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1. Kapitel
„Es ist gut, sich aussprechen zu können. Es ist gefährlich, es nicht zu können.“
Hermann Oeser, dt. Schriftsteller


Alexandra


Ein schriller Schrei entrinnt meiner Kehle. Unwillkürlich muss ich weinen. Was ein Leben! Jeden Tag geht es so. Jeden verdammten Tag! Meine Gefühle sind denen total egal. Die Typen haben meine Seele zerstört, mein vertrauen zerrissen und mein Selbstbewusstsein gedemütigt, doch das schlimmste ist, das ihnen das völlig egal ist. Man sagt ja, dass die Zeit alle Wunden heilt, bei mir ist das nicht der Fall. Nein, sie macht sie nur noch schlimmer.
Jeden Tag habe ich immer mehr angst. Angst zur Schule zu gehen, auf die Straße oder sogar angst allein in meinem Zimmer zu sein, denn sie können zu mir hoch ans Fenster klettern! Machen sie nicht. Zum Glück. Bis jetzt. Dennoch, Tag täglich frießt mich die Angst, der Schmerz, die Einsamkeit, die Trauer und die Wut, die ich für mich selber empfinde innerlich auf. Mein Leben ist ein einziger Scherbenhaufen, mit Scherben die man nicht wieder so einfach zusammen legen und festkleben kann. Natürlich nicht, denn Scherben bleiben Scherben. Ein Kaputter Spiegel, der einem runter gefallen ist und in 1000 Einzelteile zersprungen ist wird nie so sein wie früher.
Unzählige Narben auf meinem Herzen und in meiner Seele sprießen, und es werden immer mehr. Am liebsten würde ich meinem Leben ganz einfach ein Ende setzen, doch ich kann es einfach nicht, ich habe schreckliche angst.
Wenn ich Zuhause ankomme, renne ich die Treppe, die in mein Zimmer führt hoch, knalle die Tür zu, werfe mich aufs Bett und weine mir die Seele aus dem Leib. Meine Eltern ignoriere ich, die jedes Mal besorgt in mein Zimmer kommen um zu fragen was denn immer mit mir los ist. Sie können sich gar nicht richtig um mich kümmern, denn sie sind viel zu oft auf Geschäftsreisen, sodass ihnen für mich keine Zeit bleibt. Ich kann ihnen gar nichts anvertrauen und nie mit ihnen über die Dinge reden, die mich wirklich bedrückten. Zum Beispiel die Schikanen und die Gewalt, die ich fast jeden Tag erleiden muss. Nie, gehen sie auf Elternsprechtage oder Sonstiges, immer sind sie zu Beschäftigt mit ihrer scheiß Arbeit. Ich fühle mich alleingelassen, auch wenn sie sich die größte Mühe geben immer für mich da zu sein, scheitert dies. Ich weiß das sie mich lieben, ich sie natürlich auch, aber ihr Job hindert sie daran, die Dinge zu tun, die eine ganz normale Familie tun würde. Immer bin ich auf mich allein gestellt. Ich fühle mich wie ein armes kleines Waisenkind, dessen Eltern urplötzlich gestorben sind und sich niemand mehr um es kümmern kann. Allein gelassen!
Zu allem überfluss kommt der Freund meiner Tante jedes mal zu uns um mich zu „besuchen“. Meiner liebsten Tante tischt er auf, das er zu einem Freund geht. Meine Eltern sind nicht da und er ist bei mir. Dieser Perversling vergreift sich dann immer an mir und ich muss alles machen was er mir sagt. Wenn ich mich widersetze, werde ich verprügelt. Wenn ich jemandem davon erzähle, werde ich verprügelt. Wenn ich irgendwas mache was ihm nicht gefällt, werde ich verprügelt. Wenn ich nicht das mache was er will, werde ich verprügelt. So beschissen ist mein Leben, und ich kann nichts dagegen tun.
Früher liebte ich es zu tanzen, ich war sogar richtig gut. Mein größter Traum war es Tänzerin, bei irgendeinem berühmten Sänger auf der Bühne zu tanzen. Jetzt nicht mehr, seitdem es angefangen hat. Da war ich erst zarte 12. Nachdem das mit Jörg, dem Freund meiner Tante angefangen hat, fing dann ein Jahr später das mit den Männern an. Weil ich mich immer mehr zurückziehe und keine Freunde mehr habe, bin ich eine totale Außenseiterin. Deshalb tun mir sie mir das auch noch an. Doch wieso mir? Es gibt doch noch mehr Außenseiter, ich bin nicht die einzige? Das werde ich wohl nie herausfinden, oder vielleicht doch?
Plötzlich reißen sie mich aus meinen trüben Gedanken. Sie haben nicht vor aufzuhören mich aufs übelste und gemeinste fertig zu machen. Sie schlagen immer weiter auf mich ein, sodass ich mich vor Schmerzen noch mehr zusammenkauern muss. Meine Schreie, Bitten und Klagerufe gehen in dem lauten Brüllen der Bande unter. Wimmernd sitze ich auf dem Boden. Mein Herz rast und donnerte schnell gegen meine Brust. Meine schweißnassen Hände um die Knie geschlungen und meinen Kopf in die Kuhle gelegt, die meine Knie bilden, sitze ich da, damit sie mein vor weinen rotes Gesicht nicht sehen können.
Unbarmherzig ziehen sie mich hoch. Da stehe ich nun, nur in Unterwäsche bekleidet in der Jungen Umkleide. Wie ich dort hingekommen bin? Ganz einfach! Nach dem Sportunterricht, als ich gerade gehen wollte, zog Nils mich zu sich in die kleine Nische, zwischen Turnhalle und dem Schulgebäude. Er schwang mich auf seine breiten Football-Schultern und trug mich in die Umkleide. Es half rein gar nichts mich zu währen. Egal wie stark ich gegen ihn schlug, oder egal wie laut ich um Hilfe schrie, es war zwecklos. Sie hatten mich. Die Lehrer waren schon alle weg und die Schüler erst recht. Sie wussten, dass ich immer die letzte war die ging, das nutzten sie aus.
Die Sechs starren mich an, machen Witze über meinen, mit roten Schnittwunden übersehten Körper. Meine ganzen Arme und Beine sind voll von diesen Wunden, die viel mehr aussagen als Worte es jemals tun können, die den Schmerz, den man empfindet vermindern, um einen anderen, befriedigenderen Schmerz da zulassen. Die dennoch das eigene Leben, manchmal auch das Leben der anderen zerstören. Die einem die letzte Kraft raubt, doch trotzdem eine andere, völlig andere Kraft zurück lässt, die man nie empfunden hatte. Dieser Schmerz und diese Kraft helfen mir immer wieder hoch. Sie reichen mir ihre Hand und sagen: „Alles wird wieder gut, hab keine Angst. Ich bin bei dir... Für immer.“
Ruckartig packt Micha mich am Handgelenk und schlägt mich gegen die gegenüberliegende Betonwand. Heftig pralle ich mit meinem mageren Körper gegen die harte Wand. Alles schmerzt, meine Rippen, meine Arme, Beine, einfach alles. Ich schäme mich so schrecklich. Doch wofür eigentlich? Es ist doch nicht meine Schuld, dass sie mich ausziehen und mir Schmerzen zufügen. Bei diesen Schmerzen kann man nicht einfach Nadel und Faden nehmen und alles wieder zu nähen. Oder sich Super-Kleber besorgen und alles wieder zusammen kleben, tackern geht auch nicht. Genauso wie bei Scherben. So einfach ist das nicht. Und wird es auch nie sein. Ganz gleich ob sich unsere Technologie ins unermessliche weiterbildet, ganz egal wie fortgeschritten sie ist, auf diesem Stand wird sie nie sein.
Andy versetzt mir einen Klaps auf den Arsch. Was sind das für Menschen, sind sie überhaupt welche? Also menschlich benehmen sie sich auf jeden Fall nicht. Welcher normale Mensch käme den auf so eine absurde Idee, ein harmloses 15-Jähriges Mädchen so zu erniedrigen.
Langsam wird mir kalt. Mit wankenden Schritten will ich zu meiner Kleidung gehen und mich anziehen, doch als ich an Andy vorbei gehen will, schubst er mich zurück. Für die anderen ist das ein Zeichen, das gerade ein Spiel begonnen hat und sie stimmen mit ein. In einem Kreis, wo ich die Mitte bilde, kicken sie mich von einem zum anderen. Jetzt fühle ich mich noch mehr gedemütigt. Überall spüre ich ihre dreckigen Grabscher, die nach mir greifen, um mich dann sofort wieder weg zu schubsen. Sie hinterlassen rote Spuren auf meiner nackten Haut. Ich fühle mich einfach nur schmutzig. Nach etwa fünf Minuten frage ich mit zitternder Stimme: „Darf ich jetzt bitte gehen?“ Sie lachen sich schlapp und Micha, der sich vor Lachen kaum noch auf den Beinen halten kann, sagt mehr zu den anderen als zu mir: „Oh, das kleine Spätzchen will also Nach Hause gehen?“ Ich kann nur nicken.
Wieder scherzen sie rum: „Wir sind noch nicht fertig mit dir!“
Auf einmal wird mir schwindelig, mein Kopf schmerzt und eine fremde Stimme ertönt in mir: „Lasst mich sofort gehen ihr Arschlöcher!“ Ich fühle eine geballte Wut in mir aufsteigen.
Im ersten Moment sind alle erschrocken, ich bin da keine Ausnahme. Nils Gesicht wird vor Zorn knall rot, und ich weiß was jetzt auf mich zukommt. Innerlich wiederhole ich: „Bitte verlass mich nicht, bitte verlass mich nicht, bitte verlass mich nicht.“
Die Kraft, die ich eben noch so deutlich und stark in mir gespürt habe verschwindet, und lässt das bekannte ängstliche Gefühl da. Langsam entferne ich mich zentimeterweise von ihnen. Blitzartig greift Nils meine Hand und schreit aus voller Kehle: „Du kleines Miststück, wie kannst du es wagen uns Arschlöcher zu nennen?“ Seine Hände ballen sich zu Fäusten, sodass seine Knöchel weiß hervor tretten. Die Stimme gesenkt sagt er: „So jetzt wirst du erleben, was es heißt uns so zu beleidigen.“ Ich sehe Alex an, der eingreifen will, doch von den anderen zurückgeschubst wird. Warum will er mir helfen? Warum hällt er sich im Hintergrund?
Gerade will ich in Nils Visage schreien, dass er das am besten Verdient hatt und sich zum Teufel scheren soll, doch in diesem Moment hebt er die Fäuste und schlägt mir brutal ins Gesicht. Das habe ich schon erwartet. Ich wanke zurück und pralle mit dem Rücken gegen die Wand, bei der ich gerade eben wimmernd da saß. Schmerzerfüllt betaste ich meine Nase. Sie blutet! Es tut so höllisch weh. Meine Finger sind völlig blutverschmiert. Mir ist ziemlich übel und ich fühle mich so merkwürdig, mein Magen knurrt als hätte ich etwas falsches gegessen. In meinem Kopf dreht sich alles. Ehe ich von alleine auf den Boden stürzen kann, schlägt Micha mich. Alex schreit in an, er solle das sein lassen, doch er hört nicht auf ihn und schlägt weiter auf mich ein. Ich sinke wie ein Stein ins Wasser zu Boden und schlage mit dem Kopf auf den Boden. Ein letztes Mal, bevor mir schwarz vor Augen wird, kann ich sie öffnen und sehe wie die Männer allesamt abhauen ohne mir zu helfen. Lassen mich einfach auf dem Boden, in einer kleinen Blutpfütze liegen. Ich kann spüren wie der eisige Tot mich mit seinen scharfen Krallen packt und mich versucht ins Jenseits zu zerren. Den Kampf mit ihm gebe ich auf. Es bringt sowieso rein gar nichts.


2. Kapitel



Sich nicht rächen kann auch eine Rache sein.
(Danny Kaye)
Flatternd schlage ich meine Augen auf. Ich blicke mich um und merke, dass ich in einem kahlen weißen Zimmer liege, mit einem leeren Bett neben mir. Mein erster Gedanke ist: Wo zur Hölle bin ich? Dann sehe ich neben mir meine Eltern auf Stühlen sitzen, sie haben die Augen geschlossen. Wahrscheinlich schlafen sie. Oh nein, ich bin in einem Krankenhaus. Jetzt wird alles rauskommen. Panisch setze ich mich auf, schlage heftig die Decke weg und mich durchfährt ein schrecklicher, unbeschreiblicher Schmerz. Eine Hand drückt mich sanft wieder ins Bett zurück. Es ist mein Vater. Seine Augen strahlen wie nie zuvor. „Alex, Wir dachten du würdest nie mehr aufwachen, mein Schatz.“
„Wo ist Adam?“ will ich wissen. Am liebsten würde ich jetzt gerne meinen Bruder sehen. Er hilft mir und beschützt mich immer, egal was ist. Wir haben eine sehr enge Beziehung zueinander.
„Er kann leider nicht kommen, sein Chef will ihn nicht gehen lassen“. Leise fluche ich.
Anscheinend hat meine Mutter das nicht überhört. Sie schlägt ihre Augen auf und stimmt ihm zu: „Ja, wir hatten solche…“, ein heftiger Schluchzer lässt ihren Körper beben. „…Angst um dich, Engelchen.“ Beiden kommen Tränen in die Augen und sie schließen mich in ihre Arme. Schluchzend sagt meine Mutter: „Mein Liebling, es tut uns so leid, alles, wirklich alles. So schrecklich leid, dass wir nicht bei dir sein konnten und immer nur gearbeitet haben.“
„Ist schon gut, ihr wolltet doch immer nur das Beste für mich“, gebe ich ihnen die aufmunternde Antwort.
„Ja, allerdings. Für unser Häschen immer nur das Beste. Allerdings wird das ab heute ein bisschen anders laufen“, mein Vater versucht sich an einem Lächeln. „Wirklich, das Versprechen wir dir. Du brauchst nie wieder allein zu sein, Häschen.“ Einen Moment lang will ich sie angaffen, dass sie diese peinlichen Kosenamen sein lassen sollen, das lasse ich jedoch. Sie wollen, wie schon gesagt immer nur das Beste für mich. Es wäre unfair ihnen gegenüber sie so zu verletzen, denn ich bin ihre geliebte Tochter. Obwohl sie mich sonst nie so sanft nannten, geschweige denn ansprachen.
„Dankeschön, aber das ist echt nicht nötig. Ich komme auch ganz gut allein zurecht“, versuche ich mich zu währen.
„Das sieht man. Nein, wir dulden keine Widerreden!“
„Mum, sag doch auch was!“ flehte ich.
„Nein Schatz, Michael hat recht. Irgendwas muss geändert werden“, pflichtete meine Mutter meinem Vater bei.
Nach unendlichen Überredungsversuchen kommt die Schwester rein um mit mir noch ein paar Tests durchzuführen. Meine Eltern müssen raus gehen. Die Ergebnisse bestätigen die Sorge meiner Eltern, meine Rippen sind gebrochen, ich habe ein paar Prellungen und eine kleine Gehirnerschütterung. Für mich alles halb so schlimm.
Nils, Micha und Andy besuchen mich kein Einziges Mal in der Klinik, noch nicht einmal Blumen schicken sie mir, auch keine gute-Besserungs Karten. Um ehrlich zu sein habe ich das auch nicht anders erwartet. Sie können ja nicht sagen: „Hi. Wir sind die Typen die ihre Tochter zusammengeschlagen haben.“ Wäre echt absurd. Ich kann nur hoffen, dass das ein gutes Zeichen ist. Was ich jedoch stark bezweifle. Zu meiner Überraschung bekomme ich an meinem letzten Tag in der Klinik eine Karte, sie ist von Alex. Er entschuldigt sich herzlichst bei mir und das wars dann auch schon. Penner! Ist zu feige um mich zu besuchen. Wieso muss ich mich denn auch in ihn verlieben? Das ist alles so schrecklich kompliziert. Ich hasse es einfach nur! Das ganze Leben hasse ich! Ich will genauso sein wie diese glücklichen Menschen, die das Leben lieben und Draußen durch Wiesen hüpfen und an Blumen schnuppern. So war ich nie und werde es auch niemals werden.
Zur Freude meiner Familie darf ich auch schon nach Hause. Dort angekommen lesen sie mir jeden Wunsch von den Lippen ab. Ich fühle mich wie eine Prinzessin. Jedes Mal fragen sie mich, wer mich so zugerichtet hat. Andauernd versichere ich ihnen, dass ich das leider nicht weiß, das ich überfallen wurde. Natürlich ist das gelogen, ich weiß alles noch Haar genau. Jedes winzigste Detail weiß ich noch. Einerseits will ich mich bei jemandem aussprechen können, doch anderer Seits habe ich einfach nur angst, dass sie mich wieder schlagen... Oder vielleicht noch schlimmer? Ich habe keine Freunde, früher schon, doch als das alles anfing verschanste ich mich immer mehr zu Hause. Ich wollte einfach niemanden sehen.
Alles soll der Vergangenheit angehören, ich hoffe wirklich das meine Bitte erfüllt wird.
Eine Woche in der Schule verlief ohne Zwischenfälle. Jeden Tag ging ich mit ängstlicher Miene zur Schule und zuckte bei jedem Geräusch zusammen. Meinen Eltern entging das nicht und sie boten mir an zu einem Psychiater zu gehen. Obwohl ich selber weiß, dass ich das eigentlich gut gebrauchen könnte, lehnte ich diese freundliche Hilfe ab. Es ist mir etwas peinlich. Immerhin bin ich noch ein so junges Mädchen und schon Psychisch gestört. Ich schäme mich. Nachts schrecke ich, sogar bei dem leisesten Geräusch hoch. Manchmal träume ich von den Bösewichten und schreie im Schlaf laut auf. Als ich endlich angefangen habe zu glauben, dass ich alles überstanden habe, aufgehört habe bei jedem noch so winzigen Geräusch aufzuschrecken, wieder langsam ruhig schlafen kann und vertrauen zu meiner Umgebung fassen will, geschieht meine schlimmste Vorahnung.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.12.2011

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