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Leseprobe

Trilogie von fünf Reiseberichten in

zwei Bänden


Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Ebook-Originalausgabe März 2023 – 1. Auflage

Pohlmann Verlag

Alle Rechte bei Ingo R. R. Höckenschnieder

Coverbild und Illustrationen: Marina Fahrenbach

Coverdesign: Andreas Wieckowski (andwiec@gmail.com)

Lektorin: Stefanie Höckenschnieder

© Gesamtherstellung: Pohlmann Verlag, 49196 Bad Laer

www.pohlmann-verlag.de


Ingo R. R. Höckenschnieder

Ein (fast) absolut wahrer Reisebericht

Band I

Pohlmann Verlag

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Die erste Reise

Guten Abend, gute Nacht und ein Feuer

Urzeit

Eine wilde Begegnung

Eins, zwei, Zauberei

Abendbrot mausetot oder so

Zum Abschied

Die zweite Reise

Die Nordbaben, die Südbaben und die Baben, die wir dazwischen haben

Von ganz unten nach ganz oben

Der Flug auf dem Hexenberg

Der Hort der Fahlen

Die Macht des Mondes

Spiel zum Tanz

Epilog

Anhängende Anhänge

Von den Bändern

Personen

Ingo R. R. Höckenschnieder

Unabhängige Pressestimmen

 

Prolog

Eigentlich, ja, eigentlich wäre ich nie nach Babenhausen (Süd) gefahren. Wieso auch? Ich kannte dort niemanden und es gab für mich keinen Grund, mit der 3. Linie der Straßenbahn bis zur Endhaltestelle zu fahren. Dann aber, es war ein Samstagabend und ich saß mit Philipp, Christa und Denise beim Essen, sprachen wir über öffentliche Verkehrsmittel. So ein öffentliches Verkehrsmittel ist schon eine tolle Sache. Man kann an einer Haltestelle einsteigen, ein Stück fahren und an einer der folgenden Haltepunkte wieder aussteigen. Für die besonders Wagemutigen gibt es noch die Möglichkeit, an bestimmten Stationen umzusteigen, um plötzlich und fast ohne Vorwarnung in eine ganz andere Richtung zu reisen. Das Schöne ist, dass man lediglich Platz nehmen muss, sofern einer frei ist, und wenn man aussteigt, wird man nicht einmal genötigt, sich von den Mitreisenden zu verabschieden. Natürlich kann man es tun, aber dann sollte man sich eilen, damit man es rechtzeitig durch die Türe schafft, will man allen die Hand zum Abschied reichen.

Öffentliche Verkehrsmittel sind eine tolle Erfindung. Man stelle sich nur vor, man hätte sie früher gehabt. Dann wäre Kolumbus ganz einfach in eine Straßenbahn oder einen Zug gestiegen und nach Amerika gefahren. Und weil er ja anhand der Haltestelle gewusst hätte, wo er sich gerade befand, hätte es nicht einmal das Missverständnis mit den Indianern gegeben.

Tja. Philosophisch betrachtet sind öffentliche Verkehrsmittel eine wahrlich reichhaltige Quelle alternativer Menschheitsgeschichte – hätte es sie nur früher gegeben.

Was ich persönlich liebe: Man muss nicht selber fahren.

Nette Leute machen das für einen und halten auch an, damit man einsteigen oder am Ziel wieder aussteigen kann. Fröhlich winken sie schon, wenn man an der Haltestelle steht, und freuen sich über jeden einzelnen Fahrgast. So muss man einfach nur gut gelaunt sein und lachen, ein wenig mit den anderen Reisenden plaudern und wenn die Stimmung dann durch die Decke gehen will, singt man gemeinsam ein frohes Ständchen. Arm sind jene, die das nicht kennen.

Wie man also schon an meinem Erfahrungsbericht erkennen kann, habe ich so manche schöne Stunden in angenehmer Gesellschaft in öffentlichen Verkehrsmitteln verweilen dürfen. Und so darf man mir gerne glauben, wenn ich sage, dass niemand mehr und ehrlicher darüber berichten kann als ich.

In diesem Moment aber saß ich nicht gut gelaunt in einem der wundervollen Fortbewegungsmittel unserer Zivilisation, sondern am Tisch mit Freunden. Und obgleich ich die öffentlichen Verkehrsmittel vermisste, erfreute ich mich, den Abend mit eben jenen Menschen zu verbringen, die mir zusammen mit den Mitreisenden die Liebsten waren: Meinen Freunden.

„Ich parke immer auf dem Park und Ride Parkplatz an der Endhaltestelle der Linie 2 und fahre dann bis zum Rathausplatz. Von dort aus ist es nur ein kleines Stück bis zu meinem Arbeitsplatz!“

Philipp, der Freund von Denise, schüttelte den Kopf.

„An der Linie 3 gibt es keinen Park und Ride Parkplatz! Ich muss mir irgendwo in der Nähe Voltmannstraße einen Parkplatz suchen!“

„Ja, das ist nicht so einfach dort!“, stimmte ihm Denise zu. „Warum fahrt ihr nicht bis nach Babenhausen? Da müsste es doch einen Park und Ride geben!“, hakte ich nach und Christa pflichtete mir nickend bei.

„Nein, nein. Da ist keiner. Und außerdem fährt niemand bis Babenhausen!“

Ich blickte Philipp erstaunt an.

„Niemand? Was soll das heißen? Dass die Linie bis dahin leer fährt?“ Ich musste lachen.

„Und was ist mit den Leuten aus Babenhausen?“, ergänzte Christa. „Na, keine Ahnung“, meinte Philipp und blickte zu Denise, die ihrerseits fortfuhr: „Nein, alle steigen Voltmannstraße aus und ab Voltmannstraße steigen Leute ein. Kennst du jemanden aus Babenhausen? Also ich nicht und ich hab‘ da noch nie jemanden in der Bahn bleiben sehen.“

Christa und ich blickten einander überrascht an, dann wieder zu Philipp und Denise. „Das ist doch Unsinn!“

„Richtig“, stimmte ich Christa zu. „Da muss es doch Leute geben – sonst wäre da keine Haltestelle!“

Natürlich musste es Leute geben, die bis nach Babenhausen (Süd) fuhren. Ich selber kannte nur niemanden, ebenso wenig wie Christa, Philipp oder Denise. Was lag also näher als ein Ausflug dorthin.

„Und was willst du da?“, fragte Philipp mich.

Einfach nur so hinfahren und mich umsehen, vielleicht?, überlegte ich mir, als Denise ihrem Freund recht gab.

„Willst du da einfach nur so dorthin fahren und dich dort umsehen?“

„Ja, an sowas hatte ich gedacht!“

„Okay“, meinten alle drei gleichzeitig. „Dann mach mal hübsch Fotos!“

Ich rümpfte die Nase, weil sie sich über meinen gut ausgeheckten Plan lustig machten, blickte auf meine Uhr und stellte fest, wie früh es noch war – zu früh, um sich mit einer fadenscheinigen Ausrede zu verabschieden ... oder ... oder vielleicht doch nicht?!

„Schöne Uhr!“, meinte Christa. „Ist die für Kinder? Da ist ja ein Dino drauf!“

„Nein, die ist nicht für Kinder. Na ja, vielleicht doch. Aber auch für Männer. Viel zu groß für Kinderarmgelenke!“

Ich hob meine Hand und schüttelte sie demonstrativ, um zu zeigen, wie fest die Uhr dort saß.

„Wieso? Um deines passt es doch auch“, witzelte Philipp auf besonders lustig Art und Weise. Was für ein Idiot.

„Steht da Urzeit?“ Christa griff meinen Arm und las von meiner Uhr ab.

„Ja, was denn auch sonst! Da ist ja auch ein Dino drauf“, erklärte ich.

„Urzeit! Und Dino! Ganz schön süß. Wenn ich jetzt vierzehn wäre, würde ich mich glatt in dich verlieben!“ Sie lehnte ihren Kopf zur Seite und sah mich mit ein paar Augenaufschlägen süßlich an, was Denise und Philipp zum Lachen animierte.

„Gott bin ich froh, dass du keine vierzehn mehr bist. Sonst müsste ich mir jetzt überlegen, wie ich dich wieder loswerde!“

„Zeig ihr doch einfach noch mal die U(h)r!“, prustete Philipp los, der sich selbst übrigens als einziger am Tisch köstlich über seinen Witz amüsierte.

„Und dann?“

„Wie? Und dann ... Na, wegen der Dinos ...“, begann er und begriff vermutlich selbst in diesem Moment, dass der Zusammenhang nicht passte. Wenn sie sich wegen der Dinos in mich verliebte, würden sie die Dinos ja nicht gleich wieder abschrecken.

„Jetzt lass‘ bitte meinen Arm los!“ Ich zog meinen Arm, den Christa noch fest gepackt hatte, weg.

„Aber du bist doch sooooooo süß!“, grinste sie frech.

„Das weiß ich. Und ich überlege mir jetzt eine Ausrede, wieso ich doch früh schon gehen muss!“, erklärte ich ihnen.

„Irgendetwas Vordergründiges, um mich zu verdrücken!“

„Gehst du heute noch tanzen?“, wollte Denise wissen.

„Auf jeden Fall! Und zwar so früh wie möglich!“

„Da bin ich dabei“, entschied sie, ohne mich zu fragen. „Na, das ist ja prima!“, stellte ich fest. Wohl oder übel hatte ich sie an der Backe oder am Arm (bei meiner ausgesprochen männlichen U(h)r) ... oder sonst wo ...

Die erste Reise

Ich blickte auf den Schalter, an dem die Fahrkarten verkauft wurden, und wäre nur gerne hingestürmt, doch ich hielt mich zurück. Ich überprüfte meine: Im Rucksack eine Brotdose, die auch noch mit dem gefüllt war, was der Name verhieß, eine Thermoskanne mit Kaffee, eine Trinkflasche mit einem eiskalten Tee, ein Notizbuch mit Stift, mein Fotoapparat und ein Handtuch. Man weiß nie, wann man ein solches Tuch braucht, hatte ich irgendwo mal gelesen. Natürlich hatte ich auch mein Handy dabei, etwas Geld und meine Monatskarte. Ich blickte noch einmal trübselig zum Schalter, bei dem ich heute wohl nichts erstehen müssen würde, verließ mich auf das Ticket, das den ganzen Monat lang gültig war, und setze mich in Bewegung. Mit der Rolltreppe ging es hinab und dort war sie schon angeschlagen: Sieben Minuten bis zur Einfahrt der Linie 3 Richtung Babenhausen (Süd). Was für ein Spaß.

Ich scharrte also ungeduldig und endlich fuhr die Bahn ein. Keckernd hüpfte ich los, an Wartenden vorbei, die vielleicht auf die ein oder andere spätere Linie warteten oder einfach den Straßenbahnen beim Ein- und Ausfahren aus der unterirdischen Haltestelle zusehen wollten, und ergatterte einen Sitzplatz fast ganz vorn beim Zugführer. Ich überlegte kurz, ob ich den Fahrer über den Fahrerruf informieren sollte, dass ich nun mit von der Partie war, entschied mich schließlich aber dagegen. Hinterher hätte er sich zu viel gefreut und wäre aus Versehen noch irgendwo abgebogen.

Was soll ich berichten? Die Fahrt war sensationell. Ich hätte mir mehr Licht gewünscht durch die Tunnel, doch schon zwei Haltestellen später ging es hinauf und wir erreichten die Straße, fuhren neben Autos einher und nicht wenige Fahrgäste kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Kurz dachte ich noch darüber nach, ob es angebracht war, die anderen Mitfahrenden zu einem gemeinsamen Ständchen zu bewegen, aber ich war aufgrund meines Ziels mehr als nervös und so teilte ich nur meiner Nachbarin mein Ziel mit. „Ich fahre nach Babenhausen (Süd)!“

Sie blickte mich überrascht an, wohl, weil auch sie noch nie dorthin gefahren war, und so nickte ich eifrig, um mein Ziel und meine Aussage zu eben diesem zu bestätigen. Sie wandte sich ab, vielleicht bekam sie es etwas mit der Furcht zu tun, doch ich beruhigte sie. „Keine Bange, ich war schon an vielen Orten und auch dieser macht mir keine Angst!“ Ich glaube, es ging ihr sofort etwas besser und ich redete eifrig weiter über meine Reise.

Nur zwei Haltestellen später verließ sie mich. Wir winkten einander zum Abschied und freuten uns bereits auf eine zukünftige gemeinsame Fahrt.

„Wie ist Ihr Name?“, rief ich ihr hinterher.

„Spinner!“, rief sie zurück und ließ mich glücklich zurück, jetzt, da ich ihren Namen kannte.

Mit jeder neuen Haltestelle wurde die Bahn leerer. Mit jeder weiteren Abfahrt in Richtung der Endhaltestelle wurde es einsamer.

Die Bahn hielt an der Haltestelle Voltmannstraße und die wenigen verbliebenen Fahrgäste stiegen aus. Die Türen blieben offen. Plötzlich knackste der Lautsprecher: „Wir sind Voltmannstraße. Bitte steigen Sie hier aus!“

Ich blickte mich verwundert um, musste einsehen, dass ich der letzte Fahrgast war, erhob mich und ging zur Sprechanlage, mit der man in Notfällen Kontakt zum Fahrer aufnehmen konnte.

Ich drückte den Knopf: „Entschuldigung, aber ich wollte bis zur Endhaltestelle, bis Babenhausen (Süd)!“

Die Sprechanlage knackste wieder. Einen Moment lang herrschte Stille.

„Sind Sie da ganz sicher?“

„Ähm, ja!“

„Oh!“, sagte der Fahrer und wieder dauerte die Pause schier endlos. „Oh, ich hatte noch nie einen Fahrgast, der nach Babenhausen (Süd) wollte. Ich muss erst einmal in der Zentrale nachfragen!“

Das verwirrte mich. Ich war nicht oft bis zur Voltmannstraße gefahren, doch ich wusste, dass die Bahnen weiterfuhren. Ich war mir verdammt sicher.

Erst nach einer Minute meldete sich der Fahrer wieder. „Bitte steigen Sie aus, Sie werden von einer anderen Bahn abgeholt, die nach Babenhausen (Süd) fährt!“

Verdutzt folgte ich der Anweisung und nachdem sich die Türen geschlossen hatten, sah ich die Bahn weiterrollen. Sie fuhr aber nur gut hundert Meter, bog dann auf ein Abstellgleis zwischen den beiden Hauptgleisen ab und der Zugführer stieg aus, wechselte von vorne nach hinten (womit aus hinten nun vorne wurde) und setze den Triebwagen wieder in Gang, um erneut, dieses mal auf der anderen Seite des Bahnsteigs, zu halten.

Ein weiterer Zug kam, doch auch hier sagte man mir, ich müsse aussteigen, was ich gehorsam tat. Dann schließlich rollte ein Zug an, der Sonderfahrt angeschlagen hatte. Diese Bahn war kürzer. Nur halb so lang wie der Rest. Der Bahnführer lehnte sich aus dem Fenster. „Sie wollen nach Babenhausen (Süd)?“ Er blickte mich unsicher an und schien zu überlegen, ob mein Nicken und das folgende „Ja, ich will!“ ein Indiz für meine Zustimmung waren. Er seufzte. „Na gut! Dann steigen Sie ein!“

Auf dem Fahrplan hatte ich gelesen, dass die Bahn von der Haltestelle Voltmannstraße nur eine Minute bis nach Babenhausen (Süd) benötigte, doch die Fahrt war um ein Vielfaches länger. Zuerst einmal bogen die Straßenbahnschienen von der Straße ab, wir ließen die letzten Häuser links und einige sogar rechts liegen, fuhren an Feldern vorbei, die letztlich von Bäumen abgelöst wurden, als wir in einen Wald kamen. Die Minuten vergingen.

Schließlich hielt der Zugführer an. Anders als an den anderen Haltestellen sah ich keinen Bahnsteig und die Türen öffneten sich auch nicht. Stattdessen knackste wieder die Sprechanlage.

„Sie wollen hier wirklich aussteigen?“ Ich stand auf, drückte den Knopf. „Sicher! Wieso auch nicht?!“

„Gut, dann öffne ich gleich die Türen. Wenn Sie zurückwollen, dort vorn hängt eine Zugleine. An der müssen Sie zweimal kräftig ziehen. Es kann etwa 30 oder 40 Minuten dauern, bevor wir sie abholen kommen. Seien sie also vorsichtig und nehmen Sie sich vor ... ach, nehmen Sie sich einfach in Acht!“

Ich nahm die Warnung zur Kenntnis. Nur die eine Tür, an der ich stand, wurde geöffnet. Ich stieg die Stufen hinab und landete auf einem Schotterweg. Das Piepen der Türen deutete das Schließen an. Der Lokführer stieg nicht etwa aus, nein, er rannte durch den Zug und setzte ihn sogleich in Bewegung. Es dauerte keine Minute und er war aus meinem Blickfeld entschwunden. Ich sah die Schienen in einer Kurve hinter Bäumen verschwinden. Auf den anderen Seiten war noch mehr Wald und dort gab es überhaupt keine Gleise.

Ich stand also in Babenhausen (Süd) oder wenigstens an der Haltestelle dieses Namens. Es gab den Schotterweg, auf dem ich ausgestiegen war und der rechts wie links neben dem Gleis herlief. Aber bloß ein kurzes Stück. Scheinbar gab es nur eine Richtung, in die sich der Weg fortsetzte und das war auf der anderen Seite der Schienen, wo er zwischen den Bäumen hindurch verschwand.

Dort hing auch ein großes Ortseingangsschild mit den Buchstaben Babenhausen (Süd). Es wirkte irgendwie fehlplatziert, denn auf diesem Weg würde sicherlich kein Auto kommen.

Der Pfad war gerade breit genug für einen Fußgänger. Diesen Weg, und würde er auch kein leichter sein, steinig und schwer, gedachte ich zu gehen. Ich überquerte also die Schienen, passierte das Ortseingangsschild und fand mich zwischen großen Bäumen wieder. Brombeeren hatten den Teil links des Weges überwuchert und Bienen summten, um Blüten zu suchen. Auf der rechten Seite plätscherte ein Rinnsal neben dem Pfad entlang, das so klein war, dass ich es mit einer Hand hätte stauen können.

Ich fragte mich, was vor mir lag und wer hier wohnen würde?! Was für eine dumme Frage das doch war. Natürlich lag Babenhausen (Süd) vor mir.

Zuerst war mir etwas unheimlich zu Mute. Ich ging einen einsamen Weg, kein anderer Fahrgast wollte hierher, so hatte man mir gesagt, und der Wald war ziemlich dicht. Vor allen Dingen dafür, dass wir ja noch fast in der Stadt hätten sein müssen. Doch das Gesumme und Gebrumme, der Duft des Waldes und das Vogelgezwitscher hoben meine Stimmung und alsbald hatte ich meine Sorgen vergessen.

„Wer da?“, piepste es plötzlich, riss mich aus den Gedanken und ich erschrak, fuhr herum und sah ein Mädchen von vielleicht sieben oder acht Jahren. Sie hatte wildes, blondes, ungezähmten Haar, das wie die Mähne eines Löwen wallte. Ihre Augen waren stechend blau, funkelten im Zwielicht des Waldes und lenkten mich einen Moment vom restlichen Anblick ab. Sie hielt einen Speer, den sie auf dem Boden aufgestellt hatte und dessen Spitze nach oben deutete. Unter der Speerspitze gab es einige Bänder in Rot und Gelb und Grün. Das Mädchen war nackt, sah man einmal von einem Lendenschurz ab.

„Öhm“, ... begann ich.

„Hallo Öhm! Was willst du hier!“

„Öhm“, sagte ich erneut und war noch verwirrter als zuvor. „Ich bin nicht Öhm!“

„Wieso sagst du das dann? Hast du keinen Namen?“, fiepste mich die kleine Göre frech grinsend an.

„Ich heiße Ingo. Und du? Wie ist dein Name?“

„Ingo? So wie der Autor, der über uns schreibt?“, wollte sie wissen, ohne mir ihren Namen zu nennen.

„Ein Autor? Der über euch schreibt? Davon weiß ich nichts! Nein, ich heiße Ingo, weil ich Ingo bin und kein Autor!“ Ich grinste sie nun ebenso frech an, wie sie mich.

Das schien ihr weniger gut zu gefallen.

„Na, vielleicht weißt du es ja einfach noch nicht“, antwortete sie patzig. „Ingo ist ein ganz schön merkwürdiger Name!“

„Findest du?“ Ich nahm ihr Nicken hin, fragte sie aber gleich nach dem ihren. „So. Jetzt möchte ich deinen Namen erfahren!“

„Ich bin Fantarisina Glockenblume!“, antwortete sie keck. „Fantarisina? Und du findest meinen Namen merkwürdig?“

„Fantarisina ist doch ein ganz typischer Name!“, behauptete sie und stemmte die freie Hand in die Hüfte.

„Für wen? Und denkst du nicht, dass du zu groß bist, nackt durch den Wald zu laufen?“

„Für Mädchen“, erklärte sie bereitwillig. „Und, wieso sollte ich zu groß sein, durch den Wald zu laufen? Du läufst doch auch durch den Wald und bist sogar größer!“

„Ich sagte nackt! Ist ja auch egal. Ich will nach Babenhausen (Süd)!“

„Wir lassen nicht jeden rein“, sagte sie. „Wenn du der Ingo wärst, der über uns schreibt, dürftest du mitkommen“, meinte Fantarisina.

„Okay, ich gebe es zu. Ich bin der Ingo, der über euch schreibt. Ich nenne dich in meinem Buch Fanni!“

„Fanni? Wieso sollte ich so einen dämlichen Namen bekommen?“ Sie sah mich missmutig an.

„Ich nenne dich Fanni, wenn du mich weiter hier abhältst, nach Babenhausen zu gehen!“ Ich grinste sie an und sofort hob sie ihren Speer und deutete in die Richtung, in die der Weg führte.

„Ich gehe vor und ich bin nicht Fanni!“ Sie eilte voraus und weil sie mich nicht weiter aufhielt, nenne ich sie auch nicht Fanni. „Willst du denn nun nach Babenhausen oder nach Babenhausen (Süd)?“ Sie sprach die Klammern überdeutlich aus, wohl damit es keine weiteren Missverständnisse gab.

„Macht das einen Unterschied?“

„Das solltest du sehr wohl wissen“, behauptete Fantarisina, die ich nicht mehr Fanni nenne. „Wer über uns schreibt, muss es einfach wissen. Es gibt ja Babenhausen [Nord] und Babenhausen (Süd)!“

„[Nord] mit eckigen Klammern?“, fragte ich, nicht ganz sicher, nach.

„Ich dachte, ich hätte es deutlich genug gesagt! Natürlich. Aber die werden nicht gesprochen, nur betont. Wie man die runden Klammern bei Babenhausen (Süd) eben ganz weich und rund spricht, werden die eckigen bei Babenhausen [Nord] hart und eckig betont!“

„Sicher!“

„Sei froh, dass wir nicht über Babenhausen <Mitte> sprechen. Da sind nicht nur die Klammern spitz akzentuiert, sondern der gesamte Name kursiv.“ Sie drehte sich um. „Du weißt doch, was kursiv ist?“

„Selbstverständlich!“

„Wir sind da. Da ist die Mühle! Und der Schuster, der Bäcker und der Babier!“

„Du meinst Barbier!“ Ich betonte das R extra deutlich.

„Natürlich nicht! Es heißt ja auch nicht Barbenhausen.“ Das war einleuchtend.

Frisuren und Bier stand auf einem großen Holzschild und Ba braut und schneidet selbär. Die Schreibweise von selber irritierte mich, doch ich ging wortlos darüber hinweg, murmelte nur etwas von falscher Rechtschreibung und wie selber geschrieben werden muss, ganz ohne Worte oder jedenfalls mit ziemlich wenigen, und musterte den Laden weiter. Vor dem Babierladen stand ein Schemel, um den herum noch ein Rest von Haaren lag.

Mehr Anklang schien das Bier zu finden. Denn zwei Herren und drei Damen saßen an dem großen Tisch und unterhielten sich mit dem Babier ohne R und tranken aus großen Tonkrügen. Ich wage es kaum zu sagen, aber sie alle waren nackt bis auf einen Lendenschurz. Ich kam mir albern vor.

Ein paar Dorfbewohner sammelten sich, als sie mich erblickten, und bauten sich in ihren Lendenschurzen bewaffnet mit Speeren oder Bögen vor mir auf.

„Wer ist das, Fantarisina?“

Das Mädchen deutete auf mich.

„Er stellte sich erst als Öhm vor, aber sein Name ist Ingo!“

„Ingo der Öhm!“, hauchten einige und verbeugten sich leicht.

Es verwirrte mich. „Ingo reicht“, sagte ich, um nicht weiter auf der Öhm-Sache herumreiten zu müssen.

„Ingo? So wie der Mann, der über uns schreibt?“, wurde ich gefragt.

„Ja, genau!“ Ich grinste etwas dümmlich.

„Wo sind Tinte und Pergament?“, fragte einer der Männer.

„Wieso?“ Meine Frage schien sie zu verwirren.

„Wie willst du über uns schreiben, wenn du dir nichts aufschreibst!“

Gute Frage, musste ich zugeben. „Gute Frage, muss ich zugeben!“, gab ich zu. „Aber ich werde mich erst einmal umsehen!“ Und das tat ich.

Die Häuser waren schlichte Holzhäuser, mehrheitlich rund mit Ried oder Stroh bedeckt. Die Fenster waren Öffnungen mit Fensterläden, aber ohne Glas, die Türen, schlichte Holzoder Schilftüren und scheinbar ohne Schlösser. Nicht wenige Häuser waren leicht erhöht auf Pfählen gebaut.

„Reet!“, wurde ich aus den Gedanken gerissen.

„Wie bitte?“

„Wir nennen es Reet nicht Ried!“, sagte die junge Frau, die sich vor mir aufbaute.

„Wie kommst du darauf?“

„Ich will nur nicht, dass du es falsch schreibst“, erklärte sie mir.

„Öhm ... okay! Aber man darf Ried schreiben. Das ist die moderne Schreibweise!“ Ich wies sie somit auf das aktuelle Regelwerk des Duden hin, den sie aber vielleicht überhaupt nicht besaß.

„Von so etwas halten wir hier gar nichts!“ Sie ließ den Finger beim Sprechen kreisen, um zu betonen, wie wenig sie davon hielt, und ich nickte emsig.

„Gut, gut. Reet! Ich werde von Reetdächern schreiben!“

„Ich bin übrigens Rosanella, die Dorflauteste!“, stellte sie sich vor. Sie hatte ebenso blondes Haar wie Fantarisina, allerdings fast glatt. Außerdem war sie deutlich älter. Vielleicht Mitte zwanzig schätzte ich. Ihre Augen waren eisblau und sie trug neben dem Lendenschurz bunte Bänder, die sie um Oberarme und -schenkel gebunden hatte. Sie war sehr schlank. Athletisch sozusagen. Mit sportlichen Schenkeln und sichtbaren Muskeln an den Armen, einer schmalen Taille und einem flachen Bauch.

„Dorflauteste?“, erkundigte ich mich. „Was soll das denn sein?“

„Bei uns Baben ist die lauteste Person Anführer, wenn wir in den Krieg ziehen. Wir müssen mehr Lärm als unsere Feinde machen! Dann können die nicht mehr klar denken! Als Lauteste hat man sowieso das meiste zu sagen!“ Das war einleuchtend. Irgendwie. Ich nahm es also hin. „Ich werde dir hier alles zeigen. Auch das gehört zu meinen Aufgaben!“, berichtete sie.

„Gut, gut. Ich will ein paar Fotos schießen, vielleicht von den Hütten!“, schlug ich vor, und in dem Moment fiel mir ein, dass die Baben möglicherweise gar nicht wussten, was Fotos waren. „Fotos sind Bilder, die man mit einem kleinen Gerät macht. So wird das Aussehen festgehalten und ...“

„Hältst du uns für dumm?“, unterbrach sie mich und hob eine kleine Panasonic Travelzoom. „Wir sind doch nicht von gestern!“ Sie musterte mich. „Du brauchst ordentliche Kleidung, wenn du hier bist. So geht das nicht. Wir haben ja nicht Winter oder gehen auf den Jahrmarkt als seltsame Attraktion!“

„Öhm ... ja, also ... tut mir leid!“ Ich bat sie mit gesenktem Kopf um Entschuldigung. „Sowohl ... wegen der Fotos und auch wegen der Kleidung!“

„Komm mit! Wir besorgen dir was Ordentliches zum Anziehen!“ Sie führte mich den Weg entlang zu einem der rechteckigen Häuser und trat vor mir ein. Ich folgte ihr.

Der erste Raum sah wohnlich aus, mit einer Art Sessel und jeder Menge Kissen, einem ziemlich niedrigen Tisch, an dem man vermutlich kniete, einem Kanonenofen, auf dem so etwas wie ein Teekessel stand, einem Regal mit Schriftrollen und einem höheren Schreibtisch, auf dem ich Feder und Tinte erblickte.

Es ging weiter in ein zweites Zimmer, in dem ein Bett von der Decke hing. Es war an dicken Holzbalken aufgehängt und Seile vorn und hinten hielten die eigentliche Lagerstätte für die Nacht, die mit allerlei Fellen und Kissen bedeckt war. Sie kramte in einer Truhe und holte einen Lendenschurz hervor, hielt ihn mir hin. Ich nahm ihn entgegen, blickte sie an.

„Du sollst ihn anziehen“, grinste sie.

„Äh, ja, das habe ich mir schon gedacht“, gab ich zu, nicht ohne etwas rot anzulaufen.

„Du musst dich dazu ausziehen“, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu.

„Bleibst du dabei hier und siehst zu?“, erkundigte ich mich.

„Okay! Gerne! – Fantarisina, du kannst Wasser für Tee aufsetzen!“ Rosanella hockte sich aufs Bett und blickte zu mir. „Ich wusste nicht, dass du dich so gut mit unseren Bräuchen auskennst!“

Das verwirrte mich noch mehr als die Tatsache, dass sie meine ironische Frage so missverstanden hatte.

„Tue ich das?“

„Oh, ja! Woher wusstest du, dass die Farben meiner Bänder nicht nur zeigen, dass ich ohne Partner bin, sondern auch auf Partnersuche? Und woher kennst du die formelle Brautwerbung? Die meisten Fremden – und hier kommen wahrlich nicht viele hin – wissen nichts über unsere Riten!“

„Formelle Brautwerbung?“, stotterte ich erschrocken.

„Ja! Woher wusstest du, dass du mich fragen musst, ob ich zusehen will?“

Super Frage! Und wie antwortet man darauf? So im Kontext gesehen wie Ich wollte nicht um dich werben und eigentlich wollte ich nur, dass du dich umdrehst, das war Ironie und so, du weißt schon oder vielleicht auch nicht?! Da die richtige Formulierung zu finden, stellte mich vor ein Problem, das durch die Tatsache, dass sie ihren Speer auf ihren Schenkeln abgelegt hatte, nicht kleiner wurde. Ich zuckte also mit den Schultern. „Ja, keine Ahnung ... vielleicht war ich mir der Wirkung der Frage nicht vollends bewusst!“

Sie sah mich an. „Los! Du wolltest dich ausziehen!“

Okay. Es gab noch die Möglichkeit, es einfach nicht auszudiskutieren. Abwarten war ja auch eine Problemlösungsstrategie und die gefiel mir in diesem Moment ganz gut.

Ohne die Möglichkeit, mich irgendwie zu verbergen, legte ich also ab, griff den Lendenschurz und ...

„Den Slip musst du auch ausziehen. Wir sind darunter nackt!“, erklärte sie mir und ich konnte mich gerade noch rechtzeitig abwenden, als sie ihren Schurz demonstrativ anhob.

Ich drehte mich mit dem Rücken zu Rosanella, zog meine Unterhose aus und den Lendenschurz an. Tataaaa!, wollte ich schreien, unterließ es aber und in bester weltmännischer Manier blieb ich still und lief rot an.

Frisch, fast völlig entkleidet führte mich Rosanella in den Wohnraum, in dem Fantarisina bereits dabei war, Tee zu kochen. Sie hockte sich vor den Tisch auf ein Kissen, legte eines neben sich und klopfte darauf. „Du kannst dich ruhig setzen.“

Es gab Tee und danach führten die beiden Damen, die kleine und die große, mich durch Babenhausen (Süd) und stellten mich so ziemlich jedem aus dem Dorfe vor. Nur nicht Gorm, wie sie mir berichteten, der einfach keine Fremden mochte. Bestimmt achtzig Häuser gab es und über sechshundert Baben hausten hier, wild und frei.

Guten Abend, gute Nacht und ein Feuer

Die beiden Mädchen, die kleine Fantarisina und die größere Rosanella, wichen nicht von meiner Seite. Ich lernte so Ba kennen, den Babier des Ortes, der bei seiner Berufswahl bewusst auf das R verzichtet hatte, und Tjonken, der noch höher als Ba gewachsen war und ebenfalls auf jegliches R verzichtete (in Tjonken war nicht eines – nicht einmal ein kleines). Ich musste meinen Kopf in den Nacken legen, um ihm überhaupt ins Gesicht blicken zu können. Er war gute zwei Meter zwanzig und von oben bis unten mit Muskeln bepackt. Er trug eine Schürze und schürte das Feuer zum Schmieden.

Tulperinata und Violettina waren zwei Schwestern, denen die Mühle gehörte. Sie waren ebenfalls beide ein Stück größer als ich.

„Mahlt ihr hier Mehl?“, erkundigte ich mich.

„Nein, das ist eine Toilettenpapiermühle!“, erklärten mir die Schwestern. „Eine was?“

„Na rate einmal, wo dein Toilettenpapier herkommt. Wir spannen die Rollen auf die Achse und dort rollt sich das Papier dann auf. Heute machen wir extraweiches!“ Sie deutete auf einige Käfige voller Hundewelpen, die kein Fell zu haben schienen, die von jemandem dafür in kleine Strickkleider gesteckt worden waren.

„Was ist das?“

„Na, das Papier ist so weich wie Hundewelpen. Wir scheren sie und verwenden das Fell!“

„Ich dachte immer, Toilettenpapier sei aus Holz gemacht!“, staunte ich.

Die beiden und ihre Helfer lachten, als wäre es das Lustigste, das sie je gehört hatten.

„Das wäre ja nun wirklich zu kratzig! Nein, für unser Extraweich brauchen wir jede Menge Hundewelpen. Die Kleinen müssen trotzdem nicht frieren! Unsere Oma strickt ihnen Hundepullover!“

Ich war etwas verwirrt, nahm aber dankbar eine Rolle Extraweich mit und winkte den Helfern, Tulperinata und Violettina zum Abschied.

Fantarisina stellte mir jeden vor, dem wir begegneten. Den großen Jock, den kleinen Jock, Tante Usambarina, Lasse, Nisse und Pisse, die drei Jungs vom Middelhof, und viele mehr.

Auf einem der Dächer hockte Olaf, der gerade ein neues Reetdach eindeckte.

„Das ist Olaf“, stellte Fantarisina mir den Mann vor, „Karls Sohn, weltbester Reetdachdecker!“

Ich betrachtete Karls Sohn vom Dach und starrte einen Moment auf seine Mütze – die erste Kopfbedeckung, die ich bislang gesehen hatte – schüttelte dann aber mein Haupt und folgte der Dorflautesten und der Dorffrechsten weiter.

„Wer ist hier denn die Dorffrechste?“, blafften mich beide Damen zeitgleich an, obwohl ich kein Wort gesagt hatte.

Ich deutete auf Fantarisina, die sofort protestierte, doch Rosanella stimmte mir lachend zu. „Da hast du wohl Recht!“

„Gar nicht wahr!“

„Doch wahr!“

Erst am späten Nachmittag hatten sie mir das gesamte Dorf vorgestellt. Ich war nicht ganz einen Meter achtzig hoch gewachsen und damit, bis auf den kleinen Jock und ein, zwei weitere, der kleinste Mann. Viele waren um zwei Meter groß und Tjonken war nicht einmal der größte. Kules, ein Herr höheren Alters, überragte den großen Schmied sogar noch um einen halben Kopf.

Auch viele Frauen waren deutlich größer als ich. Rosanella hingegen, mit vielleicht einem und einem dreiviertel Meter, empfand ich als angenehm klein.

Die meisten Baben hier waren blond oder rothaarig und nur einige wenige hatten dunkles Haar. Braune Augen sah ich jedoch nicht.

Nachdem die Damen mir das Dorf gezeigt hatten, musste Fantarisina zu ihren Eltern, Öhm und Lilianita, die ich natürlich ebenfalls kennengelernt hatte.

Rosanella brachte mich zurück in ihr Haus. Sie bedeutete mir, Platz zu nehmen auf einem der Kissen am Boden vor ihrem Tisch, und bot mir einen Kaffee an.

„Hast du noch einen anderen Beruf oder bist du ausschließ- lich Dorflauteste?“, fragte ich sie, während sie das Wasser heiß machte.

„Als Dorflauteste habe ich viele Aufgaben“, erklärte mir die hübsche Babin. „Aber wenn ich damit nicht beschäftigt bin, gehe ich meinem Beruf nach und auf die Jagd! Mein Vater war Erster Jagdmeister, so nennt man den, der die Jagd leitet, und auch ich wollte das werden. Aber schon bald bemerkte man, dass ich die lauteste Stimme habe, und ich wurde zur Dorflautesten. Dafür habe ich drei Jahre bei meinem Vorgänger, dem alten Öhm, gelernt, du weißt schon. Der Große mit den weißen Haaren, nicht Fantarisinas Papa.“

„Ich erinnere mich. Wobei groß wenig hilfreich ist, bei den ganzen Riesen hier im Dorf!“

Rosanella lachte herzlich. „Du hältst uns für Riesen? Dann musst du erst mal die Lippinger sehen. Wir Baben sind dagegen winzig!“

Ich konnte meine Überraschung wohl nicht verbergen. „Das ist kein Spaß?“

„Wieso sollte ich damit spaßen?“ Rosanella goss das kochende Wasser auf und trat zu mir an den Tisch, hockte sich neben mich und streckte ihre Hand aus, in der sie ein ganzes Konvolut aus etwa drei Zentimeter breiten, farbigen Bändern hielt. „Du brauchst noch passende Farben für das Fest heute Abend!“, berichtete sie.

„Für welches Fest?“

„Na, für das Fest, das wir dir zu Ehren geben. Du bist der erste, der über uns schreibt“, erinnerte sie mich.

„Ach, das Fest!“ Ich ließ meinen Kopf leicht nickend schwingen. „Und welche Farben benötige ich?“

„Das ist nicht schwer, aber du wirst dich entscheiden müssen. Als Dorflauteste trage ich neben den roten Bändern, die mich als Jägerin kennzeichnen, noch violette an den Armen. An den Beinen sind es grüne Bänder. Das heißt, dass man einen Partner sucht. Würde sich jemand für mich interessieren und mich bitten, ihm beim Anlegen des Lendenschurzes zuzusehen, sollte ich auf orange wechseln. Das bedeutet frei, aber nicht suchend. Rot an den Beinen ist in einer festen Beziehung, blau verheiratet und schwarz wäre in Trauer“, erklärte sie mir.

„Dann sollte ich orange wählen“, mutmaßte ich. „Orange für die Schenkel!“

Sie grinste mich frech an. „Die wähle ich auch!“

„Und an den Armen trage ich dann nichts?“

„Du bist unser Gast. Als solcher trägst du gelb und grün!“, erklärte sie mir. „Grün ist meine Lieblingsfarbe!“

„Gelb ist meine Lieblingsfarbe“, gab ich zu. „Und Grün trage ich, weil es deine ist?“

„Nein, nein!“ Sie lachte schallend. „Gelb und Grün sind die Farben der Gastfreundschaft. Hier“, reichte sie mir den Ball aus Bändern, zog zwei gelbe hervor und band sie um meine Arme. Dann angelte sie nach grünen Bändern und schnürte sie dazu. Als sie fertig damit war, zog sie zwei orangfarbene hervor. „Erheb‘ dich!“, verlange sie.

Als sie mir meine orangfarbenen Bänder um die Schenkel band, fragte ich sie erneut aus.

„Rosanella, was ist die Aufgabe eines Dorflautesten?“

„Als Dorflauteste rufe ich zum Fest und zum Thing“, erzählte sie von ihren Aufgaben. „Du weißt, was ein Thing ist? Gut! Ich deute dein Nicken als Ja. Auf dem Thing verkünde ich die Tagesordnung und ich lasse abstimmen. Gibt es keine Mehrheit, entscheide ich – aber nur dann. Ansonsten hat der Dorflauteste keine Stimme dort. Wenn es einen Kampf gibt, rufe ich zur Bewaffnung und führe unsere Soldaten und ich verhandle mit den anderen Stämmen. Den Nordbaben, den Mittelbaben, den Lippingern, den Fahlen ...“, listete sie auf, doch ich unterbrach sie.

„Du meinst den Falen? Ohne H, weil du ein H mitgesprochen hast! So wie Westfalen oder Ostfalen?“

„Nein, nein. Diese Stämme gibt es schon lange nicht mehr. Ich meine die Fahlen. Das sind ... nun, sie sind keine Menschen.“

„Keine Menschen?“ Zweifelnd blickte ich sie an, doch sie schien es ernst zu meinen.

„Ja, die Trollander und die Fahlen sind keine Menschen. Wenn du etwas bleibst, wirst du sie kennenlernen“, erklärte sie. „Freue dich nicht zu sehr auf sie. Die Trollander

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Ingo Höckenschnieder
Bildmaterialien: Marina Fahrenbach
Cover: Marina Fahrenbach
Lektorat: Stefanie Höckenschnieder
Satz: Petra Pohlmann
Tag der Veröffentlichung: 16.12.2022
ISBN: 978-3-7554-2785-8

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