Der letzte Kuss
Eine Liebe kommt und sie geht.
Nichts bleibt auf dieser Welt, auch wir nicht.Mit dieser Erkenntnis starre ich aus dem Fenster und beobachte auf dem Parkplatz ein junges Paar. Sie halten Händchen und küssen sich.
Ich muss tief durch atmen, denn dieser Anblick stimmt mich sehr traurig.
Sie sind so jung und haben noch ihr ganzes Leben vor sich? Und wir? Mit Tränen in den
Augen wende ich mich von diesem Anblick ab.
Mir ist bewusst das ich nicht mehr viel Zeit mit Henry habe werde, deshalb verbringe ich jede
Sekunde die er noch atmet bei ihm.
Im Moment schläft er. Er sieht trotz der vielen Kabel und Schläuche richtig friedlich aus. Fast wie ein Baby. Und ich habe den Eindruck das er im Schlaf lächelt.
Seit Tagen habe ich nicht mehr richtig geschlafen, aber in meinem Alter ist Schlaf nicht mehr so
wichtig.
Mühevoll rücke ich mir einen Stuhl an Henrys Krankenbett. Ich will ihm so nah wie nur möglich sein. An der Tür klopft es und ich schrecke auf, da ich ganz in Gedanken versunken war.
Ellen meine älteste Tochter öffnet die Tür und tritt mit ihren Ehemann Frank-welchen sie im
Schlepptau hatt- leise ein.
Die Mine von Frank verrät mir, dass er nicht freiwillig hier her gekommen ist.
Henry und Frank waren sich noch nie grün gewesen. Es lag nicht einmal an Henry selbst. Frank war ein arrogantes Etwas, was nur zu seinem eigenen Vorteil zu existieren schien.
Ihn interessierte nur Geld und fremde Frauen, denen er ein Kind anhängen konnte und sich dann anschließend weigerte, für sie auf zukommen.
Und trotz alledem liebte Ellen ihn. Henry sagte einmal, sie sei ein wenig begriffsstutzig.
Ich rügte ihn dafür. Aber insgeheim gab ich ihm recht.
Mit verquollenen Augen geht Ellen an Henrys Bett. Sie beugt sich zu ihm und gibt ihm einen sanften Kuss auf die raue Stirn.
"Die Ärzte sagen das..."
Ich nicke nur. Wehre sie mit der Hand ab.Sie muss nicht weiter reden.
Auch ohne Ärzte ahne ich schweren Herzens das er noch heute sterben wird.
Sie schnieft leise in ein Papiertaschentuch hinein. Frank nimmt demonstrativ seinen Platz neben mir ein und verschränkt seine Arme hoch erhoben über der Brust. Ich blicke ihn verwirrt an, da ich nicht weiß, was er von mir will.
"Elisabeth wir müssen über das Erbe reden..."
Entsetzt blicke ich Frank an. Ellen wird indessen kreidebleich und sieht einem Schimmelkäse zu verwechseln ähnlich. Sie öffnet ihren Mund ohne etwas zu sagen. Wie ich, ist auch sie völlig geschockt von dem unverschämten Verhalten ihres Mannes.
Meine Hände greifen reflexartig nach Henrys knochiger Hand.
"Du wagst es hier her zu kommen um mir das unter die Nase zu reiben?? Du wagst es über ein Erbe zu reden was dir nicht einmal zusteht!! Hinaus mit dir du räudiger Hund!", schreie ich ihn an.
Stirn runzelnd sieht Frank mich an und zeigt mir respektlos den Vogel. Danach gibt er Ellen zu verstehen, das er mit dieser verrückten Familie nichts mehr zu tun haben wolle.Ihm wäre das alles zu Blöd.
Hin und her gerissen tritt Ellen auf mich zu und gibt mir einen kurzen Kuss auf die Wange.
"Ich komme später noch einmal. Ich muss mit Frank reden, er ist ein wenig durcheinander!"
Der einzige der hier durcheinander ist bist du mein Kind, denke ich resigniert.
Sie muss nicht mehr vorbeikommen, ich bin froh wenn ich mit Henry alleine bin. Aber das sagte ich ihr nicht. Ich nicke und schaue den beiden hinterher.
Der Besuch hat gerade mal fünf Minuten gedauert. Ich schüttle meinen Kopf.
Henry drückt leicht meine Hand. Ich schlucke als er die Augen aufschlägt und mich liebevoll ansieht.
„Ich wollte dich nicht wecken. Es tut mir leid Henry aber dieser Taugenichts von einem Schwiegersohn..“, versuche ich ihm zu erklären. Er nickt.So wie es aussieht hat er alles mit bekommen,
Henry blickt mich an und lächelt. Er schüttelt den Kopf und seine Augen blitzen.
Ich weiß das er mir sagen will, das er stolz auf mich ist, dass ich es diesem Idioten gezeigt habe.Er will mir sagen das er mich liebt und immer lieben wird.
Mühevoll hebt Henry seine Hand und streichelt liebevoll mein Gesicht. Ich will nicht weinen, aber ich kann nicht anders. Ich muss. Wie ein kleiner Bach kullern mir die Tränen über das faltige Gesicht.
Er spitzt seine Lippen, wie früher wenn er einen Kuss von mir haben wollte.
Ich beuge mich zu ihm nach vorne und erwidere seinen Kuss zärtlich. Ich spüre seine Hand in meinem Nacken. Weil ich ihm jetzt so nah bin, höre ich seinen langsam werdenden Herzschlag.
Früher klang es Tok, Tok, Tok, Tok. Aber jetzt klingt es irgendwie anders. Ich habe Angst. Aber Henry scheint keine zu haben.Denn er lässt mich nicht los und küsst mich weiter.
„Ich liebe dich Elisabeth“, haucht er mir schwach entgegen.“Wir sehen uns wieder...“
Tok, Tok...nichts Tok, nichts ,Tok. Dann ist es soweit.Seine Hand gleitet von meinem Nacken und ich weiß das dies mein letzter Kuss war.
Texte: Photo (c)by Achim Pohl
Tag der Veröffentlichung: 08.07.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für die Liebe meines Lebens...
Das sterben der Seele beginnt nicht mit dem Verlust des Lebens. Sondern mit dem fehlen der Liebe...