Hier stehe ich nun also. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich es wirklich ausprobiere. Ich habe zwar schon länger mit dem Gedanken gespielt, aber was anfangs noch lächerlich war, ist jetzt tatsächlich eingetreten: Ich glaube einer urbanen Legende. Zumindest soweit, dass ich gerade auf das Taxi warte. Eben jenes Taxi, um das sich die Geschichten drehen. Es soll den Fahrgast angeblich nicht dorthin fahren, wo er hin möchte, sondern dahin, wo er sein sollte. Ich schnaube verächtlich über diesen philosophischen und abstrusen Gedanken. Wer an solche Märchen glaubt, muss echt verzweifelt sein. Und doch stehe ich hier, in der Eiseskälte einer verschneiten Dezembernacht und warte. Warte an einer Straßenecke, die laut diversen Forumseinträgen und geflüsterten Berichten häufig von dem ominösen Taxi frequentiert wird. Natürlich nur nachts, weil das macht das Ganze mystischer.
Je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr ärgere ich mich über meine Gutgläubigkeit. Wenn auch nur einer meiner Freunde und Kollegen erfährt, was ich hier treibe, bin ich das Gespött der nächsten Wochen. Aber was soll’s, sehr viel habe ich schließlich nicht mehr zu verlieren. Wann fing mein Leben eigentlich an, den Bach runter zu gehen? War es, als ich die Playstation kaufte? Als ich das erste Mal zwei Tage am Stück durchgezockt hatte? Als ich mich nicht darum kümmerte, dass meine Freundin mich verließ, sondern mich freute, endlich in Ruhe in programmierte Parallelwelten abtauchen zu können? Als ich meinen gut bezahlten Vollzeitjob gegen eine Teilzeitstelle tauschte, um mehr Zeit alleine verbringen zu können? So oder so habe ich mittlerweile einen Tiefpunkt erreicht, den ich – trotz meiner Bemühungen – nicht leugnen kann. Warum sonst lasse ich mich auf die verzweifelte Idee ein, einem Ammenmärchen nachzugehen?
Meine Hände sind rot vor Kälte und auch die dünne Strickmütze auf meinem Kopf bewahrt mich nicht vor den frostigen Fingern des Winters. Ich atme warme Luft in meine zitternden Hände, um sie aufzutauen. Ich beginne, auf der Stelle zu joggen, was mich schon bald außer Atem bringt, aber nicht zum erhofften Erwärmen meines Körpers. Entnervt verdrehe ich, von einem theatralischen Seufzer begleitet, die Augen und wende mich zum Gehen.
Ich habe keine drei Schritte getan, als ein Auto direkt auf mich zufährt. Ich traue meinen Augen kaum, als ich erkenne, dass es sich um ein Taxi handelt. Verdutzt bleibe ich stehen. Das kann doch nur ein Zufall sein. Das Schicksal, das sich über mich lustig macht! Doch das Taxi wird langsamer und bleibt schließlich stehen. Der Fahrer fährt das Fenster hinunter und im schwachen Licht der Straßenlaternen erkenne ich ein Paar dunkelbrauner Augen, die mich belustigt mustern.
„Guten Abend“, spricht der Fahrer mich mit einer tiefen, sonoren Stimme an. Sollte ich ihm antworten? Macht er sich einen Spaß daraus, gutgläubige Menschen wie mich zu verspotten?
„Guten Abend“, antworte ich, mehr aus Reflex als einem expliziten Gedanken folgend.
„Warten Sie auf jemand Bestimmtes?“, fragt der Taxifahrer, aber sieht dabei aus, als wisse er meine Antwort bereits.
„Nunja.. Eigentlich nicht mehr. Ich glaube das war eine dumme Idee.“, druckse ich herum. Auch wenn dieser Mann sehr freundlich aussieht und mich ein wenig an meinen Teddybär aus Kindheitstagen erinnert, hege ich meine Zweifel.
„Sehen Sie, ich verstehe, dass Sie so Ihre Bedenken haben. Aber aus irgendeinem Grund haben Sie doch beschlossen, sich heute Abend hier hin zu stellen und zu warten, richtig?“, redet der Taxifahrer ruhig auf mich ein. „Ich berechne für meine Fahrten nichts. Immerhin wissen weder ich noch Sie, wo Sie am Ende raus kommen und ob das Ganze tatsächlich erfolgreich war. Also wenn Sie es ausprobieren möchten, steigen Sie einfach ein.“
Er lächelt mich aufmunternd an und nickt mit dem Kopf in Richtung der Beifahrertür. Ich bleibe unentschlossen stehen. Er hat Recht. Ich habe nichts, nicht einmal Geld zu verlieren. Außerdem bin ich verzweifelt genug, jeden Strohhalm zu ergreifen. Und wenn ich schon mal hier bin, wieso nicht.
„Also entscheiden Sie sich bald, es wird kalt hier im Auto“, reißt mich der Fahrer aus den Gedanken.
„Ja, ist gut. Ich… ich komme“, überwinde ich mich selbst und laufe ums Auto herum. Mit Händen, die nicht nur der Kälte wegen zittern, öffne ich die Beifahrertür und lasse mich auf den Sitz fallen. Der Taxifahrer hat mittlerweile sein Fenster geschlossen und strahlt mich nun begeistert an.
„Freut mich, dass Sie sich dazu entschieden haben, es zu testen!“, sagt er und fährt fort: „Da wir nun eine unbestimmte Zeit miteinander verbringen werden, sollten wir einander vorstellen. Mein Name ist Bruno Meiersberg.“ Er streckt mir eine Pranke entgegen, die ich mit meinen tauben Fingern ergreife.
„Hallo Herr Meiersberg. Ich bin Peter. Peter Schmidt.“
Bruno Meiersberg, dessen Vorname seine Bärenartigkeit verfestigt, lacht kurz und brummend auf.
„Sie sind ja ein richtiger Max Mustermann. Haben Sie, passend zu Ihrem durchschnittlichen Namen, etwa auch einen durchschnittlichen Job?“, fragt er. Wäre mir meine Durchschnittlichkeit nicht schon seit einiger Zeit mehr als bewusst, wäre ich durch diese Frage beleidigt gewesen. Herr Meiersberg verpackt die Wahrheit aber in einer so herzlichen Art, dass ich ihm nicht böse sein kann; obwohl seine Frage sehr direkt ist.
„Mittlerweile schon. Ich arbeite für einen Internetanbieter… Ich nehme Telefonanrufe entgegen“, gebe ich etwas beschämt zu. Dass ich eigentlich einfach nur in einem Callcenter arbeite, sage ich nicht so gerne. Man muss es mit den Details ja nicht so genau nehmen. „Soso“, brummt Bruno und setzt den Wagen in Gang.
Einige Minuten lang fahren wir schweigend durch die Straßen. Immer wieder mustere ich meinen Fahrer skeptisch von der Seite. Ein leichtes Lächeln umspielt stets seine Lippen. Ich komme zu dem Entschluss, dass er entweder von ganzem Herzen an das glaubt, was er gerade tut, oder dass er geisteskrank ist. Meinem eigenen Wohlbefinden zuliebe entschließe ich mich, an ersteres zu glauben.
„Sie vertrauen mir nicht, oder Herr Schmidt?“, fragt Herr Meiersberg plötzlich geradeheraus.
„Wie kommen Sie denn darauf?“, versuche ich mich um eine Antwort zu drücken. Natürlich vertraue ich ihm nicht. Wäre mein Leben nicht schon so vermurkst, wäre ich niemals ins Auto gestiegen.
„Das sind sie alle.“, antwortet Herr Meiersberg lapidar. Ich erwidere nichts, sondern hoffe, dass er mir von sich aus mehr erzählt. Er tut mir diesen Gefallen.
„Ich habe schon viele Menschen in diesem Taxi mitgenommen. Allerdings bestehe ich immer darauf, dass die Person keine Begleitung mitnimmt. Das wirkt natürlich auf viele zunächst sehr suspekt“ Er wirft mir einen schelmischen Seitenblick zu, als würde sich alles nur um einen großen Scherz handeln. „Aber das passiert nur zu ihrem Besten. Man muss ganz mit sich allein sein, wenn man dort angekommen ist, wo das Taxi einen hin bringt.“
Ich fasse mir ein Herz und stelle eine Frage, die mir schon seit ich von den Taxifahrten gehört habe, auf der Seele brennt.
„Darf ich fragen, woher Sie wissen, wo Sie hinfahren müssen?“, frage ich vorsichtig.
Bruno Meiersberg grinst breit, als er antwortet: „Oh, das weiß ich nicht.“
Wegen einer roten Ampel muss er anhalten. Die Kreuzung ist menschenleer, wie es für eine kalte Winternacht nicht anders zu erwarten ist. Herr Meiersberg wendet sich mir zu.
„Das ist eine komplizierte Sache und ich kann Sie Ihnen jetzt und hier nicht erklären. Wichtig ist, dass sie funktioniert. Das werden Sie selbst merken! Ich weiß, dass das eine unbefriedigende Antwort ist, aber ich befürchte, Sie müssen sich damit erstmal abfinden“, fährt er fort. Dann richtet er seinen Blick wieder auf die Straße. Die Ampel ist mittlerweile grün geworden, sodass sich das Auto wieder in Bewegung setzt. Verwirrt und keineswegs zufrieden mit seiner Antwort schaue ich aus dem Fenster.
Ich sehe die Häuser an uns vorüberziehen, die mit steigender Geschwindigkeit des Autos immer mehr zu einem dunkelgrauen Schleier verwischen. In den meisten dieser Wohnungen leben Paare und Familien, glückliche, selige Menschen. Kaum einer von ihnen hat es nötig, sich mit einem wildfremden in ein Taxi zu setzen, weil das die letzte Hoffnung ist, sein Leben in den Griff zu bekommen.
Ich denke an Sarah. Wäre mit ihr ein solches Leben möglich gewesen? Ich versuche, es mir vorzustellen, aber es gelingt mir nicht. Nicht, weil Sarah für ein heimeliges Leben ungeeignet war, sondern weil ich mich an unsere Beziehung kaum noch erinnern kann. Wir waren einige Zeit sehr glücklich, sind sogar zusammen gezogen. Aber fast zeitgleich mit dem Einzug begann meine Sucht nach dem Zocken. Unsere gemeinsamen Abende bestanden meist nur aus halbherzigen Gesprächen, die parallel zur Playstation liefen. In diesem Moment, wo ich so darüber nachdenke, fällt mir nicht einmal ein, wie lange wir insgesamt überhaupt zusammen gewohnt hatten. Ich atme schwer aus und schüttle über mich selbst den Kopf. Wieso wusste ich das nicht? Ich habe sie doch geliebt.
„Geht’s Ihnen nicht gut?“, reißt mich Herr Meiersberg aus meinen traurigen Gedanken.
„Wie man’s nimmt“, entgegne ich. „Physisches oder psychisches Problem?“, hakt Bruno nach. Er reduziert die Geschwindigkeit und hält Ausschau nach einer Möglichkeit, kurz rechts ran zu fahren.
„Eher psychisch“, gebe ich zurück und merke, dass Herr Meiersberg wieder schneller fährt. Anscheinend hatte er Sorge, ich würde mich in sein Auto übergeben.
„Das tut mir Leid. Möchten Sie darüber reden?“, erkundigt sich Bruno und betrachtet mich kurz mit seinem warmen, offenherzigen Blick. Er strahlt eine solche Zuverlässigkeit und Wärme aus, dass ich gewillt bin, ihm meine gesamte Lebensgeschichte in allen Details darzulegen. Ich möchte ihm von meinen Gefühlen erzählen, von meinen Hoffnungen und Ängsten. Doch bevor ich einem wildfremden mein Herz ausschütte, kann ich mich zurück halten. Ich beschließe, ihm eine Kurzfassung zu erzählen. „Sie ahnen sicherlich, dass es bei mir nicht so rund läuft, denn immerhin wollte ich ja mit Ihrem Taxi fahren… Wenn ich schon wüsste, wo ich im Leben stehen sollte, wäre das nun mal kaum vonnöten“, beginne ich. Bruno nickt nur verständnisvoll und unterbricht mich nicht.
„Ich hab ein paar blöde Entscheidungen getroffen… Ich habe keine Hilfe angenommen und diejenigen, die es nur gut mit mir meinten, aus meinem Leben verbannt. Dann dachte ich irgendwann, es hat eh keinen Sinn, irgendetwas für mein runtergekommenes Leben zu tun, was die Abwärtsspirale nur weiter getrieben hat.“
Ich atme tief durch. So viel hatte ich schon lange niemandem mehr von mir erzählt.
„Mittlerweile habe ich einen Job, den ich nicht mag, lebe in einer Wohnung, die ich nicht mag, verbringe meine Zeit mit Dingen, die ich – ehrlich gesagt – auch nicht mag“, fasse ich meine derzeitige Lage zusammen. Ich denke an die Stunden, die ich nur deshalb vor dem Bildschirm verbringe, weil ich es immer so tue. Aus dem Videospiele spielen ist ein automatisierter Ablauf geworden, den ich weder unterbrechen, noch genießen kann.
Ich merke, wie mir die Tränen in die Augen steigen. Die alte Wohnung, in der ich mit Sarah gelebt hatte, war schön gewesen. Insbesondere weil ich mit dem alten Job als Leiter eines kleinen Teams eines Internetanbieters gut verdient hatte. Nun war ich zwar eine hochqualifizierte Kraft, die in fast allen Fällen die Fragen der Anrufer beantworten konnte, aber dafür eine sehr unmotivierte.
„Das klingt nach einer sehr schwierigen Situation, in der Sie sich da befinden“, meint Bruno mitfühlend. Ich nicke nur und kämpfe meine Tränen und den Kloß in dem Hals nieder. Ich schaue wieder aus dem Fenster und als sich mein Tränenschleier löst, erkenne ich, dass wir angehalten haben. Das hatte ich gar nicht mitbekommen. Überrascht wende ich mich Bruno zu.
„Sind wir schon da?“, frage ich.
„Ich denke schon“, antwortet Bruno Meiersberger und wirft mir einen aufmunternden Blick zu.
„Sind Sie bereit?“
Ich werfe erneut einen Blick aus dem Fenster. Wir befinden uns am Anfang einer Fußgängerzone. Da wir mittlerweile nach 23Uhr haben, sind nicht viele Menschen unterwegs, obwohl es hier ein paar Restaurants und Bars gibt.
„Und was soll ich jetzt hier?“, frage ich unsicher.
„Das weiß ich nicht. Aber da kann ich Ihnen auch nicht helfen. Ab jetzt sind Sie auf sich allein gestellt“, antwortet der Taxifahrer. „Ich würde vorschlagen, Sie steigen einfach mal aus und schauen sich um.“
Unschlüssig nestle ich am Türgriff herum. Das soll es gewesen sein? Ich werfe einen unsicheren Blick auf Herrn Meiersberger, der mich ermutigend anlächelt. Ich lächle unsicher zurück und öffne die Tür. Die kalte Dezemberluft schlägt mir ins Gesicht und sofort beginne ich zu frösteln. Ich ziehe meine Jacke fester um mich und steige aus.
„Ja, also dann...“, werfe ich dem Taxifahrer noch ins Auto und hebe ungelenk die Hand zum Abschied.
„Ich wünsche Ihnen alles Gute!“, antwortet dieser und grüßt zurück. Ich schließe die Tür und beobachte das Taxi, wie seine Rücklichter im Dunkeln der Nacht verschwinden.
Hier stehe ich also nun. Mutterseelenallein, mitten in der Nacht. In einer eiskalten Nacht noch dazu. Ich ärgere mich über meinen Übermut. Was soll jetzt hier passieren? Welche lebenswandelnde Erkenntnis soll mich hier ereilen? Und falls es so kommen sollte: Woher wusste Herr Meiersberger, dass es genau dieser Ort sein sollte?
„Nützt alles nichts“, nuschle ich vor mich hin und beginne meinen Streifzug durch die Fußgängerzone. Wenn ich schon hier bin, kann ich mich auch genauso gut umschauen. Steifgefroren gehe ich an einer Straßenlaterne vorbei, die meine Atemwolken in mystisches Licht taucht. Ich bin eine Sekunde lang von diesem Anblick gefangen, da fällt mir ein Schild ins Auge, das an dem Pfosten jener Lampe angebracht ist. Es ist ein Infoplakat der Caritas. Der erste Satz erregt mein Interesse: „Ihr Leben schlägt Purzelbäume?“. Tja, so könnte man das wohl nennen. Ich lese weiter. „Probleme wachsen Ihnen über den Kopf? Lassen Sie sich von den Fachleuten der Caritas online oder am Telefon beraten.“ Darunter finde ich einen Link und eine Telefonnummer der Suchtberatung. Ich fühle mich angesprochen. Ist es das, weshalb ich hier bin? Nur wenige Schritte entfernt von dem Ort, wo das Taxi angehalten hat soll ich schon mein Schicksal getroffen haben?
Ich blicke mich verstohlen um. Ist Herr Meiersberger doch noch hier? Ich habe so viele Fragen an ihn.
Mit Händen, die sowohl wegen der Kälte, als auch wegen meiner Gedanken zittern, hole ich mein Handy aus der Tasche und speichere mir sowohl die Internetseite, als auch die Telefonnummer ein. Mir ist seit Längerem bewusst, dass die Spielsucht ein Grund für den Abstieg in meine derzeitige Lage ist, aber ich habe mich nie getraut, jemandem davon zu erzählen, geschweige denn Hilfe anzunehmen. Die Leute verurteilen mich heimlich, aber auch offensichtlich. Das konnte ich nicht ertragen. Aber jetzt, wo ich in dieser besonderen Nacht ausgerechnet hier vorbei komme? Das muss doch ein Zeichen sein. Ich nehme mir fest vor, über meinen Schatten zu springen und mich demnächst bei der Caritas zu melden. Sobald ich die nötige Kraft dafür gesammelt habe.
Ich stecke meine mittlerweile tauben Hände zurück in die Manteltaschen und setze meinen Weg fort. Immerhin hat mich diese ganze Aktion schon zum Nachdenken angeregt. Das ist mehr, als ich zu Hause mit meinen Videospielen erreiche. Traurig verliere ich mich in meinen Gedanken, in den Erinnerungen an eine bessere Zeit. Ich suche nach dem Auslöser, der das ganze Chaos erst begonnen hat und komme so vom Hundertsten ins Tausendste.
„Oh, Entschuldigung!“
So beschäftigt mit mir selbst, wie ich war, habe ich ausversehen jemanden angerempelt. Nachdem ich reflexartig meine Entschuldigung gemurmelt habe, sehe ich erst, in wen ich gelaufen war. Ein junges, glückliches Pärchen war Arm in Arm aus einem der Restaurants getreten und dabei mit mir kollidiert.
„Nein, wir haben uns zu entschuldigen, wir waren auch unaufmerksam“, meint der Mann und wirft seiner Angebeteten einen verliebten Blick zu. Sie wenden sich zum Gehen.
„Schönen Abend noch!“, wirft die Frau mir zu, bevor sie sich vollends von mir abwenden.
Ich blicke den beiden hinterher. Unter der Mütze der Frau lugen schulterlange, glatte, braune Haare hervor. Sie erinnern mich an Sarah. Ich hatte damals immer gesagt, ihre Haarfarbe erinnere mich an Schokolade. Das mochte sie immer. Was sie wohl mittlerweile macht? Hat sie jemand anderes, der ihr durchs Haar fährt? Der ihr Komplimente macht? Auch wenn sie mit demjenigen vermutlich glücklicher ist als mit mir, sticht diese Vorstellung. Wieso habe ich sie nur gehen lassen? Ich glaube, den Moment gefunden zu haben, an dem es nur noch bergab ging: Als sie mich verlassen hat. Sie war diejenige, die immer für mich da war. Die mir geholfen hat. Die zu mir gestanden hat. Und in dieser bitterkalten Nacht habe ich schließlich die Erkenntnis: Sie war die Eine für mich.
Plötzlich merke ich, wie mein Gehirn mehrere Dinge zusammen führt: Die Erkenntnis, dass ich Sarah niemals hätte gehen dürfen, weckt Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit. Gleichzeitig entdecken meine Augen ein anderes Puzzlestück: In dem Restaurant, vor dem ich stehe, hatten wir unser erstes offizielles Date.
Mir fällt fast die Kinnlade runter, als mir das bewusst wird. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob dies auch das Restaurant ist, aus dem eben das Pärchen kam, aber wenn es so ist, ist das definitiv ein Zufall zu viel. Mir wächst die ganze Sache über den Kopf. Woher wusste Herr Meiersberger das? Ich hatte ihm nie von dem Date erzählt. Oder von meiner Sucht. Er wusste nicht, dass er mich heute Nacht einsammeln würde, weil ich selbst bis wenige Sekunden vor Abfahrt nicht sicher war. Mir wird schwindelig und ich stütze mich auf eine Bank, die ich glücklicherweise nur wenige Schritte neben mir entdecke. Was hat das zu bedeuten?
„Hey, alles okay bei dir?“ Drei Männer Mitte 20 kommen auf mich zu und der eine, der gesprochen hat, hält mich an der Schulter fest. „Du hast wohl zu viel getrunken, was? Ich glaub, du solltest besser nach Hause.“ Ich nicke nur, denn nach Hause möchte ich jetzt wirklich gern. Das war genug Abenteuer für einen Abend. „Alles klar. Wohnst du hier oder soll ich dir ein Taxi rufen?“, fragt der junge Mann. Wäre ich nicht völlig am Ende, würde ich darüber lachen. Ja, ein Taxi hilft heute anscheinend in jeder Situation. Stattdessen presse ich ein „Taxi, bitte“ heraus und sammle mich, während einer der Kumpels sein Handy zückt und telefoniert. Die drei Jungs begleiten mich noch zurück zum Anfang der Fußgängerzone und warten, bis ich sicher im Taxi sitze und dem Fahrer kommuniziert habe, wo ich hin möchte.
„Danke. Für alles“, sage ich zu der Gruppe durch die noch geöffnete Beifahrertür.
„Nächstes Mal nicht so tief ins Glas schauen, ja?“, meint einer meiner Retter noch schmunzelnd, bevor er die Tür zuschlägt und das Taxi sich in Bewegung setzt.
Während der Fahrt denke ich über das Erlebte nach. Nachdem ich lange Zeit nur im Delirium vor mich hin gelebt habe, ist diese Flut an Eindrücken und Einsichten überwältigend. Ich versuche meine Gedanken zu ordnen. Erstens: Die drei Jungs, die mir das Taxi gerufen haben, lassen mich beinahe wieder an das Gute im Menschen glauben. Vielleicht sind doch nicht alle mit Vorurteilen belastet. Zweitens: Ich muss meine Sucht bekämpfen. Und das schaffe ich nicht alleine. Ich muss Hilfe annehmen und werde alles tun, um wieder der zu werden, der ich vor wenigen Jahren noch war. Nein, ich werde ein besserer Mensch als ich jemals war! Denn drittens: Ich will Sarah zurück.
Das Taxi erreicht die angegebene Adresse, ich zahle den genannten Preis und eine Welle überschwänglichen Übermutes lässt außerdem ein ordentliches Trinkgeld rausspringen. Von neuer Energie gefasst, wähle ich noch im Treppenhaus die Nummer der Caritas. Wieso morgen anrufen? Die beste Zeit für Veränderung ist jetzt.
Ein Jahr später
Es ist der erste schöne Wintertag dieses Jahres. Eine feine Schneedecke glitzert auf den Wiesen des Parks und trotz der Kälte scheint die Sonne warm in mein Gesicht. Ich atme die klare Luft ein und lasse meinen Blick schweifen: Hier im Park sind heute viele Familien unterwegs. Sie spielen mit den Kindern, lachen und genießen das atemberaubende Wetter.
Plötzlich entdecke ich auf einer Parkbank einen korpulenten Mann, der mit seligem Lächeln das gleiche Treiben beobachtet, wie ich es eben noch getan habe. Ich gehe auf ihn zu und setze mich neben ihn.
„Herr Meiersberger?“ Der Mann dreht seinen Kopf zu mir und Erkenntnis macht sich auf seinem Gesicht breit. Er strahlt mich an. „Peter Schmidt! Der durchschnittliche Typ mit dem durchschnittlichen Namen. Das werde ich nie vergessen. Wie geht es Ihnen?“ Überschwänglich schüttelt er meine Hand.
„Danke. Mir geht es gut. Sehr gut sogar. Erinnern Sie sich auch noch an meine Situation damals?“
„Ja, natürlich. Sie waren mit allem unzufrieden, insbesondere mit sich selbst. Deswegen sind Sie ja in mein Taxi gestiegen“, antwortet Herr Meiersberger mit einem Augenzwinkern.
„Genau. Ich weiß nicht, wie Sie das gemacht haben, aber… Der Ort, an dem Sie mich raus gelassen haben, hat mir die Augen geöffnet. Ich war computersüchtig, wissen Sie? Seit fast einem halben Jahr habe ich das aber unter Kontrolle“, erzähle ich, nicht ohne Stolz in der Stimme. „Das ist ja wunderbar! Sie sehen auch um einiges besser aus als damals“, sagt der Taxifahrer auf seine entwaffnend sympathische Art. „Danke! Das ist auch nicht alles. Ich habe wieder Kontakt zu der Frau, die ich über alles liebe und nie hätte gehen lassen dürfen“ „Na das wird ja immer besser!“, ruft Herr Meiersberger aus, sodass sich die ersten Leute erschrocken zu uns umdrehen. Wäre mir dies früher unangenehm gewesen, so lache ich jetzt über seine mitreißende, lebensbejahende Art. „Ja in der Tat! Sie ist natürlich noch skeptisch und wir wissen beide nicht, ob eine Beziehung je wieder funktionieren könnte, aber momentan sind wir beide glücklich, einander wieder im Leben zu haben. Auch das habe ich Ihnen zu verdanken“ „Ach was“, winkt der menschgewordene Teddybär ab. „Damit hatte ich nicht wirklich was zu tun. Das ist alles auf Ihrem Mist gewachsen“ „Natürlich hatten Sie damit was zu tun. Mich würde interessieren, woher Sie das alles wussten“, komme ich seiner Bescheidenheit entgegen. Herr Meiersberger schaut sich verschwörerisch um, bevor er sich zu mir beugt und mir zuraunt: „Soll ich Ihnen ein Geheimnis verraten?“
Ich nicke nur gespannt. Werde ich jetzt etwa erfahren, was es mit der ganzen Sache auf sich hatte? Wie er das angestellt hat?
„Nun gut, aber Sie müssen versprechen, es für sich zu behalten.“ Wieder nicke ich nur. Das scheint was Großes zu sein. „Kennen Sie die Werbekampagne mit dem Spruch: „Wenn Sie auf ein Zeichen gewartet haben: Das ist es“?“ Was soll das denn jetzt? Ich nicke wiederum. Das Bild war mir mehrfach im Internet über den Weg gelaufen.
„Genau so mach ich es auch. Ich habe ein Gerücht gestreut, wo ein ominöser Taxifahrer nachts Leute einsammelt und dorthin bringt, wo sie sein sollten. Sie glauben ja gar nicht, wie schnell die ersten davon Gebrauch gemacht haben! Ich fahre diese Leute dann ein wenig umher und manchmal erfahre ich aus dem Gespräch dann kleine Details, die mir weiterhelfen. Eröffnet mir zum Beispiel jemand, dass er statt seinem Bürojob lieber einen Beruf in der darstellenden Kunst hätte, so lasse ich ihn in der Nähe einer Theaterschule raus. Ob das dann aber auch tatsächlich das Zeichen ist, das er für richtig hält, ist nicht immer klar. Aber sobald meine Fahrgäste aussteigen und sich umsehen, auf der Suche nach der einen Sache, die ihnen klar macht, was sie tun sollen, finden sie es auch. Glauben Sie mir, ich hätte Sie genauso gut an einem Friedhof oder an einem Schwimmbad rauslassen können – Sie hätten trotzdem irgendwelche Hinweise gefunden, die vermeintlich vom Schicksal für Sie geschickt wurden.“
Herr Meiersberger setzt sich wieder aufrecht hin und lässt mich ungläubig zurück. „Aber…“, beginne ich. „Aber das Schild der Suchtberatung! Das Restaurant, in dem ich mein erstes Date mit Sarah hatte!“
„Ah, Sarah heißt die Gute also?“ Herr Meiersberger grinst mich schelmisch an. „Ich hatte davon keine Ahnung. Aber Suchtberatungsstellen gibt es viele. Sie wären an vielen Stellen über eine solche Information gestolpert. Und wäre es nicht das Restaurant gewesen, wären Sie vielleicht am Ort Ihres ersten Kusses gelandet oder hätten eine Frau getroffen, die das gleiche Parfum wie Sarah trägt. Das Herz weiß, was es will, nur das Gehirn muss manchmal mit Scheinargumenten überzeugt werden“ Wieder zwinkert er mir zu, als hätte er mir den besten Witz der Welt erzählt, den nur wir beide verstehen.
Ich schüttle ungläubig den Kopf. Das war mir alles so explizit und gewollt vorgekommen. Als ob jemand wollte, dass ich genau das erlebe.
„Verrückt, oder? Dass das funktioniert. Aber jetzt verstehen Sie sicher auch, warum das nicht bekannt werden darf. Sonst glaubt ja niemand mehr an das Schicksal, das ihm die Entscheidungen abnimmt und mein Verfahren funktioniert nicht mehr!“, brabbelt der Mann neben mir weiter. „Achja übrigens: Ich denke, jetzt wo wir so viel miteinander geteilt haben, können wir uns auch Duzen. Ich bin Bruno“, fährt er fort und streckt mir seine Pranke entgegen. Ich ergreife sie.
„Sehr gern. Ich bin Peter“, antworte ich und denke darüber nach, dass vor einem Jahr mit einem solchen Handschlag mein Weg zur Besserung eingeläutet wurde.
Tag der Veröffentlichung: 21.11.2017
Alle Rechte vorbehalten