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Prolog

In dem kleinen Ort nahe bei Düsseldorf stand eine zusammen gesunkene Gestalt unter einem riesigen Regenschirm auf dem örtlichen Friedhof vor einem Grab und sah traurig auf halb verblühte Blumen und Kränze hinab. Der Himmel trauerte wohl ebenso; er war schwer mit dicken Wolken verhangen aus denen es unablässig goss. Gleichwohl bemerkte die junge Frau den Regen nicht wirklich. Es regnete schon wieder seit Stunden - oder waren es Tage? Sie wusste es nicht mehr, es war ihr auch gleichgültig. Seit dem Tag an dem ihr Mann Jan tödlich verunglückt war, schien für sie keine Sonne mehr. Überhaupt war nichts mehr wirklich wichtig. Sie arbeitete tagsüber, aß und trank und atmete und bemerkte doch nichts davon wirklich.

Tränen liefen über Jennifer Hennah´s Gesicht; auch das nahm sie nicht wahr.

'Jan, ach Jan!', dachte sie. 'Warum musstest du nur gehen?'

Nun, sie wusste warum.

Als verantwortlicher Sprengmeister seiner Firma hatte er viele Kollegen gerettet und sich selbst dafür geopfert.

Von Jan´s Arbeitgeber hatte sie eine großzügige Abfindung (sie hasste das Wort "Sterbegeld" - als wenn man fürs Sterben Geld bekäme) erhalten und zahlreiche Trostworte der

Vorgesetzten.

Doch das Alles brachte ihr ihren Mann nicht zurück. Sie legte ihre Rose auf’s Grab, dann gab sie sich einen Ruck und verließ den Friedhof.

Auf dem Weg zu dem städtischen Parkplatz zog etwas Buntes ihren Blick zu einem

Schaufenster. Ohne es zu bemerken, war sie am örtlichen, kleinen Reisebüro vorbei gegangen. Nun blieb sie unwillkürlich stehen um zu sehen was ihren Blick angezogen hatte.

'MAGISCHES INDIEN, Land der Gegensätze' stand da in großen Buchstaben. Dazu schöne glänzende Fotos in Großformat.

Ganz plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals. Indien, das war immer Jan´s Traumziel gewesen. Irgendwann, so hatte er gesagt, wollten sie es gemeinsam ansehen. Doch nie hatte er genug Zeit gehabt und nun war es zu spät.

Ein Schluchzen stieg ihr die Kehle hinauf. Der ältere Herr, der neben ihr stand, , sah sie zuerst erschrocken, dann besorgt und mitfühlend an.

"Junge Frau? Geht es Ihnen nicht gut? Ich habe ein Handy, soll ich einen Arzt rufen?"

Jenny zuckte zusammen, sie hatte ihn gar nicht bemerkt. Sie bedankte sich höflich, schüttelte aber den Kopf. "Danke, nicht nötig. Es war nur eine kurze Unpässlichkeit."

Der Mann sah einen Moment ins Schaufenster, dann auf ihr Gesicht und nickte.

"Ich habe auch vor Kurzem meine Frau verloren. Sie wollte unbedingt mal nach Afrika."

Er hatte eine gute Menschenkenntnis, das musste man ihm lassen. Sie nickte ihm noch einmal freundlich zu und wünschte einen guten Tag, dann betrat sie entschlossen das Reisebüro. Von der erstaunten jungen Frau hinter dem Schreibtisch ließ sie sich alle Kataloge raussuchen, die Indienreisen anboten. Als sie darum bat die Kataloge mitnehmen zu dürfen um zu Hause in Ruhe zu wählen erntete sie einen misstrauischen Blick. Das sei eigentlich nicht üblich, wurde ihr gesagt. Nachdem sie jedoch versprochen hatte noch innerhalb dieser Woche verbindlich eine Reise zu buchen durfte sie mit einem Arm

voller Kataloge das Büro verlassen.

 

Abends saß sie auf dem Sofa vor dem Kamin, vor einem Berg aufgeschlagener Kataloge

und wühlte sich durch die Hochglanzseiten.

RUNDREISE DURCH RADJASTAN. Nein, das war es nicht.

FLUSSKREUZFAHRT AUF DEM BRAHMAPUTRA. Nein, auch nicht.

FLOSSFAHRT DURCH DIE BACKWATERS IM SÜDEN. Nein.

GOA. TRAUMHOTEL AM TRAUMSTRAND IM SÜDWESTEN. Das schon gar nicht! Nein, das war irgendwie alles nicht das was sie suchte. Mit einem Stossseufzer klappte sie den letzten Katalog zu, stand auf, ging in die Küche und goss sich ein Glas Wein ein.

Dann kam ihr eine Idee und sie schlug den ersten Katalog noch einmal auf. Wo war es doch gleich ……

Sie war sicher, in diesem Heft etwas gesehen zu haben ……. etwa in der Mitte………

Ja! Da war es!

Ein Fünf-Sterne-Hotel in Mumbai ( dem früheren Bombay ). Von dort wurde eine private

Rundreise durch das ursprüngliche Indien angeboten, auch für allein Reisende, mit privatem Reiseführer und dem Transportmittel eigener Wahl. Zum Beispiel Pkw mit Fahrer. Nicht ganz billig aber was soll´s, dachte sie. Auf keinen Fall wollte sie mit einer Hammelherde von Touristen hinter einem Führer durch die überlaufenen Attraktionen geschleust werden. Sie starrte noch eine Weile blicklos auf die Seiten aber diese Reise begann schon in ihrem Kopf Gestalt anzunehmen und sich dort festzusetzen.

Sie klebte einen Post-it Zettel auf die Seite um sie schneller wieder zu finden und packte die

Kataloge in eine Plastiktüte. Gleich am nächsten Tag wollte sie diese Reise - ihre Reise -

buchen. Sie löschte alle Lichter und ging zum ersten Mal seit Langem mit einem guten Gefühl zu Bett.

 

 

Als Erstes am nächsten Morgen rief sie bei ihrem Hausarzt an und ließ sich einen Termin geben, dann suchte sie ihren Reisepass heraus. Der war noch drei Jahre gültig aber sehr wahrscheinlich würde sie ein Visum brauchen. Er kam mit in die Handtasche. Sie war zu aufgeregt um zu frühstücken und trank nur einen Kaffee, dann fuhr sie in die Stadt.

 

 

 

Das neue, moderne Einkaufscenter in der Stadt schwirrte von Stimmen und Geräuschen und summte wie ein Bienenstock.

Jenny saß in ihrem Lieblings - Cafe´ , hatte ein Glas Tee vor sich stehen und wartete auf ihre langjährige und einzige beste Freundin Susanne. Sie hatten sich hier verabredet, nachdem

Jenny alle ihre Termine erledigt hatte. Jetzt sah sie die quirlige Freundin um die Ecke kommen, die sich einen Moment suchend umsah, auf ihr Winken dann mit einem strahlenden

Lächeln herbei schoss und sich dankbar seufzend auf einen Stuhl fallen ließ.

"Meine armen Füße! Ich weiß auch nicht warum ich immer so durch die Stadt renne. Dabei hab´ ich doch nur ein paar Kleinigkeiten gekauft!"

Jenny warf einen viel sagenden Blick auf die zahlreichen Einkaufstüten und musste lachen.

"Ja klar, wie immer. Hallo, Sue! Ich freu' mich auch dich zu sehen."

 Die temporeiche Sue war jedoch schon wieder einen Gedanken weiter.

"Jetzt erzähl schon! Du willst Urlaub machen? Na, Gott sei Dank! Du hast dich schon viel zu lange in deiner Wohnung vergraben. Bist herumgeschlichen wie ein Gespenst. Wo soll´s denn hingehen? Nein warte, lass mich raten. Mallorca? Nein, du hasst Mallorca. Gran Canaria?

Teneriffa? Madeira vielleicht? Also was?", fragte sie ungeduldig als Jenny immer nur den Kopf schüttelte.

"Indien."

"Indien? Aber…wieso…äh…" Nach einem Blick auf das Gesicht ihrer Freundin nickte sie schließlich. "Na gut, deine Entscheidung. Aber ich muss zugeben, ich bin platt! Warum

gleich so weit weg?"

"Sue, du weißt doch, dass Jan und ich diese Reise schon immer machen wollten. Er hat nie

Zeit dafür gehabt. Jetzt werde ich es für uns beide nachholen." Jenny rührte nachdenklich in ihrer Tasse. "Du weißt auch, dass er immer bei mir sein wird." Dann raffte sie sich zu einem

Lächeln auf.

"Du siehst also, mir kann nichts passieren, ich habe immer einen ganz persönlichen Schutzengel dabei. Und jetzt wo alles verbindlich gebucht ist freue ich mich wirklich auf

die Reise." Sie verschwieg wohlweislich, dass sie die Reise allein und nicht in einer großen Reisegruppe machen wollte.

Sue hatte trotzdem noch ein paar Einwände. "Aber da gibt´s doch so fieses Ungeziefer und

Schlangen und Straßenräuber und das komische Essen…."

Zur Unterstreichung ihrer Ausführung rollte sie eindrucksvoll mit den Augen.

Nun musste Jenny wirklich schallend lachen. "Susanne! Hör auf, es reicht! Aber im Ernst, du kannst mich nicht davon abhalten. Ich bin gegen alles Mögliche geimpft und habe eine Menge Insektenschutz und Ähnliches im Gepäck .Ich bin fest entschlossen!"

Genau das war sie eigentlich nicht, aber es gab nun kein zurück mehr. Susanne nahm ihr das Versprechen ab, sie persönlich zum Flughafen bringen zu dürfen, was sie ihr gerne zusagte.

 

 

 

Sechs Monate später.

Am Abreisetag waren sie lange vor der angegeben Zeit am Düsseldorfer Airport und tranken

dort in einem Bistro noch einen Cappuccino. Jenny musste versprechen sich mindestens einmal pro Woche zu melden - ' Ich sterbe sonst vor Sorge' - und irgendetwas Landestypisches für ihre Freundin mitzubringen - ' Bloß keinen Elefanten, für den hab ich keinen Parkplatz’. Dann war es Zeit zum Abschied. Sie umarmten sich fest, dann ging sie ohne einen Blick zurück zu werfen durch das Gate. In Frankfurt, wo sie zwei Stunden Aufenthalt hatte, würde sie umsteigen auf die große Maschine nach Mumbai.

' Indien, ich komme’, dachte sie während sie ihr Handgepäck über dem Sitz verstaute und sich

anschnallte.

Das Abenteuer konnte beginnen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Auf ins Abenteuer

"Meine sehr verehrten Damen und Herren. Wir möchten Sie nun bitten ihre Rückenlehne in eine aufrechte Position zu bringen, das Rauchen einzustellen und sich anzuschnallen. Wir landen in Kürze in Mumbai. Die Ortszeit bei Ankunft beträgt 6.16 Uhr, das Wetter ist sonnig bei 28 Grad Celsius. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt und würden uns freuen Sie erneut an Bord begrüßen zu dürfen."

Die etwas verzerrte Stimme aus dem Bordlautsprecher riss Jenny aus ihrem kurzen Schlummer. Sie hatte nach dem Essen die Kopfhörer aufgesetzt, die Augen geschlossen und so getan, als ob sie schliefe. Sie hatte keine Lust verspürt auf belanglose Konversation mit

ihrer Sitznachbarin. Offenbar war sie aber doch eingeschlafen. Nun rappelte sie sich auf.

28 Grad! Und das um sechs Uhr morgens! Uff! Dann zuckte sie die Schultern. Was soll´s.

Es war ihr Urlaub, ihre Reise und sie würde alles so nehmen wie es kam.

Geduldig wartete sie ab bis die meisten der Passagiere das Flugzeug verlassen hatten, dann schlängelte sie sich in den Gang, zog ihr Handgepäck aus der Ablage und schob sich in Richtung Ausgang. Der Flughafen war erstaunlich modern, viel Technik, viel Glas, viele Geschäfte, schreiend bunte riesige Reklametafeln. Bollywood. Schöne Frauen, starke Helden,

viel Schmalz, Tanz und Gesang. Jenny verzog das Gesicht. Das war es eindeutig nicht was sie in diesem Land suchte.

 

Nachdem sie ihr Gepäck vom Band geholt und die Passkontrolle hinter sich gebracht hatte, steuerte sie auf den Hauptausgang zu. Sie trat durch die automatischen Glastüren hinaus und wurde von der schwülen Hitze förmlich umgehauen. Man hatte das Gefühl, durch ein feuchtes

Tuch zu atmen. So früh am Morgen hatte die Sonne den Dunst noch nicht getrocknet und es herrschte eine regelrechte Waschküchenathmosphäre. Mit der feuchten Luft stürzte sich auch ein Schwarm Taxifahrer auf die angekommenen Besucher.

"Taxi! Taxi! Madam, Taxi ? "

Jenny sah beflissentlich über den Pulk an Fahrern hinweg und entdeckte schließlich einen Herrn in schwarzer Livree, der ein Schild mit ihrem Namen hoch hielt. Sie steuerte auf ihn zu und er grüßte höflich.

"Namaste, Madam. Mrs.Hennah? Ihr Hotel 'Highlands’ hat mich mit einem Wagen geschickt, Sie abzuholen. Das ist ihr Gepäck?" Der Fahrer warf einen neugierigen Blick auf ihren großen Rucksack. Irgendwie schienen ihm diese feine Lady und das Gepäck nicht so recht zusammen zu passen. Er versuchte sich in höflicher Konversation, sie blieb jedoch einsilbig und der Gesichtsausdruck des Fahrers wechselte allmählich ins Mürrische. Am Hotel angekommen gab sie ihm als Ausgleich für ihre Einsilbigkeit ein großzügiges Trinkgeld und er taute sichtlich wieder auf, bestand auch darauf das Gepäck ins Hotel zu tragen. Er setzte es an der Rezeption ab und ging dann wieder, nicht ohne sich vielmals verbeugt zu haben.

Hinter dem Tresen trat ein in eine Art Uniform gekleideter junger Mann aus einer offenen Tür.

"Guten Morgen, Madam. Herzlich willkommen im 'Hotel Highlands'. Was kann ich für Sie tun?"

Angenehm überrascht von der freundlichen Begrüßung in akzentfreiem Englisch lächelte sie zurück.

 "Ihnen auch einen guten Morgen. Ich habe in Ihrem Haus ein Zimmer gebucht in Verbindung mit einer Rundreise. Ich möchte einchecken."

Der junge Mann wechselte bei diesem warmen Morgengruß seines Gegenübers rasch vom berufsmäßigen zu einem herzlichen Lächeln.

"Sehr gerne. Darf ich Ihre Unterlagen sehen?" Sie reichte sie ihm und er konnte sich die Frage nicht verkneifen.

"Ah! Sie kommen aus Deutschland?"

"Ja. Wieso? Hört man das etwa?", fragte Jenny etwas irritiert zurück.

"Oh nein", wiegelte er rasch ab, "ich beglückwünsche Sie zu Ihrem ausgezeichneten Englisch, Madam."

Sie entspannte sich wieder. "Das Kompliment kann ich voll und ganz zurück geben."

Mit Jan hatte sie zu Hause nur englisch gesprochen, da er in Schweden geboren war und zum Deutsch lernen wie für so vieles Andere keine Zeit gefunden hatte.

 

Der freundliche Portier hatte inzwischen Alles bereit und sie trug sich ein in ein überdimensionales Gästebuch. Eigentlich hatte sie eher eine elektronische Variante erwartet, war aber von dem altmodischen Charme ganz angetan.

"Ein Page wird Ihr Gepäck ins Zimmer bringen. Da es noch sehr früh am Tag ist, würde ich Ihnen empfehlen, im Restaurant ein kontinentales oder englisches Frühstück einzunehmen. Natürlich steht es Ihnen frei, ganz nach Ihren Wünschen zu handeln."

Er lächelte wiederum freundlich. "Mein Name ist Hrithik. Bitte wenden Sie sich jeder Zeit an mich wenn Sie einen Wunsch haben oder etwas Benötigen."

"Danke, ich werde ganz sicher darauf zurückkommen. Und Sie haben Recht, ein ausgiebiges

Frühstück wäre jetzt genau das Richtige."

Er zeigte ihr persönlich den Weg zum Restaurant und verbeugte sich dann verabschiedend um

an seinen Arbeitsplatz zurück zukehren.

 

Nach dem reichhaltigen Frühstück fuhr Jenny mit dem Aufzug zu ihrer Etage hinauf und suchte nach ihrem Zimmer, was sie jedoch schnell und problemlos fand. Es lag auf der ruhigeren Gartenseite des großen Hauses, hatte einen schönen Balkon, Klimaanlage und auch sonst alle Vorzüge des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie öffnete die hohen Flügeltüren, trat hinaus und atmete tief den betörenden Blumenduft ein, der aus dem weitläufigen Garten zu ihr herauf stieg. War das der typische Duft Indiens? Bestimmt nicht, dachte sie. Jedenfalls nicht ausschließlich. Dabei musste sie an die vielen Fernsehberichte denken die auch Bilder aus den Armenvierteln gezeigt hatten. Dort roch es ganz bestimmt nicht nach Blumen. Sie trat ins Zimmer zurück, packte einen Teil ihrer Sachen aus, inspizierte das großzügige Bad und beschloss, erstmal eine lange Dusche zu nehmen. Dann wollte sie sich bequem anziehen und die Stadt erkunden.

 

Eine Woche war sie nun schon in dieser erstaunlichen Stadt, deren Straßen ständig überzulaufen schienen von Autos, Motorrädern, wild gestikulierenden Menschen und den

allgegenwärtigen heiligen Kühen. Überall wurde gehupt, gedrängelt, geschimpft und gemuht,

gegen ihre Erwartung gab es jedoch nicht alle paar Minuten einen Unfall. Die Menschen in dieser Stadt hatten ihr Chaos im Griff. Sie hatte ein paar Mal in unterschiedlichen, von Hrithik empfohlenen indischen und englischen Restaurants gegessen und sich einige landestypische Kleidungsstücke gekauft. Es war erstaunlich zu sehen, wie so ganz anders gleich die Einheimischen reagierten, wenn sie in dieser Kleidung auf die Strasse trat.

Für den heutigen Tag war der Termin abgesprochen, sich mit dem gebuchten, privaten

Fremdenführer zu treffen. So saß sie rechtzeitig am frühen Nachmittag in der Lobby mit

einem kühlen Drink und harrte der Dinge die da kommen sollten.

 

 

Ein Mann um die Vierzig betrat das Hotel, steuerte kurz die Rezeption an und kam dann zu ihr herüber. Er räusperte sich kurz um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, salutierte dann zackig militärisch und knallte die Absätze zusammen. Gekleidet war er wie ein Lord auf Großwild - Safari. Selbst der Tropenhelm fehlte nicht.

"Mrs. Hennah, wenn Sie gestatten, Madam? Ich darf mich vorstellen?"

Als sie ein wenig sprachlos nickte, fuhr er eifrig fort: "Mein Name ist Archibald Murchinson, Oberst a.D., zu Ihren Diensten, Madam!"

Jenny suchte nach Worten und entgegnete schließlich: "Ja, also, ich glaube das ist ein Missverständnis…"

"Aber nein", wischte Mr. Murchinson ihren Einwand bei Seite, "ich bin Ihr Fremdenführer."

Jenny fiel das Kinn herunter. Gerade noch rechtzeitig entsann sie sich an die Grundregeln der

Höflichkeit und bot dem Herrn den Sessel gegenüber an. Sie setzte Ihr professionelles Arbeitsgesicht auf und lächelte den Herrn freundlich an.

"Wie schon gesagt. Das ist wohl eindeutig ein bedauerliches Missverständnis. Ich hatte ausdrücklich einen einheimischen Führer verlangt. Es tut mir leid."

Er schnitt ein geradezu entsetztes Gesicht und beugte sich ein Stück in ihre Richtung. "Sie wollen einen Eingeborenen? Das kann nicht Ihr Ernst sein! Diese primitiven, ungebildeten……"

An diesem Punkt reichte es ihr und sie fiel ihm unhöflich ins Wort.

"Mr. Murchinson, es tut mir leid, dass Sie sich umsonst herbemüht haben, aber ich bin überzeugt, dass nur ein einheimischer Führer dieses Land genug liebt um mir das zeigen zu können was ich sehen möchte. Guten Tag, Sir!"

Sie nickte abschließend um ihm deutlich zu machen, dass er sich als verabschiedet betrachten konnte. Jetzt war es an ihm, das Kinn herab fallen zulassen. Er schüttelte den Kopf, dann erhob er sich schnaufend. Er öffnete noch einmal den Mund, schluckte dann aber das, was er hatte sagen wollen hinunter, verbeugte sich knapp und marschierte Richtung Ausgang.

Jenny schüttelte den Kopf und sah ihm nach. Schön, diesen unangenehmen Zeitgenossen war sie los, aber was sollte nun aus ihrer Rundreise werden? Hrithik hatte die kurze Unterhaltung mit angehört, zumal der Oberst ein recht lautes, militärisches Organ hatte. Er war unauffällig

näher gekommen.

"Bravo! Eins zu Null für Sie, Madam", sagte er und grinste. Während dieser einen Woche hatten sie sich recht gut angefreundet, soweit es zwischen Gästen und Angestellten schicklich war. Er wusste, bei einem englischen Gast hätte er sich diese Vertraulichkeit niemals erlauben dürfen aber bei dieser netten, unkomplizierten jungen Frau war das etwas gänzliches Anderes.

Mit einem hilflosen Lächeln wandte sie sich an ihn.

"Wohl eher ein klassisches Eigentor! Wo nehme ich denn jetzt meinen Reiseführer für die nächsten Wochen her? Sie haben nicht

zufällig einen zur Hand, oder?"

Er überlegte einen Moment, dann schien ihm eine Idee zu kommen.

"Ich wüsste tatsächlich jemanden, der für diesen Job in Frage kommen könnte. Er ist ein Studienkollege von mir und außerdem mein Freund."

Er hatte ihr erzählt, dass er eigentlich Maschinenbau studierte und nur nebenbei im Hotel arbeitete, da es in Indien so etwas wie Bafög in Deutschland nicht gab.

Ihre Fragen im Voraus ahnend, fuhr er fort: "Er ist nett, gut gekleidet, zumindest meistens" -

bei letzterer Aussage konnte er sich ein breites Grinsen nicht verkneifen - "spricht gutes Englisch, hat gute Umgangsformen und kennt dieses Land wie kein Zweiter. Er ist Damen gegenüber höflich und zuverlässig. Soll ich ihn fragen?"

"Natürlich!", entfuhr es Jenny erleichtert, "worauf warten Sie noch? Gehen Sie ans Telefon und fragen Sie. Übrigens, wie heißt denn ihr Freund? Wenn das ein Zungenbrecher ist, möchte ich vorher Zeit haben den Namen zu üben und korrekt aussprechen zu können ohne über meine eigene Zunge zu stolpern."

Er lachte. "Ganz einfach. Er heißt Rahul. Rahul Ali Khan."

 

Am nächsten Vormittag stand besagter Rahul Ali Khan zögernd vor dem Hotel und überlegte

kurz, ob er das Angebot seines Freundes annehmen sollte.

Eigentlich hatte er keine Wahl, da er immer chronisch pleite war und das zusätzliche Geld gut

gebrauchen konnte. 'Na gut', dachte er, 'die Lady anschauen kann ja nicht schaden.'

Wenn das wieder so eine aufgeblasene englische alte Schachtel war, würde er sich schnell eine einigermaßen glaubwürdige Ausrede einfallen lassen und wieder verschwinden. Er wappnete sich mit Gleichmut und betrat das Hotel. Sein Freund Hrithik erwartete ihn schon.

"Hallo, Rahul, alter Freund!" Mit Jenny hatte Hrithik verabredet, ihr Zeit zu geben den neuen

Reisebegleiter zuerst einmal unter die Lupe zu nehmen bevor er sie vorstellte.

Rahul schob abwehrend die Hände vor. "Wenn du schon so anfängst, hat die Sache ganz bestimmt einen Haken."

"Ich schwöre, diesmal ist wirklich kein Haken dabei. Die Lady wird sich an deine Vorschläge

halten, sie zahlt gut und wird auch deine Spesen übernehmen. Du müsstest nur ein paar Wochen Zeit haben."

Aus dem Augenwinkel hatte Rahul eine schlanke Gestalt einige Meter neben sich an der Rezeption gesehen. Eine viel versprechende Gestalt. Hrithik boxte ihn in die Seite.

"Was ist denn nun?"

"Äh, was?" Rahul seufzte ergeben. "Na gut. Ich mache es. Wer ist denn nun die alte Lady?"

Die schlanke Gestalt neben ihm drehte sich zu ihm herum und sagte lachend:

"Die alte Lady bin ich. Hallo, Mr. Khan! Ich freue mich, Sie kennen zu lernen. Ich bin Jennifer Hennah. Sagen Sie Jenny. Ich schlage vor, wir setzen uns in die Bar und besprechen die Einzelheiten meiner geplanten Reise, wenn Sie mit meinem Angebot einverstanden sind."

Dabei hielt sie ihm freundlich die Hand zum Gruß hin.

Rahul, dem Frauenversteher und Mann von Welt, entgleisten die Gesichtszüge. Er schob seine

Flieger-Sonnenbrille nach oben und ergriff automatisch die dargebotene Hand, bekam jedoch kein Wort heraus. Gleichzeitig fühlte er, wie ihm mächtig heiß wurde. Jenny bemerkte schmunzelnd, dass er unter seiner braunen Haut knallrot anlief. Er hatte ein gut geschnittenes

Gesicht, dunkle, braune Augen und tiefschwarzes Haar. Für einen Inder war er recht groß, etwa fünf bis zehn Zentimeter größer als sie selbst und hatte eine sportliche, schlanke Figur. Alles in allem ein angenehmes Äußeres. Ein sehr Angenehmes! Ohne sich umzusehen, ging sie in Richtung Bar davon. Er folgte ihr langsam, nicht ohne seinem Portier - Freund einen giftigen Blick zu zuwerfen.

"Wir sprechen uns noch! Wie konntest du zulassen, dass ich mich dermaßen blamiere?"

Dann musste er sich beeilen um Jenny noch vor der Bar einzuholen und ihr galant die Tür aufzuhalten. Sie bedankte sich mit einem Nicken und entschied sich für einen Tisch mit zwei bequemen Sesseln nahe der Fensterfront zum Garten. Er schob ihr den Sessel zurecht und ließ sich in den Anderen sinken, dann winkte er nach dem Kellner. Dabei dachte er mit Besorgnis an sein dünnes Portemonnaie. Sie bestellte einen Tee - inzwischen liebte sie den indischen Tee -, er ein Sodawasser, was sie wohlwollend zur Kenntnis nahm. Ein Pluspunkt für ihn. Kein Hang zum ständigen Alkohol. Das eher mangelnde Finanzen ihres Gegenübers der Grund waren, darauf kam sie nicht. Nachdem die Getränke auf dem Tisch standen, startete Rahul einen neuen Kennenlern - Versuch.

"Also, ich entschuldige mich für die verpatzte erste Begegnung da draußen. Ich darf Jenny sagen?" - und als sie nickte - " wer ich bin, wissen Sie ohne Zweifel schon von meinem selbstlosen Freund. Ich hoffe ich kann diesen ersten Eindruck wieder gut machen."

Sie lachte und winkte ab.

"Schon gut. Kein Problem."

Während sie ihm ihre Vorstellung der Reise schilderte, hatte er Zeit sie genauer zu betrachten.

Sie gefiel ihm ausnehmend gut, hatte ein schönes, offenherziges Gesicht, leuchtend grüne Augen, lockiges rehbraunes Haar das ihr locker auf die Schultern fiel und eine gute Figur, soweit er das beurteilen konnte. Außerdem schien sie einen wachen Verstand und eine gesunde Portion Humor zu besitzen, was bei den Engländerinnen die er kannte nicht oft vorkam. Spontan lag ihm die Frage auf der Zunge und war heraus, bevor er sie zurück halten konnte.

"Sie sind keine Engländerin, oder?"

Verdammt, schon wieder ein Patzer! Er stöhnte innerlich. War er denn heute total daneben?

Jenny hatte seinen taxierenden Blick sehr wohl bemerkt, ihn aber ignoriert. Er machte wohl gerne auf Casanova, würde sich aber bei ihr die Zähne ausbeißen. Sie zog die Augenbrauen hoch.

"Nein. Wieso? Ist das wichtig?"

Er versteckte die erneut aufkommende Röte im Wasserglas, bevor er antwortete.

"Natürlich nicht, bitte entschuldigen Sie. Es ist nur so, das Engländer im Allgemeinen nicht so herzlich und offen im Umgang mit uns Indern sind." Während er sprach, zog ganz kurz ein dunkler Schatten über sein Gesicht.

Jenny nickte verstehend.

"Nein, ich bin keine Engländerin. Ich bin aus Deutschland."

"Tatsächlich? Dafür sprechen Sie aber ein ausgezeichnetes Englisch!"

Sie bedankte sich lachend und erzählte ihm von der Begegnung mit dem Oberst a.D. am Vortag. Jetzt musste auch er lachen.

"Dieser komische Knabe ist in der Stadt ziemlich bekannt", sagte er, " allerdings ist er nur bei seinen englischen Landsleuten beliebt."

"Ja", meinte sie schmunzelnd, "das kann ich mir gut vorstellen. Aber um wieder zum eigentlichen Thema zurück zukommen: Haben Sie einen Führerschein?"

"Ja", er nickte, "aber leider kein Auto."

"Das macht nichts. Ich habe bei einer großen Mietwagenfirma hier in der Stadt einen Wagen bestellt. Ich habe zur Bedingung gemacht, dass ich das Auto selbst aussuche, wir müssten dann als Erstes dorthin, wenn Sie einverstanden sind."

Er nickte und sie erhob sich. "Dann sind wir im Geschäft, Partner?", fragte sie lachend und

hielt ihm zum zweiten Mal an diesem Morgen die Hand hin. Es war eine schlanke Hand, lange Finger mit gepflegten doch nicht zu langen Nägeln. Diese Hand hatte aber auch einen kräftigen Druck, das merkte er als er sie in Seine nahm. Ganz sicher konnte sie auch tatkräftig zupacken.

"Gut!", freute sie sich. "Ich habe in der Nähe in einem Restaurant für heute Mittag einen Tisch reservieren lassen, in weiser Voraussicht. Würden Sie mir die Freude machen, mit mir zu essen?"

"Oh…äh…eigentlich…..", stotterte er und wurde - wie ärgerlich - wieder mal rot. Jenny ahnte sein Problem.

"Sie sind natürlich mein Gast! Haben Sie vergessen? Sie sind ab sofort eingestellt und Spesenkosten gehen zu meinen Lasten."

Sie hakte sich bei ihm unter und zog ihn zur Tür.

"Also, gehen wir! Es ist nicht weit!"

Als sie durch die Halle gingen, zwinkerte Rahul seinem Freund zu und streckte heimlich einen Daumen in die Höhe. Super! Alles klar! Hrithik sah ihnen mit einem Hauch von Eifersucht hinterher. Na ja, man konnte nicht Alles haben.

Vor dem Hotel blieb Jenny kurz stehen um sich zu orientieren, dann dirigierte sie ihn entschlossen nach rechts. Rahul begann diesen Job zu genießen. Wenn alles so entspannt weiterging, würden es ein paar angenehme Wochen werden.

 

Das vornehme, englische Restaurant lag nur knapp hundertfünfzig Meter vom Hotel entfernt.

Durch die schwere hölzerne Tür traten sie in eine Art Empfangsraum. Rechts befand sich eine Garderobe, links stand ein Schreibpult mit dem dazu gehörigen Empfangschef. Er betrachtete sie stirnrunzelnd, was Jenny aber nicht abschreckte.

"Ich habe heute Morgen von meinem Hotel aus einen Tisch für zwei Personen reservieren lassen. Mrs. Hennah."

Der Empfangschef schaute angestrengt in sein dickes Buch welches aufgeschlagen auf dem Pult lag.

"Ah, jawohl", nickte er gnädig. "Möchte die Lady an der Bar auf ihre Begleitung warten? Leider sind Damen nur in Herrenbegleitung gestattet."

Einen Moment sah Jenny ihn verständnislos an, dann dämmerte es ihr.

"Meine Begleitung steht neben mir. Guter Mann, Sie sollten sich eine gute Brille besorgen", entgegnete sie honigsüß wobei sie das Wort Begleitung besonders betonte. Sein Blick zuckte kurz zu Rahul hinüber.

"Entschuldigen Sie Madam, aber Ihr Diener hat hier keinen Zutritt."

Jennys Stimmung sank um einige Grade nach unten.

"Nein, ich entschuldige nicht! Und was soll das heißen: Mein Diener?"

Sie deutete auf Rahul, der sich zunehmend unwohl fühlte.

"Dieser Herr arbeitet schwer für sein Geld, ich kann Ihnen versichern, dass er genug davon hat um Ihre Preise zahlen zu können!"

Trotz seiner Größe von kaum einem Meter sechzig brachte dieser Mann das Kunststück fertig sie von oben herab anzusehen.

" Nun, dieses Haus ist nur für zivilisierte Engländer geöffnet, Leute wie Sie und ich."

Rahul sah Jennys Gesichtsausdruck und ahnte was nun kommen würde.

"Na, da kann ich mich ja glücklich schätzen, dass ich keine Engländerin bin sondern Deutsche. Lieber esse ich mit diesem indischen Gentleman draußen auf einer Parkbank, als mit einem Haufen vertrockneter Mumien in dieser verstaubten Gruft! Guten Tag, Sir!"

Wutentbrannt stürmte sie hinaus und knallte tatsächlich mit der schweren Tür.

Ihre Stimme war zunehmend schärfer und lauter geworden. Und kälter!

Rahul hätte sich nicht gewundert wenn sich bei dem kleinen Mann Eiszapfen an der Nase gebildet hätten ob des eisigen Windes der ihm entgegenschlug. Einen Moment blieb Rahul sprachlos stehen, dann beeilte er sich ihr nach zulaufen und fluchte leise; er hatte beinahe die immer noch hin und her pendelnde Tür vor den Kopf bekommen. Sie stand auf dem Gehweg vor dem Hotel, die Hände in die Seiten gestemmt, wippte zornig mit dem Fuß und schnaubte wie ein alter Drache.

"Schwachköpfe! Eingebildete Idioten! Inselaffen! Wie ich das hasse!"

Rahul warf ihr einen schrägen Blick zu.

"Indischer Gentleman, he? Staubige Gruft? Vertrocknete Mumien? Oh, Mann! Lady, Sie haben´s wirklich drauf!"

Er rieb sich energisch mit dem Zeigefinger über die Nase um sein Lachen zu unterdrücken. "Was haben Sie noch gesagt hier draußen? Das habe ich nicht verstanden."

Sie funkelte ihn an und übersetzte kurz was sie gesagt hatte. Jetzt konnte er das Lachen nicht mehr halten. Er lachte und lachte, bis ihm die Tränen über´s Gesicht liefen.

"Gut! Das ist wirklich gut!", keuchte er, nach Luft ringend. "Inselaffen! Das muss ich mir merken falls ich es mal brauche."

Jennys Zorn war mit seinem Gelächter schon wieder etwas verraucht.

"Also, wenn mir heute noch mehr solcher Typen über den Weg laufen, werde ich es ganz sicher noch mal brauchen."

Rahul wischte sich die Lachtränen mit dem Ärmel weg und zuckte zusammen als neben ihm ein schriller Pfiff ertönte. Jenny hatte gänzlich undamenhaft auf den Fingern gepfiffen und ein Taxi herbei gelockt.

"Was? Können Sie das etwa nicht?", fragte sie ganz unschuldig.

Er zuckte nur mit den Schultern.

"Ich hätte nur nicht gedacht, dass eine Lady auf den Fingern pfeift."

"Ich bin eben

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 15.03.2016
ISBN: 978-3-7396-4339-7

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