehr weit bis zu der Höhle, in der sich diese Bestie versteckt hielt. Leider wussten die Jäger aber auch nicht viel mehr als das über den Dämonenfürsten, so erklärten sie mir später.

„Warum Fürsten?“, hatte ich John gefragt während ich mich an einigen verkrüppelten Kiefern den Hang hinauf zog.

„Nur Fürsten haben genug Macht um einen Dämon zu erschaffen der deinen Körper kontrollieren kann. Das wird kein Zuckerschlecken“, hatte er mit ernster Miene gesagt und war hinter mir über einen umgefallenen, verrottenden Baumstamm geklettert der unter seinem Gewicht abzurutschen drohte.

Von George erntete ich während des ganzen Aufstiegs nur Schweigen – aber dieses Schweigen schien mir geradezu entgegen zu schreien, ich solle gefälligst dorthin zurückgehen, wo ich hergekommen war.

Ich wusste, dass es ganz allein meine Schuld war, dass er sich mir gegenüber so benahm. Es war falsch sich in seinem Bruder zu verlieben, wo doch er ebenfalls Gefühle für mich hegte. Aber was sollte ich dagegen schon tun?

Ich konnte weder ändern, dass ich Matt liebte, noch, dass George etwas für mich empfand. Die Sache war einfach wie verhext.

Naja, wahrscheinlich betraf das auch einfach alles, mit dem ich in Berührung kam. Meine Eltern, wer wusste schon ob die noch am Leben waren? Vielleicht hatte sie auch mitten in der Nacht ein Traktor in ihrem eigenen Schlafzimmer überfahren – meinetwegen!

Und wer konnte schon mit Sicherheit sagen, dass das Kinderheim, in dem ich Jahre meines Lebens verbracht hatte, immer noch stand? Möglicherweise hatte sich ja ein Loch in der Erde aufgetan und das gesamte Gebäude, mit all seinen Bewohnern, war in die Tiefe gestürzt – meinetwegen natürlich!

Wie dem auch sei, langsam fing ich an mir für alles die Schuld zu geben, was gewissermaßen auch stimmte.

Immerhin wäre Matt nicht verschwunden, wären wir uns nie begegnet. Wenn wir Pech hatten war er vielleicht schon tot…

„Nici, komm von dem Gebüsch weg! Du verrätst uns noch!“, zischte John mir zu und zog mich am Arm hinter einen mannshohen Felsen, hinter dem sich ein ganzer Kleinwagen hätte verbergen können.

„Was ist nur los mit dir? Die ganze Zeit über bist du schon so abwesend! Ich schwöre dir, wenn du so weitermachst wirst du hier draußen auf uns warten“, murmelte er und schaute mir dabei entschlossen in die Augen. Ich glaubte ihm aufs Wort, dass er mich nicht mitkommen lassen würde, weshalb ich sofort mit dem Kopf nickte und die Arme vor der Brust verschränkte.

„Gut. Und jetzt komm mit, George macht sich schon bereit.“ Damit zerrte er mich ein Stückchen hinter sich her, bis der Höhleneingang nicht mehr nur von dem Felsbrocken, sondern auch von einigen Bäumen und Büschen verdeckt wurde.

Hier im voranschreitenden Schatten der Bäume war George gerade dabei die verschiedensten Gegenstände am Gürtel seines Anzugs anzubringen – darunter auch mehrere Schusswaffen, Messer und Elektroschocker.

Mich beschlich das merkwürdige Gefühl, dass ein Elektroschocker uns in diesem Kampf nicht sehr viel nützen würde, warum wusste ich allerdings auch nicht, immerhin war ich noch nie bei einem dabei gewesen.

In Gedanken vertieft bemerkte ich zuerst gar nicht, dass John bepackt wie ein Esel auf mich zukam – in den Händen hatte er genau dieselben Geräte, die George sich gerade an den Körper gehängt hatte.

Bei diesem Anblick musste ich schwer schlucken. Ich musste also auch diese Höllenmaschinen benutzen…

Na gut, eigentlich hatte ich das ja von Anfang an gewusst. Dämonen waren eben nicht irgendwelche Hündchen, die man mit einem einfachen Holzstock verprügeln konnte – die hatten schon etwas mehr Kraft.

Ich musste es immerhin wissen, denn in den Trainingskräften mit Matt hatte ich gemerkt zu wie viel ich wirklich in der Lage war. Wenn man es von diesem Standpunkt sah, war ich nicht einmal so viel schwächer als die Jäger – körperlich vielleicht sogar gleich stark.

Ohne Widerworte ließ ich es zu, dass John all diese… Dinger an mir befestigte, bevor er mir im Eiltempo die genauen Funktionen der Waffen, sowie die richtige Bedienung erklärte. Dann verschwand er den Hang hinunter, wo wir die beiden Rucksäcke deponiert hatten – vermutlich um sich selbst fertig zu machen.

Ich fühlte mich um gefühlte hundert Kilo schwerer. Jeder Schritt war so anstrengend wie ein kilometerlanger Fußmarsch. Wäre ich nicht so furchtbar abnormal gewesen hätte ich bestimmt geschwitzt wie der Teufel – so hatte die ganze Sache wenigstens einmal einen positiven Punkt.

Eine Weile stand ich nur so in der Gegend herum und fühlte mich angreifbarer als jemals zuvor, doch nach nicht einmal fünf Minuten ging mir das Nichtstun einfach zu sehr auf die Nerven. Etwas unbeholfen tapste ich zu George.

„Wann geht’s los?“, presste ich unter dem Gewicht der Ausrüstung hervor.

„Sonnenuntergang.“ Wow, eine viel knappere Antwort hatte er sich wohl nicht einfallen lassen können.

Etwas eingeschnappt biss ich mir auf die Lippe, sortierte meine Gedanken und legte dann meine Hand auf seine Schulter.

„So geht das nicht mehr weiter, George“, meinte ich und versuchte mit meinen Augen seinen Blick einzufangen – was sich als schwerer herausstellte als einen Fisch mit bloßen Händen aus einem riesigen See zu ziehen.

„Was geht wie nicht mehr weiter?“, fragte George gedehnt und spähte über meine Schulter als erwarte er sich Hilfe von John. Aber diesmal würde er ihn nicht vor einem Gespräch mit mir bewahren können.

Diese…Sache stand jetzt schon viel zu lang zwischen uns. Es war an der Zeit sie aus der Welt zu schaffen – zumal Matt gerade in Lebensgefahr schwebte!

„Ich weiß, dass du eifersüchtig auf Matt bist, aber…“

„Was aber? Lass uns doch einfach Freunde sein? So als wäre nichts zwischen dir und meinem Bruderherz? Glaubst du allen Ernstes, dass das funktioniert?“ Die letzten Worte presste er nur noch durch zusammengebissene Zähne hervor.

„Du…Wir… Du kannst es doch gar nicht wissen! Wir haben es nicht versucht!“ Meine Stimme bebte vor Anstrengung – obwohl ich nicht einmal sehr laut sprach.

„Nein! Und wir werden es auch nicht versuchen, und weißt du wieso?“ Er legte eine bedeutungsvolle Pause ein bevor er weitersprach. „Weil ich MEINE Gefühle nicht abstellen kann. Und selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun wollen!“

Mit diesen Worten drehte er mir den Rücken zu, aber ich ließ ihn nicht weggehen – ich war stinkwütend!

Warum musste immer ich versuchen den Konflikt zwischen uns zu lösen? Wieso kam nie ein Beitrag von seiner Seite? Und warum zum Teufel wich er mir jedes Mal aus indem er vor mir davonrannte?

Gerade so konnte ich ein Knurren zurückhalten.

„Ich. Will. Das. Jetzt. Klären!“ Mein Griff um seinen Oberarm wurde stärker, bis meine Fingerknochen weiß hervortraten und ein merkwürdiges Kribbeln von ihnen ausging. Nur unter größter Anstrengung schaffte ich es ihn loszulassen als er sein Gesicht schon zu einer schmerzverzerrten Grimasse verzog.

„Was zum Teufel soll das?!“, fuhr er mich nun an.

Schuldbewusst wanderte mein Blick von meinen, immer noch blassen Fingern zu seinem Arm und wieder zurück. „Tut mir leid… Aber du hast mich geradezu dazu gezwungen!“, versuchte ich mich zu rechtfertigen und riskierte einen scheuen Blick in sein Gesicht. Naja, wenigstens sah er jetzt nicht mehr ganz so wütend aus.

„Bitte, ich will doch dass wir uns verstehen“, bettelte ich schon fast und schaffte es dabei nicht mehr ihm in die Augen zu schauen. Wenn sie auch nicht von diesem moosgrün waren wie Matts Augen, so hatten sie doch etwas an sich, was mich an seine erinnerte – zu sehr, für meinen Geschmack.

„Aber ich kann nicht einfach so tun als würde ich dich nicht mögen! Das muss dir doch klar sein, oder nicht?“ Endlich kehrte etwas Sanftheit in seine Stimme. Mich beruhigte das nicht, ich war gerade zu sehr damit beschäftigt nicht loszuheulen. Ich nickte nur knapp.

„Gut, aber ich mache dir einen Vorschlag“, er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und zerwühlte es so, „Ich versuche mich so gut es geht zu benehmen… aber ich möchte, dass du dich von mir fernhältst – wenigstens fürs Erste!“

Jetzt starrte ich ihn doch empört an. Dieser Vorschlag war wirklich…brutal – zumindest für mich.

Ja, Matt liebte ich. Aber das bedeutete doch noch lange nicht, dass ich George nicht mehr in meinem Leben haben wollte!

Als hätte er meine Gedanken gehört, legte er mir eine Hand auf die Schulter und redete dann weiter.

„Keine Sorge, ich brauche nur ein bisschen Zeit für mich…“ Und mit diesen Worten drehte er sich endgültig von mir weg und folgte John den Hang hinab.

Ich merkte erst jetzt, dass mein Herzschlag beschleunigt hatte. Mein Atem ging viel flacher als sonst.

Das war’s dann wohl fürs erste…

Niedergeschlagen folgte ich ihm in einigem Abstand und versuchte dabei so leise zu sein, wie ich nur konnte.

 

„Okay, Nici. Halte dich an den Plan, verstanden?“, erkundigte sich John nun schon zum zehnten Mal.

„Ja, alles klar…“ Meine Stimme klang lustloser als beabsichtigt und sofort räusperte ich mich um wenigstens den Anschein zu erwecken, dass ich nur heiser war.

„Gut, dann wiederhole ihn bitte noch einmal“, forderte er mich auf und ging vor mir in die Hocke.

Ich lehnte gerade an einem relativ niedrigen Felsbrocken und starrte die winzige Lampe vor mir an.

„Nicole! Wiederhole!“, knurrte er nun und klang dabei um einiges aggressiver als gerade eben noch.

„Ähm.. Ja. `Tschuldigung!“ Ich schüttelte meinen Kopf um meine Gedanken etwas zu ordnen – als hätte das viel gebracht! „Du gehst voraus. Ich folge. George ist gleich hinter mir. Wir halten uns an die Wand, Waffen schussbereit. Keine Geräusche verursachen. Sobald wir irgendetwas hören, sehen oder riechen das uns merkwürdig vorkommt, schlagen wir Alarm. Ansonsten versuchen wir so weit wie möglich in das Innere der Höhle zu kommen – bestenfalls unentdeckt.“ Ich ratterte die ungefähren Angaben herunter als hätte ich nie etwas anderes gemacht. Gut, eigentlich hatte ich in den letzten Stunden auch wirklich nicht sehr viel anderes gemacht.

„Und was ist, wenn George und ich… gefangen genommen werden?“, hakte John nach und ich spürte wie er mich konzentriert musterte.

Mann! Ich hasste DIESEN Teil der Abmachung! Andererseits hatte ich es John schon beim Aufstieg versprochen – es gab kein Zurück mehr…

„Dann sehe ich zu, dass ich da raus komme so schnell mich meine Beine tragen und verschwinde so weit wie möglich weg von hier.“ Ich klang wie ein genervtes Kind, das ein Gedicht lernen musste. Meine Begeisterung hielt sich nun mal wirklich in Grenzen!

Wenn sie sterben würden, würde ich das auch tun! Ich hatte außer ihnen niemanden auf dieser Welt und soweit das überhaupt möglich war zog ich es inzwischen tatsächlich vor die Dämonenjäger als eine Art Familienersatz zu sehen – natürlich nur in Gedanken!

„Und denk daran: du hast es mir versprochen!“

Ich nickte. Ja! Jetzt konnte er es dann aber auch wirklich mal bleiben lassen!

„George, komm her! Die Sonne geht gleich unter!“

So drehte John mir den Rücken zu und ließ mir noch ein paar Augenblicke zum Nachdenken. Auf was hatte ich mich da nur eingelassen? Ach ja! Ich war hier um diesen Bastard kalt zu machen der nicht nur mein Leben zerstört, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach auch Matts beendet hatte.

Ich merkte kaum wie meine Zähne knirschend übereinander schabten.

Merkwürdig, dass mich die Tatsache, dass ich Matt wahrscheinlich nie wieder lebend zu Gesicht bekommen würde bisher so kalt ließ. Aber vielleicht konnte ich auch einfach noch nicht um ihn trauern, weil ich nicht daran glaubte, dass er tot war – egal ob John etwas anderes vermutete!

Wäre Matt wirklich nicht mehr am Leben, hätte ich das schon längst gemerkt! Ich hätte es spüren müssen, wenn irgendjemand ihn qualvoll hätte sterben lassen – aber das hatte ich nicht!

Die einzige Möglichkeit die noch blieb war also, dass er noch lebte und zwar in genau diesem Moment.

In dem Moment, in dem ich mich auf den Kampf vorbereitete, mich auf Schmerz und Leid einstellte.

Natürlich, ich hatte Angst – sogar mehr als sich irgendjemand vorstellen konnte! Nur, dass diese Art von Angst dumpf war und schleichend – wie eine tödliche Krankheit die sich nur äußerst langsam und doch unaufhaltsam durch jede einzelne meiner Zellen fraß. Erst jetzt, so kurz bevor es losging, beschleunigte sich meine Atmung etwas; mein Herz klopfte unregelmäßiger.

Ein Beben ging durch meinen Körper, als wollte er mir sagen, dass ich das ohnehin nicht schaffen würde.

Na, ich würde es mir schon selbst beweisen! Hatte ich auch in meinem ganzen bisherigen Leben nichts als Leid und Tod zustande gebracht, so wollte ich jetzt wenigstens etwas wieder gut machen – indem ich dieses Monster vernichtete.

„Nicole, es ist soweit.“ Johns Stimme klang so unendlich weit von mir entfernt – als würde ich alles durch Zuckerwatte hören. Trotzdem stieß ich mich von dem Stein ab und stellte mich so aufrecht hin wie möglich. Das war jetzt also der Anfang von meinem ganz persönlichen Ende? So hatte ich es mir ja eigentlich nicht vorgestellt, aber gut… Dann eben nicht!

„Okay, hör zu. George und ich kümmern uns um den Fürsten. Du hältst uns den Rücken frei, verstanden?“ Er zurrte noch einmal alle Gurte an seinem Anzug straff und musterte mich von oben herab.

„Alles klar“, murmelte ich und nickte als Untermalung meiner Worte. Wenn der wüsste, dass ich ganz und gar nicht einverstanden damit war, dass die beiden Jäger diesen Teufel töten wollten – immerhin hatte er ja MEIN Leben zerstört, nicht ihres!

Und trotzdem versuchte ich meine Miene unter Kontrolle zu halten und folgte John und George, als sie losgingen – in Richtung des Höhleneingangs.

Gerade als die letzten Sonnenstrahlen die Baumwipfel über uns streiften, erreichten wir den kantigen, spaltartigen Eingang, der wie ein bedrohliches Maul mit viel zu spitzen Zähnen nach uns zu schnappen schien.

„Waffen entsichern, Nachtsichtgeräte an!“, kommandierte John. Endlich begriff ich, warum er hier das Sagen hatte. Noch nie, während meiner ganzen Zeit in der Basis, hatte ich ihn so sprechen hören.

Der bedrohliche, ja schon fast gefährliche, Unterton in seiner Stimme ließ einen Schauer über meinen Körper laufen und brachte meine Finger zum zittern.

Nur mit Müh und Not schaffte ich es mir das klobige Gerät aufzusetzen nachdem ich umständlich die Waffe entsichert hatte.

„Klar“, stieß George neben mir hervor. Aus einem Reflex heraus imitierte ich ihn, was John mit einem Kopfnicken Richtung Höhle zur Kenntnis nahm.

Ohne auch nur den Hauch eines Zögerns setzte er als erster seine Schritte in die Finsternis hinter der Höhlenöffnung. Ich war mir da längst nicht so sicher und brauchte den Bruchteil einer Sekunde länger um es ihm gleichzutun – und George merkte das natürlich sofort!

Hier, im Schatten, zeigte sich zum ersten Mal die Nützlichkeit der Nachtsichtgeräte. John vor mir war ein grün-grauer…Abklatsch seiner selbst, George hinter mir sah wahrscheinlich genauso aus.

Praktisch auf Zehenspitzen, was in den schweren Militärstiefeln gar nicht so einfach war, folgte ich John und versuchte dabei mit ihm Schritt zu halten – so gut ich eben konnte.

Trotzdem musste er alle paar Meter langsamer werden damit ich nicht total den Anschluss verlor und das brachte mich wiederum so in Verlegenheit, dass ich noch langsamer wurde um bloß keinen Fehler zu machen.

Von Zeit zu Zeit glaubte ich ein Schnauben von George zu hören, aber ich ignorierte es. Er hatte selbst gesagt, dass er Abstand wollte und den sollte er auch haben – selbst wenn das hier nicht gerade der richtige Zeitpunkt war sich aus dem Weg zu gehen.

Ich versuchte einfach alles um mich auszublenden und mich nur auf meine Schritte und den Weg vor mir zu konzentrieren. Es wäre mir wahrscheinlich auch ganz gut gelungen wenn nicht bei jedem weiteren Meter den wir hinter uns ließen meine Knie fast unter mir zusammengesackt wären…

 

Es waren Stunden!

Nein, ich übertrieb keinesfalls wenn ich das behauptete. Falls mich jemand gefragt hätte wie lange wir ungefähr unterwegs waren hätte ich es zwar nicht sagen können, aber ich war mir zu hundert Prozent sicher, dass es mehrere Stunden waren – und darauf hätte ich all meine mickrigen, jämmerlichen Besitztümer verwettet!

Unsere Schritte hörte ich inzwischen schon gar nicht mehr, so laut pochte mein Herz. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, dass ich es von den Steinwänden widerhallen hörte, aber das konnte ich mir nur einbilden – hoffte ich zumindest!

John wurde inzwischen immer vorsichtiger und sein Rücken sah um einiges angespannter aus als beim Einstieg in die Höhle. Selbst unter dem dicken Stoff des Anzugs konnte ich jeden einzelnen seiner angespannten Muskelstränge hervortreten sehen.

Und mir ging es keinesfalls besser!

Jedes Geräusch, das von den Wänden zurückgeworfen wurde, ließ mich unwillkürlich zusammenzucken. Ein gelegentliches Tropfen von den kalten Wänden rings um uns herum gab mir das Gefühl jeden Moment aus irgendeiner dunklen Ecke angesprungen zu werden – und von denen gab es hier unten reichlich.

Wider meiner Erwartungen wurde es aber nicht kälter, je tiefer wir in das Erdreich eindrangen, sondern wärmer. Und das wiederum bestätigte meinen Verdacht, dass wir schon sehr lange unterwegs waren, denn wir mussten ziemlich weit in die Höhle vorgedrungen sein.

Und trotzdem: hier war niemand! Ich konnte niemanden hören und von sehen wollte ich gleich gar nicht anfangen.

Irgendwann begann sich der Tunnel vor uns in mehrere Abzweigungen aufzuteilen. Ich persönlich war ja dafür, dass wir alles zusammen blieben, aber John entschloss kurzerhand, dass er und George jeweils einen der Wege absuchen würden. Mich wollten sie hier allein lassen.

„John, nein!“, protestierte ich im Flüsterton. Ich hatte so schon das Gefühl, dass alles was ich tat zu laut war.

„Doch glaub mir. Ich weiß was ich tue und ich sage, wir teilen uns auf. In spätestens fünf Minuten sind wir wieder da…“

Noch bevor ich etwas einwenden oder nach einem der Jäger greifen konnte, verschwanden beide vor mir in der Dunkelheit. Nicht einmal mein Nachtsichtgerät erfasste sie jetzt noch. Ich fragte mich, ob diese Art von Finsternis überhaupt noch normal war – denn so kam sie mir überhaupt nicht vor! Es war eher so, als würde ich sie anfassen können.

Eingeschüchtert und am ganzen Körper zitternd presste ich mich gegen den kalten Stein hinter mir. Schon nach wenigen Sekunden fing mein Rücken an zu brennen und zu schmerzen, weil sich einige Kanten wie ausgestreckte, harte, kalte Finger in mein Fleisch zu bohren schienen.

Ich presste die Lippen aufeinander. Ein ureigener Instinkt schien mir zuzurufen, dass ich schreiend weglaufen sollte – und zwar so schnell ich konnte.

Ein eiskalter Schauer nach dem anderen lief mir über den Rücken und ich bekam, von der Angst bereits so weit gelähmt, gerade noch mit, dass sich Schweißperlen auf meiner Stirn bildeten.

Es war fast so, als würde mich der Schatten, der mich umgab, immer weiter an die Wand drängen. Er schnitt mir den Fluchtweg ab. Er hielt meine Arme und Beine fest – machte sie unbrauchbar.

Mein Herzschlag dröhnte mir in den Ohren und immer wieder liefen kribbelnde Wellen, ausgehend von meiner Magengrube, durch meinen ganzen Körper.

Es war einfach nur furchtbar!

Ich hatte schon so oft Angst gehabt in meinem Leben, aber im Vergleich zu dem, was ich hier und jetzt gerade durchmachte war es ja schon fast ein Witz.

Wenn John und George nicht bald zurückkamen würde ich mich noch übergeben müssen – das Gefühl hatte ich zumindest!

Und der Grund dafür war ganz sicher nicht, dass ich Angst im Dunkeln hatte – so eine war ich nicht! Meine Angst nährte sich von dem, was sich in den finsteren Ecken versteckte, das was ich nicht sehen konnte…

In meiner Fantasie griffen bereits klauenbesetzte, halb verrottete Hände nach mir, um mich mit sich zu schleifen und ich schaffte es gerade so nicht meine Waffe fallen zu lassen und mich zu einer winzigen Kugel zusammen zu kauern.

Inzwischen atmete ich schon so laut, dass ich nichts anderes mehr hörte als das Rauschen der Luft in meiner Lunge. Meine Augen ließ ich immer noch geschlossen – wohl wissend wie dumm das von mir war.

Wenn mich jetzt etwas angreifen wollen würde hätte es die perfekte Chance. Ich würde es nicht sehen kommen und noch bevor ich abdrücken könnte hätte es mich erwischt.

Wieder ein Schauer der jede Zelle in mir zum zittern brachte.

Und dann fühlte ich etwas. Als würde irgendjemand ein Seidentuch oder eine leichte Feder über meine Haut ziehen.

Irgendjemand beobachtete mich!

Ich war sofort in Alarmbereitschaft. Meine Finger umklammerten das Gewehr, das ich immer noch tapfer hielt, so fest, dass das Metall zu knirschen anfing. Unter größter Anstrengung riss ich meine Augen auf und zwang mich geradezu dazu durch das Dämmerlicht, das das Nachtsichtgerät erzeugte, etwas zu erkennen.

Es beruhigte mich allerdings keinesfalls, dass da nichts zu sehen war – und damit meinte ich wirklich überhaupt nichts.

Konnte ich es mir eingebildet haben? Aber nein, so etwas konnte sich kein Mensch einbilden. Andererseits… Ich war ja gar kein Mensch – im eigentlichen Sinne.

Die Sekunden verstrichen, doch dieses Gefühl kehrte nicht wieder. Nur die Angst, die sich die ganze Zeit über schon an meine Fersen geheftet hatte, umklammerte mich wieder fester.

Diesmal kam es aber erst gar nicht so weit, dass ich mich verängstigt an die eisig kalte Felswand pressen konnte. Ich war gerade dabei ein weiteres Mal, mit weit geöffneten Augen, sicherzustellen, dass ich auch wirklich allein war, als ich einen Schrei hörte.

Es war ein Geräusch, das durch Mark und Bein ging – fast noch schlimmer als das Gurgeln aus den Kehlen der Kinder wenn ich sie erwürgt hatte…

Wie vom Blitz getroffen blieb ich stehen. Was sollte ich jetzt machen?

John hatte gesagt ich sollte hier bleiben. Aber einer von ihnen war in Gefahr! Ich musste helfen!

Hin und her gerissen hüpfte ich von einem Bein aufs andere.

Und dann war ein Donnern zu hören. Im ersten Moment glaubte ich die Höhle würde über meinem Kopf einstürzen und mich unter Tonnen von Gestein und Schutt lebendig begraben. Schon im nächsten Moment waren wieder Schreie und Zurufe zu hören und nun konnte ich nicht mehr anders als mich dem Befehl des Dämonenjägers zu widersetzen.

Das war nicht nur einer von ihnen der da gerade um sein Leben kämpfte – es waren alle beide!

Ich schoss los und erreichte im Bruchteil einer Sekunde die Abzweigungen in dern George – das glaubte ich zumindest – verschwunden war.

Das enorme Gewicht der Ausrüstung spürte ich nicht mehr. Es war fast so, als würde mich etwas, das tief in mir verborgen war, antreiben. Und ich wusste ganz genau WAS mich antrieb: der Dämon!

Strauchelnd erreichte ich das Ende des Tunnels, konnte aber nichts mehr sehen.

Grelles Licht fiel durch die Linsen des Gerätes das eigentlich dafür sorgen sollte, dass ich nicht blind herum irren musste. Doch in diesem Moment war es mehr hinderlich als hilfreich.

Umständlich zerrte ich es mir vom Kopf und brauchte eine Sekunde bis sich meine Augen an die veränderten Lichtverhältnisse angepasst hatten – und wie sich herausstellte war genau diese Sekunde eine zu viel!

Irgendetwas Schweres knallte gegen meinen Brustkorb und trieb mir die Luft aus den Lungen.

Immer noch halb blind flog ich ein paar Meter durch die viel zu warme Luft und knallte schließlich mit dem Rücken gegen eine Wand.

Das war jetzt also schon mein Ende – und dabei hatte ich mich noch nicht einmal wehren können.

Ein brennender Schmerz durchzuckte meine Schulter und erinnerte mich dabei zu sehr an damals, als mich die Jäger gefangen genommen hatten…

 

 

19. Kapitel

 

Mein Schädel pochte und schmerzte. Nein, mein ganzer Körper sträubte sich dagegen jemals wieder aufzustehen!

Ein Knall nach dem anderen dröhnte durch diese Höhle, die ich erreicht hatte, bevor ich mit irgendetwas zusammengestoßen war… oder bevor irgendetwas mit mir zusammengestoßen war!

Ich konnte den Stein förmlich unter mir beben und zittern spüren.

Mit aller Kraft zwang ich mich dazu meine Augen zu öffnen, schaffte es aber nicht beim ersten Anlauf. Erst nach dem dritten Versuch hoben sich meine Lider ein Stückchen, so dass ich mir die erleuchtete Höhle ansehen konnte – oder so ähnlich.

Der Anblick, der sich mir bot, war nämlich alles andere als beruhigend.

George – oder war es vielleicht John? – stand vor mir und hielt mit beiden Armen ein überdimensionales Maschinengewehr vor sich in die Luft. Der andere der beiden Jäger war weiter vorne, ungefähr in der Mitte der Höhle, damit beschäftigt auf irgendetwas einzuschlagen – vielleicht bearbeitete er es auch mit einem Messer. So genau konnte ich das aber nicht sagen, denn meine Augen brannten und Tränen kullerten mir über die Wangen.

Ich hatte bei meinem Sturz wohl ganz schön was abgekriegt. Trotzdem versuchte ich wenigstens mich aufzurichten – und auch dafür brauchte ich länger als gedacht. Ich musste mich erst richtig auf die Muskeln in meinem Bauch und Rücken konzentrieren, bevor sie endlich das taten, was ich eigentlich wollte: nämlich mich aufsetzten!

Vor Anstrengung – und ja, ich war von dieser einfachen Bewegung komplett fertig! – musste ich meine Augen wieder schließen.

Irgendwo vor mir ertönte Gebrüll, das niemals von einem normalen Menschen stammen konnte, dafür hörte es sich viel zu wild und animalisch an.

Der Jäger, der sich, wohl zu meinem Schutz, vor mich gestellt hatte, stieß einen derben Fluch aus, als seine Waffe mit einem Klacken den Dienst verweigerte. Ich konnte über den allgemeinen Lärm gerade so seine Stimme hören – es war George.

Ich biss die Zähne zusammen. Es war noch sehr viel anstrengender mich auf die Beine zu kämpfen, aber nach gefühlten sieben Stunden – wahrscheinlich war es in Wirklichkeit nur ungefähr eine halbe Minute - schaffte ich es doch irgendwie. Zitternd und am ganzen Körper bebend, wie der Boden unter meinen Füßen, riss ich meine Augen auf.

Das Szenario hatte sich ein wenig verändert.

John hatte sich an Georges Seite zurückgezogen und gemeinsam schossen sie nun auf etwas, das ich nicht sehen konnte.

Gerade als ich zu ihnen gehen wollte, um ihnen zu helfen, fiel mir auf, dass ich meine Waffe nicht mehr bei mir hatte. Wo war das Gewehr nur hingekommen?

Verzweifelt suchte ich mit den Augen den Boden vor und neben mir ab, ohne mich von der Stelle zu rühren, aber da war nichts. Falls das überhaupt möglich war beschleunigte mein Herzschlag noch einmal und übertönte jetzt schon fast die Schüsse aus den Waffen der Männer.

Die Sekunden verstrichen bis mir endlich einfiel, dass ich ja noch anderweitig ausgerüstet war. Ruckartig tasteten meine Hände meinen Körper ab und bald fand ich eine Pistole, die in einem Halfter an meinem Oberschenkel steckte. Der Rest war einfach.

Ich entsicherte sie und wankte dann ein paar Schritte nach vorne um mich rechts neben George zu stellen. Dieser bedachte mich mit keinem Blick. Er war gerade zu sehr darin vertieft weiter auf irgendetwas zu zielen.

Erst als ich selbst anlegte erblickte ich worauf er schoss.

Mir stockte der Atem und ich hätte mich am liebsten wieder nach hinten verzogen und zu einer winzigen Kugel zusammen gerollt. Auf der anderen Seite der Höhle befanden sich tiefe Risse in der Wand – groß genug um mit einem Auto hinein zu passen. Diese waren gleichzeitig auch die einzigen Stellen hier, die dunkel waren und diese Dunkelheit löste bei mir reine Angst aus. Der Rest des Raumes war merkwürdiger Weise hell erleuchtet – fast als befänden wir uns an der Oberfläche und nicht hunderte von Metern davon entfernt.

Ich hatte keine Zeit mir länger darüber den Kopf zu zerbrechen, denn schon in der nächsten Sekunde löste sich eine Gestalt aus dem Schatten und näherte sich uns mit einer Geschwindigkeit, die ich noch nie gesehen hatte – zumindest nicht bei einem Lebewesen mit zwei Beinen.

Der Körper hatte eine merkwürdige violette Farbe und schimmerte ganz leicht – wie die Haut eines Reptils. Zwei fledermausähnliche Flügel spannten sich hinter diesem… Ding auf und ließen es so noch größer und bedrohlicher wirken.

Was mir allerdings so richtig das Blut in den Adern gefrieren ließ, war der Kopf dieses Monsters.

Auch hier war die Haut sehr dunkel, violett, wirkte ledrig und spannte sich straff um den Schädelknochen. Die Nase war flach und ich konnte keine Nasenlöcher erkennen – was bei dem Tempo, das dieses Wesen vorlegte aber auch kein Wunder war. Die Augen waren von einem Schwarz, das ich in dieser Form noch nie gesehen hatte. Es gab keine Nacht auf diesem Planeten, die so dunkel sein konnte wie sie. In ihnen lag nichts weiter als die Lust zu töten.

Alles in allem war das Gesicht so unmenschlich wie es nur sein konnte, und doch konnte ich die Person dahinter erkennen – wahrscheinlich zu gut.

Fünf Meter vor uns traf ihn eine Kugel aus Georges Gewehr und er machte noch einen wankenden Schritt auf uns zu bevor er vorne überkippte und regungslos liegen blieb.

Auch wenn es mir nicht einmal im Entferntesten glich wusste ich sofort, dass es sich bei dieser Bestie nur um einen Dämon handeln konnte – anders konnte ich es mir beim besten Willen nicht erklären!

Ich hatte während der ganzen Zeit die Luft angehalten und atmete nun hektisch ein und aus.

Meine Finger verloren den Halt um die Pistole und sie fiel mit einem verhältnismäßig leisen Knall zu Boden.

George schien erst jetzt zu bemerkten, dass ich da war. Seine Augen wanderten hastig zu meinem Gesicht – ich konnte mir ungefähr denken wie verängstigt ich aussehen musste – und dann zu der Waffe, die nun nutzlos zu meinen Füßen lag.

„Nici, heb sie sofort auf! Wir haben keine Zeit für Spielchen!“, forderte er mich barsch auf. Im nächsten Augenblick war er aber schon wieder bei den Dämonen, die nun gruppenweise auf uns zukamen.

Meine Zähne schlugen wild aufeinander als ich mich nach der Pistole bückte um sie aufzuheben. Neben mir ertönten wieder Schüsse, und ich glaubte schon, dass mir das Trommelfell platzen würde, wenn es so weiterging. Obwohl… das wäre noch der kleinere Preis, wenn ich überhaupt lebend aus der ganzen Sache heraus kam.

John rief George irgendetwas zu, das ich nicht verstand, dann wandte sich dieser in meine Richtung und nickte mit dem Kopf in einen Winkel der Höhle, der ebenfalls etwas dunkler zu sein schien. Auch ohne nachzufragen verstand ich, dass ich mich um die Dämonen kümmern sollte, die aus dieser Ecke hervor krochen – falls welche kamen, was ich nicht hoffte.

Als hätte der Himmel mein stummes Flehen erhört, trat auch nach gut zwei Minuten noch keines der Biester hervor – ich blieb also in Alarmbereitschaft und dachte nicht einmal daran mich von der dunklen Stelle abzuwenden. Die Angst angegriffen zu werden war einfach zu groß.

Die Jäger hingegen hatten anscheinend alle Hände voll zu tun. Obwohl sie zu zweit und mit schweren Geschützen auf die Dämonen feuerten, schafften es immer mehr bis auf ein paar Meter an uns heran zu kommen – und das bereitete mir wirklich Sorgen!

Gerade als mich in ihre Richtung wandte, um sie ein wenig zu unterstützen – auch wenn ich noch nie mit einer Waffe geschossen hatte, war es immer noch besser als gar nichts – bemerkte ich im Augenwinkel eine Bewegung in der Ecke, auf die ich aufpassen sollte.

Ohne lange zu zögern drückte ich dreimal in kürzester Zeit auf den Abzug und wartete was als nächstes geschehen würde. Wieder rührte sich dort etwas, aber diesmal trat die Gestalt aus dem Schatten hervor, bevor ich schießen konnte – Gott sei Dank!

Mir klappte der Mund auf und ich wusste nicht ob ich weinen oder lachen sollte. Tausend verschiedene Emotionen schossen durch meinen Körper und ich ließ die Waffe sinken. Nachdem die erste Flut an Gefühlen etwas abgeflaut war, wusste ich nicht ob ich mich freuen, oder Angst haben sollte.

Es war nicht irgendein unmenschliches Wesen, das da auf mich zu kam – es war Matt!

„Matt.“ Das Wort war nur ein Flüstern, aber ich spürte, wie es sich wie ein Kribbeln über meinen Körper legte sobald ich es ausgesprochen hatte.

Langsam kam er näher und mir wurde klar, dass irgendetwas nicht stimmte – und zwar mit ihm! Seine Augen waren geschlossen und er ließ sich Zeit mit jedem Schritt den er tat.

Merkte er denn nicht, dass sein Bruder gerade in Lebensgefahr schwebte? Dass John Hilfe brauchte? Oder, dass ich in Gefahr war?

Automatisch richtete ich den Lauf der Waffe auf seinen Oberkörper. Ich wollte nicht auf ihn schießen, immerhin liebte ich ihn doch, aber etwas an ihm stimmte nicht – ich spürte es einfach!

Mit jedem Schritt den er näher kam, machte nun auch ich einen auf ihn zu. Es war fast so, als würde er eine Reklametafel auf seiner Brust tragen auf der in Leuchtschrift stand: „Nimm dich in Acht – ich bin gefährlich!“

Meine Hände zitterten und es wurde mit der Zeit nicht gerade einfacher die Pistole auf ihn zu richten. Trotzdem, ich wusste, dass ich jetzt nicht leichtsinnig werden durfte.

Wenn es nicht meine dämonischen Sinne gewesen waren, die Matts Veränderung registriert hatten, sondern die menschlichen, musste es etwas Gravierendes sein.

Uns trennten nur noch gut zwei Meter voneinander. Als er wieder ein Stück näher kam, blieb ich wie angewurzelt stehen. Ich glaubte zu spüren, dass etwas Dunkles, abgrundtief Böses nach mir griff – und es ging von ihm aus.

Sofort war ich in Alarmbereitschaft – das heißt, falls ich das vorher noch nicht war. Als würde er mich schützen wollen übernahm der Dämon in meinem Inneren die Kontrolle über mich; es war das erste Mal seit ich die Kinder angegriffen hatte. Insgeheim fragte ich mich, wann ich wohl meine letzte Injektion bekommen hatte. Die genaue Antwort wusste ich nicht, aber es musste Tage her sein – Tage!

Ich stellte mich etwas anders hin, um im Ernstfall besseren Halt zu haben und nicht sofort umzukippen – obwohl ich zum Himmel flehte, dass Matt nichts tat, wobei ich diesen Halt gebrauchen würde.

Nun blieb auch er stehen und erstarrte, als wäre er aus dem Stein gehauen, der den Boden, die Decke und die Wände der Höhle bildete. Seine Augen waren immer noch geschlossen und das machte mir Angst.

„Matt?“, fragte ich. Es war gerade laut genug, dass er es über die Schüsse, die hinter mir verhallten, hören konnte. Oder hören musste, denn er zeigte keinerlei Reaktion darauf.

„Matt! Was ist mit dir?“, wollte ich nun etwas lauter wissen. Zur Antwort bekam ich erneutes Schweigen. Er zuckte sprichwörtlich nicht einmal mit der Wimper.

„Matt!“, jetzt schrie ich schon fast. „Rede mit mir, verdammt!“

Abrupt riss er seine Augen auf - und ich machte vor Schreck einen Satz rückwärts, schaffte es aber wenigstens die Pistole nicht fallen zu lassen.

Das Moosgrün, das ich so sehr geliebt hatte, war verschwunden. An seiner Stelle glänzte jetzt ein mattes Dunkelgrau, vielleicht war es auch Schwarz. So genau konnte ich das nicht sagen, denn ich schaffte es einfach nicht ihn anzusehen.

Wo war Matt? Was war mit dem Kerl passiert, in den ich mich verliebt hatte?

Kraftlos hob ich die Waffe wieder, aber ich konnte sie kaum gerade halten – ich zitterte viel zu sehr.

Und dann kamen die Tränen und schwächten mich nur noch mehr. Ich konnte ihn nicht mehr sehen, alles war so verschwommen, aber ich wollte ihn auch nicht ansehen.

Er war nicht er selbst.

Ich wusste nicht mehr, wie lange wir uns so gegenüber standen, aber in mir wuchs die Hoffnung, dass wenigstens sein Inneres noch gleich aussah.

Doch ich sollte merken, dass er einfach nicht mehr… er war.

Mit einem Ruck riss er mir die Pistole aus der Hand und schleuderte sie zu Boden, so dass sie in ihre tausend Einzelteile zersprang. Mit einem einzigen Schritt überbrückte er die restliche, kurze Distanz zwischen uns. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich sogar, dass er mir nichts tun würde – aber auch darin täuschte ich mich.

Mit einem seiner muskulösen Arme – ich wusste nicht einmal welcher es war – holte er aus und traf mich hart. Schon zum zweiten Mal an diesem Abend presste mir die Wucht des Aufpralls die Luft aus den Lungen und schon zum zweiten Mal segelte ich durch die Luft um dann schmerzhaft auf dem Boden zu landen.

Meine Arme und Beine pochten und brannten.

Warum tat er das nur? Was hatte dieser Dämonenfürst nur mit meinem Matt gemacht?

Ich hatte gerade einmal genug Zeit um mich auf den Rücken zu drehen, bevor er schon wieder über mir stand und mir einen harten Tritt in die Seite verpasste.

Ich unterdrückte den Schrei, der sich brennend einen Weg meine Luftröhre hinauf bahnte und unbedingt entfliehen wollte. Es hätte ihn ja sowieso niemand gehört. John und George waren immer noch damit beschäftigt die Dämonen zu vernichten – ich konnte die Schüsse und das Gebrüll der sterbenden Monster hören – also war ich auf mich allein gestellt.

Diesmal ließ er mir eine Sekunde länger, um mich wieder aufzurichten, nur um mich dann erneut mit einem Schlag ins Gesicht ins Wanken zu bringen.

Es fiel mir schwer dem Drang einfach aufzugeben nicht einfach nachzugeben. Aber dafür war ich nicht hier!

Ich musste diesen Fürsten, oder was auch immer es war, kalt machen! Das hatte er sich wirklich mehr als verdient!

Ein Blick auf Matt, der sich erneut vor mir aufrichtete als wäre er ein seelenloser Roboter der nur die Befehle seines Meisters ausführte, bestätigte meine Gedanken nur noch.

Der Dämonenfürst würde einen langsamen, qualvollen Tod sterben – durch meine Hand!

Ich biss die Zähne zusammen – aus Trotz und um den Schmerz zu unterdrücken, der nun von überall aus meinem Körper zu kommen schien.

Wieder sah ich seine Faust auf mich zurasen, aber dieses Mal ließ ich es nicht einfach zu. Ich duckte mich gerade noch rechtzeitig und machte eine, wenn auch ziemlich tollpatschige, Rolle zur Seite um wieder etwas Platz zwischen mich und dieses Wesen zu bringen.

Ja, ein Wesen, mehr konnte ich in dieser Hülle, die Matt glich, nicht erkennen. Er war definitiv nicht mehr da, und wenn, dann nur tief in ihm verborgen.

Diese ‚Matt-Puppe‘ schien zu bemerken, dass ich mich nun nicht mehr einfach von ihr verprügeln lassen würde – sie wurde schneller und bewegte sich, als würde sie einen Angriff meinerseits erwarten.

Ich wäre nie von selbst auf die Idee gekommen ihn zu schlagen, aber jetzt, wo sich mir die Gelegenheit bot, ergriff ich sie und stieß vor.

Genau wie er zuvor erreichte ich ihn mit nur einem Schritt, duckte mich und trat aus dieser Position heraus mit aller Kraft gegen sein Schienbein. Ein Knacken war zu hören, dann wankte er und fiel vor mir auf die Knie. Geistesgegenwärtig – daran war wohl das Adrenalin schuld, dass nun durch meine Adern schoss – richtete ich mich blitzschnell wieder auf und schlug ihm mit der Faust seitlich gegen den Kopf.

Dann sprang ich wieder zurück, immerhin wollte ich nicht, dass er eine Gelegenheit hatte, es mir gleich zu tun. Ich musste zugeben, dass ich jetzt etwas außer Atem war, aber wenigstens hatte es sich gelohnt – er kniete immer noch da. Aus einer Platzwunde an seiner Schläfe tropfte Blut und rann ihm über die Wange. Es sah einfach nur furchterregend aus.

Ich glaubte mich fürs Erste in Sicherheit, aber ich lag sowas von falsch! Ich blinzelte nur kurz und schon stand er wieder vor mir. Der Schlag kam härter als zuvor und traf mich in den Magen. Ich konnte nicht anders als mich vor Schmerz zu krümmen, was ein Riesenfehler war! Denn nun befand sich mein Gesicht knapp oberhalb seines Knies – und dieses schnellte nun wie in Lichtgeschwindigkeit auf mich zu.

Ich schaffte es gerade noch so meine Augen zu schließen, aber das Knacken meiner Nase und der Schmerz, der gleich darauf kam, waren härter als alles andere. Mein Blut tropfte mir in den Mund ich schaffte es nicht diesen metallischen Geschmack zu ignorieren. Fast augenblicklich wurde mir davon übel und ich drehte mich leicht zur Seite um mich zu übergeben.

Mein Magen verkrampfte sich einmal, zwei Mal, drei Mal, bis irgendwann nichts mehr da war, was er herauf würgen konnte – ich hatte nämlich schon seit Wochen nichts festes mehr zu mir genommen.

„Matt, bitte!“, flehte ich jetzt. Ich wusste wie armselig ich mich aufführte. Ich bettelte um mein Leben, dabei wollte ich doch darum kämpfen!

Die Tränen, die nie ganz aufgehört hatten zu fließen, brannten jetzt nur noch stärker auf meiner Haut.

Ein erneuter Schlag traf mich, diesmal in der Nähe meines Schlüsselbeins. Auch dieses gab nach als wäre es ein dünner Zweig und ich sank zu Boden.

Der Schmerz war überall, aber alles was ich verspürte war Hass. Nicht auf Matt, oder dieses Wesen, das da gerade vor mir stand und mich gleich wieder angreifen würde, sondern auf das Monster, das mir das alles antat. Das Monster, das mir mein Leben zerstört und meine Liebe genommen hatte.

Ich wusste, dass es bald vorbei wäre – Matt brauchte sich nicht mehr allzu sehr anzustrengen. Vor meinen Augen tanzten bereits schwarze Flecken, die immer wieder ihre Form zu wechseln schienen und dabei immer mehr meines Sichtfelds verdunkelten.

„Matt, bitte… Ich liebe dich…“, krächzte ich, bevor mich auch meine letzte Kraft verließ und ich, wie der Dämon zuvor, vorn über kippte und mit dem Gesicht nach unten auf dem Steinboden liegen blieb.

Selbst jetzt folgten noch Tritte, aber ich spürte sie kaum noch.

Ich sah Matts moosgrüne Augen vor mir, die so vor Liebe und Vertrautheit strahlten, dass ich wünschte er wäre noch da…

 

Es waren wohl die Schmerzen, die mich weckten - gleich wie zuvor als ich in diese Höhle gekommen war. Ich spürte Knochen in meinem Körper, von denen ich nicht einmal gewusst hatte, dass ich sie hatte. Muskeln und Sehnen schienen sich verknotet und gegen mich verbündet zu haben.

Wahrscheinlich war es ganz gut, dass ich ohnmächtig geworden war, denn anders hätte ich all diese Schmerzen wohl nicht ertragen.

Merkwürdig nur, dass ich mich an alles so gut erinnern konnte. Ob das wohl daran lag, dass ich besessen war?

Vielleicht, vielleicht auch nicht. Auf meine Fragen würde ich wahrscheinlich sowieso nie eine Antwort bekommen – ich würde vorher sterben.

So wie es aussah hatte dieser Dämonenfürst vor mich vor meinem Tod noch einmal ausgiebig leiden zu lassen – war wohl so etwas wie Spaß für ihn. Mir sollte es recht sein, immerhin hatte ich jetzt nichts mehr zu verlieren.

Als ich die Jäger in die Höhle begleitet hatte, hatte ich noch die Hoffnung, dass Matt lebte. Jetzt hatte ich sie nicht mehr. Sein Körper war zwar noch da, aber von ihm war nichts mehr übrig – zumindest nichts, dass ich wiedererkennen konnte.

Ich hörte mich selbst schnaufen. Mein Herz pumpte langsam, gleichmäßig. Es war fast so, als wüsste es, dass es bald vorbei war.

Die Jäger, was wohl aus ihnen geworden war? Lebten sie noch? Konnten sie noch fliehen?

Ich brauchte nicht sehr lange darüber nachdenken. Nein, sie lebten nicht mehr. Nein, sie konnten nicht mehr fliehen – wahrscheinlich…

Ich hörte etwas neben mir rascheln. Sollte ich jetzt Angst haben? Nein, eher nicht. Ich hatte nichts mehr worum ich mir Sorgen machen müsste. Also blieb ich regungslos.

Es raschelte erneut – und ich ignorierte es.

Langsam kehrte Gefühl in meinen Körper und Schmerz war nicht mehr das Einzige, was ich fühlte. Irgendetwas lag um meinen Oberkörper und hielt mich fest. Es tat schon fast weh, so fest hielt es mich.

Nur langsam realisierte ich, dass es ein dicker Strick war. Was genau sich hinter mir befand wusste ich nicht, aber es war mir auch egal. Ich wusste nur, dass es sich schmerzhaft zwischen meine Schulterblätter bohrte.

Um mich herum war es stockdunkel. Sollte ich meine Augen öffnen und nachsehen, ob ich etwas erkennen konnte? Aber was würde das schon bringen? Ich war ja doch allein…

Wieder hörte ich dieses Rascheln und langsam aber sicher fing es an mir gehörig auf die Nerven zu gehen. Konnte man hier denn nicht einmal in Ruhe sterben?

„Nici? Nicole, bist du das?“

Diese Stimme, irgendwoher kannte ich sie doch, oder? George? Ja, könnte sein.

„Nici?“, hörte ich ihn noch einmal fragen.

„Ja?“ Meine Stimme hörte sich scheußlich an – als wäre jemand aus Langeweile mit Schleifpapier über meine Stimmbänder gefahren.

„Oh… Gott sei Dank!“, stieß er hervor. Er klang erleichtert. Warum erleichtert?

„Geht es dir gut?“, wollte er nun von mir wissen.

Was sollte ich darauf schon antworten? Alles, was meinem Leben bisher einen Sinn gegeben hatte, war futsch. Das bedeutete dann ja wohl, dass es mir nicht gut ging.

„Nein“, brachte ich hervor und sogar bei diesem einfachen Wörtchen brach meine Stimme. Aber ich weinte nicht – wenigstens das schaffte ich.

Darauf folgte minutenlanges Schweigen. Woher ich wusste, dass es Minuten waren? Nun, ich wusste es nicht, aber Stunden wären schmerzhafter und quälender gewesen, für Sekunden hingegen atmete ich zu langsam.

„Was ist passiert?“, fragte ich schließlich. Ich wusste nicht genau, warum ich es eigentlich tat, aber ich wollte, dass dieses Schweigen endlich aufhörte.

„John und ich waren gerade ziemlich in Bedrängnis, da hab ich bemerkt, dass du nicht mehr allein warst. Ich schwöre dir, wenn ich es gekonnt hätte, wäre ich dir sofort zur Hilfe gekommen, aber ich musste selbst aufpassen, dass sie mich nicht erwischten...“

Ich schluckte laut. Ich war nicht mehr allein gewesen, da hatte er recht. Matt war bei mir gewesen – oder jemand, der aussah wie Matt.

„ER war es, stimmt’s?“ George hörte sich nun eher wütend an.

Erst jetzt öffnete ich meine Augen – was allerdings keinen großartigen Unterschied machte. Um mich herum blieb es nach wie vor dunkel.

„Nein, ER ist fort…“ Ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete.

„Das glaube ich nicht. Er ist… besessen – genau wie du!“, versuchte George mich zu beruhigen, aber der Versuch scheiterte kläglich. Bei mir trafen seine Worte nur auf eine kahle, dunkle Wand hinter der sich meine Seele verkrochen hatte.

„Dann ist es genau wie ich gesagt habe…“, fing ich an, doch er unterbrach mich.

„Nein, hörst du mir überhaupt zu? Er ist wie DU. Weißt du nicht was das bedeutet?“ Er machte keine Pause um mich antworten zu lassen. „Wir können ihn auf dieselbe Art und Weise retten wie dich. Wir müssen nur…“

„…den Dämonenfürsten töten? Ach komm schon, George! Merkst du nicht, was hier gerade abgeht?“ Langsam wurde ich wütend, ohne überhaupt zu wissen, gegen wen sich diese Wut richtete. „Wir sind gefangen. John ist vielleicht sogar tot!“

Ein Schnauben ließ mich zusammenzucken.

„Tot also? Na dafür fühle ich mich ja noch ganz schön lebendig!“ Mir klappte der Mund auf. John war auch hier? Aber wo war hier? Und was geschah jetzt mit uns?

Warum hatte man uns nicht gleich getötet sondern erst irgendwo festgebunden?

„John, bist du verletzt?“, flüsterte George, doch die Felswände um uns verstärkten jedes seiner Worte.

„Nein, ich glaube ich bin noch relativ ganz, danke der Nachfrage!“ Ein Rascheln war zu hören, dann wurde es wieder ganz still. „Wie geht es dir, Nici? Ich habe gesehen, dass er dich ganz schön fertig gemacht hat…“, wollte John nach ein paar Sekunden wissen.

Ich versuchte durch meine Nase zu atmen, aber es ging nicht – er hatte sie mir also wirklich gebrochen, toll!

„Scheiße“, flüsterte ich, wohl wissend, dass er es gehört hatte. „Ich glaube mein Schlüsselbein ist gebrochen… und meine Nase. Vielleicht auch mehr…“ Um meine Worte zu unterstreichen versuchte ich erneut Luft durch meine ramponierte Nase zu saugen – es war hoffnungslos!

„Ich habe es gesehen. Es war furchtbar.“

„Es hat sich auch furchtbar angefühlt.“ Danach folgte wieder Schweigen.

Ich wusste nicht, wann man uns töten würde. Ich wusste auch nicht auf welche Art und Weise. Wenn ich ganz ehrlich war, war es mir auch herzlich egal.

Dieser Fürst hatte höchstwahrscheinlich schon Matt getötet – jetzt, wo er ihn nicht mehr wirklich brauchte – und wir waren die Nächsten.

Es war nur noch eine Frage der Zeit, aber eins war mir jetzt schon klar: wenn ich schon gehen musste, würde ich es mit Würde tun. Ich ließ mich nicht brechen.

 

20. Kapitel

 

Ich glaubte, dass Stunden vergingen. Wahrscheinlich hatte ich damit auch gar nicht mal so unrecht.

Meine Kehle trocknete zusehends aus und ich fühlte mich, als hätte ich jahrelang nichts mehr getrunken. Alles hätte ich gegeben für einen kleinen Schluck Wasser!

Aber so wie ich mich, inzwischen, kannte, war es gar nicht Wasser, das mein Körper wollte – ihm dürstete es nach einer frischen Seele!

So musste ich also die Zähne zusammen beißen. Vor langer Zeit hatte ich mir selbst versprochen, dass ich niemandem mehr wehtun würde – damit meinte ich, niemandem mehr die Seele zu rauben.

Nur war es nicht einmal so einfach dieses Versprechen zu halten, wenn man sich unterbewusst danach verzerrte.

Da war ich ausnahmsweise sogar froh, dass ich festgebunden war – sonst wäre ich noch eine Gefahr für die beiden Jäger geworden.

Schon seit längerem herrschte jetzt Stille zwischen uns, aber ich wollte sie auch nicht brechen. Vielleicht schlossen sie gerade mit ihrem Leben ab – so wie ich es zuvor schon getan hatte.

Wellen des Schmerzes überrollten mich immer wieder, aber in der Zwischenzeit hatte ich ganz gut gelernt sie zu ignorieren. So gut ich eben konnte.

Mit zusammengebissenen Zähnen stand ich da, an irgendeine Art von Säule oder etwas Ähnliches gefesselt. Es war nicht gerade bequem, das musste ich zugeben, aber bald war es sowieso egal.

Nach einiger Zeit wurde mein Kopf schwerer – oder meine Kraft nahm einfach ab – und ich ließ ihn hängen. Schlimmer konnte es ja sowieso nicht mehr kommen!

„Nici?“ Es war John, der das Wort an mich richtete.

„Ja?“ Wieder war meine Stimme kratzig und hörte sich auch ganz danach an.

„Wie geht es dir?“ Ich hörte, wie er sich gegen das Seil stemmte, das ihn genauso festhielt wie mich. Er schaffte es nicht, es zu lockern oder gar zu lösen.

Ich knirschte mit den Zähnen. Natürlich war überhaupt nichts okay, aber wenn ich ihm das sagte, dann würde er sich vielleicht Sorgen machen, oder Vorwürfe, weil er mich überhaupt mitgenommen hatte. Ich musste ihn also einfach anlügen – ganz einfach…

„Jaa… es geht. Ich denke ich werde wieder fit…“ Mir war klar, dass meine Wunden wahrscheinlich nie wieder heilen würden – die Wunden toter Menschen heilten für bekanntlich nicht.

Ich hörte ein Seufzen aus seiner Richtung. „Du bist eine miserable Lügnerin, Nicole“, meinte er schließlich nur und beendete so unser Gespräch.

Wieder verging viel Zeit. Mir war gar nicht klar, wie viel. Weder von John, noch von George kam ein weiteres Wort. Ich vermutete, dass George eingenickt war… vielleicht war er aber auch bewusstlos geworden – ich wusste ja nicht, wie schwer verletzt er war.

Irgendwann war es dann soweit und auch ich fiel in einen unruhigen, leichten Schlaf aus dem mich selbst das kleinste Geräusch geweckt hätte.

 

Ein Knall ertönte. Ich zuckte zusammen und riss gleichzeitig meinen Kopf in die Höhe, so dass mein Genick laut knackte, was wiederum dazu führte, dass sich mein gebrochenes Schlüsselbein meldete. Auch meine Augen waren mit einem Mal weit geöffnet und Licht blendete mich.

Was war jetzt schon wieder los?!

Ich befand mich in einer kleineren Höhle. Die Decke war nicht besonders hoch, aber ich würde ohne weiteres stehen können. Die Wände waren zackig, fast als wären sie ausgefranst. Als hätte ein wildes Tier seine Klauen daran geschärft…

Mir lief ein Schauer über den Rücken. Wieder erfüllte dieses seltsame Licht den Raum und wieder konnte ich keine Quelle ausmachen. Es schwebte einfach… in der Luft.

Blinzelnd sah ich mich weiter um – und zuckte erschrocken zusammen.

Weiter hinten, an einer der Wände, lehnte ein Schatten. Ich konnte nur die Umrisse erkennen, aber das reichte um zu wissen, dass diese Person ein Mensch war – zumindest betete ich, dass es ein Mensch war!

Ein Lachen durchschnitt die Stille. Ich hörte, dass einer der Jäger – vermutlich war er noch geschlafen – zusammenzuckte weil seine Kleidung raschelte.

Widerwillig und vorsichtig – um nicht noch mehr Schmerzen herauf zu beschwören – drehte ich mich zu George um. Obwohl er anscheinend gerade erst aufgewacht war, schien er nun hellwach zu sein. Auch seine Augen waren weit aufgerissen und die Muskeln an seinem Kiefer waren zum Zerreißen gespannt.

Ich wollte etwas sagen, aber die Angst, die er ausstrahlte, schwappte wie eine eiskalte Welle zu mir herüber und lähmte mich.

Zitternd schaffte ich es gerade so meinen Blick wieder nach vorne zu richten… und zuckte im nächsten Moment auch schon wieder zusammen.

Zwei dunkle Augen schienen vor mir in der Luft zu schweben. Die Regenbogenhaut war violett und hatte einen leichten Rotstich. Und sie waren sehr nahe – viel zu nahe!

Aus einem Reflex heraus hielt ich den Atem an und presste mich so fest wie möglich gegen die Säule hinter mir. Dabei drehte ich meinen Kopf soweit zur Seite wie ich nur konnte. Dies führte allerdings dazu, dass sich wieder ein stechender Schmerz von meinem Schlüsselbein ausgehend ausbreitete und auf meinen ganzen Körper verteilte. Zischend stieß ich den letzten Rest Sauerstoff durch meine Zähne aus.

„Nicole.“ Diese Stimme war wie Samt und Eis. Weich aber dennoch schneidend wie ein Messer.

Im Augenwinkel konnte ich sehen, dass zu den Augen auch ein Mund mit perfekten, vollen Lippen gehörte, genauso wie eine lange, gerade Nase und die hellviolette Haut, die sich über die markanten Wangenknochen spannte.

Gerade noch hatte ich die Luft angehalten – jetzt drohte ich zu hyperventilieren. Wer war das? WER war das?

Ich presste meine Lippen so fest ich konnte aufeinander um jegliche Art von Worten, die uns vielleicht noch tiefer in diese Scheiße reiten könnten, zu unterdrücken. Denn schon jetzt, obwohl ich noch nicht einmal den Namen dieses seltsamen, Furcht einflößenden Fremden kannte, glaubte ich zu wissen wer er war.

Angst strömte aus seiner Richtung auf mich zu und ein Schauer nach dem anderen jagte meinen geschundenen Körper entlang.

Er war es. ER, der Dämonenfürst.

Ich stieß verächtlich die Luft durch zusammengebissene Zähne hinaus und warf ihm einen tödlichen Blick zu – naja, er wäre tödlich gewesen, wenn Blicke töten könnten.

So erntete ich allerdings nur ein hämisches, schadenfrohes Grinsen.

„Ach, Nicole.Wann bist du nur so… zickig geworden? Da lässt man dich einmal für ein paar Momente aus den Augen und zack! Du bist schon eine ganz andere.“ Der Fürst richtete sich nun zu seiner vollen Größe auf und ich musste meinen Kopf in den Nacken legen, um ihm überhaupt noch ins Gesicht sehen zu können.

Neben mir ertönte nun ebenfalls ein wütendes Zischen, aber ich wusste nicht aus welcher Richtung es kam – ich war gerade auf etwas ganz anderes konzentriert.

„Wer bist du?“, presste ich überflüssiger Weise hervor. Es war eigentlich mehr als unnötig diese Frage zu stellen, aber ich musste es hören um es ein für alle Mal zu begreifen.

„Oh, du kannst mich ja gar nicht kennen. Ich habe mich dir nie vorgestellt, wie unhöflich von mir!“, meinte er und senkte seinen Oberkörper in eine elegante Verbeugung. Und oh ja! Elegant konnte man in diesem Fall wörtlich nehmen. Ich hatte noch niemals jemanden gesehen, der sich so fließend bewegen konnte.

„Und?“, hakte ich nach. Langsam riss mir der Geduldsfaden – und das, obwohl ich ganz und gar nicht in der Position war um freche Fragen zu stellen.

Ein breites, bösartiges Grinsen schlich sich in seine Züge und verzerrte sie so zu einer hässlichen Grimasse. „Mein Name ist Maor.“

Darauf folgte Schweigen.

Weder ich, noch die Jäger wagten es auch nur einen Ton von uns zu geben, aber ich wusste, dass die beiden, genau wie ich gerade, den Dämonenfürsten anstarrten als käme er von einem anderen Planeten – und vielleicht hatten wir damit sogar recht, so genau konnte das ja keiner wissen.

„Und nun, entschuldige meine barsche Art dich und….“, er warf einen hasserfüllten Blick in Johns Richtung, „deine Freunde hier fest zu halten, aber hättet ihr euch nicht so verbissen gewehrt, wäre so einiges nicht nötig gewesen.“ Nun machte er auch noch uns dafür verantwortlich, dass wir hier festsaßen – mehr oder weniger noch in einem Stück.

Ich spürte wie die Wut in mir aufschäumte als wäre sie von einer chemischen Reaktion ausgelöst worden. Der Dämon in mir regte sich wieder und zum ersten Mal seit so langer Zeit nahm mein Sichtfeld wieder diesen blauen Stich an.

„Geh mir aus den Augen!“, brüllte ich schon fast und warf mich gegen meine Fesseln – den Schmerz, der dabei erneut durch meinen Körper schoss ignorierte ich gekonnt.

„Aber, aber! Wir sind doch alle erwachsene, gesittete Menschen, nicht wahr?“ Maor reizte mich – und zwar wortwörtlich - bis aufs Blut! Hätte ich es gekonnt, hätte ich ihm mit größter Freude den Kopf abgerissen und ihn in die nächstbeste Felsspalte geschleudert.

„Was erlaubst du dir eigentlich!“ Wieder warf ich mich gegen das dicke Seil und wieder führte es zu rein gar nichts.

Maor schien meine verzweifelten Versuche mich zu befreien sichtlich zu genießen, denn wieder erschien dieses schadenfrohe Grinsen auf seinem Gesicht – für das ich ihm übrigens nur allzu gerne jedes seiner Gliedmaßen einzeln vom Körper abgetrennt hätte.

Als wäre es das selbstverständlichste auf der Welt, erschien plötzlich ein niedriger, schwarzer Metallhocker hinter ihm und er stellte ihn gerade so weit von mir entfernt hin, dass ich ihn nicht mit meinen Beinen, die im übrigen nicht gefesselt waren, erreichen konnte.

Vor Selbstsicherheit nur so strotzend ließ er sich darauf nieder und blickte zu mir auf als wäre er ein unschuldiger Schuljunge – aber ich wusste, dass er das nicht war!

Mit aller Kraft kämpfte ich gegen den Drang an ihm einfach ins Gesicht zu spucken. Wahrscheinlich tat ich es auch deshalb nicht, weil ich nicht wollte, dass er John oder George etwas antat… oder Matt, falls es ihn noch irgendwo gab.

„Lass uns ein bisschen plaudern, Nicole. Ich habe schon so lange nichts mehr von dir gehört“, plauderte Maor einfach drauf los und schien meinen zornigen Gesichtsausdruck dabei einfach zu übersehen.

„Was soll das alles?“, fauchte ich. Meine Hände formten sich zu Fäusten und ich konzentrierte mich darauf, mich nicht wieder von meinen Fesseln lösen zu wollen.

„Ach, das ist eine so lange Geschichte, weißt du…“

„Ich habe Zeit!“, knurrte ich dazwischen. Wenn er glaubte, dass er solche Spielchen mit mir treiben konnte, dann sollte er sie haben – aber ich würde nach meinen eigenen Regeln spielen!

„Na schön, ganz wie du meinst.“ Nun schien er doch etwas aus dem Konzept gebracht und hätte ich nicht in dieser misslichen Lage festgesessen, hätte ich mir ein Lachen wohl kaum verkneifen können – aber die Situation war nun einmal eine andere.

Überraschend hob er eine seiner schimmernden Hände und führte sie in einem Bogen vor sich durch die Luft – es sah so aus, als würde er mit der Handfläche einen Spiegel sauber wischen wollen.

Sofort war ich von Angst erfüllt. Mein ganzer Körper fing an zu beben und zu zittern. Aber es war nicht die Angst um mich selbst. Ich hatte Angst, dass er George oder John etwas angetan haben könnte.

„Keine Sorge, ihnen geht es gut. Sie können uns nun aber nicht mehr hören… oder sehen – genauso wenig wie wir sie“, hörte ich ihn mit einem, schon etwas weniger nervigen Grinsen, wispern.

Prüfend drehte ich meinen Kopf so weit wie möglich zur Seite um nachzusehen, ob er mich nicht anlog. Der Schmerz in meinem Schlüsselbein ließ mich kurz zusammen zucken, aber ich ließ mir nichts weiter anmerken – und jetzt, wo dieses Monster vor mir saß, schon gar nicht! Stattdessen versuchte ich krampfhaft John oder George im Augenwinkel auszumachen, aber es war zwecklos.

„Ich sagte doch schon, dass du sie nicht sehen kannst“, sagte Maor mit einem triumphierenden – und gleichzeitig teuflischen – Lächeln, als ich mich wieder in seine Richtung drehte.

Ich stieß nur genervt die Luft durch meine Nase hinaus. Oder versuchte es zumindest, denn meine Nase war, so wie es aussah, ein Totalschaden. Den Chirurgen, der die wieder geradebiegen konnte, wollte ich sehen!

„Also, du wolltest wissen was ich von dir will, wenn ich mich recht entsinne. Oder täusche ich mich da?“

„Nein. Sag mir was hier los ist – sofort!“

Es sah fast so aus, als würde er die Augen verdrehen, aber wahrscheinlich hatte ich mir das nur eingebildet. Jetzt, wo ich ihn mir genauer ansah – was ich ja schon fast musste, weil er ja direkt vor mir saß – kam er mir überhaupt nicht so abgrundtief böse vor, wie er eigentlich war. Und er wirkte auch kein bisschen wie ein Fürst, zumindest stellte ich mir einen dämonischen Adligen etwas anders vor.

„Na gut“, fing er an, holte dann tief Luft und spießte mich förmlich mit einem Blick aus seinen extrem dunklen Augen auf. „Kannst du dich an mich erinnern?“

Ich überlegte einen Moment, kam aber schließlich zu dem Schluss sein Gesicht noch nie in meinem Leben gesehen zu haben – bist jetzt. Also schüttelte ich den Kopf.

„Schön, dann muss ich eben ganz von vorne beginnen.“ Und erneut wirkte er genervt. Ich fragte mich, warum er überhaupt hier aufgetaucht war um mich mit seiner Anwesenheit zu quälen, wenn er es sowieso nicht wollte.

In diesem Moment musste ich mich noch mehr anstrengen, ihm nicht einfach meine Meinung zu seiner Person zu sagen – und die hätte ihm ganz, ganz sicher nicht gefallen.

Stattdessen konzentrierte ich mich auf sein Gesicht und versuchte darin irgendein Anzeichen von Unsicherheit zu erkennen. Aber ich konnte in diesem Augenblick ja noch nicht einmal eine Emotion erkennen.

„Du wurdest mit einem schweren Herzfehler geboren. Die Ärzte gaben dir höchstens zwei Jahre…“ Er hielt kurz inne um mir in die Augen zu sehen, aber ich senkte den Blick. Ich würde ihm kein einziges Wort glauben, das er sagte – er log doch sowieso wie gedruckt, immerhin war er bösartig.

„Deine Eltern waren natürlich vollkommen am Ende, also bot ich ihnen meine Hilfe an.“ Bei diesen Worten wirkte er mehr als nur stolz auf sich und sein Grinsen wurde noch breiter.

„Warum?“ Meine Stimme drohte zu brechen, und das wusste ich auch. Er hatte einen wunden Punkt angesprochen – meine Eltern.

„Ich brauchte eine Gefährtin, jemanden, mit dem ich sprechen konnte. Jemanden, der mich lieben würde weil er genauso war wie ich.“ Seine Augen funkelten teuflisch und ich konnte nicht anders als den Klos, der sich gerade in meinem Hals bildete, geräuschvoll hinunter zu schlucken.

„Das ist doch nicht dein ernst!“, fuhr ich ihn an, nachdem ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte. Er konnte mir doch nicht ernsthaft weißmachen wollen, dass ich schwer krank zur Welt gekommen war und er mich, im Austausch für mein Leben, als seine Partnerin auserkoren hatte. Diesen Witz fand ich alles andere als zum Lachen.

„Eigentlich ist das mein voller ernst. Oder glaubst du ich würde dich belügen?“

Als Antwort brachte ich nur ein wütendes Schnauben heraus. Die eigentliche Frage war ja wohl eher: Warum sollte er nicht? Immerhin hatte er mein gesamtes bisheriges Leben in die reinste Hölle verwandelt! Da hätten mich meine Eltern doch gleich sterben lassen sollen!

Wellen des Zornes, gemischt mit Wogen des Schmerzes überrollten mich und für einen Augenblick drohte ich ohnmächtig zu werden, so sehr übermannte mich ihre Wucht. Doch just in dem Moment, in dem sich mein Sichtfeld verdunkelte schien der Dämon in mir wieder nach vorne zu drängen. Erneut verstärkte sich der Blaustich meiner Umgebung und ließ den Dämonenfürst, Maor, nun nur noch bedrohlicher wirken.

„Warum sollten meine Eltern mir so etwas antun wollen?“, hakte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen nach. Ich sah einfach keinen Sinn dahinter. Niemals würde ich das Leben meines Kindes so verderben, auch dann nicht, wenn es keine andere Chance für es gab zu leben. Ich würde es lieber sterben lassen…

„Das sagte ich doch schon. Sie wollten, dass du lebst und dies war der Preis, den sie dafür gezahlt haben.“

„Aber dieses Leben habe ich nicht gewählt!“, bellte ich ihn an und presste mich so weit wie möglich von dem Felsen hinter mir weg. Ich hätte dieses Leben nie gewählt!

„Das ist mir klar…“ Maor runzelte die Stirn, fast so als würde er über etwas Wichtiges nachdenken. „Aber du warst noch zu jung um selbst zu entscheiden. Du solltest dich freuen, dass ich dir diese Ehre erwiesen habe“, meinte er nun, als wäre es das Edelste und Großartigste was man sich vorstellen konnte. Und diesmal konnte ich es nicht kontrollieren.

Ich spuckte aus, schaffte es aber wenigstens vorher noch meinen Kopf zur Seite zu drehen. Ihm direkt ins Gesicht zu spucken wäre ein zu großes Risiko für die Jäger gewesen. Jetzt wusste er aber wenigstens, was ich von ihm und seinem verfluchten Dämonenkram hielt.

„Ach, Nicole. Das war jetzt aber unnötig!“, murmelte er und klang dabei wie ein Vater, der seiner kleinen Tochter versucht zu erklären, dass sie den Nachbarsjungen nicht immer ärgern sollte.

„Ach ja?! Es war auch unnötig mich in eine Mörderin zu verwandeln! Ich habe DEINETWEGEN Kinder getötet, du Monster!“ Jetzt verlor ich vollkommen die Kontrolle über meine Stimme. Erst klang sie wie ein Kreischen, dann wurde sie zu einem Knurren, bis sie, bei den letzten Worten, nur noch ein bedrohliches Flüstern war.

„Glaub mir, das lag nicht in meiner Absicht. Ich wollte dir nie Schaden zufügen, immerhin brauchte ich dich noch.“

„Und du glaubst wirklich, dass ich dir das abkaufe? Für wie bescheuert hältst du mich eigentlich?!“ Wieder wurde ich lauter, doch diesmal fing, zusätzlich zu meiner Stimme, auch noch mein gesamter Körper an zu zittern. „Wenn du mir wirklich nicht schaden wolltest, warum bin ich dann in diesem Heim gelandet? Warum musste ich mein Geld in einem schäbigen Café verdienen und warum hast du es dann zugelassen, dass mich die Jäger erwischen? Erklär es mir denn anscheinend bin ich zu blöd um dir zu folgen!“

Maor sah schon fast bedrückt aus als ich ihm diese Worte entgegen schleuderte. Hätte ich nicht gewusst welches Monster wirklich unter seiner zartviolett schimmernden Haut verborgen war, hätte er mir vielleicht sogar leid getan. Vielleicht hätte ich meine Worte sogar zurück genommen. Aber ich wusste nun mal, wer und was er war. Ich wusste, was er mir in den letzten Jahren angetan hatte und was ich, seinetwegen, anderen Menschen angetan hatte.

Und das alles ließ mich vergessen, dass er sein eigentlich schönes Gesicht zu einer traurigen Grimasse verzog.

„Ich muss zugeben, dass einiges schief gelaufen ist.“

„Ach! Was du nicht sagst!“ Ich atmete schwer. Ich bemerkte, wie es mir immer schwerer fiel Luft zu holen. Etwas ging in mir vor, dass ich so noch nie gespürt hatte.

„Lass es mich dir bitte erklären!“, forderte er nach ein paar Sekunden des Schweigens, in denen nur meine flachen, aber lauten Atemzüge zu hören waren.

„Gut“, keuchte ich, nachdem ich ihn ein paar Herzschläge lang auf die Folter gespannt hatte. Diesen Hass, den ich ihm gegenüber empfand kann sich einfach niemand vorstellen – so unbändig und unbezähmbar!

„Ich habe deinen Eltern versprochen, dass ich dir das Leben schenke und deine Krankheit nehme. Im Gegenzug mussten sie mir versprechen, dass sie sich von dir fernhielten – und das konnten sie nur tun, indem sie dich in dieses Kinderheim steckten. Anfangs zog es sie immer wieder zu dir hin, aber nachdem ich ihnen einen sehr… überzeugenden Besuch abgestattet hatte, hielten sie sich an die Vereinbarung.“ Die Art wie er diese Worte sagte gefiel mir ganz und gar nicht.

„Wenn du meinen Eltern etwas getan hast dann Gnade dir…“, doch ich wurde unterbrochen noch bevor ich den Satz zu Ende gesprochen hatte.

„Deinen Eltern… habe ich nichts getan. Sie leben noch beide, auch wenn ich zugeben muss, dass dein Vater seit unserem Aufeinandertreffen nicht mehr ganz der… Alte ist.“ Maor fuhr sich mit seinen langen, dünnen Fingern durchs Haar. Er benahm sich, als würde er mit mir über das Wetter reden, nicht über das Schicksal meiner Mutter oder meines Vaters.

„Du…“ Wieder spürte ich dieses Knurren in meiner Kehle aufsteigen, aber ich schluckte es hinunter bevor es meinen Mund verlassen konnte. Ich musste die Wahrheit erfahren und wenn ich ihn noch öfter unterbrach würde er sie mir vielleicht nie erzählen. Also versuchte ich mich zu beruhigen – so gut ich eben konnte – und konzentrierte mich auf einen Punkt oberhalb seines Kopfes um ihm wenigstens nicht ins Gesicht sehen zu müssen.

„Auf jeden Fall ließen sie dich von diesem Zeitpunkt an in Frieden und näherten sich dir nicht noch einmal. Einen Tag nach deinem achtzehnten Geburtstag sandte ich einen meiner besten Dämonen los um dich abzuholen und zu mir zu bringen… aber du warst bereits gegangen.“ Traurig senkte er den Blick und legte die Stirn in Falten, als würde er sich ernsthaft über etwas den Kopf zerbrechen.

„Oh und es war natürlich eine vollkommen unlösbare Aufgabe mich aufzuspüren und dieses Massaker zu verhindern“, schnauzte ich ihn, entgegen meiner Vorsätze, an.

„Ja, das war es in der Tat. Stell dir doch nur vor wie lange es dauern würde eine einzelne Person in einem Gebiet dieser Größe wieder zu finden. Zumal ich ja nicht einmal mehr wusste wie du aussahst.“

Ich stieß die Luft zwischen den Zähnen hervor. Er wollte mir also einreden, dass er mich, seine angebliche Gefährtin für die Zukunft, einfach so aus den Augen verloren hatte? Das konnte er doch alles nicht ernst meinen!

Maor bemerkte meinen wütend-skeptischen Blick und machte eine beruhigende Handbewegung. Zumindest glaubte ich, dass sie beruhigend wirken sollte, denn auf mich hatte sie eine ganz andere Wirkung.

„Gut, ich gebe zu, dass ich viele Fehler gemacht habe, aber ich bitte dich um Verzeihung. Ich fand deine Spur erst wieder, als mir diese lästigen Dämonenjäger auf die Pelle rückten und ihre Unterkunft ohne großartige Verteidigung zurück ließen. Einer meiner Kämpfer nahm deine Witterung auf und berichtete mir, dass er dich bei ihnen gefunden habe. Du kannst dir vorstellen, dass ich von diesen Neuigkeiten nicht gerade angetan war.“

Tausend Bilder schossen durch meine Gedanken während er das sagte. Also war er auch daran schuld, dass Matt damals, beim Angriff auf die Basis so schwer verletzt worden war. Dann musste er jetzt doppelt bezahlen!

„Weißt du was?! Ich würde mir lieber eigenhändig eine Kugel in den Kopf jagen als dir jemals dafür zu verzeihen, was du mir angetan hast!“, fauchte ich ihn deshalb an und der Dämon in meinem Inneren steuerte ein ohrenbetäubendes Jaulen bei, dass selbst mich erzittern ließ.

Maor stand in aller Seelenruhe auf, ließ den Hocker, auf dem er bis vor einem Moment noch gesessen hatte, verschwinden und verschränkte die Arme vor der Brust um mich von oben bis unten zu begutachten – als wäre ich ein Tier im Zoo.

„Das nenne ich dann schade. Ich hätte dir jeden Wunsch erfüllt, wenn du nur bei mir geblieben wärst – als meine Frau…“ Mit einem nachdenklichen Blick drehte er mir den Rücken zu und ging davon.

Selbst als er schon längst aus meinem Sichtfeld verschwunden war, klapperten meine Zähne – aber nicht vor Angst, sondern vor Wut. Ich konnte mich kaum noch zurückhalten und wollte am liebsten all meinen Hass hinaus brüllen. Doch genau in dem Moment, in dem ich einatmete um endlich diese Last los zu werden, hörte ich jemanden rechts hinter mir meinen Namen rufen und zuckte vor Schreck zusammen.

„Nici! Wo warst du?“ George klang erleichtert und ich konnte es ihm noch nicht einmal übel nehmen immerhin hatte auch ich mir Sorgen um ihr Wohlbefinden gemacht.

Ich ignorierte seine Frage gekonnt und drehte mich stattdessen so gut es ging in Johns Richtung. „Er ist es, John. Maor ist der Dämonenfürst – ohne Zweifel!“, plapperte ich wild drauf los und ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Woher weißt du das? Woher kennst du seinen Namen? Hast du ihn schon einmal getroffen?“, hakte John in einem neutralen Tonfall nach. Ich merkte trotzdem, dass er es kaum erwarten konnte endlich Antworten zu haben – genau wie ich zuvor.

„Er hat es mir erzählt. Er hat mir alles erzählt, wirklich ALLES!“ Ich schüttelte mich leicht bei dem Gedanken, dass meine eigenen Eltern mein Leben so weggeworfen hatten. Dann erzählte ich den Jägern alles was ich wusste – bis ins kleinste Detail.

„Oh. Mein. Gott!“, kommentierte George tonlos, als ich endlich aufgehört hatte zu sprechen. Erst jetzt, im Nachhinein, wurde mir klar, was diese Geschichte für mich bedeutete – und was sie für meine Vergangenheit bedeutete.

Ich hatte immer geglaubt, dass mein Vater mich hasste. Dass meine Mutter Angst vor mir hatte. Dass sie mich deshalb nicht mehr bei sich haben wollten. Jetzt wusste ich, dass sie das alles nur getan hatten, um mir mein Leben zu schenken.

Ich war wütend auf sie gewesen als ich davon erfahren hatte, ja, aber woher sollten sie denn bitteschön wissen, was einmal aus mir werden würde? Das konnte niemand wissen!

Niedergeschlagen atmete ich aus und ließ den Kopf hängen, so dass mir meine Haare ins Gesicht fielen und mich so vor den Blicken der Jäger abschirmten.

Meine Eltern hatten mich nicht verabscheut, sie hatten mich geliebt. Und sie hatten aus reiner Liebe gehandelt, als sie sich von mir trennten.

Eine einzelne, stumme Träne kullerte meine Wange hinunter und hinterließ eine brennende, feuchte Spur auf meiner kühlen Haut. Ich wollte mein Gesicht in meinen Händen verbergen und mich dafür schämen, dass ich sie so lange für etwas verurteilt hatte, was mir das Leben gerettet hatte, aber ich konnte nicht. Ich war nach wie vor gefesselt.

„Nici, es tut mir leid. Alles hier, wirklich…“, versuchte George mich anzusprechen, aber ich blockte ab bevor er richtig anfangen konnte. Ich wollte jetzt nicht darüber reden – ich konnte es auch gar nicht. Alles was ich wusste war, dass es für mich, George und John keinen Ausweg mehr aus dieser Höhle gab. Wir würden das Tageslicht nie mehr wieder sehen.

Oder?

 

21. Kapitel

 

Nachdem George nun schon zum dritten Mal versuchte, mich auf meine Vergangenheit und meine Familie anzusprechen, schritt endlich John ein und forderte ihn in bester Anführermanier auf die Klappe zu halten. Und ich war mehr als dankbar dafür.

Wenigstens musste ich mir bald keine Gedanken mehr darüber machen, ob ich meine Eltern wohl noch erkennen würde, wenn ich sie irgendwann zufällig treffen würde.

Erstens lautete die Antwort mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit nein.

Zweitens formte sich langsam aber sicher ein grober Plan in der hintersten Ecke meines Kopfes.

Ich hatte John und George alles erzählt, was Maor mir gebeichtet hatte. Fast alles!

Dass er mich auch jetzt, nach so vielen Jahren, noch zu seiner Gefährtin haben wollte, hatte ich unbewusst zurückgehalten. Und jetzt stellte sich heraus, dass das auch gut so war.

Denn einige Worte des Dämonenfürsten wollten mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen.

‚Ich hätte dir jeden Wunsch erfüllt, wenn du nur bei mir geblieben wärst‘, hatte er gesagt. Meinte er es auch so? Oder waren es etwa nur leere Worte, wie ich sie von jemandem wie ihm erwarten würde?

Ich wusste selbst noch nicht genau, wohin mich meine verwirrenden Gedankengänge führen würden, aber ich wusste, dass sie, zumindest für John und George, die Freiheit und das Leben bedeuten könnten – wenn ich es nur richtig anstellte.

„Täusche ich mich, oder geht gerade wirklich das Licht aus?“, fragte George und klang dabei wenig begeistert.

Vorsichtiger diesmal, denn meine Schmerzen waren keineswegs verschwunden, auch wenn ich sie verdrängt hatte, hob ich meinen Kopf und schaute mich um. Er hatte recht!

Verdammt! Maor wollte uns im Dunkeln sitzen lassen – mitten unter seinen Dämonen!

Ich wusste nicht welche Auswirkungen genau das haben könnte, aber ich erinnerte mich noch zu gut an die Dunkelheit die nach mir gegriffen hatte bevor ich die große Höhle erreicht hatte, in der bereits der Kampf getobt hatte. Dieses Gefühl wollte ich nicht noch einmal erleben.

„Maor! Maor!“, schrie ich aus Leibeskräften und immer wieder.

„Nici! Bist du verrückt geworden?! Halt‘ die Klappe!“, forderte mich John aus seiner Ecke auf. Etwas wie Panik schwang in seiner Stimme mit. Ich wusste, dass er mich jetzt wahrscheinlich für übergeschnappt hielt. Sollte er doch! Was hatte ICH noch großartig zu verlieren?

„Maor! Komm sofort her!“

„John, ich glaube sie dreht durch!“, rief George seinem Kollegen über mein Geschrei hinweg zu. Ich konnte mir seinen Gesichtsausdruck lebhaft vorstellen.

Einige Minuten brüllte ich mir umsonst die Seele aus dem Leib, doch dann geschah tatsächlich etwas. Ungefähr drei Meter vor mir erschien ein Nebelschleier, der sich verdichtete, bis ich nicht mehr durch ihn hindurch sehen konnte. Ich erkannte den leichten, violetten Schimmer von Maors Haut zwischen den Nebelschwaden, noch bevor er daraus hervor trat.

„Was ist?“ Okay, diesmal bildete ich mir definitiv nicht nur ein, dass er genervt war – er war es nämlich wirklich!

„Was soll das?!“, fuhr ich ihn an ohne dazwischen Luft zu holen. In meiner Rage hatte ich es wohl einfach vergessen. Der hellblaue Schleier, der über meinem Sichtfeld lag flammte auf und tauchte nun die gesamte Höhle mit allem, was darin war, in ein dunkleres Kobaltblau.

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“ Bei diesen Worten zog er eine Augenbraue gekonnt nach oben. Er wollte mich für blöd verkaufen, das war mir sofort klar, aber ich würde mir das nicht gefallen lassen. Denn eines war mir klar geworden, während ich über Maors Worte nachgedacht hatte: er brauchte mich. Er wollte mich nicht aufgeben – um keinen Preis. Und er würde mich nicht töten. Ich wusste, dass das bei den Jägern schon ganz anders aussah, aber wenn er das, was er gesagt hatte, ernst meinte, würde ich wenigstens sie retten können.

„Wir müssen reden“, schnauzte ich und verengte meine Augen zu Schlitzen. Langsam aber sicher fing diese „Dämonensichtweise“ an mir gehörig auf die Nerven zu gehen – und das war kein gutes Zeichen.

„Gut, reden wir.“ Wieder erschien der Hocker hinter Maor und er ließ sich, nicht viel weniger elegant als er zuvor davon aufgestanden war, darauf fallen.

„Nur WIR“, hängte ich noch leiser an, als er keine Anstalten machte, die Jäger auszublenden. Bei aller Freundschaft, aber wenn ich meinen Plan wirklich in die Tat umsetzten wollte – na gut, wollen war vielleicht das falsche Wort dafür – konnte ich keinen der beiden brauchen, der mir ständig dazwischen redete und versuchte mich von meinem Vorhaben abzubringen.

Schnaubend erfüllte Maor meinen Wunsch, denn Bitte war es eindeutig keine, hob seine Hand und führte sie wieder in einem Bogen vor sich durch die Luft.

„Gut, wir sind alleine, was willst du?“ Er klang verletzt, oder bildete ich mir das etwa nur ein? Nein, es hörte sich echt an.

„Du sagtest, dass du willst, dass ich bei dir bleibe, richtig?“, hakte ich zur Sicherheit noch einmal nach. Ich wollte nicht in irgendeine Falle laufen und so Johns und Georges Leben frühzeitig beenden.

„Exakt. Und?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und schaute zu mir auf als würde ihn all das nichts angehen. Dabei war ich gerade dabei seinen Vorstellungen nachzukommen – so sehr ich auch dagegen war.

„Und du sagtest auch, dass du mir jeden Wunsch erfüllen würdest, wenn ich nur bei dir bleibe. Stimmt das?“ Ich fühlte mich siegessicher. Egal was ich von ihm verlangen würde, er würde es tun um mich bei sich behalten zu können.

„Ja. Könntest du bitte etwas konkreter werden, immerhin habe ich nicht die ganze Nacht Zeit“, meinte er in einem gelangweilten und eher müden Tonfall.

„Gut, ich möchte dir einen Vorschlag unterbreiten.“ Ich schluckte geräuschvoll bevor ich weiter sprach. „Immer noch keine Zeit?“ Ich zog herausfordernd beide Augenbrauen hoch und versuchte so arrogant und selbstsicher zu wirken wie ich konnte. Maor sollte schließlich nicht denken, dass er mich so einfach mundtot machen konnte.

Und der Dämonenfürst wirkte tatsächlich interessiert – wenn nicht noch mehr als das. Seine dunklen Augen schienen förmlich Funken zu sprühen und auch seine Körperhaltung veränderte sich von einem Herzschlag auf den nächsten. Er wirkte nicht mehr halb so erschöpft wie vor einem Augenblick noch.

„Ich höre.“

Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich die Luft angehalten hatte. Erst jetzt atmete ich erleichtert ein. Der erste Schritt zur Befreiung der Dämonenjäger war getan – nun musste er nur noch zustimmen.

„Gut. Ich habe mich entschieden.“ Ich ließ eine bedeutungsvolle Pause entstehen, bevor ich weiter machte. „Und ich werde bei dir bleiben.“

Jetzt war es um Maors Selbstbeherrschung wohl endgültig geschehen. In einer einzigen, flüssigen Bewegung stand er auf und war nun direkt vor mir. Wenn ich nicht gefesselt gewesen wäre, hätte ich nur meinen Arm ausstrecken müssen um ihn zu berühren – aber das wollte ich eigentlich gar nicht.

„Das ist großartig.“ Ich konnte ganz genau sehen, wie er versuchte seinen Gesichtsausdruck neutral zu halten, aber seine Mundwinkel wanderten immer wieder entschlossen nach oben, egal wie oft er sie zurück drängte.

„Du solltest dich nicht zu früh freuen, ich habe Bedingungen.“ Mit einem hämischen Grinsen im Gesicht, das ich mir selbst nie zugetraut hätte, schaute ich zu ihm auf und konnte zusehen wie der violette Schimmer von seiner Haut zu verschwinden schien. Die Freude war genauso schnell verloschen wie sie gekommen war.

„Die wären?“, presste er zwischen halb geschlossenen Lippen hervor und nun war er es, der seine Augen zu gefährlichen, beinahe tödlichen Schlitzen verengte.

Ich hatte sie mir zwar lange genug zu recht gelegt, aber jetzt wo ich meine Worte brauchte, konnte ich sie einfach nicht mehr finden. Es war fast so, als hätte ich vergessen wie man spricht. Oder als wollte etwas in mir verhindern, dass ich es noch wusste…

Nach viel zu langen Sekunden wusste ich endlich wieder ungefähr was ich sagen wollte. Ich durfte nicht mehr warten, sonst würde ich es schlimmsten Falls noch einmal vergessen.

„Ich will, dass du John und George gehen lässt. Du wirst sie nicht verfolgen oder ihnen jemanden hinterher schicken. Und du wirst ihnen kein Haar mehr krümmen, klar?“ Ich legte so viel Provokation in meine Worte, wie ich in meinem Inneren zusammenkratzen konnte – und das war bei Gott nicht so viel wie ich wollte!

Maor knurrte. Wütend trat er gegen den Hocker, der hinter ihm stand und beförderte ihn so ans andere Ende der Höhle. Der Knall, der dabei entstand, ließ mich zusammen zucken.

„Du schwörst, dass du bei mir bleibst!“, forderte Maor, ohne mir in die Augen zu sehen. Stattdessen tigerte er, wie ein wildes, aufgestacheltes Tier, vor mir auf und ab, die Hände in seinen Haaren vergraben.

Ich nickte. Sagen konnte ich es nicht. Ich wollte ja noch nicht einmal daran denken! Tränen stahlen sich in meine Augen und trübten meinen Blick.

„Morgen. Bleib bei deiner Entscheidung und ich werde die beiden gehen lassen.“ Nun blieb er vor mir stehen, so nahe, dass ich seinen Atem auf meiner Wange spürte. Ich wollte nicht nachgeben, also kämpfte ich verbissen dagegen an, meinen Kopf zur Seite zu drehen und so etwas mehr Platz zwischen mich und ihn zu bringen.

„Wenn du aber lügen solltest, schwöre ich dir, dass ich sie qualvoll sterben lasse – und du wirst dabei zusehen!“ Ein Knall ertönte. Ich schloss vor Schreck die Augen.

Als ich sie wieder öffnete war Maor verschwunden. Nur ein leichter Nebelschleier hing vor mir in der Luft.

Der Blaustich in meinem Blickfeld nahm etwas ab, gerade so, dass man es wieder normal nennen konnte.

„Nici! Er hat uns schon wieder von dir abgeschirmt!“ John schien wirklich aufgebracht zu sein. Gleichzeitig hörte ich die Sorge in seiner Stimme. Ich wollte ihn nicht anlügen, aber ich konnte ihm auch nicht sagen, dass ich meine Freiheit gegen ihre eingetauscht hatte. Das würde weder er noch George zulassen.

„Ich weiß. Ich wollte es so“, flüsterte ich tonlos und drehte mich nicht zu ihm um.

Maor hatte mich dermaßen abgelenkt, dass ich nicht einmal mitbekommen hatte, dass wieder etwas Blut aus meiner gebrochenen Nase tropfte und über meine fest aufeinander gepressten Lippen floss.

„Hast du gerade etwas gesagt?“, fragte John, aber ich wusste jetzt schon, dass ich meine Worte nicht noch einmal wiederholen würde, also schüttelte ich einfach meinen Kopf.

Immer mehr Blut ran nun aus meiner Nase. Ich spürte, dass sich alles in meinem Schädel anfing zu drehen. Gleichzeitig schien ich den Boden unter meinen Füßen zu verlieren und stürzte in einen dunklen Abgrund. Einen bodenlosen, schwarzen Abgrund…

 

Ich spürte etwas an meiner Stirn. Gleich an drei Stellen schien etwas gegen sie zu pressen. Langsam kehrten meine Gedanken wieder in meinen Kopf zurück.

Als erstes erinnerte ich mich daran, mit Maor verhandelt zu haben. Ich wusste auch wieder, dass es mir gelungen die Jäger frei zu handeln. Danach kehrte die Erinnerung nicht zurück.

Mein Schädel dröhnte wie wild, als ich versuchte meine Augen zu öffnen. Ein heller Lichtstreifen blendete mich daraufhin, der größer oder kleiner wurde, je nachdem wie weit ich meine Lider hob oder senkte. Es schien unendlich lange zu dauern, bis es mir endlich gelang sie ganz zu öffnen, aber sehen konnte ich deshalb trotzdem nichts. Es war einfach zu hell hier.

Was mich zu meinem nächsten Gedanken führte: wo war ich überhaupt?

Eines war mir sofort klar, nämlich, dass ich mich nicht mehr in diesem Raum befand, in dem ich gewesen war bevor ich das Bewusstsein verloren hatte. Wie ich darauf kam?

Erstens roch es hier vollkommen anders. In der kleinen Höhle von vorhin hatten Staub und Trockenheit die Luft erfüllt – soweit ich das durch meine zerstörte Nase hatte erraten können.

Hier roch es eindeutig nach Schimmel und Feuchtigkeit und zwar so stark, dass ich ausnahmsweise dankbar dafür war, dass Matt mich so zugerichtet hatte. Aus reinem Reflex heraus hielt ich mir die Hand vors Gesicht um diesen Gestank von mir fern zu halten.

Moment! Ich war nicht mehr gefesselt?! Aber wie? Warum?

Für meinen Geschmack viel zu langsam gewöhnten sich meine Augen an das Licht und so verging einiges an Zeit, bis ich endlich etwas erkennen konnte – oder zumindest die groben Umrisse erahnen konnte.

Ich saß halb gegen etwas sehr Weiches gelehnt da und versank praktisch darin. Meine Beine waren vor mir ausgestreckt, steckten aber nicht mehr in dem schwarzen Anzug – sie waren bis zu den Knien nackt!

Mein Blick wanderte weiter und fand schließlich Maor, der eine Armlänge von mir entfernt saß – auf dieser merkwürdigen Unterlage, auf der ich mich gerade befand.

Vor Schreck zuckte ich leicht zusammen und der Druck auf meiner Stirn ließ nach.

„Was hast du mit mir gemacht?“, flüsterte ich, der Panik nahe.

„Ich habe dir nichts getan, falls du das wissen willst. Ich bin gerade dabei dich zu heilen und ehrlich gesagt würde ich jetzt gerne weiter machen“, sagte er fast schon ein wenig gelangweilt. Kaum hatten diese Worte seinen Mund verlassen kehrte der Druck wieder zurück und ich schüttelte den Kopf um ihn wieder los zu werden – vergebens.

„Hör sofort auf damit! Ich will nicht geheilt werden – und von dir schon gar nicht!“, fauchte ich und zog meine Beine so nahe an meinen Körper heran wie ich konnte. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich so etwas wie ein Kleid trug. Es hatte eine eigentlich sehr schöne Farbe: mitternachtsblau mit einzelnen eingearbeiteten Silberfäden. Wahrscheinlich hatte es ein kleines Vermögen gekostet, das heißt, falls er es gekauft hatte, was ich allerdings stark bezweifelte.

„Jetzt sei doch nicht so dickköpfig. Siehst du nicht, dass ich dir nur helfen möchte?“ Wieder einmal legte er die Stirn in Falten. Wahrscheinlich wusste er ganz genau, dass er mit diesem Blick aussah wie ein unschuldiges Lamm. Nur blöd für ihn, dass ich wusste, was er war – und wer er war. Und ich wusste immer noch zu gut wozu er fähig war.

„Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du Matt auf mich gehetzt hast!“, knurrte ich, legte meine Arme um meine Knie und machte mich so selbst zu einer Kugel. Matt! Ich hatte ihn ganz vergessen!

Aber wie konnte ich IHN nur vergessen?! Mir traten wieder Tränen in die Augen. Was hatte Maor ihm nur angetan. Was hatte er mir nur angetan.

„Wo ist er?“, flüsterte ich und starrte den Fürsten aus geröteten Augen an.

„Wo ist wer?“ Maors Stimme klang unwissend, aber ich hatte bemerkt, wie sich sein Körper bei meiner Frage kaum merklich angespannt hatte.

„Stell dich nicht dümmer als du…“

„Übertreib es nicht!“, fuhr er nun mich an. Ich konnte förmlich spüren, wie sich seine Geduld dem Ende zu neigte – ich durfte es auf keinen Fall übertreiben, sonst waren meine Bemühungen umsonst gewesen.

„Also?“, hakte ich nun kleinlauter nach. Ich schaffte es nicht mehr ihn anzusehen – er sprühte förmlich vor Wut.

„Keine Sorge, er…lebt noch.“ Nun stand er auf, drehte mir den Rücken zu und verschwand im Schatten eines großen Felsens.

Ich kapierte erst, dass ich auf einem Bett saß, als die Matratze leicht federte weil er aufgestanden war. Das Gestell bestand aus schwarz lackiertem Metall und auf jedem der vier Bettpfosten saß eine faustgroße, silberne Kugel.

Maor, oder wahrscheinlich eher einer seiner Schergen, hatte es mitten in einen niedrigen Raum gestellt. Die Wände und der Boden bestanden, wie konnte es auch anders sein, aus rauem, groben Stein, der so viel Kälte abstrahlte, dass ich eine Gänsehaut bekam – und das, obwohl die Luft immer noch viel zu warm war.

Ich war hin und her gerissen. Auf der einen Seite wollte ich nichts lieber als aufzustehen und die Jäger zu suchen, damit wir gemeinsam von hier abhauen konnten.

Auf der anderen Seite hatte ich Maor mein Versprechen gegeben und würde ich jetzt versuchen zu fliehen und er würde es bemerken, und ich war mir sicher das würde er, dann würde er sie töten.

Meine Entschlossenheit wich einer Unsicherheit, die mich wieder zurück in die Kissen sinken ließ. Was sollte ich jetzt tun?

Oder besser gesagt: was würde er jetzt tun?

„Maor?“, rief ich gerade laut genug, dass es von den Wänden wiederhalte.

Ich hörte seine Schritte aus eben jenem Schatten, in dem er verschwunden war. Oder war er etwa die ganze Zeit da gewesen?

„Ich bin hier.“

„Hast du…die Jäger gehen lassen?“, fragte ich mit zitternder Stimme. Seine Antwort konnte beides sein, furchtbar, oder erleichternd.

„Ja, der Anführer und der jüngere Bruder sind weg.“

Irgendetwas an diesem Satz irritierte mich. Der Anführer, das war John. George war der jüngere der beiden Brüder. Was war mit Matt?

„Und Matt auch oder? Du hast doch den älteren Bruder auch gehen lassen?“ Verzweiflung mischte sich in meine Stimme. Ich wusste jetzt schon, was er sagen würde und ich wusste auch, dass mir diese Worte ganz und gar nicht gefallen würden.

Meine Tränen verschleierten mir so sehr die Sicht, dass ich Maor nicht kommen sah, aber ich hörte seine Schritte auf dem harten Boden.

„Das war nicht Teil unserer Abmachung“, meinte er und ich konnte mir seinen Gesichtsausdruck nur allzu gut vorstellen.

„Aber ich sagte…“

„Was du sagtest war folgendes: du möchtest, dass ich die beiden Dämonenjäger, also John und George, gehen lasse. Im Gegenzug würdest du bei mir bleiben.“

Ich wischte mir die Tränen aus den Augen. Und da war tatsächlich dieses schadenfrohe Grinsen, für das ich ihm am liebsten den Schädel abgerissen hätte. Er wusste ganz genau, was ich meinte, aber er hatte es ausgenutzt – und das nur, weil ich mich nicht klar genug ausgedrückt hatte.

„Bitte, Maor.“ Mit zitternden Beinen stand ich auf und streckte meine Hände nach ihm aus. Er musste ihn einfach gehen lassen. Es war alles meine Schuld!

Schließlich bekam ich den dünnen Stoff seines Hemdes zwischen die Finger und klammerte mich verzweifelt daran fest. Zum ersten Mal sah ich seine Kleidung genauer an. Das Hemd war schwarz, langärmlig und nicht ganz zugeknöpft. Auch die Hose war schwarz, vielleicht war es eine Jeans, ich wusste es nicht genau. Seine Füße steckten in schlichten Schuhen, die natürlich – genau wie der Rest seines Outfits – schwarz waren. Anscheinend hatte er seine Klamotten farblich auf seine Haarfarbe abgestimmt.

„Bitte!“, flehte ich ihn an und musste nun, da ich direkt vor ihm stand, meinen Kopf ganz in den Nacken legen um überhaupt sein Gesicht sehen zu können.

„Nein“, stellte er entschlossen fest, löste meine Hände von sich und trat einen Schritt zurück. Sobald ich keinen Halt mehr hatte, fiel ich auf die Knie und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Er sah vielleicht von außen unschuldig, ja schon fast freundlich aus, aber er war es nicht. Er war durch und durch herzlos und eiskalt – wie ein Stein.

„Du bist ein Monster“, brachte ich unter Tränen hervor wobei meine Worte fast in meinem Schluchzen untergingen. Als nächstes spürte ich einen Schlag, der mich umkippen und ein Stückchen auf dem Boden dahin rutschen ließ. Starr vor Schreck blieb ich liegen. Meine Haare verbargen mir die Sicht, doch ich konnte sehen, dass Maor dort stand, wo ich gerade noch gehockt war. Sein ganzer Körper bebte und seine Hände waren zu Fäusten geformt.

„Du solltest besser aufpassen was du sagst, Nicole. Ich habe deine Freunde zwar ziehen lassen, aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich ihnen nicht immer noch das Leben zur Hölle machen kann.“ Er schaute nicht einmal in meine Richtung als er das sagte, aber ich spürte die Gefahr, die von ihm ausging, sogar noch aus dieser Entfernung.

„E-es tut mir l-leid“, stammelte ich. Dass mein Körper vor Schmerz schon wieder zuckte bekam ich nur am Rande mit. Das war keine leere Drohung gewesen gerade. Er würde ihnen etwas antun und es lag in meiner Hand das zu verhindern.

 

Seit mehr als einer halben Stunde lag ich nun schon auf diesem Bett und zerbrach mir den Kopf darüber, wie ich nur wieder aus der ganzen Sache heraus kommen konnte. Nachdem Maor mich durch die halbe Höhle gefegt hatte, war er ohne ein weiteres Wort verschwunden. Irgendwie hatte ich es geschafft mich aufs Bett zu schleppen, aber alleine das hatte schon mindestens zehn Minuten gedauert.

Und nun, da ich hier schon die längste Zeit lag, war ich noch nicht einmal zu einem positiven Ergebnis gekommen. So wie es aussah, würde ich wohl den Rest meines Lebens an der Seite eines bösartigen, leicht teuflisch angehauchten Dämonenfürsten verbringen müssen, der noch dazu meine Freunde bedrohte und die einzige Person, die ich jemals geliebt hatte, gefangen hielt. Was wollte ich eigentlich noch mehr?

Weil ich die ganze Zeit über geweint hatte wie ein Baby war mir gar nicht aufgefallen, dass die Schmerzen in meiner Nase zurückgegangen und sogar fast ganz verschwunden waren. Nur von Zeit zu Zeit spürte ich noch ein dumpfes Pochen – ein schwaches Echo dessen, was es zuvor gewesen war. Ich überlegte für einen Moment, ob ich sie mir nicht wieder brechen sollte – einfach so aus Trotz. Von Maor geheilt zu werden hieß nicht gleichzeitig, dass es mir jetzt besser ging. Ganz im Gegenteil! Nun fühlte ich mich schmutzig und hätte ich die Möglichkeit dazu gehabt, hätte ich mich liebend gerne unter eine eiskalte Dusche gestellt und mir seine Berührung und seinen Schlag vom Körper gewaschen.

Nachdem eine weitere Viertelstunde lang nichts passierte, setzte ich mich vorsichtig auf und versuchte die Decke unter mir nicht zum Rascheln zu bringen – was natürlich überhaupt nicht gelang. Meine schwarzen Haare fielen mir wieder einmal vor die Augen und ich wischte sie genervt weg. Irgendwann, hoffentlich in naher Zukunft, würde ich sie mir abschneiden – so richtig kurz! Ich hatte diese langen Zotteln jetzt schon einige Zeit satt. Oder um genauer zu sein: seit ich das erste Kind getötet hatte.

Beim Gedanken daran flammte der blaue Schleier vor meinem Blick wieder auf. Irgendetwas in mir zog sich schmerzhaft zusammen – es fühlte sich fast so an wie… Hunger.

Nein! Egal was kommen mochte, ich würde es niemals wieder tun! Eher würde ich sterben!

Ich legte mir also die Hände auf den Bauch der, zugegebenermaßen, mit der Zeit immer kleiner geworden war. Wahrscheinlich kam das davon, dass ich nichts Festes mehr zu mir genommen hatte, seit ich das Kinderheim verlassen hatte. Aber egal…

Immer wieder zog sich mein Magen zusammen, aber anstatt ihm Aufmerksamkeit zu schenken starrte ich in eine hell erleuchtete Ecke der niedrigen Höhle.

Es würde viel Zeit vergehen bis er mich das nächste Mal besuchen würde – das wusste ich auch. Und ich war ehrlich gesagt kein bisschen erleichtert deswegen. Denn wenn er nicht bei mir war, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass er Matt irgendetwas antat und das durfte er nicht. Er konnte von mir aus mit mir machen was er wollte. Es wäre mir egal wenn er mich schlug, vergewaltigte oder sonst etwas, aber er DURFTE Matt nicht verletzen!

„Maor?!“, rief ich unsicher und wahrscheinlich viel zu leise. Ich bekam Panik. Ich wollte nicht, dass er dieser Hülle, die aussah wie Matt, wehtat, auch wenn sein Geist vielleicht längst nicht mehr da war. Er musste ihn verschonen – ich würde alles tun was er wollte.

Ich versuchte es noch einmal. „Maor?!“ Diesmal war es lauter und ein leichtes Echo hallte von den Steinwänden wider.

„Ja?“

Erschrocken fuhr ich herum und fiel dabei von der Bettkante. Maor stand auf der anderen Seite des Bettes an die Wand gelehnt und beobachtete mich aus, zu Schlitzen verengten, Augen.

„Oh mein Gott!“, stieß ich hervor, als ich kapierte, dass er es war und nicht einer seiner Dämonen.

„Du solltest nicht von Gott sprechen, wenn du mir gegenüberstehst. Ich bin kein sehr großer Fan von ihm.“

Der Boden war eiskalt und rau unter mir und ich hatte nichts weiter an als ein dünnes Sommerkleidchen. Unter anderen Umständen hätte ich den Abstand zwischen mir und Maor also gewahrt, doch ich fror mir hier buchstäblich den Hintern ab, also kletterte ich zitternd auf die federweiche Matratze zurück. Maor sah mir unbewegt dabei zu.

„Also, was willst du… schon wieder?“, fragte er. Ich zog meine Beine an meinen Körper und starrte auf die Bettdecke vor mir.

„Bitte, ich muss mit dir sprechen“, flüsterte ich schließlich. Ich hörte mich niedergeschlagen an – fast schon krank.

„Gut, dann rede.“ Nun löste er sich aus seiner Starre, wartete meine Reaktion für den Bruchteil einer Sekunde ab und ließ sich dann ans untere Ende des Bettes sinken – ohne mich dabei auch nur kurz aus den Augen zu lassen.

„Lass Matt gehen, bitte.“ Bei diesen Worten schloss ich meine Augen. Ich wollte nicht sein Gesicht sehen, wenn er nein sagte.

„Das würde ich, ehrlich, aber ich kann nicht.“

Verwirrt öffnete ich meine Augen und starrte ihn mit offenem Mund an. „Was soll das heißen?“ Sein Körper versteifte sich ganz leicht, kaum, dass man es bemerkte.

„Ich habe etwas aus ihm gemacht, dass ich nicht kontrollieren kann, wenn ich ihn nicht bei mir habe. Ich kann ihn nicht gehen lassen, er ist zu stark geworden.“

Ich schloss meine Augen wieder, damit ich die Tränen unterdrücken konnte. Jetzt brannten sie wie verrückt in meinen Augenwinkeln.

„Gibt es keine Möglichkeit?“ Nun legte ich mein Kinn auf meine Knie und ließ meine Haare mein Gesicht verbergen. Ich konnte ihn ja sowieso nicht sehen, also brauchte er mir auch nicht ins Gesicht schauen zu können.

„Nein. Und außerdem brauche ich ihn noch… für dich.“

Ich schrak hoch. Wieder zog sich mein Magen schmerzhaft zusammen, aber ich hatte gerade andere Probleme als meinen Hunger.

„Wie meinst du das?“ Meine Stimme zitterte merklich, als ich das sagte. Ich war mir nicht sicher, wie lange ich meine Tränen noch zurückdrängen konnte.

„Du bist besessen, Nicole, ich hoffe das weißt du.“ Er schaute mich fragend an.

„Ja, die… Dämonenjäger haben es mir gesagt. Aber ich habe es unter Kontrolle!“, presste ich noch hervor.

„Du GLAUBST, dass du es unter Kontrolle hast. Aber das stimmt nicht. Der Dämon in dir ist sehr stark – stärker als dein menschlicher Körper es jemals sein könnte. Du kannst die Veränderung schon sehen, wenn du in einen Spiegel blickst.“ Ein leichtes Grinsen stahl sich auf sein Gesicht.

Mir stockte der Atem. Was, wenn er recht hatte? Ich konnte die Veränderungen wirklich schon sehen – sogar schon sehr lange! Meine Haare waren von einem Tag auf den nächsten viel länger geworden. Meine Lippen und meine gesamte Haut hatten beinahe genauso schnell einen leichten Blaustich angenommen und meine blauen Augen strahlten in einem kräftigen Türkis.

Verdammt! Es stimmte – alles! Der Dämon war stärker. Gerade in diesem Moment bäumte sich der Hunger in meinem Inneren zu einer gigantischen Welle auf und drohte mich unter sich zu begraben. Ich umschlang reflexartig mit den Armen meinen Oberkörper und kippte zur Seite um. Wahrscheinlich wäre ich erneut aus dem Bett gefallen, aber Maor hatte seine Hände nach mir ausgestreckt und hinderte mich so daran. Hätte ich nicht solche Schmerzen gehabt – diese übertrafen übrigens alles, was Matt mir an Schaden zugefügt hatte um Welten – hätte ich seinen Griff abgeschüttelt. Aber ich konnte nicht.

Die Tränen, die ich jetzt schon so lange zurückhielt, brachen aus mir heraus und nahmen mir die Sicht nun vollkommen.

Das Letzte was ich wahrnahm waren Maors dunkelviolette Augen mit den winzigen roten Sprenkeln. Vielleicht täuschten mich meine schwindenden Sinne auch, aber es schien, als würde ihn die ganze Situation tierisch amüsieren…

 

 

 

 

22. Kapitel

 

Ein leises Wimmern weckte mich – erst langsam und dann mit aller Macht. Ich öffnete meine Augen ruckartig, fast wie ein Roboter.

Egal ob ich mich gerade schlecht fühlte oder nicht, mir war sofort klar was gerade mit mir vor sich ging – der Dämon hatte wieder die Kontrolle übernommen.

Wie ich darauf kam? Nun ja, erstens war es um mich stockdunkel – oder es sollte zumindest so sein. Aber durch die Augen des Dämons erschien alles nur in einem dunklen Blau, als hätte jemand eine Klarsichtfolie eingefärbt und vor mein Gesicht gehalten.

Zweitens versuchte ich zwar meinen Körper zu bewegen, aber keine einzige, kleinste Zelle rührte sich nach meinem Willen.

Es kam also nichts anderes als dieser verfluchte Dämon in Frage.

Genauso ruckartig wie ich meine Augen geöffnet hatte, setzte ich mich auch auf. Mein Kopf bewegte sich in einer, selbst für mich, Furcht einflößenden Bewegung nach rechts und meine Augen fixierten von selbst einen winzigen, zusammengerollten Körper in der dunkelsten Ecke der Höhle. Der kleine Kopf war bedeckt von blonden Haaren – soweit ich das beurteilen konnte.

Die Locken wippten bei jedem weiteren Schluchzer auf und ab. Der menschliche Teil in mir wollte nichts als sie zu trösten und nachsehen, ob alles mit dem Mädchen okay war.

Aber leider war da noch immer der Seelensauger und der wollte nichts weiter, als seinen Hunger endlich zu stillen und den Schmerzen damit ein Ende zu bereiten.

Lautlos stand ich auf. Ich schaute nicht an mir hinunter – konnte ich ja auch gar nicht - , aber ich war mir zu hundert Prozent sicher, dass ich immer noch nur das leichte Kleidchen anhatte. Ich befand mich auch nicht mehr in der Höhle mit dem Bett – diese hier war komplett leer.

Meine nackten Füße erzeugten keinen Ton auf dem kalten Steinboden, als ich mich, wie eine Raubkatze, dem Mädchen näherte. Es schien wirklich verängstigt zu sein und bekam überhaupt nichts von alledem mit. Wahrscheinlich wusste sie noch nicht einmal, dass sie nicht allein war.

Und das würde sie auch nicht, bis es zu spät war.

Panisch musste ich dabei zusehen, wie ich mich ihr immer weiter näherte, bis mein Körper, ungefähr einen halben Meter vor ihr, anhielt und in die Hocke ging. Nun befand ich mich auf gleicher Höhe mit ihr – Auge in Auge, sozusagen.

Jetzt, endlich, riss sie ihren Kopf hoch und starrte mich aus weit aufgerissenen Augen an. Ich wusste, dass sie mich nicht sehen konnte, dafür waren ihre menschlichen Augen einfach nicht gut genug. Aber sie spürte anscheinend meine Anwesenheit.

Der Dämon schien etwas irritiert von der plötzlichen Bewegung und ich ergriff die Gelegenheit und stemmte mich mit aller Kraft, die ich in meinen Gedanken zusammenkratzen konnte gegen ihn. Es half allerdings nicht wirklich.

Nach nicht einmal einer Sekunde hatte das Monster sich wieder gefangen und beugte sich jetzt gierig über die Kleine.

Nein! Ihr durfte nichts passieren! Ich hatte mir selbst mehr als einmal geschworen, dass ich niemanden mehr töten würde – mit Ausnahme von Maor. Ich würde mich nicht selbst enttäuschen und irgendjemanden hier töten.

Wieder warf ich mich gegen die Macht des Dämons und dieses Mal schien es wirklich etwas zu bewirken. Mein Körper reagierte darauf. Hatte er sich gerade noch immer tiefer über das kleine Mädchen gebeugt, so erstarrte er nun und wich sogar ein kleines Stückchen vor ihr zurück.

Selbst von diesem winzigen Erfolg war ich vollkommen erschöpft, aber ich wusste, dass das noch lange nicht reichte um ihr Leben zu retten.

Denn schon im nächsten Moment näherte ich mich ihr erneut und es schien keinen Ausweg zu geben.

Ihre großen, dunklen Augen starrten suchend in die Luft. Meine bleichen Hände streckten sich nach ihrem Hals aus.

Aber sie kamen nicht weit genug. Millimeter von ihrer weichen, warmen Haut entfernt erstarrten sie in der Luft und begannen wie wild zu zittern. Hätte ich es gekonnt, hätte ich die Zähne zusammengebissen, aber ich schaffte es nicht.

Alles was ich tat war, an Matt zu denken – wie er gewesen war, bevor der Dämonenfürst ihn, vielleicht für immer, verändert hatte. Ich dachte an seine kleine Wohnung in der Basis der Jäger und versuchte mir alles in Erinnerung zu rufen: die Einrichtung, die Farben, sogar die Gerüche. Und natürlich dachte ich auch an John und George, die Maor hatte gehen lassen, weil ich bei ihm geblieben war.

Mein Körper richtete sich auf und mit einem Mal schien es, als würde ein Bann gebrochen. Eine riesige Last fiel von mir ab und ich atmete laut aus. Das Mädchen zuckte vor dem Geräusch zurück und presste sich so eng sie konnte gegen die Felswand hinter sich.

Nach einigen Sekunden hatte ich mich so weit gefangen, dass ich meine Zunge bewegen und mit ihr Worte formen konnte.

„Alles okay bei dir?“, hörte ich mich fragen. Meine Stimme hörte sich zwar etwas rau an, aber immerhin war ICH es, die da sprach und niemand sonst.

„W-wer ist da?“, fragte das Mädchen zitternd zurück. Ich konnte sie kaum verstehen weil sie sich die Hände aufs Gesicht presste.

„Keine Angst. Ich heiße Nicole und wer bist du?“ Ich versuchte mich nicht zu ruckartig zu bewegen, bis mir klar wurde, dass sie mich sowieso nicht sehen konnte.

„Mein Name ist Leah.“ Langsam lösten sich ihre winzigen Finger von ihrem Gesicht. Ich war mir nicht ganz sicher, aber ich glaubte, dass sie braune Augen hatte – rehbraun.

„Hallo“, ich versuchte so freundlich zu klingen wie ich konnte. Und tatsächlich schlich sich ein leichtes Lächeln in mein Gesicht.

„Ich will zu meiner Mum…“, flüsterte Leah und blinzelte. Ich konnte ihr, selbst durch diesen blauen Schleier, ansehen, dass sie wirklich Angst hatte.

„Das wirst du, versprochen.“ Ich machte eine kurze Pause und überlegte eine Sekunde. „Darf ich mich zu dir setzten?“

Zuerst schien sie irritiert von meiner Frage, aber schließlich nickte sie doch. Ich fragte mich ob sie wusste, dass ich sie im Dunkeln sehen konnte. Ja, vielleicht ahnte sie etwas.

Kaum hatte ich mich neben sie an die Wand gelehnt, rutschte sie auch schon näher an mich heran – ein weiteres, eindeutiges Zeichen dafür, dass sie Angst hatte. Allerdings nicht vor mir!

Langsam aber sicher reichte es mir.

Maor hatte mich aufs Übelste zurichten lassen, hatte die Jäger gefangen gehalten und Matt zu einem Monster gemacht. Und jetzt hatte er auch noch dieses kleine Mädchen hier verschleppt und wollte sie mir zum Fraß vorwerfen. Der würde sein noch blaues Wunder erleben!

„Warte kurz hier, Kleine, ich gehe nicht weit weg.“ Ich klopfte ihr sanft auf die schmale Schulter und stand dann auf. Es war ein merkwürdiges Gefühl seinen Körper wieder unter Kontrolle zu haben, was dazu führte, dass ich kurz wankte.

Mit weit ausgreifenden Schritten entfernte ich mich ein Stück von Leah und machte mich so groß ich konnte, bevor ich nach Maor rief. Leah hinter mir wimmerte auf, als meine Stimme die Dunkelheit durchbrach.

Obwohl meine Augen viel besser waren als die jedes gewöhnlichen Menschen sah ich den Dämonenfürsten nicht kommen. Er stand einfach plötzlich und wie aus dem Nichts vor mir und schaute, arrogant wie er nun einmal war, auf mich herab.

„Wie ich sehen hast du dein Frühstück noch gar nicht angerührt, Nicole. Hättest du lieber eine andere Geschmacksrichtung?“ Sein Mund formte sich zu einem breiten, boshaften Grinsen.

Das brachte das Fass zum Überlaufen.

Ich holte mit der rechten Hand weit aus und schlug sie ihm mit voller Kraft ins Gesicht. Er hatte keine Möglichkeit auszuweichen – vor allem deshalb nicht, weil er den Schlag nicht einmal kommen sah.

Das Klatschen, das entstand als meine Handfläche seine Wange traf, war unheimlich befriedigend und jetzt war ich es, die grinste.

Wieder wimmerte Leah. Maor schnaubte und machte einen Satz von mir weg.

„Du kleines Biest!“, fuhr er mich an, aber das konnte meiner Stimmung keinen Abbruch tun. Endlich hatte ich mich einmal dafür revanchieren können, was er mir schon die ganze Zeit über antat – wenigstens für einen kleinen Teil davon.

„Bring sie wieder zurück zu ihren Eltern!“, forderte ich. Ich merkte, dass meine Stimme kein bisschen zitterte. Sie hörte sich stark und entschlossen an also genauso wie ich es wollte.

„Du brauchst eine Seele, oder du wirst noch geschwächter als du sowieso schon bist!“, fuhr er mich an und kam dabei noch ein Stück näher, so dass ich, unter normalen Umständen, zurück gewichen wäre um wieder etwas mehr Platz zwischen uns zu bringen. Nicht so in dieser Situation. Jetzt musste ich stark sein und ihm beweisen, dass er meinen Willen nicht so einfach verformen oder gar brechen konnte. Trotzig reckte ich das Kinn in die Höhe und ballte die Hände neben meinem Körper zu Fäusten – darauf bedacht sie nicht wieder als Waffe zu benutzen.

„Ich sterbe lieber, als das ich ihr auch nur ein Haar krümme!“, knurrte ich durch halb geschlossene Lippen. Mir war gar nicht bewusst, dass ich mich auf die Zehenspitzen gestellt hatte, bis sich meine verspannten Muskeln zu Wort meldeten.

Maor stieß ein genervtes Knurren aus, fuhr sich mit einer Hand durch das rabenschwarze Haar und blickte dann durch, zu Schlitzen verengten Augen auf mich herab. „Ist das so? Gut! Ich wollte eigentlich, dass du ihm wenigstens annähernd ebenbürtig bist, wenn ihr gegeneinander kämpft, aber wenn du das nicht willst – bitte! Der Unterhaltungswert sinkt dadurch zwar um einiges, aber…“

„Moment! Was meinst du mit ‚wenn ich auf ihn treffe‘? Wer ist ER?“ Ich merkte wie mein mühsam aufgebauter Widerstand anfing zu bröckeln. Maor hatte es wirklich drauf einen aus der Fassung zu bringen, oder zu verunsichern.

Dieses Mal schnaubte er genervt und verschränkte anschließend die Arme vor der Brust. Anscheinend rechnete er nicht mit einer weiteren Attacke meinerseits. „Na deinen kleinen Jägerfreund. Glaub mir, er hat mehr drauf als man ihm ansieht – aber du weißt das natürlich schon! Immerhin hat er dich ja schon einmal fertig gemacht…“ Maor zog während des Sprechens gekonnt eine Augenbraue nach oben und redete so leicht dahin, als würde er mir eine Einkaufsliste ansagen. Seine Worte lösten bei mir allerdings Verwirrung und sogar etwas wie Angst aus.

„Was willst du damit sagen?“, fragte ich, jetzt deutlich verunsichert nach.

„Ich will dir damit begreiflich machen, dass du gegen ihn kämpfen wirst und…“

„Ja, das habe ich inzwischen auch schon geschnallt, schönen Dank auch!“, unterbrach ich ihn.

„Wenn du mir noch einmal das Wort mitten im Satz abschneidest, dann… Ach, vergiss es. Bald gehörst du sowieso mir“, fügte er noch schnell hinzu, wobei sich das Grinsen auf seinem Gesicht nur noch mehr verbreiterte.

Mir lief ein eiskalter Schauer über den Körper – von den Haarspitzen bis in die Zehen. Allein schon, wie er das gesagt hatte, sollte mich in die Flucht schlagen. Ich sollte vor Angst entweder erstarren oder wenigstens versuchen mich irgendwo zu verstecken. Ich tat ersteres.

„Das musst du mir erklären.“ Meine Stimme bebte hörbar. Irgendwo hinter mir ertönte wieder dieses Schluchzen, das ich schon gehört hatte als ich aufgewacht war – Leah.

„Weißt du eigentlich, dass du einem ganz schön auf die Nerven gehen kannst?“, fragte er, ließ es aber erst gar nicht zu einer Antwort kommen, denn er sprach direkt weiter. „Aber gut, dann eben alles in der Kurzform: Du bist besessen, was du ja sowieso schon weißt. Der Dämon ist nicht stark genug für dich, was mich irgendwie… beeindruckt, aber das gehört hier jetzt nicht hin. Ich werde dich, früher oder später, heiraten, aber dafür muss der Dämon ganz und gar Besitz von dir ergriffen haben – was ja, wie gesagt, noch nicht der Fall ist.“

„Und was hat Matt dann damit zu tun?“, wollte ich wissen. Ich merke, wie meine Knie immer wackliger wurden. Ich musste dieses Gespräch so schnell wie möglich beenden. Es beinhaltete einfach zu viele heikle Themen - Themen, die mich wortwörtlich zu Boden zwangen.

„Es gibt nicht viele Situationen, in denen der Dämon stark genug ist um dich in den Hintergrund zu drängen. Eigentlich nur bei der Jagd auf Seelen oder im Kampf um dein Leben. Irgendwie hast du es aber geschafft, diese Kleine da hinten…“

„Leah. Ihr Name ist Leah!“, warf ich ein und fand wenigstens etwas meiner eigentlichen Stärke wieder.

„Von mir aus!“, erwiderte er in einem gereizten Ton. Wenn ich so weiter machte, würde es nicht Matt sein gegen den ich kämpfte, sondern Maor persönlich… „Auf jeden Fall hast du sie nicht angerührt, was ich mir nicht wirklich erklären kann, aber egal. Bleibt also nur noch die zweite Möglichkeit.“

Mein Magen zog sich schmerzvoll zusammen. Ich sollte gegen Matt kämpfen? Um Leben und Tod?

„Du weißt, dass ich gegen ihn nicht gewinnen kann – auch nicht, wenn ich wollte!“ Und das tue ich nicht, fügte ich in Gedanken hinzu.

„Ich denke du könntest, aber du sträubst dich ja so sehr dagegen ‚Leahs‘ Seele zu nehmen also musst du dich eben einfach etwas mehr anstrengen!“, meinte er schulterzuckend und wollte sich umdrehen und gehen. Er war gerade noch in meiner Reichweite, als ich ihn mit zitternden Fingern festhielt.

„Was passiert wenn ich verliere?“

 

Tatsache war, dass ich immer noch in dieser stockfinsteren Höhle festsaß – zusammen mit Leah. Leah, die mein „Frühstück“ hätte werden sollen, wenn es nach Maor ging.

Und Tatsache war auch, dass Maor mich einfach hatte stehen lassen. Er hatte es nicht einmal für nötig gehalten mir zu antworten sondern war einfach irgendwo in der Dunkelheit verschwunden.

Jetzt saß ich wieder an die raue Steinwand gelehnt neben dem zitternden Mädchen und versuchte irgendwie etwas Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Aber es ging nicht.

Ich wusste jetzt schon, dass ich nicht gegen Matt kämpfen konnte – das war vollkommen unmöglich! Ich hatte es doch schon einmal versucht, und war dabei kläglich gescheitert.

Dazu kam auch noch, dass es sich jedes Mal angefühlt hatte, als würde ich mir selbst alle Knochen brechen, wenn einer meiner Schläge ihn traf. Dieser Kampf würde einer Selbtsverstümmelung gleichkommen.

Es verging einige Zeit und irgendwann merkte ich, dass Leah eingeschlafen war. Zwar zitterte sie immer noch, aber es war viel schwächer als zuvor. Außerdem hatte sich ihr Atem beruhigt und nun wirkte sie nur noch wie ein friedliches Kind mit verweinten Augen – hunderte von Metern unter der Erde eingesperrt mit einem Seelensauger und einem Dämonenfürst.

Ich seufzte resignierend.

Ich hatte wirklich fest daran geglaubt, dass die Jäger es schaffen konnten mich von diesem Fluch zu befreien, aber das war naiv und leichtgläubig gewesen. Inzwischen wunderte ich mich auch etwas darüber, wie sie es selbst hatten glauben können. Maor war einfach eine Nummer zu groß – für jeden von uns.

Selbst John, den ich immer für einen der stärksten Menschen überhaupt gehalten hatte, hatte er besiegt. Er und George lebten nur noch deshalb, weil ich einen Handel mit dem Fürsten eingegangen war.

Aus gleich mehreren Gründen schien Maor aber inzwischen längst nicht mehr irgendein Dämonenfürst zu sein. Für mich war er das ultimative Böse – so etwas wie der Teufel persönlich.

In meine Grübeleien vertieft bemerkte ich erst nicht, dass ich nicht mehr allein mit Leah war. Ich schreckte im ersten Moment zurück und weckte dabei das Mädchen, welches sich fast augenblicklich an meine Seite presste als wäre ich der einzige Schutz den sie hatte - irgendwie war es ein schönes Gefühl einmal im Leben von irgendjemandem gebraucht zu werden.

„Ist der böse Mann wieder gekommen?“, flüsterte sie in mein Ohr. Der böse Mann, das war für sie Maor. Sie nannte ihn so, seit er aufgetaucht war und sich ein Wortgefecht mit mir geliefert hatte.

„Nein“, ich versuchte das Zittern meiner Stimme so gut es ging zu unterdrücken, auch wenn es mir nicht vollkommen gelang. „Leah, du muss jetzt brav sein, verstanden?“ Ich drehte meinen Kopf leicht in ihre Richtung, ohne dabei dieses DING aus den Augen zu lassen, das gerade ein paar Meter vor uns aufgetaucht war. Leah nickte hastig und presste sich nun an die Wand anstatt an mich.

Wie in Zeitlupe stand ich auf und ging ein paar Schritte in die Dunkelheit. Selbst jetzt, wo ich mich zu meiner vollen Größe aufrichtete, reichte ich dem Dämon nicht einmal bis zu Brust. Ich war mir nicht sicher, ob ich diesen hier schon aus dem Kampf in der großen Höhle kannte – wahrscheinlich eher nicht. Meine Hände zitterten als ich knapp vor ihm stehen blieb und ihm wie gebannt in die leeren, ausdruckslosen Augen starrte.

Die Haut spannte sich, wie auch bei den anderen Dämonen, die ich bisher gesehen hatte, straff um seinen Schädel. Zwei spiralförmige Hörner wuchsen aus seinen Schläfen und seine stark hervortretenden Wangenknochen waren von etwas bedeckt, das wie die Schuppen eines Fisches aussah.

Vielleicht konnte dieses Monster ja gar nicht sprechen, aber ich das war auch gar nicht nötig. Ich wusste auch so, dass er gekommen war um mich zu Maor zu bringen. Zu Matt. In den Kampf.

Ohne, dass sich auch nur irgendetwas in seinem „Gesicht“ bewegte, drehte er sich um und verschwand in einem Spalt in der Wand, den ich zuvor nicht bemerkt hatte – und von dem ich mir zu hundert Prozent sicher war, dass er nicht da gewesen war.

Ich folgte ihm durch einen engen, niedrigen Gang bei dem es mich wunderte, dass der Dämon überhaupt hindurch passte, ohne dass er stecken blieb. Wenig später wurde der Gang von einer mittelgroßen Höhle abgelöst. Auch hier herrschte Dunkelheit, aber ich spürte sofort, dass Maor anwesend war.

„Du kannst gehen, Malyee“, hörte ich seine Stimme durch den Raum hallen, kaum, dass ich zum Stehen gekommen war. Langsam drehte ich mich in die Richtung, aus der die Worte gekommen waren und entdeckte Maor, der nahe einer Wand im Schatten eines überhängenden Felsens stand. Er hob seine Hand ein Stückchen an und strich mit den Spitzen seiner Finger über seinen Handballen. Nicht einmal einen Herzschlag später wurde es hell um mich. Die gesamte Höhle wurde von diesem seltsamen, geisterhaften Licht durchflutet und ich fühlte mich noch viel kleiner und hilfloser als ich es sowieso schon tat.

„Du hast dich nicht gewehrt, als er dich geholt hat“, stellte Maor trocken fest und löste sich aus seiner Starre um auf mich zuzukommen.

„Hätte ich das denn sollen?“, hakte ich mit wenig Begeisterung in der Stimme nach.

Maors Schultern zuckten kaum merklich nach oben, bevor er weiter sprach. „Ich weiß nicht. Du bist nicht sehr leicht einzuschätzen – das mag ich…“

Wieder einmal lief mir ein Schauer über den Körper. Es waren nicht die Worte selbst, aber die Art und Weise WIE er es sagte. Nur mit größter Mühe schaffte ich es meine Konzentration wieder auf den Dämonenfürsten, der inzwischen direkt vor mir stand, zu lenken.

„Was willst du?“, fragte ich und klang dabei sogar noch unfreundlicher als eigentlich beabsichtigt – was schon an ein Wunder grenzte.

„Es ist Zeit.“ Mehr sagte er nicht, doch bevor ich noch etwas erwidern konnte, schoss seine Hand hervor und stieß mich grob nach hinten. Ich hatte nicht bemerkt, dass diese Höhle eigentlich gar nicht so klein war, wie ich dachte, als ich durch den Gang herein gekommen war. Das wurde mir erst jetzt bewusst.

Denn hinter mir befand sich ein Abgrund. Ich stürzte ungebremst etwa fünfzehn Meter in die Tiefe und kam unten mit einem lauten Knall auf. Hätte ich nicht gewusst, dass ich auf diese Art und Weise nicht sterben konnte, hätte ich allein schon wegen des Schocks einen tödlichen Herzinfarkt bekommen. So war ich aber darauf vorbereitet.

Einzig und allein meine Muskeln hatten sich angespannt und verkrampft, so dass es jetzt nicht ganz so einfach war aufzustehen wie ich es gerne gewollt hätte.

„Gut gelandet?“, hörte ich eine hämische Stimme über mir. Ich drehte mich gleich gar nicht in seine Richtung. Jetzt wollte er mich anscheinend auch noch psychisch fertig machen, bevor er mich in den Kampf gegen Matt schickte. Ich musste so gut es ging versuchen das zu ignorieren.

Und wo ich gerade bei der Sache war… Warum konnte Matt mich überhaupt verletzen? Warum brach ich mir nicht sämtliche Knochen bei einem Sturz wie diesem gerade, aber wirkte geradezu schwächlich im Kampf gegen andere Dämonen? Mir schwirrte der Kopf von dieser Frage, denn ich konnte – egal wie sehr ich mich bemühte – keine logische Erklärung darauf finden.

Aber allzu lange hatte ich auch keine Zeit mehr um mir darüber den Kopf zu zerbrechen, denn nur Sekunden nachdem ich mich aufgerafft hatte, ertönte vor mir ein ohrenbetäubendes Krachen. Wie vom Blitz getroffen sprang ich vor dem unbekannten Auslöser dieses Geräusches zurück und stieß hart gegen die Steinwand. Staub wirbelte auf und verdeckte mir die Sicht auf das, was vor mir geschah. Das Knirschen von Fels auf Fels schmerzte in meinen Ohren, aber ich widerstand dem Drang sie mir zuzuhalten – Maor hätte das nämlich bestimmt wieder äußerst amüsant gefunden. Stattdessen bedeckte ich nur Nase und Mund nachlässig mit einer Hand und kniff die Augen zusammen.

Erst als sich der dichte Nebel aus winzigsten Staubpartikeln anfing zu legen konnte ich wieder sehen. Zwanzig Meter von mir entfernt, auf der anderen Seite dieser kesselartigen Vertiefung – ich hatte während des Falls grob mitgekriegt, dass sie von oben ziemlich rund war – war ein Stück Fels, ungefähr zwei Meter hoch und eineinhalb Meter breit, aus der Wand gebrochen. Dahinter lag nichts als tiefste Schwärze.

Vorsichtig machte ich einen Schritt auf die Wand zu und versuchte dabei nicht auf den Kieseln auszurutschen, die sich gerade daraus gelöst hatten. Dann noch einen, wobei sich die spitzen Steinchen in meine nackten Sohlen bohrten. Ein Blick an mir hinunter genügte um mir zu beweisen, was ich sowieso schon wusste: meine Haut, mein Haar und das Kleid, das ich trug, waren von einer dichten, weißen Staubschicht bedeckt, so dass ich nur noch blasser wurde.

Mit ein paar Handbewegungen klopfte ich mir das Gröbste vom Körper und wandte dem tiefen Schatten hinter mir dann den Rücken zu, um zu Maor hinauf zu sehen.

„Warum tust du das?“, fragte ich. Meine Stimme war nicht allzu laut, aber sie wurde von den steinernen Wänden zurückgeworfen und verstärkt.

Maors schwarzer Schopf erschien am Rande der Grube. Auf seinem Gesicht lag, wie so oft, dieses boshafte Grinsen, für das ich ihm am liebsten alle seine Zähne auf einmal ausgeschlagen hätte.

„Ich sagte dir doch schon, dass du den Dämon viel zu gut unter Kontrolle hast. Ich darf dich so aber nicht zur Frau nehmen, weil das gegen unser Gesetz verstößt. Also muss ich etwas anders vorgehen…“ Nun stand er so nahe am Rand, dass ich beinahe seinen ganzen Körper sehen konnte – der immer noch komplett in schwarz gekleidet war – bis auf ein kleines Stück seiner Beine.

„Und was ist, wenn ich einfach zu schwach bin? Oder wenn ich nicht kämpfen will? Lässt du ihn mich dann töten?“ Ich klang provokanter als beabsichtigt.

Maors Züge verhärteten sich für einen Herzschlag, dann fing er sich wieder. „Willst du es darauf ankommen lassen?“, fragte er, anstatt mir zu antworten.

Sein kurzes Zögern war für mich allerdings ohnehin Antwort genug. Natürlich würde er mich nicht Matt überlassen. Der Aufwand, den er bisher betrieben hatte, nur um mich überhaupt hier zu haben, war dafür einfach viel zu gewaltig. Außerdem hatte es für ihn eine genauso große Gefahr dargestellt die Jäger überhaupt so nahe an sich heran zu lassen, wie wenn er gleich zu ihnen gegangen und um mich gebeten hätte. Fast musste ich grinsen, aber ich wusste, wenn ich es jetzt nicht schaffte die Ruhe zu bewahren und mir nach außen hin nichts anmerken zu lassen würde Maor Matt erst recht auf mich hetzen.

Das Geräusch von Schritten hinter mir, ließ mich zusammenzucken. Langsam drehte ich mich um und hielt Ausschau nach der Quelle des Geräusches. Mein Blick blieb schließlich an dem Loch in der Wand hängen. Je länger ich so dastand und darauf wartete, dass etwas passierte – etwas Sichtbares passierte – desto lauter wurden die Schritte. Instinktiv zog ich mich so weit wie möglich zurück, bis ich schließlich mit dem Rücken zur Wand stand.

Als nächstes geschahen gleich mehrere Dinge gleichzeitig. Maor über mir fing an zu lachen, als gäbe es kein Morgen mehr, was eine Welle der Angst in mir auslöste. Mein Herzschlag beschleunigte so sehr, dass ich befürchtete es würde durchbrennen.

Und Matt trat aus den Schatten hervor und starrte an mir vorbei an die Wand.

 

23. Kapitel

 

Meine Haut war überzogen von einer Gänsehaut. Es fühlte sich fast so an, als ginge plötzlich ein eisiger Wind der mich zum frieren brachte. Matt hatte sich verändert – schon wieder.

Als ich ihn zuletzt gesehen hatte, war sein Körper noch derselbe gewesen, wie der, den ich gekannt hatte. Jetzt hatte seine Haut, vor allem an den Schultern, Handgelenken und auch Wangenknochen, einen seltsamen, gräulichen Schimmer angenommen. Sein Oberkörper war unbekleidet, so dass ich seine muskulöse Brust sehen konnte, aber seine Beine steckten in einer schlichten, schwarzen Hose, die ihm bis zu über Knöcheln ging. Seine Füße waren, genau wie meine, nackt. Außerdem sah er noch um ein ganzes Stück größer aus, als das letzte Mal.

Ich stand mit weit geöffnetem Mund da und wusste nicht, was ich jetzt machen sollte. Musste ich ihn angreifen? Würde er zuerst versuchen mich zu töten? Ich rührte mich nicht vom Fleck.

Matt tat es mir gleich und so kam es, dass wir uns für ein paar Sekunden wie Spiegelbilder gegenüber standen. Ich spürte deutlich Maors Gegenwart irgendwo über mir, wollte Matt aber nicht aus den Augen lassen. Selbst jetzt, wo er nicht einmal mehr richtig er selbst war, sah er noch immer gut aus – fast zu gut. Die Erinnerung an seine moosgrünen Augen versetzte mir einen Stich ins Herz und jagte mir die Tränen in die Augen. Hastig wischte ich sie weg, wobei meine Finger aber so sehr zitterten, dass ich Mühe hatte überhaupt meine Wange zu treffen.

„Matt…“, flüsterte ich und versuchte ihn durch den Tränenschleier hindurch zu erkennen, aber das was ich erkennen konnte war nicht mehr er.

Egal wie oft ich mir schon gesagt hatte, dass er weg war – wahrscheinlich für immer -, glauben konnte ich es trotzdem immer noch nicht. Es fühlte sich einfach nicht richtig an. Matt war stark und würde sich nicht einfach so von irgendeinem dahergelaufenen Dämonen unterdrücken und verdrängen lassen. Auf der anderen Seite hatte ich am eigenen Leibe erfahren wie schwer es sein konnte gegen etwas anzukämpfen, das man weder anfassen noch sehen konnte – weil es nämlich mit einem im selben Körper steckte.

Meine Zähne knirschten als ich meine Kiefer so fest aufeinander presste wie ich konnte um Tränen, die ohne Zweifel noch kommen würden, zurückzudrängen.

„Fangt an“, tönte Maors Stimme über mir. Die Wut, die ich gegen ihn verspürte, war noch nie so groß gewesen wie zu diesem Zeitpunkt. Hatte ich anfangs noch geglaubt ihn töten zu müssen, so war mir inzwischen klar, dass das längst nicht mehr ausreichen würde um alles, was er mir angetan hatte, wieder gut zu machen. Ich wollte Rache! Maor sollte leiden solange es nur ging.

Im nächsten Moment bewegte Matt sich auf mich zu. Erst langsam, dann immer schneller. Ich konnte immer noch nicht anders als wie eine Steinstatue da zu stehen und auf den Angriff zu warten.

Der erste Schlag traf mich irgendwo zwischen Magen und Herz. Die Luft wurde mir aus den Lungen gepresst, aber ich schaffte es irgendwie das Gleichgewicht zu halten und nicht umzukippen – was vielleicht aber auch daran lag, dass ich direkt vor der Wand stand.

Gerade hob Matt seine linke Faust um sie erneut gegen meinen Körper rasen zu lassen, als mein Knie wie von selbst nach oben schnellte und ihn zwischen den Beinen traf. Ich wusste, dass ich es nicht gewesen war, die so reagiert hatte – es war der Dämon.

Ich hatte es jetzt also mit zwei Gegnern gleichzeitig zu tun, nur, dass ich mich jetzt schon dafür entschieden hatte Matt nicht wehzutun. Sollte Maor doch mit mir machen was er wollte, aber Matt brauchte er dazu nicht mit hinein zu ziehen.

Wieder holte er aus und diesmal traf er mich. Mein Schlüsselbein knackte zwar, aber ich war mir ziemlich sicher, dass es nicht gebrochen war – noch nicht. Wie ein gehetztes Tier sprang ich zur Seite, schlitterte über den mit Kieseln bedeckten Boden und verlor das Gleichgewicht. Im letzten Moment schaffte ich es irgendwie mich mit den Händen abzufangen, aber Matt war schon über mir und versetzte mir einen Tritt in die Seite. Ich spürte, wie der Dämon sich nach vorne kämpfen wollte und stieß ihn zurück.

Matt war inzwischen so weit, dass er mich mit seinem Gewicht am Boden fixierte. Die spitzen Steinchen bohrten sich in meinen Rücken, doch ich ignorierte den Schmerz. Alles was ich noch mitbekam war Matt und auch wenn etwas in seinem Körper war, das dort nicht hingehörte spürte ich – gegen all meine Zweifel –, dass er tief drin noch da war. Es war nur ein schwacher Funken Licht, der von ihm auszugehen schien, aber der genügte um mir neue Kraft zu spenden. Kraft nicht in dem Sinn, dass ich auf einmal in der Lage gewesen wäre mich von ihm zu befreien, aber ich fand den Mut ihm in die Augen zu sehen – in diese seltsamen, ausdruckslosen Augen – und für nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, ich hätte dieses wunderschöne Grün aufblitzen sehen.

„Matt, bitte!“, flehte ich, wobei meine Stimme zitterte und schließlich versagte. Ich schluckte. „Ich weiß, dass du noch da bist.“

Kurz löste sich die Anspannung in seinem Gesicht. Sein Mund öffnete sich ein Stück weit und er sah fast schon verwundert aus.

Matt kämpfte gegen den Dämon – ich wusste es einfach!

„Lass nicht zu, dass er dich vernichtet. Du bist so viel stärker als er!“, stachelte ich ihn weiter an. Automatisch reckte ich meinen Kopf in die Höhe um ihm besser in die Augen sehen zu können.

Wieder dieses grüne Aufblitzen. Ich machte weiter.

„Ich weiß, dass du noch da bist, Matt. Gib nicht auf!“

Wie in Zeitlupe streckte er eine seiner Hände aus. Ganz langsam kam sie meinem Gesicht näher und irgendwann berührten die Fingerspitzen meine Haut. Ein Schauer lief mir über den Körper. Matts Hand war kühl, fast schon kalt. Ich schluckte schwer.

Er ist noch da, er ist immer noch da drin, redete ich mir selbst ein und hätte am liebsten meine Augen geschlossen um nicht in dieses fremde Gesicht sehen zu müssen. Aber ich wusste, dass ich das jetzt nicht durfte.

Matt kämpfte gerade – auch für mich. Er brauchte mich jetzt. Ich durfte mich nicht in meinen eigenen Kopf zurückziehen.

„Nicole?“, ertönte eine tiefe Stimme. Sie hörte sich vielleicht zunächst fremd an, aber auf der andren Seite kam mir dieser Klang so ungeheuer bekannt vor, als würde ich ihn schon mein ganzes Leben lang kennen.

„Ja, ich bin hier. Mach weiter…“ Ich versuchte meine Hand zu befreien, wenigstens eine, aber es gelang nicht. Matts gesamtes Gewicht heftete mich immer noch zu Boden.

„Nici…“ Das klang schon eher nach dem Mann, den ich liebte. Erwartungsvoll suchte ich in seinem Gesicht nach einem weiteren Anzeichen dafür, dass er genügend Kraft aufbrachte den Dämon in die Knie zu zwingen. Aber es geschah nichts.

Fünf Sekunden verstrichen. Dann zehn. Nach über einer halben Minute brach der Zauber schließlich. Ich merkte kaum wie Matts Finger zu meinem Hals gewandert waren. Erst als er immer fester zudrückte begriff ich langsam, dass etwas gewaltig schief lief.

„Matt, bitte!“ Meine Stimme ging in einem Röcheln unter. Irgendwie schaffte ich es doch noch eine Hand unter seinem Knie hervor zu ziehen. Ich zerrte an seinen Fingern und versuchte meine Luftröhre wieder zu befreien, aber er schien einen stählernen Griff zu haben.

„Hör auf! Du liebst mich“, krächzte ich, bevor mir die Luft ausging. Mein Kopf fing bereits an wild zu pochen. Dunkle Flecken tanzten am Rande meines Sichtfeldes auf und ab und wurden immer größer und größer.

Und dann war der Augenblick gekommen. Gerade als ich in der unendlichen Schwärze des Todes zu versinken drohte, löste sich der Druck von meinem Hals. Ich versuchte meine Augen zu öffnen um nachzusehen was plötzlich los war, aber das Licht brannte nur furchtbar.

Erst nach dem vierten Versuch schaffte ich es endlich einigermaßen.

Mein Blick war vollends verschleiert von Tränen, die es nicht mehr aus mir heraus geschafft hatten.

Was ich sah verwirrte mich. War ich etwa schon tot? Oder halluzinierte ich gerade?

Alles schien mir als wahrscheinlicher als das, was ich gerade vor mir sah als die Wirklichkeit anzusehen.

Matt hatte nicht nur aufgehört mich zu würgen. Er war auch aufgestanden und hatte mir den Rücken zugewandt. Die Verwirrung stieg noch weiter, als ich sah, dass er die Hände so fest zu Fäusten geballt hatte, dass die Fingerknöchel schon weiß hervortraten.

Was ging denn jetzt vor sich?

Schwerfällig zog ich mich etwas in die Höhe. Mein ganzer Körper schmerzte vom Sauerstoffentzug. Matts Körper schien mit meinem zu zittern. Langsam und so leise wie möglich, um seine Aufmerksamkeit nicht noch einmal auf mich zu lenken, schob ich mich rückwärts von ihm weg in Richtung der Wand. Ich bemerkte erst, dass ich die Luft angehalten hatte, als ich den kalten Stein in meinem Rücken spürte.

Matt stand indes immer noch unbewegt in der Mitte dieses Kessels, in dem er bis vor ein paar Augenblicke noch versucht hatte mich zu töten. Seine Schultern bebten so sehr, dass ich es selbst aus dieser Entfernung noch sehen konnte. Nur verstand ich nicht was geschehen war.

Hatte Maor ihm etwa einen Befehl gegeben damit er mich nicht tötete? Aber warum?

Natürlich war mir klar, dass Maor mich lebend brauchte. Er wollte, dass ich bei ihm blieb – als seine Partnerin. Da war es nur verständlich, dass Matt mich nicht umbringen durfte.

Aber irgendetwas stimmte hier trotzdem nicht. Alles in meinem Körper sagte mir, dass Matt etwas getan hatte, dass Maor so richtig in Rage versetzen würde.

Mir kam ein absurder Gedanke.

Hatte er sich vielleicht sogar von selbst von mir losgerissen um mein Leben zu verschonen? Hatte er es geschafft den Dämon in sich zu besiegen und kämpfte gerade um genug Beherrschung um mich nicht noch einmal anzugreifen? Mein Herz machte bei diesem Gedanken einen Freudensprung. Ich wusste, dass ich nichts überstürzen durfte – die Enttäuschung wäre einfach viel zu groß, wenn Matt mich wieder angreifen würde.

Langsam richtete ich mich auf. Meine Fingerspitzen rutschten an der Wand hinauf und ich versuchte krampfhaft nicht den Halt zu verlieren.

Über mir war ein genervtes Knurren zu hören, dann fielen kleine Steinchen neben mir zu Boden. Das leise Klappern das dabei entstand ließ mich zusammenzucken.

Wie von selbst legte ich meinen Kopf in den Nacken und spähte hinauf zum Rand des Kessels wo Maor wie versteinert stand und auf das Wesen herab starrte, das er selbst erschaffen hatte. In seinen Augen blitzte immer wieder Wut und Mordlust auf. Ein Schauer durchfuhr meinen Körper.

Mein Blick wanderte weiter zu Matt, der sich immer noch nicht einen Zentimeter bewegt hatte. Auf eine seltsame Art und Weise standen die beiden Männer sich gegenüber wie Spiegelbilder – ihre Körperhaltung war fast identisch.

„Was soll das!“, knurrte Maor schließlich, als Matt immer noch keine Anstalten machte sich wieder mir zu widmen. Matt reagierte nicht auf seine Worte.

„Du hast keinen eigenen Willen! Kämpfe!“, fuhr der Dämonenfürst ihn nun an, aber er zeigte immer noch nicht den Hauch einer Reaktion. Ich konnte einfach nicht anders als Matt anzustarren. Was hatte er nur vor? Oder war er von dem Kampf gegen seinen Dämon so gefesselt, dass er gar nicht mitbekam was hier vor sich ging.

Ein lang gezogenes Jaulen ertönte, dann rieselten wieder ein paar Steinchen in die Tiefe. Keine Sekunde später folgte ein dumpfer Aufschlag. Maor war zu uns in den Kessel gesprungen und baute sich nun vor Matt auf. Ich konnte ihn nicht genau erkennen, aber mir schwante Böses. Meine Atmung und mein Herzschlag schienen plötzlich einen Wettlauf miteinander zu veranstalten, denn beides beschleunigte von einer Sekunde auf die andere.

Ohne noch länger über die Folgen meines Handels nachzudenken schoss ich los und warf mich zwischen die beiden Kontrahenten. Maor starrte mich aus zu Schlitzen verengten Augen an und mir war klar, dass diese Aktion noch Folgen haben würde – sowohl für mich, als auch für Matt.

„Lass ihn in Ruhe!“, fauchte ich den Fürsten an, wobei meine Stimme sich so fremd anhörte, dass ich sie beinahe selbst nicht erkannt hätte.

„Willst du mich etwa aufhalten? Du schaffst es ja noch nicht einmal einen einfachen, niederen Dämon wie ihn zu besiegen!“, erwiderte Maor und ein hämisches Grinsen verzerrte sein Gesicht.

Darauf wusste ich keine Antwort. Er hatte recht, gegen ihn hatte ich keine Chance – nicht einmal wenn ich mich wirklich ins Zeug legte. Aber lieber würde ich im Kampf gegen Maor und an Matts Seite sterben, als zuzusehen wie er mir auch noch die letzte Person wegnahm, die ich liebte.

„Willst du es etwa darauf anlegen?“, versuchte ich die Worte zu benutzen, die er einmal verwendet hatte.

Ich machte einen kleinen Schritt zurück, so dass ich Matts bebenden Körper im Rücken spürte und spannte sämtliche Muskeln an, auf einen Angriff von Maor gefasst.

Und der kam im nächsten Moment auch schon. Wie aus dem Nichts schoss seine Faust auf meinen Kopf zu, doch nicht einmal fünf Zentimeter von meinem Gesicht entfernt blieb sie plötzlich in der Luft hängen. Ich hatte vor Schreck nicht einmal mehr meine Augen schließen können, so schnell war alles gegangen und stellte nun voller Verblüffung fest, dass sich eine große Hand – Matts Hand – um Maors Unterarm geschlossen hatte.

Anscheinend hatte auch der Dämonenfürst mit so etwas nicht gerechnet, denn seine Augen waren vor Überraschung mindestens gleich weit aufgerissen wie meine. Über alles was nach diesem Zeitpunkt geschah hatte ich nur noch teilweise die Kontrolle. Nicht etwa, weil der Dämon mich wieder bezwungen hatte, sondern weil es meine menschlichen Instinkte waren, die mich leiteten.

Ich nutzte Maors immer noch andauernde Verwirrung aus und schlug nun wiederum meinerseits zu. Matt hielt seinen Arm immer noch fest umklammert und so hatte er nicht genug Bewegungsfreiheit um sich aus der Gefahrenzone zu retten. Meine Gelenke knackten bedrohlich als ich meine Faust in seiner Magengrube versenkte.

Maor entwand Matt seinen Griff und wankte ein paar Schritte von uns weg. Es sah fast so aus als wäre er von der Situation überfordert und komplett überrumpelt.

Ich fühlte eine Bewegung hinter mir, dann wurde ich sanft zur Seite geschoben um Matt Platz zu machen. Er raste so schnell an mir vorbei und auf den Dämonenfürsten zu, dass ich nicht einmal genug Zeit hatte einen Blick auf sein Gesicht zu werfen. Noch war ich mir nicht ganz sicher, dass er den Dämon in sich wirklich in die Schranken gewiesen hatte, aber dass er gerade auf seinen eigentlichen Anführer losging sprach eigentlich auch schon für sich selbst. Freuen konnte ich mich über diese Tatsache allerdings noch nicht wirklich, denn just in dem Moment in dem Matt Maor erreichte und versuchte ihn zu Boden zu zwingen, verpasste dieser ihm einen Kinnhaken. Hatte vor kurzer Zeit noch das Knirschen von Felsen diese Höhle erfüllt, so war es nun das Knacken brechender Knochen das in der Luft lag. Entsetzt schlug ich die Hände vor den Mund als Matt rückwärts vor seinem Gegner zurückwich, eine Hand an seinen Unterkiefer gepresst, die andere schützend vor seinen Körper haltend.

Vielleicht war ich in diesem Augenblick einfach nicht Herr über meine Gedanken oder die Gefühle, die sich schon so lange in meinem Inneren aufgestaut hatten übernahmen einfach die Überhand. Auf jeden Fall verschwendete ich keine Zeit mehr und lief auf Matt zu um ihn zu stützen.

Bei ihm angekommen stellte ich erleichtert fest, dass seine Augen tatsächlich wieder dieses wunderschöne Grün angenommen hatten, das ich so sehr liebte, auch wenn es noch von einem leichten Grauschimmer durchzogen war – aber immerhin besser als nichts!

„Alles in Ordnung?“, flüsterte ich und legte eine Hand an seine Wange, ohne Maor aus den Augen zu lassen. Dieser schien vor Wut geradezu zu kochen und wäre es nicht unmöglich gewesen wäre dies der Moment gewesen in dem Dampf aus seinen Ohren hervorgeschossen wäre.

Matt antwortete nicht, sondern schaute mir nur kurz in die Augen und nickte dann knapp. Erleichtert atmete ich durch und drehte ihm dann den Rücken zu. Wenn Maor ihn noch einmal schlagen wollte, müsste er zuerst an mir vorbei – obwohl ich mir inzwischen nicht mehr sicher war, dass ich einen Vorteil hatte. Denn so wie er zurzeit aussah war es ihm herzlich egal ob ich lebte oder nicht, ob ich bei ihm blieb oder irgendwo in der Versenkung verschwand. Die Wut, die ihn erfüllte war selbst nach außen hin gut sichtbar –und machte mir, um ehrlich zu sein, wirklich Angst.

„Lass ihn!“, schrie ich ihm entgegen als er langsam wie ein Raubtier auf uns zukam. Ich bekam gar nicht richtig mit, dass mein Körper anfing wie wild zu zittern. Mein Blick war starr auf Maor gerichtet, der nun nur noch ein paar Meter von uns entfernt war.

Als ich ihn zum ersten Mal getroffen hatte, hatte er noch menschlich ausgesehen – mehr oder weniger. Jetzt war davon nichts mehr zu erkennen. Der leichte Violettschimmer, der sonst immer auf seiner Haut lag war einem durchgehenden Farbton gewichen – irgendetwas zwischen dunkelbraun, violett und blau. Auch seine Augen hatten sich verändert. Die roten Sprenkel hatten sich anscheinend ausgeweitet und nun leuchtete seine gesamte Iris in einem wilden, flackernden Rubinrot. Alles in allem ähnelte er mehr und mehr seinen Untergebenen – was mich auch nicht wirklich beruhigen konnte.

Ich wollte meinen ganzen Mut zusammenkratzen, aber es reichte nicht aus. Verängstigt presste ich mich an Matt, der hinter mir stand, und schob ihn so mit mir immer weiter von dem Dämonen vor uns weg. Maor schien das allerdings nicht weiter zu stören – er folgte uns beharrlich immer weiter.

Schließlich stieß ich gegen die Wand, Matt halb hinter meinem Rücken. Er war wieder wie weggetreten, das hatte ich gerade so mitbekommen als ich ihn aus Maors Reichweite schieben musste. Wahrscheinlich focht er gerade wieder einen Kampf gegen seinen eigenen Dämon aus.

Verzweiflung breitete sich in mir aus. Wenn ich es schon mit Matts Hilfe nicht geschafft hatte Maor in die Knie zu zwingen, wie sollte ich das dann alleine können?

„Warte! Maor!“ Ich machte einen Schritt in seine Richtung, aber er schien das gar nicht zu bemerken.

„Ich tue was du willst! Alles, wirklich! Aber lass Matt gehen!“, flehte ich. Ich stand kurz davor mich vor ihm in den Staub zu werfen und so lange zu betteln bis er mich entweder tötete oder Matt gehen ließ – wobei wohl eher ersteres zutreffen dürfte.

Ich bekam zur Antwort nur ein bestialisches Knurren. Vor mir sah ich schon wie er zuerst mich in der Luft zerreißen und sich anschließend über Matt hermachen würde als wären wir beide nur wehrlose Spielzeuge. Ich musste laut schlucken.

Maor war noch etwa zwei Meter von uns entfernt und machte sich anscheinend gerade für den finalen Angriff bereit. Sein Gesicht war mehr das eines Tieres als das eines Menschen und ich schloss meine Augen. Ich wollte nicht zusehen wie es zu Ende ging.

Maor schien den Moment so richtig auskosten zu wollen. Ich hörte seine langsamen Schritte auf den losen Kieseln und sein hektisches Atmen, das die gesamte Luft erfüllen zu schien.

Lass es bloß schnell zu Ende sein!, flehte ich gen Himmel, obwohl mir jetzt schon klar war, dass mein Gebet nicht erhört werden würde – das hatte es noch nie getan.

Plötzlich trat Stille ein. Eine Stille, die schon fast schmerzhaft war. Das Beben in meinem Körper hatte aufgehört und auch mein Herzschlag ging wieder langsam – vielleicht sogar zu langsam. Ob ihm klar war, dass es bald vorüber sein würde? Aber sollte es dann nicht Saltos schlagen vor Aufregung?

Das Rascheln von Stoff knapp vor mir ließ mich ein letztes Mal zusammenzucken, doch in dem Moment, in dem er anscheinend auf uns zuspringen wollte, erfüllte ein Donner die gesamte Höhle. Es war so laut, dass ich vor Schrecken die Augen weit aufriss und mir die Hände auf die Ohren schlug. Was passierte jetzt?

Maor schien genauso ratlos zu sein wie wir. Er stand nur noch zwei Meter von uns entfernt. Seine Knie waren gebeugt. Seine rechte Hand stützte sich am staubigen Boden ab und die Linke war zu einer Klaue verformt. Nun suchte er, genau wie ich, die Höhlendecke nach Rissen ab – und die tauchten auch wie aus dem Nichts auf.

Auf einen Schlag fing mein Herz so laut an zu pochen, dass ich nichts anderes mehr hörte außer meinem Puls. Nicht einmal das donnernde Brechen von Fels über uns nahm ich noch wahr.

Erst, als sich die ersten, kleinwagengroßen Brocken lösten und vor und neben uns aufschlugen, löste sich meine Erstarrung. Wir würden allesamt lebendig begraben werden!

Wie von selbst fand meine Hand Matts. Ich versuchte mit aller Kraft ihn von der Stelle zu bewegen, doch er zeigte keinerlei Reaktion als wäre ich überhaupt nicht da. Verzweifelt zerrte ich weiter, aber es half alles nichts.

Nun wanderte mein Blick durch die Höhle. Maor war nicht mehr da. Anscheinend hatte auch er verstanden, dass er sterben würde, wenn er es nicht rechtzeitig hier heraus schaffte – so wie Matt und ich.

Tränen stiegen mir in die Augen. So durfte es doch nicht Enden! Ich hatte mich auf einen blutigen Tod im Kampf gefasst gemacht, nicht darauf verschüttet zu werden! Zorn stieg in mir hoch, doch bevor er an die Oberfläche brechen konnte, traf mich etwas hart am Kopf. Nicht einmal einen Herzschlag später wurde es schwarz um mich und ich sank kraftlos zu Boden.

 

Mein Kopf! Was war nur damit los?

Zitternd hob ich meine Hand und fuhr mit den Fingerspitzen erst über die Stirn, dann über die Schläfen und schließlich hinauf zu meinem Scheitel. Etwas Warmes, Klebriges blieb an meinen Fingern haften. Ich wagte es nicht meine Augen zu öffnen.

Eines war mir sofort klar: ich war noch am Leben. Nur wie konnte das sein? Die Höhle war über meinem Kopf zusammen gestürzt. Ich müsste eigentlich unter irgendeinem tonnenschweren Felsbrocken eingeklemmt sein.

Aber das war ich nicht. Vorsichtig spannte ich sämtliche Muskeln in meinem Körper nacheinander an. Sie schmerzten, ja, das schon, aber ich war anscheinend nirgendwo eingeklemmt. Keine meiner Gliedmaßen war zerquetscht worden.

Vorsichtig öffnete ich meine Augen einen winzigen Spalt breit, doch ich konnte überhaupt nichts erkennen. Um mich herum war es stockdunkel, doch weit über mir, millionen Kilometer von der Erde entfernt, funkelten die Sterne miteinander um die Wette. Irgendetwas kitzelte meine nackten Beine und mein Kinn –Gras.

Ächzend drehte ich mich auf die Seite, eine Hand immer noch auf meinen Schädel gepresst. Ein leichter Wind wirbelte meine schwarzen Haare auf, die mit meiner Umgebung zu einem einheitlichen schwarz verschmolzen. Ich war wieder an der Oberfläche…

Wie konnte das sein? Das Letzte, an das ich mich erinnerte war, dass mich etwas am Kopf getroffen hatte – wahrscheinlich ein Stein. Wie war es also möglich, dass ich jetzt hier auf einer Wiese lag?

Wackelig richtete ich mich etwas auf und versuchte in der Dunkelheit wenigstens irgendwas auszumachen, aber es funktionierte nicht. Der blaue Schimmer blieb aus. Ich rappelte mich auf und drehte mich einmal um mich selbst. Alles blieb unverändert.

Dann holte mich eine fürchterliche Erkenntnis ein: Matt war wahrscheinlich noch in der Höhle! Stolpernd bewegte ich mich einen steilen Hang hinauf, doch ich wusste nicht einmal wo ich den Eingang suchen sollte. Vor Anstrengung zitternd sackte ich auf einer ebenen Steinplatte zusammen und legte mein Gesicht in meine Hände. Jetzt hatte ich ihn endlich wieder und schon war er wieder verloren – und dieses Mal vielleicht für immer.

Plötzlich durchbrachen Stimmen die nächtliche Stille. Mein Körper spannte sich automatisch an, immer auf das Schlimmste gefasst. Vielleicht hatte Maor seine Dämonen nach mir ausgesandt. Allein diesen Namen zu denken genügte, um meinen Körper vor Wut erbeben zu lassen.

Oder aber…

„John! Hier drüben ist sie!“ Das war George. Sofort nahm ich meine Hände von meinem Gesicht. Der Lichtstrahl einer Taschenlampe, der direkt auf mich gerichtet war, machte mich für einen kurzen Augenblick fast blind.

„Oh mein Gott! Nici, wie siehst du denn aus!?“, fragte er. Endlich senkte er die Lampe ein Stück und leuchtete nun auf meine Knie.

Meine Stimme bebte. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich weinte. „Wo ist er?“, hörte ich mich fragen. Ich war mir nicht sicher, dass George mich verstanden hatte.

Ich hörte seine Schritte näher kommen, dann stoppte er direkt vor mir und ging in die Knie, damit wir auf einer Höhe waren. „Hast du Schmerzen? Tut dir irgendetwas weh?“, wollte er wissen, anstatt meine Frage zu beantworten. Er hatte sie also nicht gehört…

„Wo ist Matt?“, fragte ich noch einmal und unterdrückte ein Schluchzen. George fuhr vorsichtig über meine Stirn. Seine Finger waren warm und weich und für einen kurzen Augenblick schafften sie es die Schmerzen zu verdrängen.

Die Taschenlampe lag inzwischen auf dem Stein neben mir und spendete uns so indirekt Licht.

„Ich weiß es nicht“, murmelte er und senkte beschämt den Blick.

Kraftlosigkeit überflutete mich wie eine riesige Welle. Matt…

Ohne es wirklich zu bemerkten kippte ich nach hinten um. Im letzten Moment fing George mich auf.

„Nein, nein, nein, nein! Nici! Bleib wach!“ Er schüttelte mich leicht, dann hob er mich hoch. Ich hörte seine gedämpften Schritte auf dem weichen Boden, doch ansonsten bekam ich nichts mehr mit.

 

Als ich ein weiteres Mal erwachte war es immer noch dunkel um mich. Sofort registrierte ich, dass ich mich nicht mehr im Freien befand. Stattdessen lag ich auf einer weichen Matratze. Mein bebender Kopf war auf ein schmales Kissen gebettet und irgendetwas schlang sich quer über meine Stirn – es war ein Verband.

„Nici, bist du wach?“, fragte jemand von links über mir.

Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich meine Stimme wieder gefunden hatte. „Ja, bin ich.“ Ich schluckte schwer. „Wie lange habe ich geschlafen?“ Das war eine ungefährliche Frage, die nichts mit einer bestimmten Person zu tun hatte. Einer Person, die ich zum zweiten Mal verloren hatte.

„Nicht lange, nur etwa eine Viertelstunde.“ Erst jetzt erkannte ich diese Stimme, sie gehörte zu John. Ich seufzte auf. Irgendwie war ich froh, dass nicht George bei mir war – er hatte zu viel Ähnlichkeit mit seinem Bruder.

Schweigen breitete sich zwischen uns aus, das John nach ein paar zähen Minuten brach.

„Brauchst du Licht?“

„Nein, danke.“

Seine Stimme klang ausdruckslos und weit entfernt, als er weiter sprach. „Er ist nicht wieder aufgetaucht. Wir hätten die Höhle niemals sprengen dürfen…“

Ich merkte, wie sich mein Herz bei diesen Worten zusammen zog. „Ihr habt die Höhle gesprengt? IHR?!“ Ich schnellte in die Höhe und krallte meine Finger an dem Leintuch unter mir fest. Meine Stimme klang… wütend.

„Es tut mir so leid, Nici! Das war die einzige Möglichkeit dieses Monster zu töten“, versuchte John sich zu rechtfertigen, doch ich konnte hören, dass er mit dieser Erklärung selbst nicht glücklich war.

„Und? Ist er tot?“, hakte ich gereizt nach. Ich wollte nicht so sein, aber meine Gefühle überwältigten mich einfach.

„Das wollte ich eigentlich dich gerade fragen. Ist der Seelensauger weg?“ John kam näher und setzte sich ans Fußende des Feldbettes – ich erkannte es daran, dass das Gestell lautstark quietschte als es auch noch das zusätzliche Gewicht tragen musste.

Natürlich! Mir fiel erst jetzt wieder ein, dass ich den Dämon nur loswerden konnte, indem wir den Dämonenfürsten töteten. Also war mein Dämon jetzt weg, oder nicht?

Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich. Etwas hatte sich verändert. Ich suchte in meinen Gedanken nach einem Hinweis, dass ich meinen Körper jetzt für mich allein hatte.

Schließlich fiel mir etwas ein.

„Ich kann nicht mehr im Dunkeln sehen…“ Die Worte kamen nur langsam über meine Lippen, als wäre ich mir nicht ganz sicher – aber das war ich! Diese seltsame Nachtsichtfunktion war eindeutig nicht mehr da.

John neben mir atmete erleichtert aus. „Das ist ein gutes Zeichen. Sehr gut sogar!“ Aber seine Freude währte nicht lange, denn genau wie ich wusste auch er genau welchen Preis wir dafür bezahlt hatten.

„Wie bin ich aus der Höhle heraus gekommen?“ Mein Körper entspannte sich etwas und ich konnte freier Atmen doch nun füllten sich meine Augen mit Tränen.

„Matt hat dich heraus getragen. Wir haben zuerst unseren Augen gar nicht getraut, als wir ihn gesehen haben. Zuerst glaubten wir, dass er dir etwas tun wollte. Ein paar Dämonen verfolgten euch. Wir haben uns um sie gekümmert. Dann warst du auf einmal verschwunden und Matt ist zurück in die Höhle gerannt.“ Er machte eine kurze Pause. „Er hat Maor daran gehindert die Höhle zu verlassen.“

Mein Herz zog sich krampfhaft zusammen. Reflexartig presste ich mir eine Hand auf die Brust, doch es half nichts. Der Schmerz blieb.

„Heißt dass er ist…“

„Wahrscheinlich schon.“ Die Trauer, in der ich in diesem Moment versank, war unbeschreiblich. Es war, als wäre ich in einen riesigen Strudel geraten, der mich langsam aber sicher in die Tiefe zog. In die Schwärze und den Tod.

Schluchzend kippte ich vorne über und verbarg mein Gesicht in der Bettdecke. Ich spürte Johns Hand auf meiner Schulter. Wahrscheinlich fühlte er sich genau wie ich – nur konnte er seine Tränen zurück halten. Er war nicht schwach, wie ich.

Irgendwann ging er und ließ mich allein zurück. Inzwischen war ich mir fast sicher, dass die beiden Jäger mich in unser Basislager im Wald zurück gebracht hatten. Es roch nach dem gefallenen Laub und den frischen, grünen Nadeln der Bäume. Mich ließ das allerdings alles kalt.

So hätte es nicht enden dürfen. Ich hätte diejenige sein müssen, die starb, nicht Matt. Aber jetzt war er weg und daran war nur ich allein schuld. Wäre ich nur nicht ohnmächtig geworden. Hätte ich ihn nur besser beschützt…

24. Kapitel

 

Als die Sonne am nächsten Morgen aufging, saß ich immer noch genauso da, wie John mich in der Nacht zurück gelassen hatte. Nur am Rande meines Blickfeldes bekam ich mit, dass sich die Schatten der Bäume, langsam – wie die Finger einer riesigen Hand – auf der östlichen Zeltwand ausstreckten.

Tief durchatmend richtete ich mich auf. Meine Augen waren angeschwollen und brannten und meine Lunge schmerzte bei jedem Atemzug vom Schluchzen. Diese Schmerzen konnte ich allerdings ohne größere Probleme ausblenden.

Doch etwas anderes blieb, und das schien mich in die verbliebenen Schatten ziehen zu wollen. Unsicher schwang ich meine Beine über den Rand des Feldbettes und tapste zu einem schmalen Schlitz in der Wand. Ich trug immer noch dieses abscheuliche Kleid und am liebsten hätte ich es mir vom Körper gerissen, doch dafür hatte ich später noch genug Zeit. Jetzt musste ich erst noch etwas Anderes erledigen.

Schwankend trat ich vor das Zelt. Es war vollkommen windstill und ruhig und die ersten Sonnenstrahlen blendeten mich. Irgendwie war es seltsam zu wissen, dass ich jetzt nur noch ein ganz normaler Mensch war – zum ersten Mal in meinem Leben. Ich atmete erneut tief ein und wandte mich dann nach rechts, den Hang hinauf. Der weiche Boden gab unter meinem Gewicht leicht nach, aber hin und wieder bohrte sich ein Steinchen in meine Fußsohle. Einige Äste streiften meine nackten Arme und kratzten die Haut auf, doch ich ging stur weiter.

Am oberen Rand des Hangs angekommen hatte ich freie Sicht auf den ehemaligen Eingang zu Maors Höhle – nur, dass da jetzt nichts mehr war. Der schwarze Spalt war einer Schutthalde gewichen, die noch weit in den Platz vor dem Höhleneingang hinein reichte.

Ich konnte ein lautes Seufzen nicht unterdrücken. Jetzt, wo es langsam immer heller wurde, hatte dieser Ort nichts Bedrohliches mehr.

„Ich warte schon die ganze Nacht auf ein Zeichen von ihm.“ Erschrocken zuckte ich zusammen und schnellte wie von der Tarantel gestochen herum. George saß, mit dem Rücken an einen Baumstamm gelehnt, auf einem niedrigen Steinbrocken und starrte die Felswand vor uns an.

Vorsichtig näherte ich mich ihm und sank neben ihm zu Boden. „Es tut mir leid. Daran bin ich schuld. Er ist meinetwegen gestorben.“

George reagierte nicht auf meine Worte. Sein Körper war wie eine Statue komplett unbewegt.

„Ist dir eigentlich klar, wie sehr er dich geliebt hat?“ Seine Stimme bebte bei jedem einzelnen Wort. Ich fing unkontrolliert an zu zittern, aber es lag nicht etwa an der Kälte. Es war der Gedanke, dass ich Matt nun endgültig verloren hatte, der diese Reaktion in mir auslöste.

Eine einsame, heiße Träne rollte meine Wange hinab.

„Weißt du, ich dachte ich würde…“ George brach ab und schaute mich an – ich spürte seinen Blick auf meinem Gesicht. „Aber er, er hätte alles für dich getan. Er hat alles für dich getan.“

Beschämt ließ ich mein Haar einen undurchdringlichen Vorhang zwischen mir und ihm bilden. Ich wollte etwas sagen, doch nur ein leises, kaum hörbares Schluchzen kam über meine Lippen.

Stumm erhob sich George. Ich hörte, wie sich seine Schritte im Wald hinter mir entfernten. Dann war ich allein.

Ja, es war wirklich seltsam. Als ich Matt das erste Mal verloren hatte, hatte ich schon fast körperlich gespürt, dass er noch am Leben war. Jetzt war das nicht so. Ob es daran lag, dass ich kein Dämon mehr war? Oder lag es vielleicht daran, dass Matt…

Nein! Es gab immer noch Hoffnung – zumindest versuchte ich mir das einzureden.

Langsam stand ich auf und wandte mich nach links, wo sich ein schmaler Wiesenstreifen zwischen den hohen, dunklen Bäumen erstreckte. Die gelben und violetten Blüten wirkten zwischen den langen Schatten so fehl am Platz wie ich mich gerade fühlte. Und verlassen.

Vorsichtig, um die Blumen nicht zu verletzten, pflückte ich ein paar und bildete so nach und nach einen kleinen Strauß. Er war nicht viel größer als meine Faust, aber immer noch besser als gar nichts.

Schon fast schreitend näherte ich mich dann der Schutthalde. Die Steine bohrten sich nun schmerzhaft in meine Fersen und schienen meine Tränen nur noch anspornen zu wollen. Als ich das Sträußchen ablegte, zitterten meine Hände so stark, dass sich ein paar Grashalme, die ich mit abgerissen hatte, von meiner Haut lösten und lautlos auf die losen Steine nieder segelten. Sie fielen – genau wie Matt und ich.

Vielleicht hatte es einfach nicht sein sollen. Vielleicht hatte eine höhere Macht bestimmt, dass ich einfach nicht gut genug für ihn war und dass er eher sterben sollte als mir zu gehören. Es klang zwar dramatisch, aber inzwischen kam es mir nicht einmal mehr so abwegig vor.

Matt hatte sich geopfert, damit ich wieder leben konnte. Damit mein Leben nicht mehr von einem Dämonen beherrscht wurde.

Ich ging in die Knie und drehte einen Blütenkelch zu Recht. Ein letztes Mal noch sollte alles perfekt sein – nur für ihn. Eine Sekunde später brach ich zusammen. Meine Kraft reichte nicht einmal mehr aus um meinen kleinen Finger zu bewegen und ich sandte ein Stoßgebet zum Himmel, dass mich so keiner der Jäger fand. Nicht, weil ich mich dafür schämen würde – nein, das ganz bestimmt nicht. Aber das hier war etwas, das ich ganz alleine durchstehen musste und niemand, auch nicht John oder George, konnten mir dabei helfen. Niemand außer Matt…

Wie lange ich so dalag wusste ich später nicht mehr. Es war auch nicht wichtig.

Doch ein Geräusch über mir schaffte es, mich aus diesem tiefen Loch heraus zu ziehen: das Knirschen von Stein auf Stein. Wie in Trance drehte ich mein Gesicht nach oben. Meine Haare versperrten mir die Sicht, doch ich konnte hören, wie sich ein paar Steine aus dem Haufen lösten und neben mir zu Boden kullerten. Sofort waren meine Sinne wieder angespannt wie Drahtseile.

Was, wenn Maor überlebt hatte? Was, wenn er jetzt gekommen war um mich zu töten?

Verängstigt wich ich ein paar Meter zurück. Wie ich so schnell auf die Beine gekommen war, war mir selbst ein Rätsel. Ganz oben, am höchsten Punkt der Schutthalde bewegte sich ein größerer Felsbrocken. Es sah beinahe so aus, als würde der Berg langsam ein- und ausatmen. Kleine Kiesel lösten sich und fielen mir vor die Füße.

Mein Atem ging schneller, mein Herzschlag beschleunigte. Wie von selbst ballte ich meine Hände zu Fäusten – auf alles gefasst.

Größere Steine folgten und ich musste einen weiteren Meter zurück weichen, um nicht einen meiner Zehen zu opfern.

Und dann war es so weit. Ganz oben bildete sich eine längliche, schlitzartige, schwarze Öffnung – gerade groß genug, dass ein Mensch hindurch passte. Vor Spannung hielt ich den Atem an.

Wie aus dem Nichts erschienen schlanke, lange Finger und krallten sich an einem der Felsen fest. Mein Herz schien einen Schlag auszusetzten.

Als nächstes kam eine ganze Hand, dann noch eine zweite. Ich stand kurz davor zu hyperventilieren.

Eine gute Minute verstrich und ich stand immer noch wie eine Statue da und konnte mich keinen Zentimeter bewegen. Was allerdings dann geschah ließ meinen Körper erzittern – ob vor Freude oder Schrecken wusste ich nicht.

Ein hellbrauner, von Staub bedeckter Haarschopf tauchte im Sonnenlicht auf und ihm folgten breite Schultern. Dann der Rücken und zuletzt die Beine.

Mein Mund klappte auf und ich konnte mir einen Schrei nicht verkneifen.

Im nächsten Moment rollte Matt, den Kopf voran, die Schutthalde hinab. Er landete ein Stückchen vor mir zwischen den Steinen – genau neben dem Sträußchen, das ich für ihn niedergelegt hatte.

Seine Gesichtszüge waren vollkommen entspannt und er schien so friedlich zu sein, wie ich ihn kaum einmal zu Gesicht bekommen hatte. Ich atmete lautstark ein – schnappte nach Luft – und tapste auf wackeligen Beinen auf ihn zu.

„Matt?“ Wie in Zeitlupe fiel ich neben seinem Körper auf die Knie. Ich wollte meine Hände nach seinem Gesicht ausstrecken, aber ich konnte mich nicht dazu überwinden. Meine Finger suchten selbstständig, nach etwas, an dem sie sich festhalten konnten, aber sie fanden nichts.

Erst nach ein paar Augenblicken der vollkommenen Stille wagte ich es ihn anzufassen. Meine Fingerspitzen wanderten vorsichtig über seine Wange, den Hals hinab und bis zu seiner Schulter. Ich schüttelte ihn leicht – keine Reaktion.

Langsam kroch Verzweiflung in mir hoch. Was, wenn er ernsthaft verletzt war? Wenn er es gerade so, mit letzter Kraft, zurück an die Oberfläche geschafft hatte.

„Hilfe“, flüsterte ich, kaum hörbar. Noch mehr Tränen verschleierten meinen Blick.

„Hilfe!“ Jetzt hallte meine Stimme von den Felswänden um mich wider und rollte, wie eine riesige Welle, über den Wald hinter mir. „John! George! Hilfe!“

Meine Haare fielen über meine Schulter nach vorne und warfen einen Schatten auf Matts ausgezerrtes Gesicht. Erst jetzt bemerkte ich, wie kraftlos er eigentlich wirkte. Seine Wangen waren blass, was nicht nur an dem Staub auf seiner Haut liegen konnte. Seine Lider waren ganz leicht bläulich angelaufen und verliehen ihm ein kränkliches Erscheinungsbild. Friedlich hatte er nur auf den ersten Blick gewirkt.

Das Geräusch von Schritten hinter mir ließ mich herum wirbeln. Durch meinen Tränenschleier hindurch erkannte ich die Jäger, die genau auf mich zu rannten. Kaum hatten sie uns erreicht, da schob mich einer von ihnen – ich tippte auf George – sanft zur Seite, damit er und John leichter an Matt heran kamen. Nebenbei bekam ich mit, dass Tränen feuchte Spuren über die Wangen des jüngeren Bruders zogen.

Ich schlug mir die Hände vor den Mund, um ein Schluchzen zu ersticken. Keine Minute später hatten die beiden Männer Matt auf ihre Arme geladen und schleppten ihn an mir vorbei. John rief mir irgendetwas zu, aber ich verstand ihn nicht. Mein Puls pochte zu laut in meinen Ohren. Eine knappe halbe Stunde verging in der ich unbewegt auf die Stelle zwischen den Bäumen starrte, wo John, George und Matt verschwunden waren.

Dann kam einer von ihnen zurück. Es war John. Er legte behutsam einen Arm um meine Schulter und zog mich auf die Beine. Gemeinsam gingen wir zum Zelt zurück, wo er mich auf mein Bett drückte und mir eine Decke um den Körper legte. Ich merkte erst jetzt, dass ich fror und eine Gänsehaut meine Haut bedeckte.

„Schlaf ein bisschen. Du kannst jetzt ohnehin nichts für ihn tun.“ Damit verließ er mich. Noch lange saß ich da, doch irgendwann fielen mir die Augen zu. Wahrscheinlich sollte es eine Schutzreaktion meines Körpers sein…

 

Was für ein merkwürdiger Traum, war das erste, was ich dachte als ich aufwachte. Etwas hatte mich aus meinem Schlaf gerissen und nun lag ich mit weit geöffneten Augen auf dem Rücken und starrte an die Zeltdecke. Der Wind draußen ließ kleine Wellen über den Stoff rollen und ein leises Rascheln erfüllte die Luft.

Ich streckte mich und setzte mich aufrecht hin. Meine Augen brannten und einige meiner Wimpern klebten aneinander. Ich erinnerte mich nicht daran, dass ich geweint hatte, als einer der Jäger – ich wusste nicht einmal mehr welcher es war – mich in der Nacht nach unserer Flucht gefunden hatte. Aber ich hatte ganz eindeutig diesen salzigen Geschmack auf der Zunge.

Langsam und vorsichtig stand ich auf. Meine Fußsohlen brannten wie wild, als wäre ich auf Nadeln gelaufen. Was war nur los mit mir?

Eine Stimme drang durch die Zeltwand. Ich stand einen Moment da und lauschte gebannt.

„Wo ist N-Nici? Geht es ihr gut?“ fragte eine kratzige, tiefe Stimme. In mir stieg Verwirrung auf. Irgendwo hatte ich sie schon einmal gehört – nur wo… Wo?

Ich bewegte mich einen Schritt auf den Eingang zu, blieb dann aber erneut stehen weil wieder gesprochen wurde.

„Sie schläft. Soll ich sie holen?“ Das war John. Im Hintergrund sog irgendjemand, ziemlich geräuschvoll, Luft durch die Nase hoch.

Ich wollte gerade weiter gehen, doch John kam mir zuvor und stand plötzlich vor mir.

„Du bist wach?“, wollte er verblüfft wissen und schob mit der rechten Hand den Stoff zur Seite.

Ich nickte knapp.

„Er will dich sehen…“ meinte er nach paar Sekunden und warf einen Blick über seine Schulter.

Und die Verwirrung wuchs und wuchs immer weiter…. „Wer?“

Johns Stirn legte sich in Falten. „Matt.“

Ich zuckte zusammen. Was meinte er? Matt war… tot. Oder etwa doch nicht?

„Aber Matt ist…“

„Kannst du dich nicht erinnern?“ Nun kam John auf mich zu und verschränkte die Arme vor der Brust. Hätte ich ihn nicht gekannt, hätte ich wahrscheinlich Angst gehabt. Aber ich wusste, wie er tickte.

„Er lebt?“, flüsterte ich, eher für mich als für irgendjemanden anders.

„Ja, und er will dich sehen – jetzt!“ fügte er hinzu.

Ein Beben ging durch meinen Körper. Er lebt!

Ich war schneller an John vorbei, als der auch nur mit der Wimper zucken konnte. Im angrenzenden Raum – ja dieses Zelt HATTE Räume! – legte ich eine Vollbremsung hin, strauchelte und ließ meinen Blick suchend über die aufgestapelten Kisten gleiten bis er schließlich an einer Matratze, die notdürftig auf den Boden gelegt wurde, hängen blieb.

„Mein Gott!“, stieß ich hervor und sank daneben auf die Knie bevor ich überhaupt nachdenken konnte.

George, der sich ans Kopfende der Matratze gesetzt hatte, bemerkte ich erst jetzt. „Ich lass euch dann mal besser allein.“ Und damit stand er auf und verschwand. Ich schaute ihm über die Schulter hinterher bis ich ihn nicht mehr sehen konnte.

Ein leises Räuspern vor mir holte mich in die Gegenwart zurück. Zwei moosgrüne Augen schauten zu mir auf. Ich seufzte bei diesem Anblick auf.

„Du… du lebst“, presst ich durch halb geschlossene Lippen hindurch.

Ein bezauberndes und doch etwas schwächliches Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

„Es ist schön dich zu sehen“, erwiderte er ohne seinen Blick von meinem Gesicht zu wenden. Es fühlte sich an, als würden unsere Blicke verschmelzen.

„Ich dachte ich hätte dich verloren… schon wieder!“, fing ich nun an und schaffte es kaum meine Hände ruhig zu halten.

„So schnell wirst du mich schon nicht los“, meinte Matt nur und ich glaubte zu sehen wie er unter der dicken Decke mit den Schultern zuckte.

„Du bist doch verrückt!“, schrie ich ihn jetzt schon fast an. Ich freute mich wahnsinnig ihn zu sehen, aber ich wusste nicht ob ich es noch einmal verkraften würde ihn zu verlieren.

„Ich liebe dich.“

„Ich hätte fast meinen Verstand verloren und du bist schuld daran!“

„Ich liebe dich.“

„Du bist so ein verdammter…“ Ich brach mitten im Satz ab und trommelte nun mit meinen Fäusten auf seine Schulter ein. Es war mir egal, dass ihm das vielleicht wehtat. Er hatte ja keine Ahnung was er mir angetan hatte. Wie sehr ich gelitten hatte weil mich die Sorge um ihn innerlich zerfraß.

„ICH-LIEBE-DICH!“ Kräftige Finger schlossen sich um meine Handgelenke und hinderten meine Hände so daran weiter auf ihn nieder zu sausen. Im nächsten Augenblick hatte er mich auch schon zu sich hinab gezogen und presste seine Lippen fest auf meine.

„Du solltest wirklich anfangen mir zuzuhören“, flüsterte er mir ins Ohr als er mich wieder losgelassen hatte.

Das wundervolle Grün von Matts Augen schien mir entgegen zu strahlen… Fast als wollte es mir sagen, dass jetzt endlich alles gut werden würde.

 

Epilog

 

Langsam wanderte mein Blick über die hellgelbe Fassade des kleinen Häuschens hinter dem Fenster der Beifahrertür.

„Bist du dir sicher, dass du das willst? Wir können auch wieder nach Hause fahren…“, wollte Matt noch einmal wissen. Ich wusste, dass er es nur gut meinte. Genau wie ich auch wusste, dass ich da jetzt durch musste – komme was wolle.

„Nein, ich muss das tun. Es ist schon längst überfällig.“ Ich warf einen Blick auf seine besorgte Miene.

„Gut, soll ich dich begleiten?“ Er zog eine Augenbraue hoch und legte seine linke Hand lässig über das Lenkrad.

„Vielleicht sollte ich lieber….“, fing ich an, doch Matt unterbrach mich.

„Ist schon gut. Geh nur, du weißt ja wo du mich findest.“

Erleichtert atmete ich aus, beugte mich dann über den Schalthebel und drückte ihm einen kurzen Kuss auf den Mund bevor ich mich von meinem Sicherheitsgurt befreite und die Autotür aufstieß.

Sofort griff eine leichte Brise meine langen, schwarzen Haare auf und ließ sie durch die Luft wirbeln als wären sie Tänzer.

Langsam ging ich den schmalen, gepflasterten Weg entlang, der links und rechts von niedrigen Sträuchern und Blumen gesäumt war. Schließlich erreichte ich die Haustür aus dunklem Holz. Ohne noch einen Moment inne zu halten presste ich auf den winzigen Knopf neben dem Rahmen. Als das melodische Läuten der Glocke im Inneren des Hauses ertönte zuckte ich erschrocken zusammen.

Alles gut, dass war nur die Klingel, die tut dir nichts, versuchte ich mir selber einzureden.

Dann erklangen Schritte durch die dünne Hauswand und ich spürte wie sich mein Körper versteifte, gefolgt von dem Knacken und Rascheln des Schlosses und dem dumpfen Geräusch als die Klinke hinunter gedrückt wurde.

Als die Tür aufschwang erschien eine kleine Frau mit dunklen – fast schwarzen – Haaren vor mir. Sie trug eine Brille und trocknete gerade ihre Hände an einem Geschirrtuch ab.

„Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?“ wollte sie höfflich von mir wissen und beäugte mich aus grau-braunen Augen.

„Ich… Ich, ähm… Sind Sie Mary Carter? Kann ich reinkommen?“ Immer wieder brach meine Stimme weg und ich spielte verlegen mit einer verirrten Haarsträhne.

„Ja, die bin ich.“ Sie trat zur Seite und bedeutete mir mit einer Handbewegung ihr ins Haus zu folgen. Ein letzter Blick über die Schulter zeigte mir, dass Matts Auto noch genau dort stand, wo ich ausgestiegen war. Tief durchatmend lief ich der Frau einen schmalen Gang entlang nach, der schließlich in einem großen, mit massenhaft Pflanzen zugestopften Wohnzimmer mündete.

„Bitte, setzten Sie sich doch“, sagte sie und wies auf das hellbraune Sofa in der Mitte des Raumes.

Schwerfällig ließ ich mich auf das Möbelstück fallen, sie setzte sich auf den Polstersessel mir gegenüber.

„Also“, fing ich an, „Ich bin hier, weil ich mit Ihnen über etwas reden muss. Ich…“ Gerade wollte ich weiter sprechen, da ließ mich ein quietschendes Geräusch hochfahren. Mein Kopf drehte sich automatisch in die Richtung, aus der das Gequieke kam und ich erstarrte fast bei diesem Anblick.

Ein Mann, um die fünfzig Jahre alt und in einem Rollstuhl sitzend – die Räder auf dem Linoleumboden erzeugten das nervende Geräusch - , kam auf uns zugerollt und blieb unweit der Tür stehen.

„Schatz, du hast mir gar nicht gesagt, dass wir Besuch bekommen.“ An mich gewandt fügte er noch hinzu: „Guten Tag.“

„Nun, was wollte Sie mir gerade sagen?“, fragte nun die Frau und warf mir einen neugierigen Blick zu während ihr Mann sich neben sie postierte.

„Ich…“ Noch einmal brach ich ab, holte tief Luft und sprach dann endlich das aus, weshalb ich eigentlich hier war. „Ich bin eure Tochter.“

Die Reaktion der beiden war überwältigend. Meine Mutter presste sich eine Hand aufs Herz und fächerte sich mit der anderen Luft zu während Tränen in wahren Sturzbächen ihre Wangen hinab flossen.

Kaum hatte sie sich davon erholt, kam sie auf mich zu und schloss mich so fest in ihre Arme, dass ich fast keine Luft mehr bekam. Mein Vater tat es ihr, nachdem sie mich losgelassen hatte und wenn auch um einiges zurückhaltender, nach. Selbst wenn ich sie kaum kannte, so wohl und geborgen hatte ich mich bisher selten in meinem Leben gefühlt.

 

Es war spät geworden – fast zehn Uhr abends. Inzwischen stand ich vor meinem Elternhaus und verabschiedete mich von ihnen.

„Versprich mir, dass du bald wieder vorbei kommst. Wir haben so viel nachzuholen!“, forderte meine Mutter von mir. Schon wieder hatte sie Tränen in den Augen.

Ich hatte ihnen alles erzählt – wirklich alles. Auch, was ich getan hatte, hatte ich nicht vor ihnen zurückgehalten, doch sie hatten mich nicht dafür verurteilt. Sie waren einfach nur dagesessen und hatte mich aus ihren tränennassen Augen angesehen als wäre ich ein Geschenk des Himmels.

„Natürlich. Meine Telefonnummer habt ihr ja jetzt.“ Ich schloss beide noch einmal in meine Arme und winkte ihnen über die Schulter zu bevor ich den Weg zum Auto wieder zurück ging. Durch die Dunkelheit warf ich einen letzten Blick auf das kleine Haus und mein Herz schlug schneller. Erleichtert, dass ich das nun endlich geschafft hatte, stieg ich ein.

„Du bist wieder da. Ich dachte schon du hättest mich vergessen“, scherzte Matt, kaum, dass ich im Sitz saß.

Ich unterbrach ihn mit einem Kuss. „Du weißt doch, dass ich das nicht könnte.“

„Wie ist es gelaufen?“, wollte er nun ernst wissen.

„Perfekt.“ Sein tiefes Lachen erfüllte den Wagen.

Selbst jetzt, wo ich sein Gesicht kaum sehen konnte wusste ich, dass ich ihn niemals wieder verlieren würde – denn das würde ich nicht zulassen.

Matt und ich, wir gehörten zusammen wie Tag und Nacht.

Und das würden wir ab heute auch tun – für immer.

 

THE END

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 26.04.2010

Alle Rechte vorbehalten

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