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1. Ich warte auf dich

DÜSSELDORF AIRPORT

Jenny reihte sich in die Warteschlange an der Passkontrolle ein. Sie fror, hatte Kopfschmerzen, miese Laune und wollte einfach nur noch nach Hause in ihr Bett. Aber natürlich war sie es, die der Zollbeamte auserkor, doch bitte mal das Gepäck zu öffnen.

„Sie kommen aus Indien?“, fragte der Beamte routinemäßig. Sie nickte düster.

„Was ist das?“, fragte er und zeigte auf den Ordner mit Rahuls Papieren.

„Das sind die Bewerbungsunterlagen meines Verlobten für eine Zulassung an der hiesigen Universität.“

‚Reiß dich zusammen, Jennifer’, ermahnte sie sich selbst. Sie bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck.

„Ich habe versprochen mich darum zu kümmern.“

„Hm“, machte der Beamte missmutig, „Dann wird der also auch noch demnächst auftauchen?“

„Nein, er wird nicht auftauchen!“, blaffte Jenny ihn an. „Er kommt aus Indien und nicht aus Atlantis!“

Der Uniformierte bemerkte ihre gereizte Stimmung und ließ sie schließlich gehen. Es war sein Glück das er nicht ahnte, wie knapp er dem Tod durch Erwürgen entgangen war. Jenny überlegte kurz, ob sie Sue anrufen sollte. Nein, dann musste sie erst eine halbe Stunde warten. Genauso gut konnte sie direkt mit dem Taxi nach Hause fahren. Der Anruf bei ihrer Freundin konnte warten bis zum nächsten Tag. In Deutschland war es Frühherbst - September- und als sie vor ihrem Haus aus dem Taxi stieg, fegte ihr das erste gefallene Laub raschelnd um die Füße. Der freundliche Fahrer trug ihr Gepäck bis vor die Haustüre und verabschiedete sich. Es war kalt im Haus und als Erstes stellte sie die Heizung an. Außerdem beschloss sie den Kamin anzufeuern. In der Vergangenheit hatte das immer geholfen, etwas Trost und Wärme ausgestrahlt. Als es im Kamin ordentlich knisterte, begab sie sich nach oben ins Bad und gönnte sich ein heißes Schaumbad. Entspannt und warm gekleidet durchforstete sie den Gefrierschrank und schob schließlich ein Fertiggericht in den Ofen. Schränke und Kühlschrank in der Küche waren weitgehend leer. Sie würde am nächsten Tag eine Einkaufstour machen müssen. Während ihr Essen garte, packte sie den Rucksack aus, stellte die mitgebrachten Geschenke auf den Esstisch und die schmutzige Wäsche kam in die Waschmaschine. Der Zeitwecker am Ofen klingelte. Jenny schob etwas von dem Auflauf auf einen Teller und setzte sich auf das große Sofa vor dem Kamin. Sie probierte ein paar Gabeln voll, verzog dann das Gesicht und stellte den Teller weg. Keinen Appetit. Sie griff nach dem Handy und wollte Rahul anrufen, besann sich aber und rechnete erst den Zeitunterschied aus.

In Mumbai war es zwei Uhr nachts. Nein, aus dem Schlaf reißen wollte sie ihn auf keinen Fall. Sie würde sich gedulden müssen. Um die Zeit tot zuschlagen, kümmerte sie sich zuerst um die Wäsche und setzte sich dann an die Essbar, um eine Einkaufsliste zusammen zustellen. Danach sah sie wieder auf die Uhr. Jetzt müsste es gehen. Mit zittrigen Fingern wählte sie seine eingespeicherte Nummer. Er hob nach dem ersten Klingeln ab.

„Jenny?“ Seine Stimme klang komisch durchs Telefon.

„Ja, ich bin es. Wie geht es dir? Ich…wollte nur sagen, dass ich gut angekommen bin.“

„Ich hab' auf deinen Anruf gewartet.“

Also hatte er nicht geschlafen.

„Jenny, das Amulett… ich werde es Tag und Nacht tragen. So habe ich wenigstens etwas von dir. Ich vermisse dich so.“

Oh Gott, ja, sie vermisste ihn auch! Ihr schönes Haus kam ihr plötzlich kalt und leer vor.

„Ich werde gleich morgen deine Bewerbungen abschicken.“

„Und ich ziehe los und kümmere mich um mein Visum. Ich melde mich wieder, sobald ich es habe. Ich liebe dich sehr, vergiss das nicht.“

„Natürlich nicht“, antwortete sie lachend. Gut, dass er ihre Tränen nicht sehen konnte. Sie verabredeten, dass sie jeden Tag eine SMS an den Anderen senden würden. Noch ein Kuss durchs Telefon, dann legte sie auf. Sie war nun wieder etwas beruhigt nachdem sie seine Stimme gehört hatte. Spontan rief sie Sue und die Beckmanns an und lud alle Drei für den nächsten Tag zu Kaffee und Kuchen ein. Frau Beckmann, ihre fleißige Nachbarin, hatte während ihrer Abwesenheit nach dem Rechten gesehen und Jenny hatte ihr einige kitschige, aber für Frau Beckmann gerade richtige Souvenirs mitgebracht. Sue würde die besseren Stücke bekommen und auch die kleine Schneekugel mit dem Taj Mahal. Mit zurück gekehrtem Eifer machte sie sich daran ihre Wohnung auf Hochglanz zu bringen.

Am darauf folgenden Nachmittag hatte sie gerade den Tisch gedeckt, als ihre Freundin in die Auffahrt einbog. Susanne hatte immer eine Vorliebe für kleine Straßenflitzer gehabt. Auch ihr jetziges Auto war ‚eine flache Schüssel mit Rädern’, wie Jenny das nannte. Dynamisch hüpfte sie aus dem Wagen, sprang die Stufen zur Haustür hinauf und klingelte Sturm. Jenny lief lachend an die Tür. Sie hatte kaum geöffnet, als ihr die Freundin auch schon am Hals hing. „Jenny, Jennifer, Weltenbummler, Ausreißerin, bist du endlich wieder da? Muss ja toll gewesen sein in Indien, wenn du es so lange ausgehalten hast!“

„Glaub mir“, bestätigte Jenny schmunzelnd, „es war einzigartig. Aber komm' doch erst mal rein.“

Sie nahm Sues Jacke und warf sie auf einen Garderobenhaken, dann folgte sie ihr ins Wohnzimmer. Sie deutete auf die Essbar.

„Hier, liebe Susanne, ich habe dir auch ein paar nette Kleinigkeiten mitgebracht.“

Wie sie vorhergesagt hatte, brach Sue beim Anblick der Schneekugel in Entzückensschreie aus.

„Ach Gott, wie niedlich! Das kommt in meine Sammlung!“

Über den Holzelefanten lachte sie herzlich und bewunderte den Seidenschal, den sie gleich umlegte.

„Jetzt erzähl aber mal, wie war es denn so? Ich will alles wissen, jedes Detail.“

Jenny hatte automatisch ihre Nacht im Kingsizebett vor Augen und sie lief rasch in die Küche um den Kaffee zu holen. Sue sollte ihr rotes Gesicht nicht sehen. Jedes Detail? Von Wegen! Rahul würde sie außen vor lassen und nur wenn nötig am Rande erwähnen.

„Warte, bis die Beckmanns da sind, dann muss ich nicht alles zweimal erzählen.“

Als hätten sie es gehört, standen in diesem Moment die Nachbarn vor der Tür.

Hilde Beckmann umarmte sie herzlich.

„Schön, dass Sie wieder da sind, meine Liebe! Und braun sind Sie geworden! Aber schrecklich dünn! Gab es da etwa nichts zu essen?“

Ihr Mann Herbert schüttelte den Kopf.

„Warum meinst du bloß immer, alle Welt sei zu dünn? Liebe Jennifer“ - er sagte niemals Jenny - „Sie sind genau richtig! Willkommen zu Hause.“

Mit den letzten Worten überreichte er eine Flasche Sekt. Herbert Beckmann fungierte als so etwas wie ein Hausmeister für Jenny, er konnte nahezu alles reparieren oder wusste zumindest, wen man im Fall des Falles beauftragen konnte ohne übers Ohr gehauen zu werden. Jenny bedankte sich und stellte die Flasche in den Kühlschrank. Frau Beckmann lobte ihren Kuchen, aber Jenny wehrte ab.

„Ich fürchte ich bin etwas aus der Übung. In Indien isst man andere Süßspeisen.“

Sie überlegte wie viel sie erzählen konnte, berichtete über Mumbai, die Dörfer, das Taj Mahal und die grandiose Landschaft, wilde Tiere und exotisches Essen. Ihre Nachbarn ergingen sich in Ohs und Ahs, während Susanne etwas unzufrieden blickte. Sie schien auf etwas Bestimmtes zu warten. Als die Beckmanns schließlich gegangen waren, platzte sie mit ihrer Frage heraus.

„Und? Nun sag' schon! Gab es in diesem tollen Land keine Männer? Oder bist du mit geschlossenen Augen durch gefahren?“

Jenny musste lachen. „Also wirklich, Sue! Ich habe Urlaub gemacht und war nicht auf Männerfang.“

Das ließ Susanne jedoch nicht gelten. Sie war geradezu entsetzt gewesen, dass ihre Freundin ganz allein mit einem fremden Mann losgezogen war.

„Und wie war dein Fahrer?“

„Nett“, antwortete Jenny nichts sagend. „Ein Student, der sich mit Touristenfahrten seinen Unterhalt finanziert.“

„Ein Student also, aha. Dann war er auf jeden Fall nicht alt. Hat er versucht dich anzumachen? Sah er wenigstens gut aus?“, bohrte Sue weiter.

Jenny verdrehte die Augen. „Nein, er hat nicht versucht mich anzumachen.“

Hatte er ja wirklich nicht.

„Und wie er aussah? Ja, ich denke er sah gut aus obwohl ich nicht so viele Vergleichsmöglichkeiten hatte. Es war mir außerdem egal!“

Jetzt war es an Sue, mit den Augen zu rollen.

„Jedenfalls will ich als Erste die Bilder sehen, wenn sie fertig sind! Und wehe du hast mich angeschwindelt!“

Ein paar Sekunden sah Jenny sie sprachlos an.

„Bilder?“, fragte sie dann lahm, als hätte sie dieses Wort noch nie gehört.

„Ja, Bilder, Fotos, knips, knips! Was fragst du so dumm?“

Ein plötzlicher Schmerz zog Jenny das Herz zusammen. Keine Bilder! Sie hatte kein Foto von Rahul!

„Du wirst es kaum glauben“, erklärte sie zögernd, „aber ich habe tatsächlich keine Bilder. Kein Einziges! Ich hab' nicht mal eine Kamera mitgenommen, an's fotografieren hab ich bei der Abreise überhaupt nicht gedacht. Ich wollte nur weg von Deutschland!“

Sie versprach Sue, ihr anhand eines Bildbandes so gut wie möglich zu zeigen, wo sie gewesen war. Auch Sue verabschiedete sich nun bald. Sie würden sich am nächsten Morgen in der Agentur treffen.

Als Jenny dann allein auf dem Sofa saß, überkam sie wieder der Schmerz. Kein Bild von Rahul! Sie schloss müde die Augen….und da war er, deutlich vor ihrem inneren Auge! Sie sah ihn im Wagen, im Hotel beim Frühstück, beim Zeltaufbau, beim Tanz auf der Hochzeit, beim abendlichen Spaziergang in seinem Dorf, im Krankenhaus im Bett, in der Hängematte im Garten bei den Steins und schließlich neben sich in dem riesigen Bett in Agra. Sie sah ihn neben und vor sich gehen, hinter sich stehen und wie er sich über sie beugte, Zärtlichkeit und Verlangen im Blick. Sie spürte seine Umarmung und seine Küsse, hörte im Geist seine Stimme. Sie öffnete die Augen und atmete tief durch. Oh ja, sie hatte Bilder von ihm, und was für welche! In ihre Gedanken hinein piepte das Handy auf der Anrichte. Rasch sprang sie auf. Die erwartete sms von Rahul. ‚ICH LIEBE DICH’ stand da in Grossbuchstaben und ‚Träume von mir’. Und ein Herzchen dahinter. Sie lächelte still, während sie ihre Antwort tippte. Dann ging sie getröstet zu Bett.

 

Rahul arbeitete einige Tage fleißig um zusätzliches Geld zu verdienen. Jennys Umschlag hatte er bis jetzt nicht angerührt und sich auch vorgenommen, das wenn irgend möglich zu vermeiden. Sein Studium kam dabei etwas zu kurz, aber das würde er in Deutschland aufholen. Er hatte bei der deutschen Botschaft angerufen und wartete nun auf die Unterlagen, die er ausfüllen und zurückschicken musste. Wann immer es ging, traf er sich mit seinem vertrauten Freund Hrithik. Sie sprachen über seine Pläne und Sorgen, über das ferne Deutschland und seine Zukunft mit Jenny. Hrithik war es auch, der ihm eines Tages einen großen Bildband von Deutschland mitbrachte. Er hatte ihn in der Unibibliothek entdeckt und gleich mit Beschlag belegt. Jetzt saßen sie an einem Tisch in ihrem vertrauten Studentenlokal und blätterten durch das dicke Buch.

„Na, jedenfalls scheint es an Wasser nicht zu mangeln. Sieht alles ziemlich grün aus.“

Hrithik hatte interessiert die großformatigen Hochglanzseiten betrachtet. Rahul nickte und blätterte zurück zu der Doppelseite mit der Landkarte.

„Jennys Haus steht in einem Ort irgendwo bei Düsseldorf. Den Namen hab’ ich vergessen, aber Düsseldorf liegt an dem großen Fluss Rhein.“

Er tippte mit dem Finger auf die Stelle, dann blätterte er wieder eine Weile, bis er die Seiten gefunden hatte, die über die Stadt und das Umland berichteten.

„Sieht doch ganz gut aus“, meinte sein Freund zuversichtlich.

„Ich schätze du wirst klar kommen. Dabei fällt mir ein: Du kannst ja gar nicht die Sprache, oder? Ich glaub’ nämlich nicht, dass dort alle Menschen so gut englisch sprechen wie Jenny.“

Rahul musste zugeben, dass er über diesen Punkt noch nicht nachgedacht hatte.

„Weißt du, bei uns hatte sich das Englische so selbstverständlich festgesetzt, dass wir gar nicht gemerkt haben, dass unsere jeweilige Muttersprache ja eine andere ist. Das werde ich dann wohl in Deutschland lernen müssen. Aber sie wird mir ganz sicher helfen.“

„Klar“, versicherte Hrithik grinsend.

„Abgesehen davon versteht ihr euch ja wohl auch ohne Worte.“

„Aber mal im Ernst“, fragte nun Hrithik, „glaubst du aus euch wäre was geworden wenn ihr beide kein so gutes Englisch könntet?“

„Ja“, Rahul war sich ganz sicher, „absolut. Wahrscheinlich hätten wir mehr mit Händen und Füssen geredet, aber glaub mir mein Freund: Du weißt es, wenn dir deine zweite Hälfte, deine Seele begegnet. Und dann ist die Sprache das kleinste Hindernis.“

Hrithik schüttelte wieder einmal staunend den Kopf.

„Wirklich, Rahul, du bist ein völlig anderer Mensch, seit du ernsthaft verliebt bist. Geradezu unheimlich, richtig erwachsen!“

Der knuffte seinen Freund kameradschaftlich in die Seite.

„Nicht war?“, grinste Rahul, „würde dir auch ganz gut stehen. Vielleicht finde ich in Deutschland ja eine passende Frau für dich. Nötig hättest du’s.“

Er verschluckte sich an seiner Cola, als Hrithik ihn ebenfalls in die Seite boxte.

Tags darauf waren die Unterlagen in der Post und Rahul setzte sich wiederum mit Hrithik zusammen um sie auszufüllen. Was die alles wissen wollten! Warum wollen Sie in Deutschland studieren? Welche Fächer werden Sie belegen? Werden Sie nach dem Studium wieder in ihr Heimatland zurück kehren? Wo werden Sie in Deutschland wohnen? Können Sie Ihren Aufenthalt in Deutschland finanzieren? Uns so weiter, und so weiter. Am Ende brummte ihm der Kopf und er war erleichtert als er endlich den dicken Umschlag bei der Post aufgegeben hatte. Nun hieß es warten. Zur verabredeten Zeit schickte er eine sms an Jenny um sie auf dem Laufenden zu halten. Dann stürzte er sich wieder in seine Arbeit und auf seine Bücher.

Es dauerte noch einmal zwei Monate - inzwischen war es November - bis er Nachricht von der Botschaft erhielt. Mit zitternden Fingern riss er den Umschlag auf. Sein Antrag war genehmigt worden! Man teilte ihm mit, dass er das Visum persönlich im Botschaftsbüro abholen müsse und den Empfang schriftlich bestätigen. Rahul machte einen Luftsprung, rannte dann wie ein Irrer durch die Stadt zu Hrithik ins Hotel, nahm ihn in die Arme und küsste ihn rechts und links. Sein verdatterter Freund wischte sich demonstrativ übers Gesicht und grinste dann breit.

„Dem entnehme ich dass es endlich geklappt hat?“

Rahul nickte und lachte und führte einen Freudentanz durch die Hotelhalle auf. Eine Gruppe ältlicher Damen sah missbilligend von ihrer Lektüre auf und schüttelte tadelnd den Kopf.

„Endlich! Endlich kann ich fliegen! Nach Deutschland, zu ihr, Hrithik!“

An diesem Abend saßen sie noch lange zusammen und stießen auf Rahuls Glück an. Hrithik gestattete ihm, ein paar Kartons mit Sachen bei ihm unter zu stellen, da Rahuls Fluggepäck ja nur begrenzt war. Als Erstes rief er seine Eltern an, die sich aufrichtig für ihn freuten. Dann klingelte er bei Jenny durch, ohne auf den Zeitunterschied zu achten. Keine sms, das hier war zu wichtig, er musste es ihr persönlich sagen. Als sie abhob, platzte er gleich mit der guten Nachricht heraus.

„Bald, mein Schatz! Bald komme ich zu dir! Ich habe das Visum, endlich! Ich muss packen und noch ein paar Sachen erledigen. Dann nehme ich den nächsten Flug den ich kriegen kann. Hrithik schreibt mir deine genaue Adresse auf. Jenny, jetzt dauert es nicht mehr lange!“

Jenny fühlte wie ihr Herz zu tanzen begann und ihr Magen hüpfte zwischen Kehle und Füßen hin und her.

„Ach, Rahul, endlich, wie schön! Sag' mir nur rechtzeitig, welchen Flug du hast, damit ich auch ganz sicher da bin. Ich warte auf dich!“

Sie tauschten noch ein paar zärtliche Worte durchs Telefon, dann hängte er ein. Ganz benebelt vor Glück konnte er in dieser Nacht - wieder einmal - keinen Schlaf finden. Sehr sorgfältig packte er am nächsten Morgen zwei Reisetaschen - seine sämtlichen Unterlagen für Studium und Einreise würden in die Unimappe kommen - und drei große Kartons mit seinen restlichen Sachen. Dann bestellte er sich ein Taxi, brachte die Kartons zu Hrithik in dessen Wohnung und fuhr anschließend ins Botschaftsbüro um sein Visum abzuholen. Nach sage und schreibe vier Büros und acht Unterschriften hatte er endlich das ersehnte Papier in der Hand. Geschafft! Er rief beim Flughafen an, erkundigte sich nach Flügen Richtung Deutschland und buchte den Nächstmöglichen nach Düsseldorf via Frankfurt. Dann versuchte er Jenny zu erreichen, bekam aber keine Verbindung. Mist! Ausgerechnet heute! Aber egal, am nächsten Abend sollte die Maschine starten und er würde sie um nichts in der Welt verpassen.

 

Jenny war indessen wieder voll in ihr Berufsleben eingetaucht. Ihr Alltag bestand aus Sitzungen und Gesprächen in der Behindertenschule, Freizeitbetreuung von Gruppen behinderter Kinder, Baustellenbesichtigungen mit Architekten und Planern für neue Schulen und Kindergärten, zermürbende Verhandlungen mit Banken und privaten Geldgebern. Jeden Abend fiel sie halb tot ins Bett. Sie hatte Rahuls Bewerbungen abgeschickt an alle umliegenden, für ihn gut zu erreichenden Universitäten. Eventuelle Antworten würden an ihre Adresse gehen, die sie als Absender angegeben hatte. An diesem Abend wollte sie früh zu Bett gehen, da die nächsten Tage für ein weiteres Finanzierungsgespräch vorgesehen waren. Jenny wusste aus Erfahrung, dass sie dafür einen klaren Kopf und ihr ganzes Durchsetzungsvermögen brauchte. Susanne, mit der sie ihre freiberufliche Agentur teilte, würde sie tatkräftig unterstützen. Sie gönnte sich ein Entspannungsbad, schlich ins Bett und schlief schon während sie noch die Decke über sich zog.

 

Rahul stand nun der Abschied von seinem Freund Hrithik bevor. Der bemühte sich - genauso vergebens wie Rahul selbst - die Tränen herunter zu schlucken.

„Vielleicht schreibst du mal, wie es dir so geht.“

Rahul versprach, sich auf jeden Fall zu melden. Er war noch nie zuvor aus Indien weg gewesen. Jetzt war er hypernervös und zappelig, kontrollierte zum zigsten Mal seine Papiere. Es war immer noch alles da. Lange vor der angegebenen Zeit hatte er sein Gepäck aufgegeben und saß nun mit Hrithik in einer Teestube im Abfluggebäude.

„Ich werde bestimmt jede Menge lernen müssen, aber für dich werde ich immer Zeit finden, mein Freund. Und wie Jenny gesagt hat: Du bist jederzeit als Gast willkommen.“

Sein Flug wurde aufgerufen und Beide erhoben sich und gingen zum Gate. Hier mussten sie nun endgültig Abschied nehmen. Noch eine letzte herzliche Umarmung, Rahul winkte noch einmal, dann ging er durch den Passierschlauch zum Flieger. Er hatte einen Platz am Fenster ergattert, da er unbedingt die Welt von oben ansehen wollte.

In Frankfurt hatte er eine Stunde Aufenthalt. Er kaufte sich eine englischsprachige Zeitung und bestellte sich einen Tee in einem Bistro. Die Maschine nach Düsseldorf war dann wesentlich kleiner als der Jumbo von Mumbai her. Er saß wieder am Fenster, konnte aber durch die dicke Wolkendecke nichts erkennen. Nach einer knappen Stunde landeten sie in Düsseldorf. Rahul stellte seine Uhr auf die Ortszeit um und wappnete sich innerlich auf alles, was nun kommen würde. Die Passkontrolle ging ohne Probleme über die Bühne.

Seine Taschen wurden kontrolliert aber da er nichts Illegales mit sich führte hatte er ein gutes Gewissen. So stand er schließlich etwas unschlüssig im Ankunftsterminal und überlegte, was er als Erstes tun sollte. Er versuchte Jenny zu erreichen, aber die hatte offenbar ihr Handy ausgeschaltet. Er hinterließ eine Nachricht auf der Mailbox, dann fiel sein Blick ein paar Meter weiter links auf einen Bankschalter und er beschloss, die U.S.-Dollar von Jennys Umschlag in deutsches Geld umzutauschen. Der Wechselkurs stand gut und er bekam Einiges mehr an Landeswährung heraus als er in Dollar gehabt hatte. Er würde versuchen, mit einem Taxi weiter zu kommen und ging zielstrebig zum Ausgang. Ein glücklicher Zufall wollte es, das direkt vor der großen Doppeltür ein Taxi mit einem indischen Fahrer stand. Ermutigt trabte Rahul auf ihn zu. Der Fahrer musterte ihn kurz. „Wohin soll’s denn gehen?“, fragte er auf Deutsch. Rahul zuckte hilflos mit den Schultern.

„English?“ Der nette Fahrer lachte und antwortete in einem Hindi Dialekt, den Rahul einigermaßen, wenn auch nicht sehr gut verstehen konnte.

„Englisch nicht so gut. Aber ich nehme an, Sie sind heute aus Mumbai gekommen? Via Frankfurt?“

Da er täglich am Flughafen stand kannte er die meisten Flugdaten aus dem Kopf. Rahul nickte erleichtert.

„Ganz richtig.“

Sein freundlicher Fahrer stammte aus Goa und war mit einer deutschen Frau verheiratet. Rahul zeigte ihm Jennys Adresse.

„Ist das sehr weit von hier?“

Sein Gegenüber wiegte abwägend den Kopf hin und her. „Kommt darauf an, was man unter weit versteht. Eine Fahrt bis dahin würde etwa vierzig bis fünfzig Euro kosten. Aber ich mache Ihnen einen Sonderpreis, sozusagen unter Landsleuten.“

Er lachte und sie wurden sich schnell handelseinig. Rahul warf seine Taschen in den Kofferraum und stieg ein.

„Die Adresse zu der Sie wollen ist eine Dame?“, fragte der Fahrer.

„Ja, meine Verlobte.“

Für Rahuls Zunge klang das immer noch ungewohnt wenn er es aussprach, fühlte sich aber gut an.

„Wir haben uns in Indien kennen gelernt und nun bin ich hier um hier mein Studium abzuschließen. Wenn wir verheiratet sind wollen wir aber nach Indien zurück.“ Von seinem freundlichen Chauffeur erfuhr Rahul auf der knapp einstündigen Fahrt schon eine Menge über die deutsche Mentalität und Lebensart. Er erfuhr auch, welche Gegenden beziehungsweise Personen man besser mied. Wie die radikalen rechten Gruppierungen zum Beispiel.

„Wenn Sie die von Weitem sehen machen Sie besser einen großen Bogen. Die mögen keine Ausländer. Die Polizei versucht ihr Bestes diese Leute in Schach zu halten, aber die können eben auch nicht überall sein. So, da sind wir“, sagte er schließlich. „Das müsste es sein.“

Er deutete auf das Haus vor dem er gehalten hatte. Die Hausnummer war deutlich auf einer Außenleuchte zu lesen. Rahul bedankte sich, zahlte und bat den netten Fahrer, noch solange zu warten, bis er das Namensschild überprüft hatte. Ja, der Name war richtig. Er winkte dem Fahrer und der brauste hupend davon. Rahul drückte auf die Klingel. Ein wohl tönender Gong war drinnen zu hören, sonst tat sich aber nichts. Jenny war nicht - oder noch nicht - zu Hause. Er sah auf die Uhr und versuchte noch einmal, sie zu erreichen. Das Telefon war jedoch anscheinend noch immer ausgeschaltet. Mist! Und nun? Zu allem Überfluss begann es zu regnen, dazwischen fiel etwas herunter was wohl Schneeflocken sein mussten. Dazu war es saukalt. Es war Anfang Dezember in Deutschland. Winter! An das deutsche Wetter hatte er bei seiner Planung keinen Gedanken verschwendet und das rächte sich nun. Da er nun nichts weiter tun konnte als zu warten, setzte er sich auf die Stufen so nahe wie möglich mit dem Rücken an die Haustür, winkelte die Beine an und schlang die Arme darum.

Er erwachte, als ihn jemand unsanft schüttelte. Er war tatsächlich mit dem Kopf auf den Knien eingeschlafen.

„He, junger Mann! Was machen Sie denn hier? Darf ich mal Ihre Papiere sehen?“

Ein Streifenwagen stand an der Straße, einer der Beamten hatte ihn wach gerüttelt. „English?“, fragte er wieder vorsichtig.

Der jüngere Polizist wiederholte die Frage nach den Papieren auf Englisch. Rahul rappelte sich auf und holte seine Papiere aus dem Seitenfach der Reisetasche. Der Ältere der Beiden kontrollierte alles sorgfältig und gab sie dann zurück. Der Jüngere dolmetschte für seinen Kollegen.

„Und warum sitzen Sie hier vor der Tür?“

„Ich soll hier wohnen. Ich werde erwartet.“

„So, so, erwartet. Warum ist dann niemand zu Hause? Am Besten kommen Sie erstmal mit zur Wache.“

„Warum?“ ,fragte Rahul. „Was habe ich verbrochen? Rufen Sie Mrs. Hennah an, sie kann bestätigen was ich gesagt habe. Ich konnte sie nur bisher nicht erreichen.“

„Ja, ja, aber das machen wir alles vom Revier aus. Kommen Sie!“

Rahul blieb nichts weiter übrig als in das Polizeiauto zu steigen.

‚Schöne Scheiße!’, fluchte er im Stillen. ‚Kaum im Land und schon im Knast!’

Er musste unbedingt weiter versuchen, Jenny zu erreichen! In der Polizeiwache war es zumindest warm. Er war patschnass geregnet und fror erbärmlich, aber das schien hier niemanden zu stören. Er versuchte noch zweimal auf Jennys Handy anzurufen, hatte aber kein Glück. Die übereifrigen Beamten wollten ihn nicht gehen lassen. So blieb ihm nichts übrig als zu warten bis Jenny ihre Mailbox abhörte und sich hoffentlich meldete.

Jenny hatte einen anstrengenden Tag gehabt. Gott sei Dank, es war Freitag, und das Wochenende hielt sie grundsätzlich für sich frei. Nach der letzten Sitzung - es war fast acht Uhr - verabschiedete sie sich von Susanne.

„Mach’s gut, wir sehen uns Montag!“ Aufatmend ließ sie sich in ihr Auto fallen, kramte das Handy aus der Tasche und schaltete es wieder ein. Während der Sitzungen waren Handys grundsätzlich nicht gestattet. Sie runzelte die Stirn. Fünf Nachrichten auf der Mailbox. Wer…Rahul! Er war in Deutschland! Seit heute! Aber wo? Alarmiert hörte sie seine Nachrichten ab. Dann wählte sie seine Nummer. Es tutete eine ganze Weile, dann meldete sich eine fremde Männerstimme.

„Wer spricht?“

Jenny war irritiert, ließ sich aber nichts anmerken.

„Dies ist das Handy von Mr. Rahul Khan. Ich möchte ihn sprechen, ich bin Jennifer Hennah.“

„Bedaure, das wird nicht gehen, hier ist die Polizeiwache zwei am Südstadtring. Ihr Bekannter wurde vorüber gehend festgenommen.“

Jenny fühlte ihren Blutdruck steigen. Sie zwang sich zur Ruhe.

„Festgenommen? Warum das?“

Ihre überreizten Nerven gaukelten ihr ein Bild von Rahul vor, auf dem Boden liegend, mit Handschellen, einen Polizeistiefel im Nacken.

„Er hat schlafend vor einer Haustür gesessen und behauptet, er werde dort erwartet. War aber niemand zu Hause.“

Natürlich nicht! Ich bin berufstätig! Außerdem habe ich ihn heute noch nicht erwartet! Wo, sagten Sie? Südstadtring? Ich komme sofort!“

Sie brach das Gespräch ab und trat aufs Gaspedal, übersah großzügig etliche rote Ampeln und schlängelte sich halsbrecherisch durch den Feierabendverkehr. Vor der Wache hielt sie mit quietschenden Reifen, sprang aus dem Wagen und stürmte ins Gebäude wie ein Tornado. Gleich der erste Beamte auf den sie traf bekam die volle Ladung ihres gerechten Zorns um die Ohren.

„Wo ist er?“

„Wo ist wer?“

„Der Mann, den Sie heute festgenommen haben. Meinen Gast! Meinen Verlobten! Mr. Rahul Ali Khan! Wo ist er?“

Sie musste sich sehr beherrschen, den jungen Mann nicht am Kragen zu packen und zu schütteln.

„Ach, der“.

Dem jungen Polizisten ging langsam ein kleines Licht auf. Er war wohl nicht zu höheren Geistestätigkeiten geboren und würde mit Sicherheit keine berufliche Kariere machen. Er deutete mit dem Kopf vage in eine Richtung.

„Der sitzt da hinten, beim Kaffeeautomaten.“

Sie schob ihn grob bei Seite und lief durch den Gang. Rahul hockte zusammen gesunken auf einem Plastikstuhl, den Kopf auf die Arme gelegt. Um seine Füße hatte sich eine kleine Pfütze gebildet.

„Rahul!“, rief sie erschrocken, eilte zu ihm und nahm ihn in die Arme. Er sah auf und blinzelte.

„Jenny? Endlich bist du da.“

Er war total fertig und heilfroh, dass sie endlich gekommen war um ihn aus seiner misslichen Lage zu befreien. Bei seinem Anblick wurde sie an die verloren gegangenen Kinder in den Kaufhäusern erinnert.

‚Der kleine Rahul hat seine Mama verloren und möchte an Kasse zwölf abgeholt werden!’

Seine Kleider hatten zum Teil begonnen am Körper zu trocknen, Hose und Jeansjacke waren aber immer noch ziemlich nass.

„Warum hast du dich nicht umgezogen?“

„Ich konnte nicht, die haben meine Taschen beschlagnahmt.“

Er klapperte vor Kälte derart mit den Zähnen, dass Jenny befürchtete, er werde sich beim Sprechen die Zunge abbeißen. Empört aufgeplustert wie eine Glucke stürmte sie auf den nächsten Schreibtisch zu.

„Soll das etwa heißen, dass mein Freund hier die ganzen Stunden in der nassen Kleidung sitzen musste?“, säuselte sie süßlich. Der verschlafen aussehende Beamte zuckte uninteressiert mit den Schultern.

„Er hat nichts gesagt.“

Krachend schlug sie mit der Faust auf die Tischplatte, das alles darauf Befindliche einen lustigen Tanz aufführte.

„Natürlich nicht!“, giftete sie dermaßen laut, das die Fensterscheiben klirrten. „Er spricht nur englisch! Ich gratuliere Ihnen, Sie haben soeben ein gerichtliches Nachspiel gewonnen! Falls mein Gast krank werden sollte…“

Jenny überließ dem Beamten, sich auszumalen, was dann passieren würde.

„Holen Sie seine Sachen, wir gehen!“

Der Herr in Grün stemmte sich umständlich von seinem Drehstuhl hoch, schlurfte nach hinten und brachte Rahuls Taschen. Vom Schreibtisch nahm er eine Plastiktüte und schüttete den Inhalt auf den Tresen. Rahul quittierte den Empfang seiner persönlichen Habe und wollte sich abwenden, als der Beamte noch sagte: „Sie bekommen noch eine Rechnung zugeschickt über Bußgeld und Bearbeitungsgebühren.“

Jenny glaubte sich verhört zu haben. Sie wirbelte herum.

„Wie bitte? Er soll bezahlen? Dafür? Für unberechtigte Festnahme, Körperverletzung, Vernachlässigung der Aufsichtspflicht Ihrerseits und was sonst noch?“

Ihre Augen verengten sich zu katzenhaften Schlitzen und funkelten böse.

„Unterstehen Sie sich eine Rechnung zu schicken oder mein Anwalt tritt Ihnen die Türen ein!“

Sie schob Rahul aus dem Gebäude und ins Auto, warf seine Taschen in den Kofferraum und startete den Wagen. Dann stellte sie die Heizung auf die höchste Stufe. Rahul klapperte immer noch mit den Zähnen und verschob das Sprechen auf einen späteren Zeitpunkt. Während der Fahrt nach Hause schlief er im Wagen ein und wachte auch nicht auf, als sie in die Einfahrt zur Garage einbog. So brachte sie erst sein Gepäck ins Haus, vergewisserte sich dass es warm genug war und ging dann hinaus, ihn zu wecken.

„Komm, wach' auf, Liebling! Wir sind zu Hause.“

Zu Hause! Das hörte sich gut an. Rahul blinzelte in das Licht, das einladend aus der Haustür fiel. Mit steifen Gliedern stieg er aus dem Wagen. Jenny brachte den halb Schlafenden ins Haus und gleich die Treppe hinauf ins Gästebad. Sie stellte seine Taschen mit ins Bad, drehte dann das Wasser für die Badewanne auf und gab etwas Schaumbad, Erkältungsbad und Entspannungsöl hinein. Rahul hatte sich müde auf den Toilettendeckel gesetzt und sah ihr wortlos zu. Jenny half ihm beim Ausziehen und hieß ihn in die Wanne steigen.

„Da bleibst du jetzt mindestens eine halbe Stunde. Dann ziehst du dich an und kommst runter zum Essen. Du wirst die Küche finden. Immer der Nase nach.“

Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Er hatte die Augen geschlossen und lag schon lang gestreckt unter Bergen von Seifenschaum.

„Vergiss nicht, das Wasser abzustellen bevor es überläuft.“

Er nickte langsam und Jenny hoffte, dass er nicht einschlief. Sie würde in fünf Minuten noch mal nachsehen. Vorsichtshalber. Lächelnd ging sie hinunter in die Küche und bereitete ein spätes Abendessen. Basmatireis und Hühnchen - Gemüse - Pfanne mit indischen Gewürzen. Ein Hauch von Heimat für den Gestrandeten.

 

Als sie noch einmal nachsah, hatte er gerade das Wasser abgedreht und machte mit den Zehen kleine Wellen unter dem Schaum. „Alles in Ordnung?“

„Ja, danke, mir geht’s schon viel besser. Was gibt’s zu essen?“

Sie lachte. „Wird nicht verraten. Lass dich überraschen. Schön, dass wenigstens dein Appetit nicht gelitten hat. Wenn du runter kommst ist alles fertig.“

Gerüche aus der Küche ließen sie schnell die Tür schließen und wieder nach unten laufen. Gerade noch rechtzeitig. Das Wasser im Reistopf war gänzlich verkocht. Sie stellte den fertigen Reis zum Warmhalten in den vor geheizten Backofen und machte sich daran die Zutaten für die Hühnchenpfanne zu schnippeln. Die fertigen Zutaten kamen schließlich in einen chinesischen Wok mit etwas Erdnussöl. Es zischte ordentlich, heiße Dampfwolken stiegen auf trotz Dunstabzugshaube und sie stellte ein Fenster auf Kippe um den Dampf abziehen zu lassen. Sie hatte eben die Gewürze dazu gegeben, als Rahul langsam die Treppe hinunter kam. Er sah sich neugierig um, wurde aber von den Essensdüften wie magnetisch in die Küche gezogen. Es gab eine Tür zur Küche vom Flur aus, zur Wohn - und Esszimmerseite war sie offen und nur von einer modernen Essbar getrennt. Zwei Stufen zogen sich fast über die ganze Breite des Hauses hin, so das auf der Küchenseite zwei normale Stühle und auf der Esszimmerseite zwei Barhocker an der Essbar standen. Jenny stand am Herd und rührte langsam und bedächtig im Wok. Rahul trat hinter sie und umarmte sie liebevoll, beugte sich ein wenig vor und legte sein Gesicht an Ihres. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihm und sie drehte den Kopf in seine Richtung.

„Endlich!“ Er war sichtlich erleichtert.

„Endlich zu Hause bei dir! Wie lange habe ich darauf gewartet.“

Jenny lachte leise und gab ihm einen leichten Kuss auf die Nasenspitze.

„Nicht nur du, mein Lieber, nicht nur du. Setz' dich an die Bar, das Essen ist fertig.“

Sie stellte den Wok auf eine Wärmeplatte, füllte dann zwei Teller und brachte sie zur Essbar. Rahul hatte sich auf der Esszimmerseite auf einen Hocker geschwungen und schnupperte nun hungrig.

„Das riecht toll! Ich hoffe es ist genug davon da.“

„Keine Sorge, du wirst nicht verhungern.“

Während des Essens berichtete er über seine letzten Tage in Mumbai und seinen Flug. Plötzlich zuckte er hoch.

„Ach, Gott, ich sollte doch Hrithik anrufen, wenn ich angekommen bin!“

Jenny überschlug rasch den Zeitunterschied und schüttelte den Kopf.

„In Mumbai ist es mitten in der Nacht. Ich glaube nicht, dass er wach ist aber du kannst es natürlich versuchen.“

Sie holte das schnurlose Telefon, das er zuerst nicht nehmen wollte.

„Stell dich nicht so an“, drängte sie. „Das spart dir teure Auslandskosten für dein Handy. Ich denke, dass wir ohnehin eine deutsche Karte für dich anschaffen müssen.“ Das sah er ein, nickte und tippte Hrithiks Nummer in den Apparat. Es dauerte einen Moment bis sein Freund am anderen Ende abhob. Rahul hatte ihn tatsächlich aus dem Schlaf gerissen aber Hrithik war ihm nicht böse.

„Hallo, Hri, ich bin’s! Ja, ich bin gut angekommen. War ziemlich turbulent, aber jetzt ist alles in Ordnung.

Ich melde mich in den nächsten Tagen noch mal bei dir, aber jetzt muss ich erstmal schlafen. Liebe Grüße auch von Jenny…Ja, werde ich ausrichten…Ja, danke, auch für dich. Bis bald, Bruder!“

Er hatte englisch gesprochen, damit Jenny auch etwas verstehen konnte.

Rahul beendete das Gespräch und sah Jenny fragend an.

„Kann ich noch meine Eltern…?“

„Natürlich! Da musst du doch nicht fragen!“

Er wählte also die lange Nummer zu seinem Dorf. Dort gab es nur ein einziges Telefon für Alle im so genannten Stadthaus, wo immer jeweils ein Mann Tag und Nacht auf dem Posten saß. Es dauerte eine Weile, bis die Verbindung zustande kam. Er musste ziemlich laut sprechen um sich verständlich zu machen.

„Ja, hallo? Ich bin es, Rahul! Rahul Khan! Onkel Radjan? Ja, ich bin in Deutschland! Würdest du bitte meine Eltern holen? Ich möchte sie sprechen…Ja, ich warte!“

Er warf Jenny einen viel sagenden Blick zu und trommelte mit den Fingern der freien Hand ungeduldig auf der Essbar. Dann horchte er wieder angestrengt in den Hörer.

„Ja, ja, ich bin es! Papa? Hallo, wie geht es euch? ... Ja, ich bin gut angekommen! Hat alles prima geklappt!“

Die unerfreuliche Episode mit der Polizei ließ er wohlweislich unerwähnt. Unnötig, die Eltern zu beunruhigen.

„Ist Mama auch da? Hallo, Mama…Ja, es geht mir gut…Ja, ich bin bei Jenny zu Hause…“

Er hatte plötzlich Tränen in den Augen und das dringende Bedürfnis nach ihrer Nähe. Ohne hin zu sehen, streckte er eine Hand in ihre Richtung aus. Jenny kam lächelnd um die Essbar herum und nahm ihn in den Arm. Rahul versuchte die Tränen weg zu blinzeln, was ihm aber nicht besonders gut gelang.

„Ja, Mama, es ist ein schönes Haus…Jenny hat für mich gekocht und jetzt gehe ich gleich schlafen…Ja, natürlich im Gästezimmer…“

Sein Lachen klang etwas erstickt, da er weiterhin mit den Tränen kämpfte. Jenny gab ihm einen Wink. ’Liebe Grüße’, formte sie lautlos und schickte ein Kusshändchen für Rhea durchs Telefon. Rahul gab brav alles weiter.

„Ja, Mama, ich melde mich wieder. Ja, ich hab' euch auch lieb! Bis bald.“

Er beendete das Gespräch, legte den Apparat vorsichtig auf der Bar ab, nahm sie dann fest in die Arme, legte sein Gesicht auf ihre Schulter und weinte. Ihr Kleid wurde nass an der Stelle, aber das störte sie nicht. Eine Welle von Heimweh hatte ihn unversehens überrollt beim Klang der Stimmen aus der Ferne. Es dauerte nur ein paar Minuten, dann hatte er sich wieder gefangen, schniefte nur noch ein bisschen.

„Tut mir leid, ich bin sonst eigentlich keine Heulsuse.“

Verlegen wollte er sich abwenden, doch sie ließ das nicht zu.

„Ich weiß was dich drückt. Ja, wirklich!“, versicherte sie auf seinen skeptischen Blick hin. „Durch deinen Anruf zu Hause ist dir erst richtig bewusst geworden, wie weit du von dort weg bist. Du fühlst dich wie ein Schiffbrüchiger an einem fremden Strand. Du kennst das Land nicht, verstehst die Sprache nicht, kennst die Sitten und Gebräuche nicht, kennst hier keinen Menschen außer mir. Du bist mutig in einen Teich gesprungen und hast beim Auftauchen festgestellt, dass du im Ozean gelandet bist. Um nicht unter zugehen, musst du nun kräftig strampeln und schwimmen, wobei dir die Richtung noch nicht ganz klar ist. Hab' keine Angst“, setzte sie am Ende beruhigend hinzu, „ich werde mit dir schwimmen und dir die Richtung zeigen.“ Er wischte sich die letzten Tränen mit dem Ärmel weg und konnte wieder lächeln.

„Ich weiß, du bist mein Rettungsanker. Ich kriege eben nicht nur eine hübsche, sondern auch eine kluge Frau.“

„Und diese kluge Frau schickt dich jetzt ins Bett“, bestimmte sie resolut, als sie sah, dass ihm schon wieder die Augen zufielen. Schon während des Essens war er ein paar mal fast mit dem Gesicht in den Teller gefallen. Er machte ganz den Eindruck von jemandem, der von etwas Großem überrollt worden ist und sich nun angestrengt bemüht, alle seine Einzelteile in der richtigen Reihenfolge wieder zusammen zusetzen. Ohne Widerstand ließ er sich die Treppe hinauf und ins Gästezimmer bringen.

Oben angekommen traute er sich zu fragen: „Jenny? Ich glaube, ich kann heute Nacht nicht gut so alleine schlafen. Ich habe die ganzen letzten Nächte kein Auge zu gemacht. Würde es dir sehr viel ausmachen wenn du zu mir kommst? Ich verspreche auch ganz brav zu sein. Ich wäre ohnehin heute zu nichts mehr fähig, selbst wenn ich wollte. Würdest du? Bitte!“

Seinem treuen Hundeblick konnte sie nicht widerstehen.

„Natürlich. Leg' dich nur schon hin, ich räume nur noch unten auf und komme gleich nach.“ Sie gab ihm einen leichten Kuss auf die Wange und lief noch einmal nach unten. Rahul fühlte sich sehr erleichtert. Er hatte ihre Nähe in den letzten Monaten schmerzlich vermisst, zog sich jetzt aus und schlüpfte nur in Boxershorts ins Bett. Nach dem heißen Bad und dem guten Essen war ihm wieder warm geworden.

Als Jenny wieder nach oben kam, schlief er schon tief. Sie huschte schnell in ihr Schlafzimmer und tauschte die Tageskleidung gegen ihr XXL - T-Shirt, das sie immer zum Schlafen trug, dann tappte sie leise zurück ins Gästezimmer. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, schob sie sich auf der freien Seite des Bettes unter die Decke. Er spürte wohl auch im Tiefschlaf ihre Nähe, drehte sich um und legte einen Arm um ihre Taille. Jenny lächelte über seinen im Schlaf entspannten Gesichtsausdruck. Wie ein kleiner Junge sah er aus, der völlig kaputt war vom Spielen aber glücklich, endlich im seinem Bett zu liegen. Sie rutschte ganz langsam ein Stück nach oben, nahm ihn in den Arm und streichelte ihm übers Haar. Er murmelte im Schlaf undeutlich etwas in seiner Sprache, wachte aber nicht auf. Alles würde gut werden. Er war bei ihr angekommen. Und nichts Anderes zählte.

 

Beim Aufwachen hatte sie seinen Geruch in der Nase.

„Jenny?“

Seine Stimme klang irgendwie etwas gepresst, aber eindeutig wach.

„Würdest du bitte deine Hand da weg nehmen? Ich habe zwar gesagt ich kann warten, aber ich bin auch nur ein Mann.“

Im Halbschlaf war ihre Hand über seinen Körper gewandert und an der delikatesten Stelle liegen geblieben. Das hatte ihn ruckartig aufgeweckt. Schon während er sprach hatte sie es selbst gemerkt und fuhr nun verschlafen hoch. Ihre Hand zuckte zurück, als habe sie Blumen gepflückt und dabei aus Versehen in ein Schlangennest gefasst.

„Oh! Äh…entschuldige bitte. War keine böse Absicht. Ich sollte wohl besser aufstehen.“

Noch allzu gut hatte sie im Gedächtnis, was geschehen war als sie zum ersten Mal zusammen in einem Bett geschlafen hatten. Er lachte über ihren komischen Gesichtsausdruck, fasste sie am Handgelenk und zog sie zurück.

„Schon gut, komm' wieder her! Ich wollte dich nicht gleich verscheuchen.“

Wieder beruhigt kroch sie also noch einmal unter die Decke und kuschelte sich in seinen Arm. Er küsste sie zart auf die Wange.

„Ich war die letzten Monate so einsam ohne dich, habe kaum geschlafen und immer nur an unsere gemeinsame Zeit gedacht. Nur dieser Gedanke hat mich aufrecht gehalten. So etwas habe ich bisher nicht gekannt, dabei habe ich doch schon bei vielen schönen Frauen im Bett gelegen, wie du weißt.“

Ja, sie wusste es, nahm ihm das aber nicht übel. Er grinste spitzbübisch.

„Es wird mir zwar zugegebener Massen schwer fallen aber wenn du versprichst, mich nicht zu verführen, werde ich auch ganz brav sein. Zumindest eine zeitlang“, schränkte er sein Versprechen schnell ein.

Jenny knuffte ihn in die Seite. „Esel!“

Dann fuhr sie vorsichtig mit dem Zeigefinger über die lange, etwas zackige Narbe an seiner Seite. Sie war inzwischen nur noch ein dünner weißer Strich, der sich deutlich von seiner braunen Haut abhob. Eigentlich ein Schönheitsmakel, den er jedoch stolz trug wie einen Tapferkeitsorden.

„Spürst du es noch? Manchmal?“, fragte sie leise und nachdenklich.

Er nickte, ebenso in Gedanken versunken.

„Manchmal, wenn ich glaube, dass sich das Wetter ändert. Oder ich mich komisch bewege, so verdreht. Aber sonst nicht, nein.“

Eine Weile träumten sie noch vor sich hin, dann stand Jenny endgültig auf.

„Ich kümmere mich um das Frühstück und du kannst duschen, wenn du willst. Was möchtest du haben zum Frühstück?“

„Egal“, meinte er pragmatisch, „Hauptsache es ist reichlich davon da.“

Sie lachte laut. „Jeder normale Mensch würde bei dem was du verdrückst irgendwann platzen! Wo lässt du das bloß alles?“

„Willst du etwa sagen, ich wäre nicht normal?“

Er war ebenfalls aus dem Bett gestiegen und wühlte in seinen Taschen.

„Nein, zumindest nicht was das Essen betrifft.“

Er grinste, sagte aber nichts. Rahul verschwand im Bad und Jenny lief nach unten, befüllte die Kaffeemaschine und stellte den Wasserkocher für Rahuls Tee an. Ein paar Tiefkühlbrötchen in den Ofen geschoben und zehn Eier in die Pfanne für eine ordentliche Portion Rührei. Sie überlegte kurz, stellte dann noch eine zweite Pfanne auf den Herd und briet eine ordentliche Portion Frühstücksschinken für ihn. Sie brachte Butter, verschiedene Marmeladen, Honig und einen Teller mit Wurst - und Käseaufschnitt zum Esstisch und deckte diesen Tisch dann liebevoll. Nach kurzem Überlegen nahm sie noch die Sektflasche aus dem Kühlschrank und stellte zwei passende Gläser auf den Tisch. Rahul kam fertig angezogen die Treppe herunter, sah den gedeckten Tisch und strahlte.

„Na prima, das wird reichen! Aber was isst du denn?“

Sie lachte wieder. „Oh, nicht viel, keine Sorge. Ich geh' duschen und mich anziehen. Nimm' bitte gleich die Brötchen aus dem Ofen, wenn die Uhr geklingelt hat. Und rühr' das Ei um!“

Er setzte ein wichtiges Gesicht auf.

„Sag' bescheid, falls du Hilfe beim Duschen brauchst.“

Jenny drohte scherzhaft mit dem Finger.

„Guter Versuch, aber leider nutzlos. Bis gleich.“

Sie sauste nach oben und war in zehn Minuten wieder unten. Er hatte inzwischen das Rührei und den kross gebratenen Schinken in Schüssel und Platte angerichtet und auch den Kaffee und den Tee umgefüllt und auf den Tisch gebracht. Erstaunt sah er sie wieder herunter kommen.

„Das ist auch so ein Phänomen bei dir. Alle Frauen die ich bisher kennen gelernt habe, haben immer Stunden im Bad gebraucht. Du brauchst nur Minuten und bist trotzdem immer perfekt.“

Sie dankte lächelnd und setzte sich an den Tisch.

„Bist du gut im Flaschen öffnen?“

Er schenkte ihr einen tiefen Blick.

„Ich bin in Allem gut“, hauchte er mit Schlafzimmerblick, nahm die Flasche und ging in die Küche, öffnete sie über dem Spülbecken und goss dann beide Gläser voll.

Jenny hatte wieder schallend gelacht bei seinen Faxen. Jetzt stießen sie an und die guten Gläser klingelten leise und melodisch.

„Also?“, fragte sie. „Worauf trinken wir?“

„Auf dich, auf uns, auf das Beste was mir je passiert ist“, antwortete er ernst.

Jenny nickte zustimmend.

„Und auf die Zukunft.“

Er nickte, küsste sie sehr zärtlich und sehr lange und hätte dabei fast das Frühstück vergessen. Jenny bog schließlich den Kopf zurück.

„Das Rührei wird kalt“, sagte sie etwas atemlos.

„Zum Teufel mit dem Ei“, murrte er, setzte sich aber brav auf seinen Stuhl zurück.

Während des Essens unterbreitete sie ihm ihre Vorschläge für den Tag.

„Ich würde sagen, wir fahren in die Stadt und kleiden dich komplett ein.“

Rahul sah fragend und etwas verständnislos von seinem Teller auf.

„Wieso? Ich hab genug Zeug mit.“

„Mag ja sein, aber hast du mal hinaus gesehen? Es ist Winter! Und erinnere dich daran wie nass und verfroren du gestern warst. Du brauchst Wintergarderobe und warme Stiefel. “

Dem konnte er nichts entgegen setzen. Als sie dann hinaus gingen, sah Rahul zum ersten Mal in seinem Leben eine verzauberte Winterlandschaft. Über Nacht hatte die Witterung alles mit einer weißen Puderzuckerschicht überzogen. Einen Moment stand er mit offenem Mund da wie ein Kind vor einem Schaufenster mit Spielzeug. Dann kroch ihm die kalte Luft unter die Jacke und Jenny holte schnell das Auto aus der Garage.

Als sie im Wagen saßen, fragte er: „Sag' mal, sind wir gestern auch mit diesem Auto gefahren? Ich glaube ich hab’ da ein paar Gedächtnislücken, jedenfalls kann ich mich nicht mehr erinnern, wie wir von der Polizei nach Hause gekommen sind.“

Jenny sah ihn mitfühlend an.

„Das glaub' ich gern! Du warst völlig im Eimer, total kaputt und durchgefroren. Gut möglich, das dein Verstand da ein paar Aussetzer hatte.“

Er sah sich im Wagen um. Es war - typisch für Jenny - ein hochbeiniges, geländegängiges Auto in einem Silberton, innen mit allem möglichen Komfort ausgestattet.

„Wozu brauchst du in der Stadt einen Geländewagen?“, fragte er neugierig.

Sie verzog das Gesicht, während sie langsam rückwärts auf die Straße setzte.

„Wenn du morgens um Fünf aus der Tür kommst und der Schnee einen halben Meter hoch liegt, dann brauchst du ein Auto, das sich da durchbaggert. Warte ab, was der Winter noch bringt!“

Jenny fuhr zum Einkaufscenter und dort in das angeschlossene Parkhaus. Mit dem Aufzug fuhren sie nach oben. Rahul trat aus dem Aufzug und blieb ruckartig stehen als sei er vor eine Wand gelaufen. Zum Glück waren keine weiteren Leute in dem Lift mit gefahren. Das gesamte Center war weihnachtlich dekoriert worden und überall klingelte, dudelte und rauschte es auf ihn ein, das ihm schwindelig wurde. Etwas Derartiges hatte er noch nicht gesehen. Jenny lachte über sein Gesicht.

„Willkommen in Deutschlands Konsumwelt!“

Sie hakte sich bei ihm unter und schob ihn langsam durch das Gewühl. Bei zwei Herrenmoden- Geschäften kaufte Jenny für ihn einen Arm voll Pullover, drei warme Hosen und ebenso warme Unterwäsche und Socken. Dazu in einem Schuhdiscounter drei paar gefütterte Winterstiefel und schließlich im letzten Geschäft einen warmen Wollmantel in einem modischen Schnitt und eine robuste Daunenjacke.

Er wollte protestieren.

„Das ist doch alles viel zu teuer! Das kann ich nicht bezahlen!“

Sie wischte seinen Einwand beiseite.

„Wenn du irgendwann dran bist mit Geld verdienen werde ich mich dafür schadlos halten. Aber bis dahin geht eben alles von meinem Konto, basta! Außerdem wirst du in den nächsten Tagen sowieso eine Karte für mein Konto bekommen, dann bist du unabhängiger.“

Auf seine Fragen erklärte sie ihm, was es mit dieser üppigen Weihnachtsdekoration auf sich hatte.

„Auch zu Hause wird alles festlich geschmückt. Dieses Jahr werde ich wieder alles rauskramen. Du kannst mir dabei helfen. Allein war mir nicht danach, aber jetzt bist du da. Da fällt mir ein: Ich habe ja noch gar keinen Weihnachtsbaum bestellt! Erinnere mich bitte daran wenn wir wieder zu Hause sind, dass ich meinen Nachbarn deswegen anspreche. Er besorgt mir immer den perfekten Baum für mein Wohnzimmer.“

Sie erzählte ihm auch, das man sich zu Weihnachten mit kleinen Geschenken erfreute, an Heilig Abend in die Kirche ging, sich mit Freunden oder Familie zum Essen traf.

„Das nennt man ‚das Fest der Liebe’, obwohl ich manchmal das Gefühl habe, dass es eher ein Fest der Geschäftsleute ist. Und nach den Festtagen ist es ein Fest des Umtauschens!“

Er lachte und nickte. Wissbegierig sog er alles in sich auf wie ein Schwamm, besah sich alles und seine Augen leuchteten, obwohl ihm schon die Ohren klingelten von dem Geräuschemix. Mit zahlreichen Tüten beladen steuerten sie endlich auf ein Café zu für eine Atempause. Und wer saß dort? Welch ein Zufall! Susanne, ebenfalls - wie üblich - mit unzähligen Tüten aus den umliegenden Geschäften umgeben. Sue hatte sie Beide schon erblickt und winkte.  „Hallo, Jenny! Hier!“

Die konnte nun schlecht so tun, als habe sie die Freundin nicht gesehen.

Rahul sah sie fragend an und Jenny informierte ihn: „Das ist Sue.“

Er verstand nicht gleich und sie fuhr fort: „Die mit der ‚Taj Mahal’ - Schneekugel, weißt du noch?“

 „Ah!“ Er nickte und Beide steuerten auf Susannes Tisch zu.

Die sah fragend und neugierig auf den jungen Mann an Jennys Seite, der nickte aber nur kurz zur Begrüßung und fragte Jenny: „Wo kann man denn hier mal…“

Sie zeigte ihm den Weg zu den Toiletten und er verschwand eiligen Schrittes in die angegebene Richtung. Jenny stellte die Tüten ab und ließ sich aufatmend auf eine gepolsterte Bank sinken.

„Hallo, Sue, schon wieder auf Shoppingtour?“

Susanne schüttelte tadelnd den Kopf. „Lenk' nicht ab! Wer ist dieser schicke Knabe den du da mit dir schleppst?“

Jenny musste lachen.

„Das ist mein Gast aus Indien. Ist gestern angekommen. Mein Fahrer, ich hab dir doch von ihm erzählt“, wollte sie betont harmlos abtun.

Sue bekam große Augen. „Das? Der ist dein Fahrer gewesen? Im Ernst?“

„Ja“, nickte Jenny, „ist doch ganz nett, oder?“

Sue verschluckte sich an ihrem Milchkaffee.

„Nett? Machst du Witze? Nett!! Das ist ja wohl die Untertreibung des Jahrhunderts! Der Mann ist ein Adonis! Ein indischer Prinz! Das ist ein erstklassiges Sahneschnittchen! Ich kann es nicht glauben, das du den unterschlagen hast!“

Bei diesem plastischen Vergleich musste Jenny herzlich lachen. Dann sah sie Susannes Gesichtsausdruck.

 „Lass es“, warnte sie ihre Freundin.

„Was denn?“, fragte die ehrlich erstaunt.

„Du hast schon wieder diesen Schlangenblick.“ Sue war echt empört.

„Ich habe keinen…“

„Doch“, lachte Jenny, „hast du. Du kannst nichts dazu, ist wohl bei dir angeboren. Immer wenn du einen Mann siehst, der in deine Sammlung passen könnte kriegst du diesen Blick. Du schnappst ihn und verschlingst ihn mit Haut und Haaren ohne auch nur zu kauen. Aber nicht bei Ihm! Lass die Finger davon. Er ist zu schade für deine Spielchen!“

Jennys ernster Tonfall bewog ihre Freundin zu der Frage: „Meldest du etwa irgendwelche Besitzansprüche an?“

„Allerdings!“, beschied ihr Jenny, sehr zu Sues Überraschung.

„Oho!“

„Nichts oho. Ich sag’s dir nur für alle Fälle.“

Susanne schienen diese dürftigen Auskünfte ihrer wortkargen Freundin jedoch nicht zu genügen.

„Hast du etwa mit ihm…..“

„Und wenn?“, antwortete Jenny mit einem ungewollt feindseligen Ton. Sue war nur schwer mundtot zu kriegen aber jetzt wusste sie zum ersten Mal nicht was sie sagen sollte. Es war nicht zu übersehen, dass Jenny ihre Besitzansprüche verteidigen würde.

„Also“, meinte Sue nach einem kurzen Moment sehr betont, „dann würde ich ihm die Hand schütteln und ihn zum Dornröschen - Helden des Jahres ernennen! Weil er es geschafft hat, deine Dornenhecke zu durchdringen und dich wieder wach zu küssen.“

Jenny lachte wie befreit. „Du hast vielleicht Vergleiche! Aber wirklich, es ist mir ernst!“

Sie beschloss, ganz kurz über Rahuls Pläne zu erzählen betreffend sein Studium, würde aber ihre ganz privaten Ziele für sich behalten. Das ging selbst ihre beste Freundin - zumindest vorläufig - nichts an.

 

 Rahul war auf dem Weg zur Toilette an einem kleinen Schmuckgeschäft vorbei gekommen. Auf dem Rückweg betrat er jetzt den Laden; er hatte dort etwas im Fenster gesehen das seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Es war ein kleines Armkettchen, an welches man nach und nach viele kleine Anhänger befestigen konnte. Es war vom Preis her erschwinglich und er hatte immer noch Geld übrig von dem Fahrerlohn. Zu dem Armband erstand er noch zwei kleine Münzen, ließ sie mit ihren Namen gravieren - Rahul und Jenny - und an dem Armband befestigen. Die freundliche Verkäuferin packte es noch festlich ein in ein Samtkästchen, mit schönem Papier und kunstvoller Schleife und wünschte ein frohes Fest. Rahul bedankte sich und versenkte das wertvolle Päckchen in der Innentasche des neuen Mantels. Er hatte einen Teil der neu gekauften Sachen gleich anbehalten und dafür seine gebrauchte Kleidung in die Tüten gepackt. Der dunkle Norwegerpulli betonte seine Bräune und der lange Mantel unterstrich seine schlanke Gestalt vorteilhaft. Als er wieder ins Café zurück kam entschuldigte er sich zuerst für die Verspätung, murmelte etwas von ‚total voll’ und ließ sich nach einem liebevollen Kuss für Jenny neben sie auf die Sitzbank fallen. Jenny stellte ihn vor. „Also, liebe Sue, das ist Rahul, mein Fahrer und Begleiter während meines Urlaubes“ - das Begleiter betonte sie besonders - „und das ist meine beste Freundin Susanne“, sagte sie dann in Rahuls Richtung. Der erhob sich lächelnd und ergriff Sues Hand.

„Ist mir eine besondere Freude“, sagte er mit dunkler Stimme, strahlte Sue an und hauchte einen Handkuss auf ihre Rechte.

Bei dieser geballten Ladung Charme

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 04.06.2016
ISBN: 978-3-7396-5901-5

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