„Wie jedes Jahr sind sie kerngesund, Ms. Brice.“ Der Arzt lächelte und wies sie an, die Kleidung wieder anzuziehen.
„Danke, Dr. Vaughn.“ Louise trat hinter den weißen Vorhang in der einen Ecke des Raumes, um in Jeans und Bluse zu schlüpfen. „Wie geht’s den Kindern?“, fragte sie fröhlich und hatte dabei die zwei Racker auf dem Foto an der Wand mit den Zeugnisurkunden vor Augen. Jahr um Jahr hing dort ein neues Bild.
„Sie wachsen viel zu schnell.“ Sein tiefes Schmunzeln ertönte. „Das werden Sie auch noch herausfinden.“
Sie lachte bloß halbherzig und setzte sich vor seinen Schreibtisch, wo er gerade etwas in ihrer Akte notierte.
„Die Schwester verabreicht Ihnen noch die Impfung, dann können Sie zurück an die Arbeit. Bis nächstes Jahr.“ Beim Hinausgehen winkte er zum Abschied.
Brav wartete sie, bis die Türe erneut aufging. Eine ihr unbekannte Frau kam mit Tablett und Spritze bewaffnet hereingerauscht.
„Die Schulter freimachen bitte.“
Louise gehorchte und die Schwester desinfizierte ihre Haut.
„Ich habe Sie noch nie gesehen“, stellte sie fest. „Sind Sie neu hier?“
Die junge Frau nickte und zog die Kappe von der Einwegspritze. „So, jetzt geht’s los“, war die einzige Warnung, die Louise bekam.
„Autsch!“, entfuhr es ihr, als die kleine Nadel in ihren Oberarm eindrang und die Impfflüssigkeit injiziert wurde. Das Zeug brannte wie die Hölle. Überrascht rieb sie die schmerzende Stelle, die jetzt von einem Pflaster geziert wurde. „Beim letzten Mal hat es nicht so wehgetan.“
Die Krankenschwester zuckte mit den Achseln, nebenbei entsorgte sie den Müll. „Der Grippeimpfstoff wird jedes Jahr von der WHO neu zusammengestellt, um sie den jeweiligen vorherrschenden Virenstämmen anzupassen. Vielleicht ist diesmal etwas dabei, das Sie nicht gut vertragen. Spüren Sie Juckreiz oder Atemnot?“ Während sie sprach, tastete sie Louise‘ Puls.
Louise horchte in sich hinein und schüttelte den Kopf. „Nur Ohrensausen.“
„Ich schätze, das könnte eine kleine Spritzenphobie sein. Legen Sie sich doch auf die Liege und ich hole Ihnen einen Schluck Wasser.“ Die Krankenschwester bugsierte sie in die vorgeschlagene Position und eilte nach nebenan.
Leicht beunruhigt wartete Louise erneut im Zimmer des Betriebsarztes. Sie hatte noch nie Probleme mit Nadeln gehabt, da war sie hart im Nehmen. Überhaupt teilte sie die Auffassung ihrer Kollegen nicht, dass der turnusmäßige Termin äußerst unangenehm war. Wahrscheinloch wollten die meisten Leute nicht hören, ob sie krank waren und gingen nur zum Arzt, wenn es nicht mehr anders ging. Louise wollte lieber wissen, woran sie war. So eine kleine Impfung würde sie schon nicht umbringen, sagte ihr die Vernunft und sie verdrängte das Fiepen, das in ihren Ohren eingesetzt hatte.
Zur Ablenkung blickte Louise sich um. Das sterile Interieur des Raumes war ihr vertraut, da sie sich seit nunmehr fünf Jahren dem Check up samt Impfung unterzog. Das war eine Voraussetzung für die Betriebskrankenversicherung, die sie sehr zu schätzen wusste.
Je länger sie dort lag, desto lächerlicher kam sie sich vor. Sie war doch nicht aus Zucker. Sie würde einfach aufstehen und mit ihren Kollegen einen Kaffee trinken gehen. Dann sähe die Welt gleich anders aus. Entschlossen schwang sie die Beine über den Rand der Liege.
Im Sitzen begann sich alles zu drehen. Die Wände schwankten, als befände sie sich auf hoher See. Übelkeit stieg in ihr auf, brannte in ihrer Kehle und bevor sie sich festhalten konnte, fiel sie nach vorn.
In dem Versuch sich abzufangen, streckte sie geistesgegenwärtig die Arme aus. Reflexartig kniff sie die Augen zu.
Louise landete flach auf dem Boden. Einen Moment lang war sie zu benommen, um irgendetwas anderes wahrzunehmen, als den Schwindel. Doch beim Aufrichten piekte etwas an Ellenbogen und Knien. Was… ?
Überrascht versuchte sie, ihre Hände zu fixieren. Das schwankende Sichtfeld pendelte sich langsam ein. Ihre Finger griffen in… Sand?!
Tatsächlich. Als sie die Hände vors Gesicht hob, klebten überall feiner, heller Sand und kleine Steinchen daran.
Sie betrachtete noch verwundert den Staub und fragte sich, wo der in einem Arztzimmer wohl herkam, da spürte sie plötzlich Hitze. Mit einem Mal herrschten Temperaturen wie im Hochsommer, statt des kühlen Herbsttages, der sie heute Morgen vor ihrer Haustüre empfangen hatte. Augenblicklich bekam sie einen Schweißausbruch. Hatte jemand den Thermostat nach oben gestellt?
Sie hob den Blick, um die These zu überprüfen…, doch da waren keine weißen, klinischen Wände mehr. Die hellen Möbel und die Liege waren ebenfalls verschwunden.
Stattdessen sah sie vor sich eine karge Berglandschaft. Weit und breit nichts als Sandgestein, Gestrüpp und kantige Felsen. Die pralle Sonne blendete sie, in der Ferne flimmerte die Luft vor Hitze.
Schockiert blinzelte sie mehrmals. Das musste doch ein Traum sein! Wie zum Teufel…
Neben ihrem rechten Ohr pfiff etwas vorbei. Sie hatte keine Ahnung, woher sie das wusste, aber sie erkannte sofort, dass es ein Schuss gewesen sein musste. Wie von der Tarantel gestochen hechtete sie hinter eine Steinformation und zog ihre… Waffe?!
Woher kam denn jetzt eine Waffe?! Ungläubig starrte sie das glänzende Metall an, das silbern in der Sonne glänzte, spürte das erstaunlich schwere Gewicht. Dabei entdeckte sie, dass sie eine Uniform aus Tarnstoff trug.
Sie hatte keine Zeit mehr, sich die unzähligen Fragen zu stellen, die durch ihren Kopf schossen, denn da ertönte der nächste Knall. Über ihr regnete es Steinsplitter. Aus irgendeinem Grund erschreckte sie das nicht halb so sehr, wie es vielleicht sollte.
Dann übernahm ihr Körper wieder die Führung, ohne dass sie ihn bewusst dazu angewiesen hatte. Er drehte sich, warf sich neben den Felsen und schoss auf ein Ziel in weiter Ferne. Ungeachtet der Tatsache, dass sie noch nie eine Waffe abgefeuert hatte, gestaltete sich die Aufgabe vollkommen problemlos.
Ehe sie wusste, was sie tat, war sie auf den Beinen und sprintete eine Anhöhe hinauf. Oben entdeckte sie den Scharfschützen am Boden liegend. Sein helles Gewand ließ Louise an den Nahen Osten denken, vielleicht Irak, Iran oder Afghanistan. Der mit Blut durchtränkte Stoff hob sich durch kreischendes Rot von der sandigen Umgebung ab.
Ein Teil von ihr war entsetzt. Das alles musste einfach ein Traum sein. Ja, sie musste im Arztzimmer in Ohnmacht gefallen sein und jetzt hatte sie wilde Fieberträume! Was auch die Hitze hinreichend erklären würde.
Aber der andere Teil von ihr betrachtete den Toten nur voller Erleichterung und wusste gleichzeitig, dass sich irgendwo noch ein Gegner versteckte. Mit bis zum Hals pochendem Herzen duckte sie sich und schlich auf die Felsenformation vor ihr zu.
Was machte sie hier eigentlich? Es schien, als wollten ihre Glieder ihr nicht mehr gehorchen.
Behände schwang sie sich um einen Vorsprung, da traf sie etwas hart von der Seite.
Noch während sie davon geschleudert wurde, erkannte sie, dass es der Körper eines weiteren, arabisch gekleideten Mannes war. Mit einer Kraft, von der sie nicht wusste, woher sie sie nahm, riss sie den Kerl mit sich. Sie kullerten zusammen die Anhöhe hinab. Dabei schürfte sie sich die Ellenbogen auf, ihre Schultern prallten immer wieder auf harte Felsen. Doch ihr Körper steckte das weg wie nichts, denn unten angekommen, schwang sie sich auf den Fremden und schlug heftig auf das hinter weißem Tuch vermummte Gesicht ein. Es war fast, als sehe sie sich selbst bei jedem Schlag ausholen. Sie konnte einfach nicht begreifen, was sie da tat. Oder warum sie es tat. Und was hier bloß vor sich ging.
Sie wusste nur, dass sie diesen Mann besiegen musste. Dass es um Leben und Tod ging. Adrenalin peitschte durch ihre Adern, ließ sie fester zuschlagen.
Da verrutschte der Turban des Angreifers. Eine Sonnenbrille kam zum Vorschein.
Als sie abermals ausholte, erblickte sie sich selbst auf den spiegelnden Flächen der Gläser. Die erhobene Faust verdeutlichte, dass es sich um ihr Ebenbild handeln musste. Aber…
Statt des blonden Haares und des roten Lippenstifts entdeckte sie eine schwarze Kurzhaarfrisur. Ein dunkler Dreitagebart wucherte über Kinn und Wangen, ließ nur Platz für einen breiten Mund. Tief liegende, braune Augen unter vor Anstrengung verzerrten Brauen schauten ihr entgegen.
Furcht überfiel sie, ließ die kleinen Härchen auf ihrer Haut zu Berge stehen. Louise schrie auf und zuckte zurück. Sie fiel nach hinten und landete mit dem Hintern auf hartem Untergrund.
Als sie wieder aufsah, … saß sie vor der Liege auf dem beigen Linoleum des Arztzimmers.
Schwer keuchend drehte sie sich in alle Richtungen. Weiße Wände, ein gläserner Schreibtisch, wohltemperierte Raumluft. Draußen vor dem Fenster segelten bunte Blätter von den Ahornbäumen. Eindeutig Herbstlaub.
Was zum …?, dachte sie erneut. Hatte sie Halluzinationen? Konnte das eine Nebenwirkung der Impfung sein? Oder war sie ganz einfach übergeschnappt?
So oder so war klar: normal war das nicht.
Verwirrt strich sie sich das Haar aus der Stirn, dabei fiel es ihr wieder ein. Sie hielt sich eine lange Strähne vor die Nase. Erleichtert nahm sie die blonde Farbe in sich auf und vergewisserte sich, dass sich Jeans und Bluse an Ort und Stelle befanden. Diesbezüglich war also wieder alles wie gehabt.
Lose Gedanken kamen ihr in den Sinn, erinnerten an den Sturz und aufgeschürfte Ellenbogen. Mit angehaltenem Atem prüfte sie ihre Arme hastig auf Blessuren.
Nichts. Auch beim Abtasten war außer des Einstichs für die Impfung keine schmerzhafte Stelle zu finden.
Sie musste sich das alles eingebildet haben, auch wenn es sich noch so real angefühlt hatte. Sie spürte noch den trockenen Sand an der feuchten Haut kleben. Der Schweiß zeugte von der gnadenlosen Hitze einer dermaßen sengenden Sonne, wie sie es in ihrer Heimat Boston noch nie erlebt hatte.
Nein, du musst dir das eingebildet haben, sagte sie sich fest. Vielleicht hatte sie in letzter Zeit doch ein wenig zu viel Junkfood in sich hinein gestopft und zu viel Zeit vor dem Bildschirm verbracht. Sie tat es schon von Berufs wegen, da sollte sie ihre Freizeit wohl besser draußen verbringen und ihren Vitamin-D-Speicher aufladen. Zusammen mit der Impfung musste sie irgendwie einen Schwächeanfall erlitten haben. Ja, das klang doch halbwegs plausibel.
Die Tür öffnete sich abermals. Klara, die Krankenschwester, die Louise von ihren letzten Besuchen kannte, betrat das Zimmer. Louise hatte ein Déjà-vu, denn auch sie hatte Tablette und Spritze dabei.
Klara stoppte und fragte mit schief gelegtem Kopf: „Was machen Sie denn auf dem Boden, Ms. Brice? Fühlen sie sich nicht wohl?“
„Ähm“, Louise überlegte, entschied sich dann jedoch gegen eine ehrliche Erklärung. Wahrscheinlich würde man sie kurzer Hand für verrückt erklären. Das dachte sie selbst ja auch. Daher schüttelte sie den Kopf.
„Es ist alles in Ordnung. Ich habe nur den Halt verloren und bin gefallen.“
Klara kniete sich neben sie. „Sind Sie sicher? Wenn es Ihnen nicht gut geht, sollten wir Sie heute besser nicht impfen.“
Louise hielt erstaunt inne. „Ich wurde doch gerade von Ihrer neuen Kollegin geimpft.“
Die Krankenschwester runzelte irritiert die Stirn. „Welche neue Kollegin?“
Das Funkgerät knackte leise in seinem Ohr und kündigte an, dass gleich eine Übertragung folgen würde. Wie erwartet ertönte kurz darauf die blecherne Stimme seines Sergeants über den Äther.
„Base One an Eagle, Scharfschützen klar?“
„Eagle an Base One, Scharfschützen klar“, meldete er in das Headset seines Helmes und sah auf den Typen hinab, den er eben ausgeknockt hatte. Hastig wischte er sich das fremde Blut von den Knöcheln und klopfte sich anschließend den Sand aus der Uniform. Mit dem hellen Tarnmuster fiel er in der Berglandschaft von Afghanistan genauso wenig auf, wie der Angreifer, der zur Miliz eines lokalen Drogenbarons gehörte. Sicherheitshalber nahm er die Kalaschnikow des anderen Soldaten mit und machte sich an den Abstieg durch eine Anreihung zerklüfteter Felsen. Solche gab es viele auf dem kargen Landstreifen, auf dem er sich mit seinem Team befand.
Dieses wartete hinter einem kleinen Vorsprung auf der gegenüberliegenden Seite der Anhöhe. Den ersten Wachposten konnten sie nun passieren, aber es würden noch mehr Gegner ihren Weg kreuzen, bis sie den Kopf der Vereinigung endlich verhaften konnten.
Nachdem er die kurze Strecke zurückgelegt hatte, schloss er sich der Truppe an und sie rückten weiter vor. In gebückter Haltung und höchster Wachsamkeit. Es herrschte bis auf Weiteres Funkstille.
Dank der sengenden Sonne lief ihm der Schweiß in Strömen an Schläfen und Rücken hinunter. Er hielt das Maschinengewehr, das ihm einer seiner Mitstreiter gereicht hatte, mit Mühe im Anschlag. Seine Arme zitterten unter der schweren Last, die entstand, wenn man acht Kilo Metall bei einem kilometerlangen Marsch auf Augenhöhe halten musste. Schon Ali hatte gewusst, dass das schwerste am Boxen war, die Arme oben zu behalten.
Da kämpfte er lieber direkt. Dieses langsame Kriechen, Beobachten und Warten, das mochte er am wenigsten an seinem Job. Sonst war er jedoch ganz zufrieden. Er sah die Welt, arbeitete mit anständigen Leuten zusammen und tat etwas Gutes. Schon sein Vater war bei der Army gewesen und hatte es bis zum Leutnant geschafft. Thomas hatte kaum Laufen können, als er beschlossen hatte, ebenfalls einmal diese Uniform zu tragen, welche seinem Vater so viel Mut und Kraft verlieh. Eine seiner frühesten Erinnerungen war der Stolz, den er empfunden hatte, als seine Mutter ihm erklärte, dass sein Vater ihn, sie, die Nachbarn, ja, das ganze Land vor dem Bösen schützte. Da hatte er gewusst, dass er das auch wollte.
Dieser Stolz begleitete ihn, wenn er so wie heute durch unwirtliches Land pirschte, größte Unannehmlichkeiten auf sich nahm und gemeingefährliche Verbrecher aus dem Verkehr zog. Nicht viele Menschen waren im Stande, das zu tun, was er jeden Tag tat. In ständiger Gefahr zu leben … und daran auch noch Gefallen zu finden.
Sie passierten eine weitere Hügelkette, auf der vereinzelt struppige Büsche in vergilbtem Braungrün wuchsen. Ganz vorn an der Spitze des Trosses wurde eine Faust in die Höhe gereckt. Das Zeichen zum Anhalten. Die Gruppe stoppte, nahm sofort Formation an und sondierte die Gegend noch genauer. Hatte der Sergeant etwas entdeckt?
Noch während er jeden einzelnen Busch nach Feindkontakt absuchte, knackte erneut das Headset.
„Rückzug“, gab der Sergeant durch.
Alarmiert verfiel die Truppe in den Marsch und zog sich Meter für Meter zurück. Im Einsatz wurden keine Fragen gestellt, aber wahrscheinlich hätte jeder von ihnen gern den Grund für den übereilten Abbruch der Aktion gewusst. Es sah nicht so aus, als wären sie entdeckt worden. Nirgends war ein Hinweis auf den Gegner zu entdecken.
Als sie die Humvees erreichten, die sie hinter einer Felsgruppierung zurückgelassen hatten, trat Mike, sein Kamerad und bester Kumpel im Bataillon, mit erhobenen Augenbrauen neben ihn.
„Hast du was gesehen, Tom?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, nichts. Kann’s mir auch nicht erklären.“
Auf dem Heimweg zum Lager diskutierten sie auf den Rückbänken über mögliche Ursachen. Aber der Sergeant funkte lediglich, dass weitere Informationen der Geheimhaltung unterlagen. So schlau wie vorher stiegen sie also verschwitzt und trotz des abgebrochenen Einsatzes müde aus den Wagen. Die Gruppe verteilte sich zusehends und auch Tom und Mike wollten sich zu ihren Zelten aufmachen.
„Carson!“
Tom blieb stehen und wandte sich zu seinem Sergeant um.
„Mitkommen.“
Während er sich an die Fersen seines Vorgesetzten hängte, warf er einen fragenden Blick zurück zu seinem Kumpel, doch der hob nur verwundert die Schultern.
Tom konnte sich nicht erinnern, in letzter Zeit irgendwelchen Mist gebaut zu haben. Seine hitzigen Zeiten, die er zu Anfang in der Armee durchlebt hatte, waren vorbei. Inzwischen war er ein erfahrener Soldat mit mehreren Auslandseinsätzen auf dem Konto. Er kannte die Strukturen, wusste, was von ihm erwartete wurde und was es brauchte, um den alltäglichen Kampf zu überleben. Und jugendlicher Leichtsinn gehörte mit Sicherheit nicht dazu.
Als sie das Zelt von Sergeant Miller erreicht hatten, eröffnete dieser ihm ohne Umschweife, dass er zurück in die Vereinigten Staaten beordert wurde.
Wie vom Donner gerührt starrte er den anderen Mann an. Ein kurzer Bart mit grauen Stoppeln und die in Falten gelegte Stirn ließen ihn älter aussehen, als er war. Über dies wirkte er besorgt.
„Sir, habe ich etwas falsch gemacht?“
„Nein, nicht dass ich wüsste.“ Der Sergeant goss sich eine braune Flüssigkeit aus einer Feldflasche in seinen Metallbecher. „Auch einen?“, bot er an.
Tom lehnte den Whiskey - wie er vermutete – ab. Seine Verwirrung wurde immer größer. „Was ist es dann? Ist etwas mit meiner Familie?“
Seine Eltern und die ältere Schwester waren seines Wissens nach in Sicherheit zu Hause. Aber gerade seine Eltern waren nicht mehr die Jüngsten, was wenn…?
Miller, der es sich auf seinem Feldbett bequem machte, winkte jedoch ab. „Nein, nein, nichts der Gleichen.“ Er wies auf einen Klappstuhl, damit Tom sich setzte. Obwohl dem gerade überhaupt nicht der Sinn danach stand, gehorchte er.
„Ehrlich gesagt, Carson, ich habe keinen blassen Schimmer, warum du zurückgeholt wirst. Dazu reicht mein Dienstgrad nicht aus. Was die Sache noch viel interessanter macht, findest du nicht?“
Tom antwortete nicht, aber die Überraschung stand ihm wohl ins Gesicht geschrieben, was Millers prüfendem Blick nicht entging. Er nickte.
„Dachte mir schon, dass du auch nicht weißt, worum es geht. Naja, du wirst es schon bald herausfinden, nicht wahr? Geh‘ jetzt deine Sachen packen. Der Hubschrauber ist schon unterwegs.“
Als Tom das Zelt seines Vorgesetzten verließ, konnte er es immer noch nicht fassen. Was lief hier? Wurde er wegen eines alten Vergehens zur Rechenschaft gezogen? Aber er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, was er verbrochen haben sollte. Allenfalls gab es da in paar kleinere Geschichten, nichts, wofür man ihn aus dem aktiven Dienst entfernen würde. Außerdem machte er seine Arbeit gut. Wenn es einen geborenen Soldaten gab, dann war er es. Sein Vater hatte ihn von klein auf darauf vorbereitet, in der Ausbildung war er Klassenbester gewesen und heute machte ihn Erfahrung und Einsatzbereitschaft zu einem verlässlichen Kämpfer. Das hatte er zumindest angenommen. Immerhin wurden schwierige Aufgaben, wie das Ausschalten von Scharfschützen, meist an ihn delegiert.
Er schritt durch die Zeltreihen und bemerkte, dass seine Kollegen ihn aufmerksam musterten. Offenbar hatte sich schon herumgesprochen, dass er direkt nach dem abgebrochenen Einsatz zum Sergeant zitiert worden war. Sicher rätselte die Meute genauso wie er.
Beim Packen seiner sieben Sachen wurde er von Mike ausgequetscht, der noch entsetzter über Toms plötzliche Abreise war, als dieser selbst.
„Nein, Mann! Du kannst jetzt nicht gehen! Wer deckt mir dann da draußen den Rücken?! Hast du Miller das gesagt?! Ich glaub‘s nicht. Sind die bescheuert?! Ziehen einen der Besten ab, obwohl man hier jeden erfahrenen Soldaten gebrauchen kann. Was soll der Scheiß?!“
Tom brummte hin und wieder zustimmend, wenn die Litanei kurz ins Stocken geriet.
„Sicher, dass mit deiner Familie alles in Ordnung ist? Vielleicht wollte er es dir bloß nicht sagen.“
Tom machte eine zweifelnde Miene und griff nach dem Stapel Hosen, um sie in den Seesack zu stopfen. „Miller und etwas nicht sagen? Der Kerl hat Eier wie Stahl. Ich glaube nicht, dass es ihn groß kratzt, diese Art von Nachricht zu überbringen. Aber sobald ich gelandet bin, werde ich mich vergewissern.“ Wo auch immer das sein würde.
Mike ließ sich auf seine Pritsche fallen und sah nachdenklich durch den Zelteingang hinaus ins Freie. Die Sonne neigte sich gen Horizont. Bald würde sie als flammender Feuerball dahinter verschwinden.
„Weißt du, wo es hin gehen soll?“
Tom verneinte und konnte nur knapp den eigenen Ärger unterdrücken. Zudem war ihm klar, dass man als Soldat jederzeit aufgrund eines Befehls überall hin versetzt werden konnte. Auch wenn das selten so überraschend und unbegründet geschah, wie in seinem Fall, war es doch keine Rarität und es wäre definitiv unangebracht gewesen, sich dagegen zu wehren.
„Du weißt wie’s läuft, Kumpel“, seufzte er und klopfte seinem Freund mit herber Zuneigung auf die Schulter. „Die Party konnte nicht ewig weiter gehen.“
Früher oder später wären sie sowieso getrennt worden. Dennoch spürte auch er Bedauern, während er sprach. Er hatte sich im Camp wohl gefühlt, so absurd das auch klingen mochte. Das Team bildete eine feste Einheit und mit den meisten verstand er sich gut.
Nichtsdestotrotz war er neben der Fassungslosigkeit und der Verwirrung inzwischen ebenso neugierig. Es galt, die Ursache dieser mysteriösen Versetzung zu ergründen, die so geheim zu sein schien, dass sogar sein Vorgesetzter nicht eingeweiht worden war.
Schweren Herzens verabschiedete er sich von seinem Freund und dann auch vom Rest der Truppe. Sie nahmen ihm das Versprechen ab, sich bald zu melden. Kurz darauf saß er schon im Hubschrauber, der ihn in eine ungewisse Zukunft trug.
In Dallas stieg er schließlich aus einem Militärflugzeug, wurde jedoch sofort von zwei Officers der Militärpolizei flankiert. Die Begrüßung in der Heimat empfand er nicht als sonderlich freundlich. Das machte sein Unbehagen keinen Deut besser. Wenn er zuvor noch zwischen Entrüstung, Sorge und Neugierde geschwankt hatte, gewann die Besorgnis langsam aber sicher die Oberhand. Seine Begleiter zeigten sich schweigsam. Für sie war er nur ein Auftrag, jemand, den sie von A nach B verfrachteten und er verstand ihre Haltung, hätte wahrscheinlich selbst so gehandelt. Auftrag war nun mal Auftrag, die Aufgabe eines Soldaten war nicht, Fragen zu stellen. Doch zum ersten Mal befand er sich auf der anderen Seite dieser Maschinerie.
Sie brachten ihn mit einer kleinen Eskorte zu einem anderen Flugzeug, in das sie mit ihm einstiegen. Wenigstens konnte er am Gate sehen, dass die Maschine ihn nach Boston bringen würde.
Die Odyssee nahm ihren Lauf, bis er müde und verdreckt in einen großen SUV stieg, man ihm einen schwarzen Sack über den Kopf stülpte und er offensichtlich den letzten Abschnitt der Reise antrat. Das Ganze wurde immer surrealer.
„Also mal ehrlich Leute, ist das wirklich nötig?“ Seine Stimme drang nur gedämpft durch den Stoff. Erneut blieben ihm die Officers eine Antwort schuldig. Blind verbrachte er die nächste Stunde auf der Rückbank und harrte dem, was ihn noch erwartete. Inzwischen hatte er sich nahezu jedes mögliche Szenario ausgemalt. Von Beförderung bis Entführung. Fest stand nur, dass es hierbei definitiv nicht um seine Familie ging. Solche Maßnahmen wurden ergriffen, wenn eine Sache höchster Geheimhaltung unterlag. Aber was sollte er schon mit so etwas zu tun haben?
Der Wagen kam zum Stehen, Tom wurde hinaus gedrängt und dann irgendwohin geführt. Er ging über Steinplatten, das erkannte er am Wiederstand unter seinen Sohlen und an den Geräuschen seiner Schritte. Sie passierten mehrere Türen mit Wachposten, es wurde leise gegrüßt. Man kannte sich scheinbar. Sie waren also immer noch in einer Einrichtung der Army.
Jemand schob ihn auf einen Stuhl. Endlich wurde der schwarze Sack von seinem Kopf gezerrt. Tom blinzelte grell gelbem Licht entgegen. Es brauchte ein paar Lidschläge, bis er nicht mehr verschwommen sah. Er befand sich einer Art Verhörraum und saß an einem Tisch, gegenüber stand ein zweiter Stuhl. Vor ihm erstreckte sich eine Spiegelwand, hinter der mit Sicherheit Beobachter postiert waren. Die Officers zogen sich zurück und wurden von einem Mann im dunklen Anzug abgelöst, der zum Tisch kam und auf dem freien Sitz Platz nahm. Eine Aktentasche stellte er neben sich auf den Boden.
Tom, der die Absurdität der letzten paar Stunden immer noch nicht ganz begreifen konnte, wartete gespannt.
„Mr. Carson, mein Name ist Sawyer“, stellte sich der Fremde mit schnarrender Stimme vor. „Ich bin hier, um Ihnen im Namen der Regierung der Vereinigten Staaten einen neuen Job anzubieten.“
Tom schüttelte ungläubig den Kopf. „Und dafür veranstalten sie dieses Theater? Sie brechen einen ganzen Einsatz ab und fliegen mich bewacht wie ein Schwerverbrecher quer durch die halbe Welt, nur um mir irgendeinen Job anzubieten? Hätte ein Brief nicht gereicht?!“
„Nun, es ist mitnichten irgendein Job“, wandte Sawyer ein. Er wirkte aufgrund seiner Sprache und Gesten wie ein distinguierter Schreibtischhengst. „Haben Sie schon mal etwas von Black Ops gehört, Mr. Carson?“
Tom stutzte und dachte zuerst, er hätte sich verhört. „Natürlich, Sir.“
Jeder auf der Welt wusste, dass es schwarze Einheiten gab, auch wenn die CIA es offiziell nach wie vor abstritt. Die Lüge erschien fast lächerlich angesichts der vielen Hinweise auf die Existenz von verdeckt agierenden Gruppen, die geheime Aufträge unabhängig von der Regierung ausführten, damit diese hinterher jede Beteiligung daran abstreiten konnte.
„Ich möchte Sie für ein derartiges Team rekrutieren.“
„Das ist ein Witz, oder?“, entfuhr es Tom, der wie versteinert war.
Die Miene des CIA Agenten blieb unbewegt. „Sehen sie mich lachen?“, fragte er gedehnt.
„Aber… wieso ich?“
Sawyer holte entnervt Luft. „Sie haben sich beworben, Sie wurden geprüft und als fähig erachtet, eine Empfehlung von höchster Stelle liegt vor. Sie sind drin. Wenn ich den Jungs sonst diese Nachricht überbringe, machen die sich vor Freude fast in die Hosen. Was ist mit ihnen los? Plötzlich Schiss?“
Toms Augen waren während der Erklärung immer größer geworden. Er schnappte entgeistert nach Luft. „Ich ... ich habe mich bei der CIA beworben?“
„Natürlich.“ Sawyer machte ein irritiertes Gesicht, dann zog er eine Akte aus seiner Tasche. „Das hier ist ihre Bewerbung.“ Die braune Mappe rutsche über den Tisch zu Tom hinüber, der sie auffing. Seine Finger waren taub, als er das Schriftstück aufschlug und die Dokumente darin überflog.
Er fand einen Lebenslauf von sich, mit Foto. Ein flammendes Motivationsschreiben, warum er sich in den Dienst der CIA stellen wollte und eine Auflistung von Referenzen, die er vorzuweisen hatte. Zumindest die waren nicht erstunken und erlogen, schoss es ihm durch den Kopf. Dicht gefolgt von der wohl wichtigsten Frage: Wenn er dieser Bewerbung nicht geschrieben hatte, wer hatte es dann getan?
„Erkennen Sie das wieder?“, erkundigte sich Sawyer nun deutlich ungehalten.
„Ja, Sir. Das sind meine Unterlagen, aber ich …“
„Gut, dann freuen Sie sich darüber, dass Sie es geschafft haben. Sie müssen nur noch annehmen.“ Es klang, als wäre Toms Zustimmung reine Formalität. Und sicherlich hätten sich die meisten seiner Kameraden in seiner Lage gefreut und sich die Finger nach diesem Jobangebot geleckt. Ohne Zweifel glich es einem beispiellosen Aufstieg.
Tom hätte dasselbe gedacht, wenn er bloß gewusst hätte, wie er zu der fragwürdigen Ehre gekommen war. Er wollte schon nein sagen, überlegte es sich dann aber anders. Wenn er ablehnte, würde er wahrscheinlich nie erfahren, wie er in diese Situation geraten war.
„Ähm. Ok. Ja …, Sie haben natürlich Recht, Sir. Ich … ich bin dabei. Vielen Dank. Ich freue mich wirklich sehr.“ Er erhob sich und streckte dem Agenten eine Hand hin. Der bedachte sie mit einem giftigen Blick, ohne sie zu ergreifen. Dennoch schien er ein wenig besänftigt.
„Geht doch. Das mit dem Enthusiasmus müssen Sie aber noch üben.“
„Klar, Sir. Das werde ich.“ Er nickte, schützte Eifer vor. „Wann soll es losgehen?“
„Jetzt gleich.“ Sawyer machte ein Zeichen in Richtung Spiegel und die Türe öffnete sich.
In den kommenden Stunden unterzog sich Tom unzähligen schriftlichen und körperlichen Tests, beantwortete Fragen von Psychologen und Profilern, las und unterschrieb seitenweise Geheimhaltungsvereinbarungen. Obwohl alles nach wie vor vollkommen irrsinnig und absolut unwirklich erschien, wirkten die Dokumente, die Einrichtung und alles andere echt. Zu guter Letzt wurde er untersucht und geimpft.
Die kleine Quaddel, die durch die Injektion am Deltamuskel entstanden war, brannte wie Feuer. Zischend rieb er die Stelle.
„Reynolds! Der Boss will, dass du deinen Arbeitsunfall meldest. Du sollst dich beim Doc untersuchen lassen.“
Ben stellte das Schweißgerät ab und klappte den Gesichtsschutz nach oben. Der Schichtleiter stand in einem fleckigen Overall an die großen Metallteile des späteren Schiffsrumpfes gelehnt und vollführte eine auffordernde Geste. „Spreche ich Chinesisch?! Mach‘ dich auf die Socken.“
Er hob sein rechtes Hosenbein, damit Donnahugh seinen Unterschenkel begutachten konnte, der heute Morgen durch einen unglücklichen Zufall unter eine hundert Kilo schwere Metallplatte geraten war. Lediglich am Schienbein waren ein paar blauen Flecken aufgeblüht und er konnte die Extremität voll belasten. Um dies zu demonstrieren, hüpfte er ein paar Mal auf dem Bein auf und ab.
„Sehen Sie?! Mir geht’s bestens.“ Und er brauchte den Lohn, der ihm wegen der verpassten Arbeitsstunden durch die Lappen gehen würde.
„Mag sein, du Einfallspinsel. Aber die Versicherung interessiert deine Meinung einen Scheißdreck. Beweg` deinen Arsch.“
„Kommen Sie, Mann. Ich bin vollkommen gesund und ich …, ich kann auf das Geld nicht verzichten. Also, wenn’s Ihnen nichts ausmacht …“
„Aber es macht mir was aus. Glaubst du, ich hätte die Zeit, mit jedem von euch Filzläusen über meine Anweisungen zu diskutieren?! Jetzt schwing‘ die Hufe. Du gehst mir sowieso schon auf die Nüsse. Mach es nicht noch schlimmer.“ Donnahugh wedelte mit seinem Klemmbrett, als wollte er eine Schmeißfliege vertreiben und ließ keinen Zweifel daran, dass er Ben auf dem Kieker hatte. Von der ersten Sekunde an waren sie sich nicht grün gewesen. Doch dass die Tochter des Besitzer sich von Ben hatte vögeln lassen, wo sich Donnahugh abgestrampelt hatte, um an sie ran zu kommen, hatte die Feindschaft auf ewig besiegelt.
Der Schichtleiter machte eine Miene, als ob auch er an besagte Geschehnisse zurückdachte. Kurzentschlossen spuckte er vor Ben auf den Boden. Dann schlurfte er zu seinem Büro am anderen Ende der riesigen Halle der Schiffswerft.
Ben kickte frustriert gegen den riesigen Klumpen Stahl, den er momentan bearbeitete. Er hatte es so satt, dass ständig andere über ihn bestimmten. Dass er ein Gefangener der Umstände war, die seinem Leben nun mal anhafteten. Den Großteil davon hatte er sich nicht selbst ausgesucht. Doch wie die Dinge lagen, hatte er auch dieses Mal keine Wahl. Wenn er dieser Mühle entkommen und den einzigen Menschen beschützen wollte, der ihm etwas bedeutete, dann musste er sein Temperament zügeln.
Er ignorierte, wie die anderen Mitarbeiter ihn beäugten, während er sein Werkzeug ordnungsgemäß verstaute. Vom ersten Tag an hatte er Abstand gehalten, weshalb er als Sonderling außen vor geblieben war. Damit hatte er kein Problem. Nicht, weil seine Kollegen mies gewesen wären, sondern weil Ben wusste, dass er niemandem vertrauen konnte. Nicht wirklich. Das hatte er früh lernen müssen.
Als er zum Ausgang trottete, entdeckte er den Arbeitsplan am Schwarzen Brett. Wie angewurzelt blieb er stehen. Sein Name war in allen Spalten für den Rest der Woche durchgestrichen worden. Unwillkürlich ballte er die Hände zu Fäusten und biss so fest zu, dass seine Zähne beinahe zersprangen.
Wutentbrannt riss er das Blatt Papier von der Korkoberfläche und pflügte zu Donnahughs Büro. Mit einem lauten Rumsen klatschte er den Plan an die Glasscheibe, die den Raum von der Halle trennte, und durch die sein Vorgesetzter die Schweißer beobachten konnte.
Dank des Lärms, den Ben veranstaltete, blickte Donnahugh auf. Als er in Bens Gesichtszügen Zorn erkannte, begann er doch tatsächlich zu grinsen. Es fehlte nicht viel und Ben hätte das Glas einfach zertrümmert, damit er dem anderen endlich die Abreibung verpassen konnte, um die er schon so lange bettelte.
Der Mann hinter der Scheibe lehnte sich entspannt in seinem Ledersessel zurück und legte die Beine auf den Schreibtisch. „Wir sehen uns nächste Woche, Pisser“, formten seine Lippen, während er die Hände vor dem feisten Wanst verschränkte.
Ben rang mit sich. Mantraartig ging durch seinen Kopf: „Du brauchst diesen Job. Du brauchst diesen Job.“ Am Ende hob er die Rechte, zeigte Donnahugh den Mittelfinger und als er die Werft verließ, war er es, der grinste. Er wusste, wo er den Nachmittag verbringen würde. Sicher nicht im Wartezimmer des D-Arztes.
„Ah, ah, Aaaaaaaahhh!“, schrie Sarah MacKenzie und bog den Rücken durch. Ben spürte in ihrem Innern, dass sie kam. Stöhnend ritt er sie härter und ließ nur kurz nach ihr los.
Später lag er auf dem Rücken und betrachtete die Rüschen über dem Bett. Ein Baldachin aus mit Rosen bedrucktem Stoff war entlang des Rahmens des Himmelbetts sogfältig in kleine, feine Falten gelegt worden. Der Boden war mit weißem, flauschigem Teppich bedeckt, das Rosenmuster wiederholte sich in der makellosen Tapete und im fließenden Vorhangstoff. Helle, hochwertige Möbel und edle Lampen vervollständigten den Eindruck einer gepflegten, heilen Vorstadtwelt.
Sarah, die Tochter des Werft-Besitzers MacKenzie, ging zwar zur Uni, lebte aber immer noch zu Hause bei ihren Eltern, die sie fast wie in einem goldenen Käfig hielten. Diesbezüglich glich Ben einer verbotenen Frucht, das war ihm durchaus bewusst. Allerdings war es ja auch nicht gerade so, als hätte er nicht seine eigenen Gründe gehabt, um heute hier aufzutauchen.
Neben ihm wurde eine Zigarette angezündet.
„Weiß dein Vater, dass du in deinem Zimmer rauchst?“, neckte er und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
Nur ihre Augen huschten zu ihm herüber, während sie entspannt weiterrauchte. „Erstens ist er nicht da. Und zweitens: wenn er herausfände, was wir gerade getan haben, wäre die Tatsache, dass ich rauche – ob nun in meinem Zimmer, oder nicht – absolut belanglos.“ Ein verschmitztes Lächeln huschte über ihr hübsches Gesicht und ihr erhitzter Blick wanderte über seinen ausgestreckten Körper. Hm, er wusste ja, dass sie auf Verbotenes stand. In diesem Punkt hatten sie sich von Anfang an verstanden.
„Ich bin nicht gut genug für dich, was?! Aber ein dreckiger Schweißer scheint dich ziemlich anzuturnen.“ Er drehte sich auf die Seite und ließ die Hand unter die Decke, zwischen ihre Schenkel gleiten. Mit den Fingern streichelte er sie dort, wo er eben noch mit einem anderen Körperteil gewesen war. Nebenbei knabberte er an ihrem Hals, bis sie überall Gänsehaut hatte und ihre Nippel zu festen, harten Perlen wurden.
Sarah schloss die Augen. Ihre Lippen öffneten sich für den stoßartigen Atem, der ihrer Kehle entwich, genauso, wie sich ihre Beine für seine Berührung öffneten. Er hätte jetzt sehr viele schöne und sehr viele wirklich schmutzige Dinge mit ihr anstellen können. Doch Ben gehörte nicht zu den netten Typen. Ha, er gehörte noch nicht mal zu denen, die wenigstens für einen Fick nett waren. Er befand, dass diese kleine Machtdemonstration reichte, ließ von ihr ab und schnappte sich die Zigarette seines wehrlosen Opfers.
Diesmal war ihr Aufstöhnen voller Enttäuschung. „Du bist ein Mistkerl!“, stieß sie klagend hervor und schlug nach ihm.
Ben wich aus und lehnte sich lächelnd zurück in die Kissen.
„Ich weiß“, flüsterte er, bevor er sich einen Zug genehmigte.
Obwohl er schon spät dran war, hielt Ben auf dem Heimweg an einer Tankstelle und kaufte rote Lakritzstangen. Die würde er heute Nacht noch brauchen. Davon konnte er ausgehen, immerhin hatten sie Monatsanfang und sein Pflegevater hatte wahrscheinlich seinen Lohn erhalten.
Ben wollte gerade auf seine Maschine steigen, als ein dunkler Lieferwagen neben ihm hielt. Die Schiebetür sprang auf und zwei schwarzgekleidete Gestalten mit Sturmhauben vor den Gesichtern stürzten sich auf ihn.
Reflexartig hüpfte er zur Seite, entglitt dem Griff des einen Mannes nur knapp und rammte dem anderen seine Schulter in den Bauch. Blitzschnell zog er das Knie hoch. Ein Knacken ertönte, Blut tropfte auf den Asphalt und sein Opfer kippte um wie ein gefällter Baum. Während Ben überrascht einen weiteren Angriff des zweiten Typen abwehrte, überlegte er fieberhaft, wer sie geschickt haben mochte. Leider war die Liste der infrage kommenden Personen lang.
Hatte MacKenzie herausgefunden, dass er seine Tochter knallte? Wobei man Ben zugutehalten musste, dass er beileibe nicht der erste war, der sie defloriert hatte. Möglicherweise war es auch Julio gewesen, der herausgefunden hatte, dass Ben seinen Stoff für gut das Doppelte vertickte und den Gewinn aus dieser Gaunerei natürlich für sich behielt. Oder vielleicht waren die beiden Fremden auch im Auftrag seines Pflegevaters hier, der ihn endgültig loswerden wollte, damit er zu Hause freie Bahn hatte.
So oder so, er würde sich nicht besiegen lassen. Bisher war es noch niemandem gelungen, ihn klein zu kriegen. Kakerlaken wie er waren sehr widerstandsfähig. Außerdem stand nicht nur sein Leben auf dem Spiel.
Er hatte den heroischen Gedankengang noch nicht beendet, als er fest an der Jacke gepackt und herum geschleudert wurde. Etwas traf seinen Kopf mit großer Wucht und pustete ihm die Lichter aus.
Jemand rüttelte ihn an der Schulter. Ein Röcheln erklang. Er brauchte eine Weile, bis er soweit bei sich war, dass ihm klar wurde, dass er den Laut produziert hatte. Hinter seiner Stirn pochte es bedenklich, dennoch ignorierte er die Warnzeichen und schlug die Lider auf. Die Zapfsäulen rotierten wie ein Kreisel, der Asphalt wirkte, als ob er ihn durch ein Kaleidoskop betrachtete. Von eine Sekunde zur anderen erfasste ihn überwältigende Übelkeit. Auf die Hände gestützt erbrach er sich geräuschvoll.
Verfluchte Scheiße! Ein LKW musste ihn überfahren haben.
„Oh, nein! Also, dass dir nicht gut ist, tut mir ja ehrlich leid, aber du hast meine Spitzenschuhe … neu angestrichen!“, rief eine Stimme über ihm.
Ben versteinerte.
Diese Stimme!
Es war mit Abstand die schönste, die er je vernommen hatte. Und obwohl er schwören hätte können, dass er sie noch nie gehört hatte, glaubte er doch sie irgendwoher zu kennen. Sie weckte etwas in ihm, berührte einen Teil, der tief vergraben lag und sich jetzt urplötzlich wie aus dem Winterschlaf erhob – besser konnte er es nicht beschreiben. Aber er spürte es bis in die Zehenspitzen.
Benommen sah er auf.
Die Stimme gehörte zu einer jungen Frau, fast noch ein Mädchen und sie … trug nur Strumpfhosen und so etwas wie einen Badeanzug an ihrem zarten Körper. Dazu rosafarbene Schuhe mit merkwürdig langen, am vorderen Ende abgeflachten Spitzen. Oder zumindest waren sie ein Mal rosa gewesen. Jetzt hatten sie dank seiner Kotze orange, grüne und braune Sprenkel. Er erkannte den Burrito, den er sich mittags zwischen die Kiemen geschoben hatte.
So abgefahren ihre Erscheinung auch war, alles verblasste gegen dieses Gesicht. Es war ungeschminkt, ganz pur. Aber die Vollkommenheit dieser ausdrucksstarken, blauen Augen und der vollen Lippen brauchten mit Sicherheit keine Betonung mehr. Dunkles Haar war an ihrem Hinterkopf zu einem eleganten Knoten geschlungen worden, ließ sie streng und doch weich zugleich wirken.
Sie ging neben ihm in die Hocke. Zart wie kleine Flügel strichen ihre Finger ein paar Strähnen aus seiner verschwitzten Stirn.
„Geht’s dir besser?“ Da war sie wieder, die Stimme.
Er nickte automatisch und starrte sie weiterhin unverhohlen an.
„Wie bist du denn hier rein gekommen? Ich habe gar nicht gemerkt, dass jemand da ist. Aber die Musik ist auch ziemlich laut.“
Ben stutzte. Wo rein … und … „Welche … Musik?“
Erneut sah er sich um, … aber dieses Mal waren da weder Tankstellengebäude noch Zapfsäulen. Es war auch nicht mehr dunkel, kein sternenklarer Himmel über ihnen.
Ben erschrak heftig, kippte nach hinten und kroch unwillkürlich rückwärts. Er stieß gegen etwas Hartes, Kaltes und schaute entsetzt nach, worum es sich handelte.
Sein Rücken presste sich gegen eine große Spiegelwand, in der sich das Licht von mehreren Deckenstrahlern brach. Über seinem Kopf war eine Stange angebracht, die sich über die gesamte Seite des Raumes erstreckte, in dem er sich befand. Der Boden bestand aus PVC und an der gegenüberliegenden Wand befanden sich eine Fensterreihe mit Jalousien, sowie eine Stereoanlage.
Da hörte er die Musik. Irgendetwas Klassisches. Klavier und Geigen waren auch involviert.
Staunend betastete Ben alles, was er erreichen konnte. Der Boden war weich und hart zugleich, das Spiegelglas glatt und kühl. Es fühlte sich absolut real an, wo er doch sicher war, dass er sich eben noch an einer Tankstelle aufgehalten hatte.
„Was ist los? Du siehst … verwirrt aus.“ Sie hatte den Kopf schief gelegt und musterte ihn besorgt.
„Wo bin ich hier? Und wie bin ich hier rein gekommen?“ Die Wörter holperten mehr aus seinem Mund, als dass er sie sprach.
Sie schaute verständnislos drein, dabei entstand eine steile Falte auf ihrer Stirn. Total süß, stellte er überrascht von den eigenen Gedanken fest. „Du bist in einem Tanzstudio … in Seattle.“
Ben riss die Augen auf. „Seattle???“ Entweder war er irre geworden oder sie. Und um sie wäre es definitiv schade gewesen. „Du verscheißerst mich doch!“
„Nein!“ Empörung schlug ihm entgegen. „Du bist hier eingebrochen und hast alles vollge … ähm … ja … und jetzt wirst du auch noch unhöflich. Das ist echt nicht ok!“
„Das ist echt nicht …“ echote er. Jeden anderen Menschen hätte er für diesen Satz aufgezogen, aber bei ihr versuchte er ernst zu bleien.
„Ich sehe doch, dass du lachst!“
„Stimmt gar nicht.“ Oder doch? Dabei hatte sich so angestrengt. Nun spürte er beinahe ihren Zorn. „Und du bist sauer.“ Trotz aller Bemühungen färbte ein breites Lächeln seine Stimme.
„Und das findest du auch noch witzig?! Du bist echt merkwürdig.“
„Das musst du gerade sagen. Wer trägt denn hier einen Badeanzug und komische Strumpfhosen vor einer Spiegelwand?!“
„Ähm, vielleicht eine Ballerina?“ Ihr sarkastischer Tonfall verdeutlichte, dass sie die Frage rein rhetorisch meinte.
Ben verschluckte sich an seinem Kichern. Betreten rubbelte er über seinen Hinterkopf. „Ach so.“
Sie beobachtete ihn argwöhnisch. „Wo kommst du her?“
„San Francisco.“
„Ich meine nicht, wo du geboren bist, sondern wo du heute herkommst.“
Ben schüttelte hilflos den Kopf. „Die Antwort bleibt dieselbe. San Francisco. Eben lag ich noch auf dem Boden vor einer Tankstelle.“ Und er war kurz zuvor überfallen worden. Mann, dieser Abend war auf dem besten Weg, der abgefahrenste seines Lebens zu werden.
Mariana zog die Luft scharf durch die Zähne. Wenn sie nicht zu geschockt gewesen wäre, hätte sie laut geschrien.
Nicht nur, dass ein vollkommen Fremder und noch dazu wahrscheinlich Wahnsinniger in die Tanzschule eingedrungen war und sich dort übergeben hatte. Plötzlich stand sie nicht mehr in den heimeligen Hallen, in denen sie seit ihrem dritten Lebensjahr Ballett gelernt hatte.
Statt der Spiegelwand sah sie ein kleines Häuschen vor sich. Die Innenbeleuchtung hob sich grell vom dunklen Nachthimmel ab. Dort gab es einige Regalreihen voller Gegenstände, wie im Supermarkt. An den Wänden standen Kühlschränke mit Getränken. Hinter dem Tresen, an dem ein Typ mit grell gelber Jacke und Kopfhörer über den Ohren vor sich hin tanzte, gab es Tabakwaren.
Links von ihr erstreckte sich eine doppelte Reihe von Zapfsäulen. Vor der ersten stand ein großes, schwarzes Motorrad. Der zugehörige Helm lag daneben auf grauem, rissigem Asphalt.
„Wie hast du das gemacht?“ rief sie voller Angst aus. Denn das einzige, das sie offenbar aus Seattle mitgenommen hatte, war dieser gut aussehende Vagabundierer, der ihr zudem gerade geschworen hatte, dass er eben noch an einer Tankstelle gewesen war. Wer sonst sollte also dafür verantwortlich sein, was hier passierte?
Er machte die Augen schmal, sein Tonfall wurde dezent hysterisch. „Ich mache hier gar nichts! Das ist doch irre! Das kann nicht echt sein!“
Die Hysterie steckte Mariana an. Sie konnte nur noch stoßweise atmen und ihre Kehl fühlte sich zu eng an. „Aber ich bin echt“, quiekte sie aufgeregt. „Wenn hier jemand nicht echt ist, dann bist du es!“
„Was heißen würde, dass du nicht alle Tassen im Schrank hast, oder?“, entgegnete er hämisch und seine blauen Augen leuchteten vor Belustigung auf.
Gegen ihren Willen musste auch Mariana lächeln. Sie wollte es gar nicht, es geschah einfach und für einen Moment schauten sie sich in die Augen. Seltsamerweise fühlte es sich an, als ob sie ihn schon ewig kannte. Ihre Verblüffung spiegelte sich in seinen Gesichtszügen und da war sie sich sicher. Er dachte genau dasselbe wie sie.
„Was geht hier vor?“, flüsterte sie.
„Ich … weiß es nicht.“
„Das ist total gruselig.“
Er sah sich um. Vor ihm auf dem Boden befand sich ein Haufen Erbrochenes. Er seufzte tief. „Wem sagst du das.“
„Wie kommt das hier her?“
„Keine Ahnung.“
„Aber du musst doch irgendwas getan haben, damit es angefangen hat.“ Ihr Verstand rang darum, das alles zu begreifen. Wie sie eben noch in einem Tanzstudio in Seattle und kurz darauf an einer Tankstelle in San Francisco stehen konnte. Und wie es ihr Begleiter konnte.
In einer Kurzschlussreaktion kniff sie den Fremden so fest sie konnte in die Seite.
„Aua!!!“, jaulte er auf. „Du hast sie wirklich nicht alle! Warum machst du das?“
„Man soll sich kneifen, wenn man herausfinden will, ob man träumt.“ Das war doch total logisch.
Er verzog entgeistert die Miene. „Damit das funktioniert, hättest du ja wohl dich selbst massakrieren müssen, Prinzessin.“
Mariana verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. „Haarspalterei.“
„Pah. Da wir nun also wissen, dass ich echt bin, bist du jetzt dran.“ Damit kniff er beherzt zu. Nur, dass er nicht wie sie ihre Seite wählte.
Unwillkürlich machte Mariana einen Satz und rieb sich anschließend das schmerzende Hinterteil. „Musste das denn sein???“, fuhr sie ihn entsetzt an.
Er hatte nur wieder dieses Lächeln aufgesetzt,… das, wie sie leider zugeben musste, ziemlich unwiderstehlich auf sie wirkte. Ein paar Strähnen des blonden Haares, das er im Nacken zu einem Knoten gebunden hatte, fielen ihm in die Stirn, während er den Kopf leicht beugte und sie unter zusammengezogenen Augenbrauen betrachtete. Diese Geste hatte er jetzt schon öfter gemacht. Dabei vermittelte er den Eindruck, als könnte er kein Wässerchen trüben. Doch seine Worte straften ihn Lügen.
„Sorry, Baby. Ich sollte dich vielleicht darüber aufklären, dass du hier nicht an einen Gentleman geraten bist.“
„Das war mir schon vorher klar“, antwortete sie sachlich.
Mariana ging zu einer Zapfsäule hinüber und griff nach dem Schlauch. Sie fühlte seine feste Konsistenz. Das leichte Summen, das von dem Generator stammte. Wenn sie das tun und fühlen konnte, dann musste sie doch tatsächlich in San Francisco sein, oder nicht?
Als sie sich umdrehte, um die Entdeckung ihrem Begleiter mitzuteilen, sah sie ihr Spiegelbild aus den Augenwinkeln in der Fensterscheibe des Tankstellengebäudes. Sie stoppte und schaute ruckartig noch mal hin.
Dort war es nicht sie, die den Schlauch der Zapfsäule anhob, nein. Es war der Fremde, der es tat. Sie fehlte ganz.
Mariana griff sich an die Brust, vage fragte sie sich, wie viele Schockmomente sie ertragen konnte, bis ihr Herz endgültig den Geist aufgeben würde.
„Abgefahren“, hauchte er und hob im Spiegel seinerseits den Arm.
Marianas bewegte sich synchron, als hinge er an unsichtbaren Marionettenfäden. „Echt abgefahren“, erwiderte sie atemlos. Irgendwie war es schockierend und gespenstisch, aber ebenso aufregend und dank dieses gut aussehenden Typen auch ein wenig verführerisch.
Im Spiegelbild im Fenster waren sie dieselben, aber wenn sie sich ansahen, standen sie einander gegenüber.
„Wie heißt du?“
„Mariana … Und du?“
„Ben.“ Sie reichten sich die Hände und schüttelten sie.
Die Berührung ließ wieder dieses altvertraute Gefühl auferstehen. Als hätte sie schon tausend Mal nach seiner Hand gegriffen. Erschüttert hielten sie sich gegenseitig fest. Mariana strich über seine goldene Haut, den Flaum blonder Härchen.
„Lass … lass‘ uns überlegen, was wir getan haben, bevor es passiert ist“, schlug sie gedankenverloren vor.
Bens Finger wanderten ihren Arm hinauf. Für den Bruchteil einer Sekunde war sie es, die sich selbst streichelte, obwohl sie von ihm gestreichelt wurde. Und es war realer, als alles, was sie je zuvor erlebt hatte.
Er atmete schwer, während er murmelte. „Wurde überfallen.“
Mariana hielt erschrocken inne. „Du wurdest was???“
„Ich habe Lakritzstangen gekauft, dann ist ein Lieferwagen vorgefahren, zwei Männer mit Sturmhauben sind rausgesprungen und haben mich nieder geschlagen“, erklärte er gelassen.
„Ach so. Du bist mal eben überfallen worden. Anscheinend passiert dir das häufiger.“
Er lachte. „Öfter, als ich zugeben möchte.“
Aus irgendeinem Grund hatte sie keinerlei Zweifel an dieser Aussage. Verwirrt und frustriert löste sie sich von ihm, um klar denken zu können.
„Ich habe alleine getanzt. Eine paar Battements und Rond de jambes. Mehr war es nicht.“ Ihrer Meinung nach nichts, was diese … Sache auslösen konnte. Ein Überfall dagegen …
„Ein Rong de was?“
„Vollkommen egal. Fühlst du dich jetzt anders als vorher?“
Ben zuckte mit den Achseln … und verzog plötzlich das Gesicht. Vorsichtig schob er Jacke und Shirt beiseite, bis sein bloßer Oberarm sichtbar wurde. Dort prangte ein roter Fleck, in dessen Zentrum sich eine mückenstichartige Verletzung befand. Bei genauerer Betrachtung kam auch ein Nadelstich infrage.
„Die … die könnten dir irgendetwas injiziert haben …“, hauchte sie ängstlich.
Ben winkte ab. „Schlimm kann‘s nicht gewesen sein. Hab‘ mich schon schlechter gefühlt.“
„Entweder bist du lebensmüde oder einfach nur besch …“ Mariana stoppte sich und hob die Hand vor den Mund. „Verzeihung.“
„Wow, da reise ich ein Mal durch Raum und Zeit und bei wem lande ich?! Der heiligen Jungfrau Maria.“
Im spiegelnden Fenster schlug Ben sich selbst auf den verletzten Oberarm.
Nachdem er aufgeheult hatte, bedachte er sie mit einem anerkennenden Blick. „Ganz so brav bist du also doch nicht.“
„Bitte, konzentriere dich. Ich meine, wenn ich jetzt hier bin, … oder auch nicht hier bin …“, sie wies mit dem Daumen zum Fenster des Gebäudes hinüber, wo Ben alleine stand, „wie kann ich dann zurück? Wie bist du zurück?“ Sie hatte kein Geld dabei, keinen Ausweis, kein Handy. Erneut wollte die Panik Tränen in ihre Augen treiben. Um Fassung ringend schluckte sie mehrmals und schlang die Arme um sich.
Etwas Schweres legte sich auf Marianas Schultern. Es war Bens Jacke. Wärme umhüllte sie und ein tröstlicher Duft stieg ihr in die Nase.
„Keine Sorge. Du bist nicht allein.“
„Du aber“, gab sie zu bedenken. Ihr Rückweg würde sich sicher schwieriger gestalten, als in einen Bus in Richtung Heimat zu steigen.
Ben überlegte eine Weile, bevor er sich triumphierend auf den Oberschenkel klopfte. „Wir sind zur Tankstelle geflutscht, als ich darüber geredet habe.“
Mariana widersprach bedauernd. „Das habe ich doch auch schon getan und es hat nichts geändert.“
Wieder schwiegen sie und so langsam fand Mariana die Situation nur noch unheimlich. Viele Theorien spukten ihr durch den Kopf, aber jede einzelne davon widersetzte sich den Gesetzen der Physik.
„Hör mal, falls wir heute Nacht keinen Weg finden, es rückgängig zu machen, kannst du erstmal bei m ...“
Ben wurde von einem Auto unterbrochen, das mit quietschenden Reifen auf den Tankstellenhof raste. Die Scheinwerfer blendeten Mariana und als die grellen Lichtblitze vor ihren Augen endlich nachließen und sie Ben bitten wollte, weiter zu sprechen, stand sie plötzlich wieder mitten im Tanzstudio.
Mariana drehte sich mehrmals um die eigene Achse und rief nach Ben, aber er war verschwunden.
Brahms ertönte aus den Lautsprechern. Die romantischen Klänge konnten den Raum nicht so füllen, wie sie es gewohnt war. Etwas fehlte.
Versunken in ihre Gedanken packte Mariana ihre Tasche und zog sich um, bevor sie nach unten lief und in ihr Auto stieg. Mit jeder Ampel, die sie passierte, war sie mehr davon überzeugt, dass sie durchdrehte. Vermutlich ein Schlaganfall, der haptische, optische und akustische Halluzinationen verursachte. Durfte sie so überhaupt Auto fahren? Vielleicht war es besser, wenn sie anhielt?
Das Vorhaben verwarf sie jedoch, als ihr klar wurde, dass sie nur noch ein paar Querstraßen von ihrem Zuhause entfernt war. Was sollte schon passieren. Sie fühlte sich ganz normal. Zumindest, wenn der Begriff normal Ben mit einschloss.
Ohne weiteren Zwischenfall erreichte sie die Auffahrt des Hauses ihrer Familie. Es lag in Beacon Hill und bot einen wunderbaren Blick auf die Elliott Bay, bei gutem Wetter sogar auf die Olympic Mountains. Platten aus Schieferstein führten spiralförmig von der Garage hinauf zu dem quadratischen Gebäude aus hellem Stein und Glas, das an allen Seiten von vielerlei Pflanzen in einem Steinbeet umrahmt war. Der Eingang wurde von zwei hübschen Hortensienkübeln gesäumt, die ihre Mutter hingebungsvoll pflegte, genauso wie den Rest von Garten und Grundstück.
Obwohl Marianas Karriere langsam Fahrt aufnahm, konnte sie zurzeit nicht davon leben, weshalb sie noch unter dem Dach ihrer Eltern wohnte, wenn sie nicht gerade auf Tour war. Wie zu erwarten, brachte dieser Umstand Vor- und Nachteile mit sich.
Beispielsweise wurde ihre Wäsche gewaschen, sie wurde bekocht und bekam Gelegenheit, ihre Schulfreunde zu sehen, die nach dem Abschluss in der Stadt geblieben waren. Dafür verfiel sie aber auch in alte Muster, besonders, was die Beziehung zu ihrer Mutter anging.
„Mom?“, brüllte Mariana, nachdem die Haustür hinter ihr ins Schloss gefallen war. “Wo ist die Nummer von Dr. Stevens?“
Der Arzt hatte gestern ihren schmerzenden Knöchel behandelt. Ein paar Injektionen ins Gelenk und sie hatte sich schon besser gefühlt.
Jetzt fragte sie sich, ob er nicht auch etwas anderes mit ihr angestellt hatte.
„Okay, okay, kommt ssschonn … n-noch einen!“, lallte Drew und versuchte die ohrenbetäubenden Techno-Rhythmen des Clubs zu übertönen. Um ein Haar hätte er den Barhocker verfehlt, den er anvisiert hatte, aber er konnte sich gerade noch am Tresen festhalten.
Beide Barkeeper schüttelten gleichzeitig den Kopf. Die Alkoholflaschen an den Regalreihen im Hintergrund schwankten bedenklich. „Du hattest schon zu viel. Geh nach Hause“, beschieden sie ihm unisono.
Er beugte sich auf dem polierten Marmor der Hausbar nach vorne und winkte die zwei zu sich heran. Der Widerwillen stand ihnen ins Gesicht geschrieben, als sie ihm gehorchten.
„Ich betschahle a-allesss, wasch ihr wollt.“ Hicksend zerrte er die goldene Geldklammer mit dem Bündel Hundertdollarscheine aus der Anzugtasche und warf sie neben die drei leeren Schnapsgläser vor sich.
Die Augen der Zwei musterten das Geld begierig, doch dann schoben sie es zu ihm zurück. „Nimm deine Kohl und bezahl das Taxi davon. Du hast sowas von Glück, dass du an mich geraten bist.“
„Klar, Mann, klar. Aber wasch isch damit?“ Mit ungeschickten Fingern löste er die Rolex vom Handgelenk. „Die isch besschtimmt Schehntausschend wert. Ein einschiger Drink unnnd eure Mieeete issch für die nächsssten Mo-onate betschahlt.“
„Verpfeif‘ dich, Kumpel. Oder ich hole den Sicherheitsdienst“, entgegneten die Barkeeper nun deutlich ungeduldiger und zeigten gemeinsam Richtung Ausgang.
Drew kicherte unterbrochen vom Schluckauf. Nur mit Mühe hielt er sich auf dem Hocker. „WWiiiee kannn man sssowasch able-ehen? Wollt ihr mein Auto?“ Nicht zu fassen, dachte er als die beiden Typen abermals ablehnten, wenn er nicht aufpasste, würden die zwei ihm sein letztes Hemd für einen verdammten Scotch abluchsen. Innerlich zuckte er nur mit den Schultern. Für einen Scotch hätte er momentan sein Appartement verschenkt, was er auch kurz darauf anbot. Leider bewegte das die Barkeeper nur dazu, den Türstehern, die an den Ausgängen postiert waren, zu winken.
„Oh, ko-ommt sssschonnnn Leute“, bettelte Drew. Was zum Teufel musste man in diesem Land tun, um einen verfluchten Drink zu bekommen?! Gerade jetzt hätte er seine Seele dafür verkauft. Es gab einfach Augenblicke, die man auf keinen Fall zu nüchtern erleben sollte.
Er war noch damit beschäftigt, die beiden Typen hinterm Tresen zu bequatschen, als er an beiden Schultern gepackt wurde. Ein Blick zurück zeigte, dass nun wie angekündigt die Security auf den Plan trat.
Vier Männer in schwarzen Anzügen zerrten an ihm, doch er krallte sich mit aller Kraft an der Bar fest. Lautstark begann er zu verhandeln, darin war er sonst gut. Allerdings war ihm nicht entgangen wie träge sich Hirn und Zunge anfühlten. Dem hatte er es wahrscheinlich zu verdanken, dass er kurz darauf mit einem Tritt durch die Hintertür des Clubs befördert wurde.
„Ich bin euer bessster Ku-unde, ihr Idio-oten!“, brüllte er, nachdem er sich auf die Knie hochgerappelt hatte. Wütend warf er das einzige, das er zur Hand hatte – sein Handy – nach den Übeltätern. Es prallte am Türstock ab und zersprang in viele Einzelteile. „Dann Ka-aufe ich eben diesssen Sssscheißßß-Clu-ub! Hört ihr?! Ich ka-aufe ihn unnnd dann lasssch‘ ich euch a-alle feuern!“
Doch aller Beschimpfungen zum Trotz schloss sich schon bald die schwere Feuertür und er war allein in der verlassenen Gasse. Nächtliche Dunkelheit umschloss ihn, da nur die lilafarbene Neonreklameleuchte des Clubs spärliches und zudem flackerndes Licht spendete. In seiner Verfassung verbesserte der Stroboskopeffekt seine Wahrnehmung keineswegs.
Der Alkohol und das Brüllen hatte ihn Kraft gekostet. Erschöpft ließ er sich auf die Hacken sinken und bekämpfte den Schwindel. Wenn er es nur schaffen würde, aufzustehen, dann könnte er vielleicht mit seinem Aston Martin zum nächsten Club und dort sein Glück versuchen.
Ächzend kroch er zur den metallenen Müllcontainern und zog sich an ihnen in die Vertikale.
„Blö-öder Schluckauf“, fluchte er rüde und klopfte seine Taschen nach dem Autoschlüssel ab. Wo hatte er das verdammte Ding noch mal abgestellt?
Egal. So ein Wagen war selten, er würde ihn schon finden.
Von den stetigen Kontraktionen seines Zwerchfells begleitet, torkelte auf das Licht am Ende der Gasse zu und gelangte in eine Seitenstraße der Disco. Um bei diesem Seegang nicht erneut zu Boden zu gehen, musste er sich entlang der rauen Hauswand vorwärts schieben. Taxis warteten weiter vorn an der Hausecke, wo es zur Vorderseite des Clubs ging. Dort flanierten die nächtlichen Passanten und Club-Hopper schwatzend unter den Straßenlaternen durch.
Er war noch dabei, sich unter den parkenden Wagen am Rande der Straße nach seinem Aston Martin umzusehen und dabei schön einen Fuß vor den anderen zu setzen, als jemand ihn von hinten anrempelte.
Drew wankte mit rudernden Armen wie eine junge Birke im Wind, bevor er an der Backsteinmauer Halt fand. Kaum war ihm das gelungen, spürte er etwas Kaltes und Hartes am Hinterkopf.
„Rück die Moneten raus“, raunte ihm jemand ins Ohr.
Sein Hirn klassifizierte die Worte zunächst als Scherz. Es war abstrus, dass dieser katastrophale Abend noch desaströser werden konnte.
„Lasssch den Blö-ödsinnn“, lallte er giggelnd. „Aber du kannssst mein Auto ha-aben, wennnnn ich einen Drink von dir kriege.“ Er schmeckte Staub auf den Lippen – vermutlich vom Putz der rauen Mauer.
Sein Arm befand sich plötzlich in einem Schraubstockgriff gefangen und wurde schmerzhaft hinter seinem Rücken verdreht.
Während er aufheulte, kam sein benebelter Verstand wie ein altersschwacher Motor, der endlich stotternd ansprang, zu dem Schluss, dass wohl doch kein Scherzkeks hinter ihm stand und ihn veräppelte. Obwohl er sturzbesoffen war und man doch meinen hätte können, dass dieser Zustand einen Mann mutig machen sollte, überkam ihn die Angst wie eine eiskalte Dusche und ernüchterte ihn schlagartig. Sein Herz begann schwerfällig schneller zu schlagen.
„Brieftasche und Autoschlüssel, sonst hast du ein Loch mehr im Schädel“, raunte die männliche Stimme bedrohlich, wobei der Druck an seinem Hinterkopf verstärkt wurde. Jetzt war er sich sicher, dass es der Lauf einer Waffe sein musste.
„Ähm, ja, natürlich“, stammelte Drew und fummelte seine Geldbörse und die Schlüssel seines Aston Martins aus der Hosentasche. Als er beides in die Höhe hielt, wurde es ihm grob entrissen.
„Und die Uhr. Mach‘ schon!“
Ironie des Schicksals, dachte er benommen, während er den Verschluss der Rolex ungeschickt mit den Zähnen aufklappte. Er brauchte eine ganze Weile, sodass die Person hinter ihm ungeduldig wurde.
„Mach‘, mach‘, mach‘!“ Ein Klicken ertönte. Noch ein Ruck gegen seinen Skalp.
„Ja doch“, jammerte Drew, dem es endlich gelang, die Uhr zu lösen und in die Hand des Fremden zu schütteln. Das Zittern, das Besitz von seinem Körper ergriffen hatte, half bei dem Vorhaben. „Sie … Sie können alles haben, aber bitte … töten Sie mich nicht.“
Der Mann hinter ihm lachte und es klang wie aneinander reibende Kieselsteine.
„Keine Sorge. Auf uns beide wartet ein Schicksal. Und jetzt schlaf gut.“
In der Erwartung eines harten Hiebes kniff Drew die Augen zu, doch da ertönte ein schrilles Pfeifen von weiter vorn.
Plötzlich ging ein Ruck durch den Fremden, als er genau wie Drew nach der Ursache des barbarisch lauten und näher kommenden Geräusches Ausschau hielt. Am ehesten handelte es sich dabei um eine Trillerpfeife, die die Motorengeräusche und Stimmen der Passanten vor dem Club durchschnitt und diese mit Sicherheit auf sich aufmerksam machen würde.
Drew begann wie am Spieß zu brüllen, um den Effekt zu verstärken. Wenn sie dadurch genügend Schaulustige in die Gasse lockten, würde der Angreifer vielleicht von seinem Vorhaben ablassen. Drew war noch nie bewusstlos geschlagen worden, aber er stellte es sich nicht gerade angenehm vor.
„Schnauze, Arschloch!“, grunzte ihm der Unbekannte ins Ohr und schüttelte Drew, wobei sein Jochbein ein paar Mal gegen die Ziegelsteine donnerte und bunte Punkte in seinem Sichtfeld entstehen ließ. Zusätzlich verspürte er plötzlich einen spitzen Schmerz im Nacken, gefolgt von einem elektrisierenden Gefühl, das ihn vom Scheitel bis zur Sohle durchzuckte.
Dann verschwand der Druck an seinem Rücken, sein linker Arm war wieder frei und da seine zittrigen Knie sein Gewicht nicht tragen konnten, rutsche er mit dem Gesicht voran an der Ziegelsteinmauer zu Boden.
Durch den Schleier seiner Benommenheit hörte er, dass die Trillerpfeife näher kam und jemand etwas rief.
„Verpiss dich, du Penner! Ich habe die Bullen gerufen! Die werden gleich da sein!“ Wieder ein langer Pfiff. „Ja, lauf nur! Die kriegen dich sowieso!“ Dahinter das aufgeregte Murmeln von mehreren Personen.
Zwei Knöchel, die in Stiefletten steckten, tauchten vor ihm auf. Nur mit Mühe konnte er den Kopf heben und die langen Beine nach oben verfolgen, bis er eine Frau mit Trillerpfeife zwischen den Lippen erkannte. Mit einigem Abstand folgten ein paar andere Clubgänger, die sich durch ihr aufgemotztes Äußeres zu erkennen gaben.
Die Frau kniete sich neben ihn und musterte ihn besorgt. „Hat er Ihnen etwas getan? Ich hoffe, ich bin noch rechtzeitig gekommen.“
Drew drehte sich ächzend auf den Hintern, ohne sie aus den Augen zu lassen. Er konnte nicht sagen, wann er zuletzt so erleichtert gewesen war. Der Schreck steckte ihm noch tief in den Knochen und er war nicht im Stande, etwas anderes zu tun, als seine Retterin anzustarren. Blassblondes Haar, das ihr bis zur Taille reichte und ihre Schultern wie ein Wasserfall umfloss. Ihr heller Hautton leuchtete im Licht des Mondes, brachte die veilchenblauen Augen zum Strahlen.
Drews Mund öffnete und schloss sich. Seine Lippen fühlten sich taub an. Als er mit zitternden Fingern sein Gesicht betastete, spürte er kalten Schweiß und plötzlich auch die Kühle der Nacht, die ihn frösteln ließ. Das musste der Schock sein.
„Sind Sie verletzt? Soll ich einen Krankenwagen rufen?“, erkundigte sich die Frau in mitfühlendem Ton und langte nach seinem Kinn, um es dem Licht einer Straßenlaterne entgegen zu wenden.
„Ein paar Schrammen haben Sie schon abgekriegt. Tut es sonst irgendwo weh?“
Wo nicht?, überlegte er in einem Anfall bitteren Sarkasmuses.
„Die Polizei wird sicher gleich hier sein.“
Das weckte ihn dann doch ein wenig auf. Nach allem, was ihm heute widerfahren war, konnte er die lästigen Männer in Uniform beileibe nicht auch noch ertragen.
„Keine … Polizei … inkompetente Schwachköpfe“, stieß er hervor. Unterdessen versuchte er, aufzustehen.
Die Frau griff ihm beherzt unter die Arme und half ihm bei dem Unterfangen. An die Mauer gelehnt fielen ihm die Schaulustigen auf, die ihn neugierig beäugten. Er glaubte nicht, dass ihn einer erkannte.
„Sind Sie sicher? Der Typ hat Sie angegriffen. Sie müssen ihn anzeigen.“
Drew stöhnte. Er zweifelte daran, dass sie seine Sichtweise verstehen würde. „Schon gut.
Ich … ich muss jetzt gehen.“ Vorsichtig versuchte er einen Schritt, taumelte jedoch kraftlos gegen sie.
„Gehen? Sie können kaum stehen.“
„Notfalls krieche ich hier weg“, beteuerte er, während er um Gleichgewicht kämpfte und sich dabei an ihren Schultern festklammerte. Anscheinend hauchte er ihr seinen alkoholgeschwängerten Atem entgegen, denn sie verzog das Gesicht und wedelte mit einer Hand vor ihrer Nase herum.
„Sie stinken wie ein Schnapsladen. Wissen Sie überhaupt, was Ihnen gerade passiert ist?“
„Also bitte …“ So betrunken konnte er gar nicht sein, um das verpasst zu haben. „Man hat mir vielleicht Geldbeutel, Autoschlüssel, Handy und Uhr abgenommen, aber mein Hirn ist noch da. Mir geht’s gut, wirklich. Ich muss nur …“
„Sie müssen ins Krankenhaus“, unterbrach sie ihn resolut. „Sehen Sie sich doch an. Ihr Anzug ist ruiniert und sie sind vollkommen durch den Wind.“
So hübsch sie auch anzusehen war, so langsam ging sie ihm auf die Nerven, die nach den heutigen Geschehnissen sowieso schon gefährlich dünn besaitet waren. Der Ärger verlieh ihm die Kraft, sich auf die eigenen Beine zu stellen und sich aufzurichten.
„Nicht nötig“, sagte er barsch. „Kümmern Sie sich um ihren eigenen Scheiß.“ Dann ließ er sie stehen und bahnte sich einen Weg durch den Halbkreis aus Voyeuren, die die Szene aufmerksam beobachtet hatten. Einer zeigte ihm den Vogel, ein anderer murmelte etwas wie „Arschloch“ und von irgendwo raunte ihm einer zu: „Undankbarer Idiot.“
Wenn die gewusst hätten, dass der Verlust der paar Gegenstände nur die Krönung einer Kette von Ereignissen darstellte, die ihn nicht nur seine Firma, sondern auch seinen Bruder gekostet hatte, hätten sie sich vielleicht die bissigen Kommentare verkniffen. Er war Opfer, nicht Täter.
Allerdings musste er sich rückblickend eingestehen, dass sein augenblicklicher Zustand auch das Ergebnis von karmischen Verstrickungen sein konnte. Immerhin konnte er mit Fug und Recht behaupten, dass – selbst wenn der fremde Mann ihn überfallen hatte – er nicht der Kriminellste in dieser Seitenstraße gewesen war.
Möwengeschrei weckte Kacey. Verschlafen blinzelte sie den Strahlen der aufgehenden Sonne entgegen und kuschelte sich tiefer in die seidenweichen Laken. Im Morgenlicht wirkten sie blütenrein und faltenfrei, genauso schlicht und doch elegant wie der Raum, in dem sie sich befand. Dasselbe galt für den Garten, den sie durch die Schiebetür zur Terrasse erblickte, und hinter dem sich das weite, azurblaue Meer erstreckte. Bezaubert von dem wundervollen Ausblick blieb sie noch eine Weile still liegen, lauschte dem Rauschen der Wellen.
Ein Arm schlang sich von hinten um ihren Bauch und Jason schmiegte seine Nase in ihr Haar. Brummelnd rieb er auch die Hüften an ihrem Becken. Sie antwortete mit einer zarten Bewegung, die ihn ermutigen sollte.
„Guten Morgen“, schnurrte er an ihrem Nacken und verursachte einen Schauer.
„Morgen“, raunte Kacey zurück und bog genüsslich den Rücken durch, sodass sich ihr Hintern in seinen Schoß schmiegte.
„Wie ich sehe, geht es dir heute wieder besser?“
„Viiiel besser“, versprach sie. „Es war total lieb von dir, dass du dich um mich gekümmert hast. Ich möchte mich dafür gebührend bei dir bedanken.“
Damit drehte sie sich in seinen Armen und begann, die nackte Brust mit Küssen zu bedecken, bevor sie sich mit den Lippen nach unten vorarbeitete.
„Hat der Arzt nicht gesagt, du sollst dich schonen?“, murmelte er abgelenkt von ihren Berührungen.
„Nur eine kleine Schwindelattacke durch niedrigen Blutdruck, hat er gesagt. Nach der Infusion und der Spritze war alles schon wieder in Ordnung. Und was gäbe es besseres, um meinen Blutdruck in die Höhe zu treiben, als das?“, Flüsterte sie an seinem Bauchnabel und umkreiste ihn dann mit der Zunge. Ein wohliger Seufzer war Belohnung und Ansporn genug, um sie mit kleinen Bissen noch tiefer wandern zu lassen.
Nach einer gemeinsamen Dusche hüllte Jason sie in seinen seidenen Bademantel und führte sie auf die Terrasse, wo neben dem Pool unter einem Sonnenschirm bereits ein gedeckter Tisch wartete. Wie von Zauberhand waren darauf Platten mit Käse, Aufstrich und Rührei, bunte Obstsalate in überdimensionalen Porzellanschüsseln und Joghurt, kredenzt in zierlichen Kristallschälchen, angerichtet worden. Nicht zu vergessen mehrere Müslisorten und ein Korb voll Gebäck jeder Art. Sektflöten komplettierten das dekadente Mal. Das Personal hatte ganze Arbeit geleistet.
„Oh, Jason. Das sieht wunderbar aus!“
„Nur für dich.“ Er rückte ihren Stuhl zurück, damit sie Platz nehmen konnte.
Als er sich ihr gegenüber setzte, betrachtete sie sein makelloses Äußeres. Vom Sommer aufgehelltes, braunes Haar, ein goldener Teint und Grübchen zum Niederknien. Das weiße Polohemd mit dem aufgestellten Kragen und die hellblauen Shorts kombiniert zu dunkelblauen Segelschuhen wiesen ihn als perfekten Abkömmling dieser dekadenten Welt aus. Hinter einer Flieger-Sonnenbrille verbargen sich warmherzige, braune Augen, die sie stets voller Anerkennung betrachteten.
Was für ein Glück sie doch hatte.
Während er ihr Kaffee einschenkte, lehnte sich Kacey in ihrem Stuhl zurück und genoss die malerische Landschaft. Die Hamptons waren zu dieser Jahreszeit immer noch traumhaft.
„Weißt du, ich hatte gar nicht vor, dich gleich am ersten Abend mit nach Hause zu nehmen. Ich bin sonst nicht so, das schwöre ich.“ Er lächelte entschuldigend und füllte auch seine eigene Tasse. „Aber wenn ich gewusst hätte, wie unkompliziert es mit dir ist …“
„So gesehen, muss ich mich fast bei meinem niedrigen Blutdruck bedanken.“ Sie fasste über den Tisch und legte ihre Hand auf seine. „Ich mache das auch nicht oft. Aber mit dir ist es … etwas Besonderes.“ Trotz der Sonnenbrille wusste, sie, dass seine Augen an ihren Lippen hingen, während sie sprach.
„Möchtest du ein Croissant mit mir teilen?“, fragte er und griff sich eines aus dem reichhaltigen Angebot.
„Zu gerne, aber vorher … werde ich dir zeigen, wie unkompliziert ich tatsächlich bin.“
Kacey erhob sich elegant, öffnete den Morgenmantel und ließ ihn zu Boden gleiten. Wie eine kühle Flüssigkeit perlte er an ihr hinab und entblößte sie vor seinen Blicken, derer sie sich voll und ganz bewusst war. Zur Antwort schob er die Sonnenbrille auf die Nasenspitze, um sie ungehindert von oben bis unten betrachten zu können.
Sie hob das Gesicht gen Sonne und schloss die Augen, ließ ihren nackten Körper noch eine Weile wirken. Dann schlenderte sie mit wippenden Hüften zum Pool und sprang kopfüber hinein.
Das erfrischende Nass umschloss sie wie eine eigene Welt, spülte ihren Kopf frei und klärte die Gedanken. Ein herrliches Gefühl, das ihre Lebensgeister weckte, während sie freudig Bahn um Bahn durch das türkisblaue Wasserbassin zog.
„Endlich jemand, der den Pool nutzt“, lachte er, als sie sich nass und wie Gott sie geschaffen hatte zurück an den Tisch setzte und am Kaffee nippte. „Ich selbst habe viel zu selten Gelegenheit dazu.“
„Wirklich? Warum das?“, erkundigte sie sich und biss in das halbe Croissant, das wie versprochen auf ihrem Teller lag.
„Wenn ich den Sommer hier verbringe, bin ich meist unterwegs. Es gibt so viele gesellschaftliche Verpflichtungen.“ Wahrscheinlich meinte er jene Feste, die die Schickeria unter dem Deckmantel der Wohltätigkeit nutzte, um in fröhliche Frivolität zu feiern und ihre Reichtümer zur Schau zu stellen. Genau wie das, auf dem sie sich am Vorabend kennen gelernt hatten.
„Oh, das kommt mir bekannt vor. Deshalb habe ich mich für diese Saison ausquartiert. Die Stiftungen, die ich in Alabama unterstütze, kommen auch mal ohne mich zurecht. Von Zeit zu Zeit muss man sich einfach … freimachen.“
„Du hast Recht.“ Er bedachte sie mit einem weiteren langen Blick. „Ich bin froh, jemanden gefunden zu haben, der das nachvollziehen kann. Und dass du dir für deine Auszeit ausgerechnet die Hamptons ausgesucht hast. Wird deine Familie dich nicht vermissen?“
Sie rückte ihren Stuhl in die Sonne und legte die Füße auf Jasons Knien ab. „Oh nein. Mein Vater ist sowieso meistens geschäftlich unterwegs und meine Mutter besucht eine Wohltätigkeitsveranstaltung nach der anderen, wenn sie sich nicht gerade in Gin ertränkt. Zum Glück bin ich inzwischen alt genug, um einfach das Weite zu suchen.“
Nachdenklich massierte er ihre Zehen und schaute aufs Meer hinaus. „Ich wünschte, das könnte ich auch.“
„Wieso? Du hast doch erzählt dass du dein Studium abgeschlossen hast. Du könntest gehen, wohin du willst.“
„Mein Name wird mich einholen, was ich auch mache.“ Seine Stimme klang wehmütig und erstaunte sie ein wenig. Ein Milliardärserbe auf Abwegen gefiel ihr auf der einen Seite, machte ihn sogar noch anziehender, passte ihr jedoch so gar nicht in den Kram.
„Hm. Du vergisst, dass er dir auch viele Türen öffnet.“
Er legte den Kopf zurück. „Das stimmt natürlich. Aber er entscheidet ebenso, welche Türen das sind. Liegt vielleicht aber auch daran, dass ich der einzige Sohn bin.“
„Und was für ein Sohn“, neckte sie ihn. „Weißt du, du bist mir schon auf der Charity Gala des National Art Museums aufgefallen.“ Sie biss sich lächelnd auf die Lippen, als er sich ihr überrascht zuwandte.
„Und da wartest du zwei Monate, um mich anzusprechen?“
„Ich wusste nicht wie“, gab sie zu und rieb verlegen über die Stuhllehne. „Du bist hier eine Berühmtheit und ich nur Darla Buchanan, ein Mädchen aus Alabama, das hier total unbekannt ist.
„Wenn ich dich so ansehe, kann ich mir kaum vorstellen, dass dich das abgehalten hätte, wenn du gewollt hättest.“ Seine Hand wies auf ihren nach wie vor entblößten Körper, der in der Sonne glänzte. Sie legte den Kopf schief, nachdem sie sich eine Erdbeere gegriffen und sie möglichst sinnlich verspeist hatte. Sich seiner Aufmerksamkeit gewiss, lehnte sie sich wieder entspannt zurück.
„Außerdem hattest du schon genug Bewunderinnen.“
„So einer bin ich nicht, ich hoffe, das weißt du inzwischen.“
Zumindest wollte er es nicht. Nicht mehr, dachte sie. Das hatte sich den Sommer über gezeigt, während sie ihn im Auge behalten hatte. Indessen musterte sie seine hoffnungsvolle Miene unter halb geschlossenen Lidern.
„Natürlich weiß ich das.“
„Dann kann ich davon ausgehen, dass du mich heute Abend zum Dinner begleitest?“ Er kitzelte sie an den Zehen. „Du bist genau die richtige frische Brise, um in den Herbst zu starten.“
Wahrscheinlich ähnelte sie gerade der Grinsekatze aus Alice im Wunderland. „Es wäre mir eine Ehre. Was hast du heute noch vor?“
Jason seufzte verdrossen. „Erst treffe ich mich mit meinem Vater zum Squash, danach werde ich auf dem Golfplatz ein paar Investoren unserer Firma vorgestellt. Ich soll allmählich ins Familienunternehmen eingeführt werden. Und wo ginge das besser, als es offiziell heute Abend bei einem gesellschaftlichen Event der oberen Klasse in den Hamptons zu verkünden, kurz bevor die Saison zu Ende geht.“
„Und du willst, dass ich dich dorthin begleite? Deine Familie wird da sein und wir kennen uns erst kurz.“ So schnell hatte sie nicht damit gerechnet.
„Unbedingt. Nur durch dich wird der Abend halbwegs zu ertragen sein.“ Er zwinkerte ihr zu, was sie zu ihrem Leidwesen ziemlich sexy fand. „Außerdem hast du mir gerade gestanden, dass zumindest du mich schon länger kennst.“
Wenn er nur gewusst hätte, wie viel Wahrheit tatsächlich in seinen Worten steckte. Sie lächelte geheimnisvoll und schenkte ihm ihren erprobten Schlafzimmerblick.
„Gut. Wenn du es so möchtest, freue ich mich schon sehr darauf. Wo wir schon dabei sind: hast du etwas dagegen, wenn ich noch eine Weile die Einsamkeit in deinem Pool nutze? Der im Hotel ist zu bevölkert.“
Jason legte ihre Füße auf dem Boden ab und stand auf. „Nicht im geringsten. Bitte fühl‘ dich wie zu hause. Die Haushälterin ist schon weg und ich muss jetzt leider los. Du bist also vollkommen ungestört.“ Zu beiden Seiten stützte er sich auf die Armlehnen ihres Stuhls und beugte sich zu ihr herunter, bis nur noch Zentimeter ihre Nasenspitzen trennten. Er sah hinab auf ihre Brüste als er flüsterte: „Wie wäre es, wenn du bleibst, bis ich wiederkomme? Aber bitte genau in diesem Zustand.“
„Hm, wer weiß“, flüsterte sie verschmitzt zurück. „Aber das wirst du wohl oder übel herausfinden müssen.“
Sein Knurren vibrierte an ihrer Schulter, als er mit den Lippen dort entlang strich. „Du machst mich wahnsinnig. Kannst du mir sagen, wie ich mit diesem Bild vor Augen den Tag überstehen soll?“
„Aufrecht, nehme ich an“, gab sie frech zurück. Sie ließ ihn noch ein bisschen tiefer wandern, aber bevor er eine der kleinen Brustwarzen erreichen konnte, schubste sie ihn mit dem Fuß von sich. Nicht kräftig, aber gerade fest genug, damit er wusste, wer hier das Sagen hatte. Jason schien überrascht zurück zu taumeln, doch als er sich fing, glitt ein leuchtender Ausdruck über seine attraktiven Züge. Das Spiel gefiel ihm offensichtlich.
Sie winkte ihm auffordernd. „Wir sehen uns.“
Zögernd ging er Schritt für Schritt rückwärts, dann drehte er sich um und verließ die Terrasse.
Kacey wartete auf den aufheulenden Motor seines Ferraris, dann sprang sie auf, schlüpfte in den Morgenmantel und hastete ins Haus.
Als erstes durchsuchte sie das Arbeitszimmer. Jedes einzelne Dokument fotografierte sie sorgfältig ab, bevor sie es wieder dorthin legte, wo sie es gefunden hatte. Danach war das Schlafzimmer an der Reihe. Das würde ihr am meisten über Jasons Persönlichkeit erzählen. Sie entdeckte Sportmagazine und Bücher über Unternehmenswirtschaft in den Regalen, alles, was man einem Besucher gerne von sich zeigen wollte. Im Nachttischchen dagegen, so wusste sie aus Erfahrung, bewahrte man das auf, das man niemandem zeigen wollte.
Bei einem Playboy wie Jason erwartete sie einschlägige Literatur, doch stattdessen wurde sie überrascht, als sie die Schublade neben dem Bett aufzog.
Darin befand sich ein dicker Schmöker, der sich scheinbar ausschließlich mit Chagall befasste. Beim Aufschlagen des Buches segelte ein Lesezeichen auf den flauschigen Teppichboden. Kacey bückte sich danach und hob es auf, stellte jedoch fest, dass es eigentlich eine Fotografie war.
Jason, der seine beiden Schwestern im Arm hielt.
Hach, du weicher Trottel, dachte sie, du wirst es mir viel zu leicht machen.
Tom schrak ruckartig aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Kampfbereit setzte er sich auf, weil er glaubte, etwas gehört zu haben, aber nach einem weiteren Moment entspannte er sich wieder. Endlich identifizierte er auch seine Umgebung.
Gestern Nacht hatte er den Raum müde und abgekämpft betreten, nachdem die beiden MP-Officers ihn erneut mit einem Sack über dem Kopf durch die Pampa geschifft hatten, nur um ihn an einem riesigen Anwesen mitten in einem Wald im Nirgendwo abzuladen. Zunächst war er der Auffassung gewesen, dass es ein Trainingszentrum sein musste, doch er war von einem Mann im Frack begrüßt und zu einem Zimmer im ersten Stock begleitet worden. Auf dem Weg dorthin waren sie niemandem begegnet, die große Eingangshalle mit der Freitreppe aus dunklem Mahagoniholz hatte verlassen gewirkt.
Die Größe des Zimmers hatte ihn überrascht. Er war Kasernenräume und Wüstenzelte gewohnt, die er sich meist mit mehreren Kameraden teilte. Ganz im Gegensatz dazu stand der Raum, in dem er sich nun umsah.
Die weiße Vertäfelung reichte vom Teppich bis zur Mitte der hellblau gestrichenen Wand. Linker Hand stand ein Kleiderschrank, rechts ein großer Lehnstuhl und ein Schreibtisch, daneben die Türe zum Bad. Geradeaus ging es durch ein bodentiefes Fenster hinaus auf den Balkon, von dem aus man einen hervorragenden Blick auf einen Teil der Grünanlagen hatte. Statt einem schlammigen Trimm-dich-Pfad mit Hindernissen, waren dort jedoch grüne Reihen von Blumenbeeten in ordentlichem Abstand angelegt, ein japanisch gestalteter Ziergarten befand sich weiter hinten halb verdeckt von Großen Ulmen, die in den dichten Wald übergingen, der das gesamte Grundstück ringsum umgab.
Auch bei Tageslicht konnte er nichts weiter als Wald hinter den ersten Bäumen erkennen, als er auf den Balkon hinaustrat. Er atmete die frische, unverbrauchte Luft und reckte sich ausgiebig. Dies war der erste Tag seit einer Ewigkeit, an dem er nicht einen vollen Tagesplan vor sich hatte. Genaugenommen hatte er keine Ahnung, was ihn erwartet und alles um ihn herum wurde immer seltsamer, obwohl er gestern noch bezweifelt hatte, dass das überhaupt im Bereich des Möglichen lag. Mal ganz abgesehen davon, dass dieses Anwesen weder seiner Vorstellung von einem Trainingszentrum der CIA noch der einer Black Sight entsprach, hätte man hier wahrscheinlich ein paar entspannte Urlaubstage verbringen können.
Auf dem Weg in die Dusche rätselte er wieder über seine geheimnisvolle Versetzung und all die Ungereimtheiten, die sich seither zugetragen hatten. Neben dem Mysterium dieses merkwürdigen Orts stellten sich ihm weiterhin vor allem zwei Fragen, deren Klärung er auf seine Agenda setzen musste. Zum einen: Wer hatte seine Bewerbung für die CIA geschrieben und sie eingereicht? Zum anderen: Von wem stammte die ominöse Empfehlung von höchster Stelle, wie es der Agent so schön formuliert hatte.
Während das Wasser auf seinen Kopf prasselte, schmiedete er Pläne und kam zu dem Schluss, dass er sobald wie möglich seine neuen Vorgesetzten zu dem Thema ausquetschen musste.
Nachdem er sich das Haar trocken gerubbelt hatte, warf er sich das Handtuch über die Schulter und trat zurück ins Schlafzimmer …
… nur, dass er mit einem mal in einem fremden Raum stand.
Ein riesiges, luxuriös eingerichtetes Schlafzimmer mit einem breiten Bett und einem unglaublichen Ausblick aufs Meer. Staunend betrachtete er die flatternden Vorhänge, die durch den Wind in Bewegung gebracht wurden, der durch die offene Terrassentür hereindrang. Er war angenehm warm und trug Möwengeschrei zu Tom heran.
Was zum Teufel …? Hatte er die falsche Tür genommen?
Schnell drehte er sich um, um zurück ins Bad zu gelangen. Doch stattdessen schaute er durch eine große Schiebetür in einen riesigen Wohnraum, der ebenfalls an die Terrasse grenzte und eine Sofalandschaft sowie einen riesigen Esstisch geformt wie ein nahezu naturbelassenes Strandholz enthielt.
Weiter vorn schritt eine Frau im langen Seidenbademantel zwischen einer riesigen Stehlampe und einem dekorativen Globus mit grüner Patina, eingerahmt von einem Holzgestell, hin und her.
Was lief hier bloß? War er wirklich an einem anderen Ort, oder bildete er sich das nur ein?
„Nein! Ich sagte doch, dass alles glatt lief. … Nein! Keine Sorge, es war ein Kinderspiel!“
Zuerst wäre Tom beinahe das Herz stehen geblieben, weil er annahm, dass sie ihn bemerkt hatte, doch dann begriff er, dass die junge Frau telefonierte.
Während die Unbekannte sprach, hatte er sich an den Türrahmen gepresst, um nicht entdeckt zu werden. Dieser drückte sich erschreckend kühl und dank der Lackierung glatt an sein Rückgrat. Seine Zehen versanken in flauschigem, hellgrauem Teppich und geschliffene Glaskristalle, die von der Gardinenstange des Wohnzimmerfensters hingen, warfen warme Sonnenreflektionen auf seine Haut. Die Sprenkel tanzten im Takt mit den Bewegungen der Kristalle über seine Arme und seinen Torso. Er roch sogar etwas. Die frische Brise trug den Geruch von Seetang und Meerwasser herein, ein Hauch von Kaffee lag in der Luft. Diese ganze Erfahrung hätte ihn gewiss schockieren müssen, dennoch überwog mehr ein Staunen, da sich alles so real anfühlte.
„Zuerst hat er sich noch geziert, aber sein Persönlichkeitsprofil lässt darauf schließen, dass er gerne den Helden spielt. Da habe ich eine kleine Ohnmacht vorgetäuscht. Als vollendeter Gentleman musste er mich natürlich zu sich nach Hause mitnehmen.“
Seine Aufmerksamkeit wurde wieder zu der jungen Frau gezogen, die er nun genauer begutachtete. Dichtes, rotbraunes Haar schwang um ihre Schultern, als sie auf und ab schritt. Der Bademantel bauschte sich um ihre gebräunten Beine, darunter lugten manikürte Zehennägel hervor. Auch ihre Hände, die hier und da über Gegenstände strichen, wirkten akkurat gepflegt, Diamantschmuck baumelte an ihrem Handgelenk. Alles in allem hinterließ sie einen vornehmen Eindruck.
„Er wird mich heute Abend seinen Eltern vorstellen“, sagte sie in diesem Augenblick ins Telefon, wobei er ihre Zufriedenheit nicht nur in ihrer Stimme hörte, nein … es war, als würde er von derselben Zufriedenheit erfüllt.
Überdies erschienen da noch mehr Gefühlsregungen. Zwar war ihm die Umgebung fremd und ein Teil von ihm war entsetzt über das, was mit ihm geschah. Aber so fremd wie er sich hätte fühlen müssen, fühlte er sich nun auch wieder nicht. Zudem verspürte er daneben auch so etwas wie Glück darüber, hier zu sein – und … Aufregung? Ja, es musste Aufregung sein. Die Art von Spannung, die entstand, kurz bevor man ein Ziel erreichte. Es erinnerte ihn entfernt an etwas, das er an einem gewissen Punkt bei Einsätzen erlebte.
„Nein. Das muss von ihm kommen. Ich will mich nicht aus dem Fenster lehnen. Aber wenn es so weit ist, wird er nicht wissen, was ihn getroffen hat.“
Erst jetzt wurde ihm der Inhalt des Gesprächs bewusst und er horchte interessiert auf.
„Ja. Ich bin gleich fertig. Ich bringe nur noch die Mikrofone und die Kameras an. Bis später.“
Tom stutzte. Mikrofone und Kameras?
Die junge Frau legte auf und drehte sich um. Tom überlegte noch, ob er nun wirklich hier war oder doch eher von einer äußerst lebhaften Halluzination heimgesucht wurde.
„Aaaaaaaaaahhhhhhh!“, schrie sie aus vollem Hals, als sie ihn entdeckte. Das Telefon fiel ihr aus der Hand, während sie zurücksprang. Dabei stolperte sie über einen Zeitungsständer auf dem weißen Fellimitat vor dem Kamin. Sie versuchte, Halt an dem Globus zu finden, riss ihn aber nur mit um, als sie schließlich hintüber zu Boden ging. Er sprang auf sie zu, um sie vor dem Sturz zu bewahren, kam jedoch zu spät.
Für Tom machte die Reaktion der Fau die Sache erst recht real, immerhin konnte sie ihn offenbar sehen – aber die Wahrscheinlichkeit, dass sein Gehirn sie aus irgendeinem Grund erschaffen hatte, war hoch. Daher schien es ihm nur folgerichtig, dass sie ihn sehen konnte, nicht wahr?
Sie richtete entsetzte, erstaunlich grüne Augen auf ihn und kroch unterdessen rückwärts. „Wer sind Sie? Was machen Sie hier?“
Tom hob automatisch die Hände. „Haben Sie sich verletzt?“
„Was wollen Sie?“, rief sie weiterhin auf dem Rückzug.
Verwirrt folgte Tom. Würde ein Hirngespinst ihn so etwas fragen? Verflucht, er hatte keine Ahnung!
„Ich … ich weiß nicht …“, war alles, was er herausbrachte.
Sie hielt inne und zog die Augenbrauen zusammen. „Was? Sind Sie verrückt?“
Tom machte einen Schritt auf sie zu. „Halt! Bleiben Sie mir vom Leib!“
„Ich will doch nur … Was glauben Sie, was das hier ist? Wo sind wir?“ Seine Verwirrung war inzwischen komplett.
„Was das hier ist???“ Ihr Gesichtsausdruck verdeutlichte, dass sie ihn für vollkommen geistesgestört hielt. „Sie brechen nackt in das Haus meines Freundes ein und fragen mich, wo Sie sich aufhalten?“
Bei diesen Worten wurde ihm erst klar, dass er eben aus der Dusche gekommen war und sich das Handtuch achtlos über die Schulter geworfen hatte.
„Das … das war natürlich nicht meine Absicht“, stammelte er und zerrte das Handtuch vor seine Lenden. Umständlich schlang er es sich um und steckte es fest.
„Sie werden ja richtig rot“, stellte sie ungläubig fest und durchlöcherte ihn mit einem Blick, der ihm durch und durch ging. Dann nickte sie ein Mal und stand auf. Anscheinend hielt sie ihn zwar noch für gaga, aber für gefährlich befand sie ihn nicht mehr.
„Also noch mal, wer sind Sie und was machen Sie hier?“
„Hören Sie, ich schwöre, vor zwei Minuten habe ich noch in meinem Bad geduscht. Ich will zurück ins Schlafzimmer und plötzlich stehe ich hier.“
„Klar. Was haben sie genommen? Sind Sie ein Nachbar von Jason?“
Empört machte er sich gerade. „Ich habe gar nichts genommen … und wer ist Jason?“
Sie fixierte ihn einen weiteren Moment mit dieser entwaffnenden Art. Egal, was sie beruflich machte, sie wäre sicher ein guter Cop geworden. Mit diesen Augen hätte sie Knochen zum Schmelzen bringen können.
„Also entweder sind Sie der beste Schauspieler der Welt oder Sie haben Ihren Verstand verloren.“
„Noch hoffe ich, dass keins von beidem zutrifft“, entgegnete er und ließ sich auf die flaschengrüne Sofalandschaft fallen. Er ertastete abermals seine Umgebung, öffnete alle Sinne – auch die, die er sich als Soldat angeeignet hatte. Vielleicht war das ein Test anlässlich seiner Aufnahme in eine Spezialeinheit?
Ja, eventuell hatte man ihm irgendeine Droge verabreicht und nun musste er dagegen ankämpfen oder irgendeine Aufgabe lösen? War das überhaupt möglich?
Doch er wusste, dass das Militär und der verlängerte Arm des Staatsapparates schon lange die Grenzen des Möglichen gesprengt hatten. Diesbezüglich hatte er sich noch nie irgendwelchen Illusionen hingeben. Bis heute offenbar.
Aber wenn es eine Aufgabe war, wie sah diese dann aus?
„Ähm hallo???“ Sie wedelte mit der Hand vor seiner Nase herum. „Haben sie wieder einen Aussetzer? Das würde auch erklären, wie Sie hier hergekommen sind.“
Gut, diese Option stand natürlich auch noch im Raum, musste er unumwunden zugeben.
„Welchen Tag haben wir heute?“
Für seinen Geschmack ein wenig zu unbekümmert ließ sie sich neben ihn fallen, wobei sie doch Abstand wahrte. „Donnerstag. Warum?“
Dann war er zumindest nicht in der Zeit gesprungen. Was den Ort anging … Die Frau sprach englisch mit amerikanischem Akzent, doch das bedeutete nicht, dass er sich in Nordamerika aufhielt. Er schaute aus dem Fenster und suchte nach Landmarken, die ihm irgendwelche Hinweise hätten geben können. Jenseits des luxuriösen Anwesens wartete das azurblaue Meer, links erkannte er in weiter Ferne eine Landzunge und einen Leuchtturm. Dünen mit Strandhafer, wie sie jedoch an vielen Stränden zu finden waren.
„Du solltest jetzt zurück kommen“, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihm.
Tom fuhr herum. Am Durchgang zum Schlafzimmer stand ein Mann in einem schlichten schwarzen Anzug. Sofort war klar, dass er Tom meinte. Dabei wirkte er jedoch nicht bedrohlich, wie er vollkommen reglos und entspannt dort stand.
„Was soll das heißen?“, rief er dem neuen Mitspieler dieses Wahns zu.
„Was soll was heißen? Es ist nun mal Donnerstag“, antwortete die Frau mit der rotbraunen Mähne. „Und warum redest du mit der Wand?“
Tom schaute zwischen den beiden Personen hin und her. „Siehst du ihn etwa nicht?“
Sie inspizierte den Raum ausgiebig, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Wen denn?“
„Na, der Typ mit dem edlen Zwirn.“ Er zeigte auf ihn.
Sie machte nur eine verständnislose Miene, nachdem sie seinem ausgestreckten Finger gefolgt war.
„Bist du blind? Er steht genau da.“
Der Fremde nahm seine rahmenlose Brille ab und putze sie mit einem Tuch, das er aus der Tasche gezogen hatte. Seelenruhig setzte er sie zurück auf den Nasenrücken.
„Es hat keinen Zweck, Tom. Sie kann mich nicht sehen.“
„Aber … warum kann ich Sie dann …?“
„Weil ich in diesem Augenblick vor dir stehe.“
„Ja, eindeutig. Aber sie doch auch.“ Er wies auf die Frau neben ihm auf der Couch.
„Ich stehe nicht hier vor dir, sondern in deinem Zimmer.“
„Meinem …?“ Bald lief er Gefahr, die Geduld zu verlieren. Und offensichtlich hatte der Kerl etwas mit dem zu tun, was mit ihm passierte. Ob real oder nicht. „Sagen Sie mir sofort, was hier vor sich geht.“ Er stand auf, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen.
„Gerne. Nachdem sie mit mir zurückgekommen sind. Wir gehen jetzt.“
Ohne die geringste Vorwarnung verwandelten sich die luxuriöse Umgebung und der fabelhafte Ausblick zurück in das kleine Zimmer, in dem er vergangene Nacht geschlafen hatte.
Der Mann aus dieser Parallelwelt - oder was auch immer es gewesen war - stand direkt vor ihm.
Fortsetzung folgt ...
Texte: Schaf im Wolfspelz
Bildmaterialien: deviantart.com
Tag der Veröffentlichung: 07.06.2017
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